Faelivrin verbrachte den Nachmittag damit, Befehle zu erteilen und ihr Volk auf den kommenden Kampf vorzubereiten. Sie orderte neue Pfeillieferungen und zerbrach sich den Kopf, wie sie den Feind an die stärkste Seite ihrer Mauern locken konnte. Die Torburgen im Osten und im Norden waren in aller Eile fertig gestellt worden und ihr größter Schutz für ihr Volk. Die einzelnen Türme, die die Mauerabschnitte überwachten erhielten gerade ihr hölzernes Innenleben aus Treppen und kleinen Lagerräume für Pfeile und Steine. Luscora, der ihr gerade Bericht erstattete, deutete auf eine große Karte, auf dem Kartentisch im Thronsaal auf die östliche Mauer. Mit seiner gewohnt nachdenklichen Art, erklärte er ihr, dass er noch Probleme hatte, die Spannkatapulte aufzustellen. Er deutete auf die zwei Stellen, jeweils zwei Mauerabschnitte von der Torburg rechts und links gelegen.
"Wie lange brauchst du noch?", fragte Faelivrin ihren Sohn besorgt, "Ich bin mir sicher, dass wir sie in dem Kampf brauchen werden. Sie sind unsere größte Waffe gegen Belagerungswaffen."
Luscora warf ihr einen Blick mit einer Mischung aus Anspannung und Stress zu. Insgeheim tat er ihr leid, dass sie ihn so unter Druck setzte, aber sie hatten keine Zeit mehr. Sie beschloss ihm die ungemütliche Wahrheit zu sagen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Es ist von größter Wichtigkeit, denn wir haben nicht die Kraft, einem anrückenden Feind in einer Feldschlacht zu begegnen. Du hast die Besprechungen erlebt. Die Hwenti sind stur und die übrigen Stämme weigern sich. Die Manarîn stehen allein."
Sie sah, dass sich sein Blick veränderte. Berechnender und vor allem gefestigt.
"Sind sie es, die stur sind?", fragte Luscora und hob eine Braue, "Oder erwartest du etwas von ihnen, das sie noch nie hatten. Treue für eine Herrin, die sie nie kennengelernt haben, Loyalität für ein Land, das fremd für sie ist. Du bittest sie, ihr Blut zu vergießen, ihre Kinder auf das Schlachtfeld zu schicken, von dem sehr viele nicht widerkehren werden." Er warf ihr einen ernsten Blick zu, "Mutter, du hast dich nach Vaters Ableben verändert. Früher hast du uns alle immer gefragt, ob wir etwas tun möchten. Du hattest uns abstimmen lassen, ob wir in neue Gefilde ziehen wollen. Du hattest eine Vision. Ambitionen. Ein Bild, von einem vereinten Stamm, nein, mehr noch, du wolltest die Wälle der Stämme zu Fall bringen. Das war es, das Finuor sich stets gewünscht hatte, mein ehrenwerter Vater. Schwesterherz lebt seinen Wunsch weiter. Ich tue es auch. Nicht nur für Vater, nicht nur für dich, sondern für unser Volk, für meine Kinder und deren Kinder und unser aller Wohl."
Luscora wandte sich ab, ihre Hand rutschte von seiner Schulter. Faelivrin blieb wie erstarrt stehen. Noch nie hatte ihr Sohn so offen ihr ins Gesicht gesagt, was er dachte. Er war stets der wohlgesonnen und überlegte Mann, der sich im Hintergrund neue Dinge einfallen ließ.
Sie blickte zu Boden. "Du hast Recht", sagte sie mit belegter Stimme. Ihre Hand ballte sich zur Faust, "Und doch habe ich keine Wahl. Ivyn hat ihre erste Warnung ausgesprochen."
Luscora drehte sich ihr wieder halb zu und hob skeptisch eine Braue. "Man hat immer eine Wahl", sagte er kühl.
"Du verstehst nicht!", sagte sie nun lauter, mit deutlicher Strenge. Ihr Sohn zuckte ein wenig zusammen, überrascht von dem plötzlichen Schwung ihres Temperaments. Gefasster setzte sie nach: "Es ist Schicksal.
Eine Warnung wird angedacht, den schnatternden Krähen auf dem zitternden Dach; die zweite Warnung, der verborgenen Flamme, die im Zwielicht bange; die Dritte ... , soll erst enthüllt werden, wenn die Zeit gekommen ist."
Luscoras Verstand erfasste die erste Warnung sofort und er drehte sich mit neu gewecktem Interesse wieder zu ihr. Sie wusste, dass er eigentlich nichts von Prophezeiungen, oder der Gabe der Weitsicht hielt.
"Die Krähen... die Stämme der Avari. Das Dach soll wohl Eregion sein. Sie schnattern und kümmern sich nicht darum, dass ihnen das Dach unter den Füßen wegbricht. Wer hat diese Voraussicht ausgesprochen?"
Faelivrin blickte zur Seite, da Ivyn ihr nicht viel mehr erklärt hatte. "Großmutter hat es mir nicht sagen wollen, sie sprach nur davon, dass nach der dritten Warnung alles was sie kannte und wofür sie gearbeitet hatte, zunichte gemacht sei. Offenbar trägt sie diese Warnungen schon ziemlich lange mit sich herum, noch vor meiner Geburt."
Luscora schien zu verstehen, sagte jedoch: "Vielleicht dauert es noch hunderte Jahre, bis die zweite Warnung ausgesprochen wird. Ich denke, du solltest dich bei deinen Entscheidungen nicht auf so etwas Vages verlassen."
Faelivrin machte einen Schritt auf ihn zu und fasste ihn mit beiden Händen an den Schultern. "
Edanel, wir stehen mit dem Rücken zu Wand", sagte sie ernst und blickte ihm in die dunkelbraunen Augen, "Die Manarîn sind die Einzigen, auf die ich mich jetzt verlassen kann. Kann ich mich auf dich verlassen?"
Ihr Sohn schaute ihr ebenfalls gefasst in die Augen. Kurz senkte er den Blick und atmete tief aus. Dann blickte er wieder auf. "Natürlich, Mutter", sagte er leise, so als ob er wieder an andere Dinge dachte. Für einen winzigen Augenblick sah sie in seinen Augen Furcht aufflackern, es war so kurz, wie ein Blinzeln. Nachdenklich ließ sie ihn los.
"Ich werde die Spannkatapulte bis zur Schlacht fertigstellen", versprach er ihr und wandte sich ab, "Selbst wenn ich dafür selbst ein Schwert ergreifen muss."
Faelivrin wollte noch etwas sagen, wusste aber nicht was. Luscora war das Kämpfen zuwider, das war weithin bekannt. Offenbar hatte sie ihn mit ihrer unbedachten Äußerung, ob sie sich auf ihn verlassen konnte gekränkt. Sobald sich die Tore zum Thronsaal schlossen und sie alleine war, hieb Faelivrin wütend über sich selbst mit der Faust auf den Kartentisch.
"So schlecht gelaufen?", fragte eine bekannte Stimme von der Seite her. Sofort richtete sie sich auf und streckte den Rücken durch. Aus dem Schatten trat ihr Vater. Mathan war in eine Rüstung gehüllt, wie sie ihr Volk trug. Der polierte Brustpanzer schimmerte silbern, ein roter Mantel mit goldener Schmuckborte hing von seinen Schultern hinab - ein Zeichen der königlichen Familie. Sofort erkannte sie das Schwert ihrer Mutter an seiner Seite, in seinen Händen hielt er einen Schild aus ihrer persönlichen Rüstkammer. Sie lächelte darüber. Eigentlich wollte sie ihm den Schild als Geschenk überreichen. Offenbar war ihre Mutter schneller gewesen.
"Es ist nicht immer einfach", antwortete sie ausweichend auf die Frage und fragte stattdessen: "Und, gefällt er dir?"
Mathan drehte den Schild in seinen Händen und ließ ihn einmal spielerisch durch die Luft wirbeln. Mit einer gekonnten Bewegung fing er ihn so auf, dass er ihm kampfbereit am Arm lag. Mathan nickte knapp. Faelivrin hatte extra Amarin gebeten einen Schild zu schaffen, der ihrem Vater perfekt saß. Es war ein stählerner Rundschild, der einen Großteil des Oberkörpers schützte, ein Buckel in der Mitte diente als Dekoration, das Wappen der Manarîn war darin eingeätzt. Eine aufgehende Sonne über dem Meer.
"Ich glaube, ich habe dich noch nie ohne Doppelschwerter gesehen", gab sie nach einem kurzen Moment des Überlegens zu.
Mathan schien einen Moment unwohl zu sein, dann sagte er mit düsterer Stimme: "Nun, ich ziehe in den Kampf. Also kämpfe ich, um zu beschützen und zu töten."
Dabei hob er jeweils seinen Schild und legte die freie Hand an den Griff seines Schwerts. "Faelivrin, ich bin stolz auf das, was du geleistet hast. Du hast das Leben zurück in meine Heimat gebracht - in unsere Heimat. Jetzt werde ich für dieses Leben kämpfen."
Sie blinzelte einen Moment, erneut überrascht von dem plötzlichen Kompliment, fing sich dann aber wieder. Faelivrin wollte Mathan eigentlich nicht so früh bitten zum Schwert zu greifen. Es war ihr Notfallplan gewesen. Ihr Vater war ein Meister des Schwertkampfes, sie fühlte sich nicht wohl dabei, ihn aus der Stadt gehen zu sehen. Er war wohl der Einzige, neben Ivyn, der wirklich Kriegserfahrung unter ihnen allen hatte. Seine Erfahrung wurde hier gebraucht. Zwar gab es damals bei den Hwenti und später den Manarîn auch vereinzelte Belagerung aber niemals solche, wie in diesem Ausmaß, das sich hier anbahnte.
"Vater ich-"
"Deine Tochter", unterbrach er sie und Faelivrin machte erneut eine überraschte Pause, "Deine Mutter macht sich große Sorgen um sie. Und du weißt, dass, wenn Halarîn irgendwo ein schlechtes Gefühl hat..."
Er musste den Satz nicht zu Ende bringen. Ihr lief ein winziger Schauer über den Rücken. Sie wusste noch zu gut, dass Halarîn es war, die den großen Waldbrand in tiefsten Rhûn bemerkt hatte, als sie noch zu klein war, um für sich selbst zu sorgen. Mathan war zu dem Zeitpunkt etwas zu Essen auftreiben gewesen. Hätte ihre Mutter nicht so früh geahnt, dass etwas nicht stimmte, hätte das Feuer sie beide eingeschlossen. Der Geruch von brennenden Kiefern weckte in ihr immer noch Furcht.
"Sie ist bei Rómen Tirion, zusammen mit Sanas", sagte sie schließlich nach einer Weile, "Sie müssten bald ankommen, wenn sie im vollen Galopp reiten."
Ihr Vater nickte knapp. „Ich werde heute Abend losreiten. Nachts werden die Orks entschlossener angreifen, aber auch unvorsichtiger. Vielleicht gelingt es mir sie durch eine List sie abzulenken und dem Turm damit eine Verschnaufpause zu verschaffen.“
Mathan wollte schon wieder den Raum verlassen, als seine Tochter ihm am Arm hielt. Ihr Blick sprühte vor Entschlossenheit.
„Du gehst nicht alleine“, sagte sie bestimmt und ihr Blick wurde wieder weicher, „Meine Späher haben mir von immer stärker werdenden Angriffen berichtet. Du wirst gegen eine Übermacht antreten und wir brauchen dich noch in den nachfolgenden Konflikten.“ Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. „Dreihundert. Ist das in Ordnung?“
Er blinzelte überrascht. Mathan hatte zwar schon einmal größere Truppen befehligt, aber nie mehr als zweihundert Elben. Vielleicht war es an der Zeit, mehr Verantwortung zu übernehmen. Und er wollte aufhören, vor seiner Vergangenheit davon zu laufen. Seine großen Niederlagen hatten ihn auch viele Dinge gelernt. Dinge, die er nun gegen den Feind brauchen würde, dessen gierigen Krallen nach seiner Familie griffen.
„Das wird genügen. Wie sind sie ausgebildet, worauf spezialisiert…“ Er verstummte, als seine Tochter anfing zu lächeln.
„Es sind die Besten“, antwortete sie nur knapp und er spürte, dass ihr Hand anfing zu zittern, „Du hast Isanasca gesehen. Sie ist die Zukunft dieses Landes. Sie wird uns beide eines Tages übertreffen. Der Traum meines Mannes… mein Traum, lebt in ihr und meinen Sohn weiter. Lass‘ ihn nicht vergehen. Es ist eine selbstsüchtige Bitte, das weiß ich und dennoch...“
Mathan spürte ihre Angst um das Wohl der Elben, die ihr Vertrauten und die vielen Leben, dir von ihren Entscheidungen abhingen, aber die Augen, die ihn anstarrten waren die einer Mutter, die um ihr Kind fürchtete. Er legte ihr beruhigend seine Hand auf die Ihre.
„Faelivrin, ich werde mein Enkelkind beschützen, verlasse dich auf mich. Ich bin dein Vater, ich kann es nicht ertragen dich, oder irgendjemand anderes unserer Familie leiden zu sehen.“
Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Ihre Hand löste sich von seinem Arm. Als sie die Augen öffnete, war die Furcht wieder verschwunden. Mathan lächelte ihr aufmunternd zu. Ein silbernes Flimmern huschte über die stahlgrauen Augen, dann wandte sie sich ab.
„Wachen“, sagte seine Tochter leise, woraufhin die zwei Palastgardisten am Tor zur Vorhalle aus den Schatten traten. Beide sanken sofort auf ein Knie, die geballte Faust auf dem Boden aufgestützt. „Man schicke einen Boten zu Anastarios mit folgenden Befehlen: Hisst die Flaggen auf den Türmen und bemannt sie mit den schärfsten Elbenaugen, die sich finden lassen. Verdoppelt die Anstrengungen der Pfeilmacher, rekrutiert dazu alle Handwerker, die nicht kämpfen werden – aber zieht keine Arbeiter von den Mauern und den Gräben ab. Die Heiler sollen frische Bandagen und Kräuter bereithalten. Unterbrecht den Bau der Brücke an der südlichen Torburg.“
Einer von beiden senkte den Kopf und antwortete ergeben: „Jawohl, Herrin.“
„Und versammelt eine
Nernehta meiner Leibgarde. Dazu zweihundert aus der regulären Armee.“ Die beiden Wachen erhoben sich, verneigten sich knapp und stießen das Tor weit auf. Zwei neue Palastwachen, die aus der Vorhalle kamen, nahmen ihre Plätze ein. Seine Tochter bedeutete ihm Geduld zu haben und schritt bedächtig ebenfalls durch das Tor.
Mathan hob indessen eine Braue und hakte nach: „Eine
Sturmspitze?“ Nur um sicher zu gehen, dass er sie richtig verstanden hatte. Er kannte diese Art von Truppenteil nur aus der Schlacht auf der Dagorlad, sie waren die schlagkräftigste aller Einheiten gewesen. Die Speerspitze, die jeden Angriff anführte und Breschen in die feindlichen Linien schlug. Wenn keine großen Schlachten anstanden versammelte man sie eigentlich nicht, umso mehr verwunderte ihn es, jetzt davon wieder zu hören.
Faelevrin warf ihm einen Seitenblick zu, schaute aber dann auf die großen Tore des Palastes, die sich gerade wieder schlossen und den Blick auf die breite Außentreppe verweigerten. Sie schlenderte langsam in die Vorhalle und er trat neben sie, sodass sie gemeinsam durch die Halle gingen. Eine ihrer Hände strich sanft über eine der großen Marmorsäulen, die die hohe Decke trugen. „Die Manarîn sind keine großen Baumeister wie die Noldor. Wir waren nicht so kämpferisch wie die Kinn-Lai, sind nicht so offen zu Fremden wie die Kindi, oder waren geschickt wie die Cuind, keine guten Schmiede wie die Windan oder zäh wie die Penni. Mein Volk ist aber an den Herausforderungen auf den Inseln gewachsen, mehr als alle anderen. Zwar sind wir einem voll ausgebildeten Trupp Kinn-Lai bei gleichen Zahlen unterlegen, aber wir können ihnen mittlerweile einen harten Kampf liefern. Auf dem Schlachtfeld aber, dürfte uns keiner der anderen Stämme mehr gewachsen sein. Wir sind vielleicht nur ein paar tausend, aber mit Ivyns Wissen und Weisheit haben wir uns darauf vorbereitet unsere Heimat mit allen Mitteln zu verteidigen.“
„Deswegen deine Furcht um Isanasca. Sie ist die absolute Elite, wie ich es schon vermutet habe –sozusagen dein Meisterstück. Und ihr wirst du die Krone vermachen.“
Seine Tochter nickte und erklärte, dass Ivyn sie persönlich ausgebildet hat. Faelivrin wirkte einen Moment so, als ob sie mit etwas haderte. Ihr Blick huschte aus dem Augenwinkel kurz zu ihm. Eine kurze Stille trat ein, doch der Moment ging vorbei. Sie sagte nichts und ging in den Ostflügel, zu dem ihnen die Wachen das Tor öffneten. Mathan folgte ihr in den Korridor, der einfach in einer Baustelle endete. Sie steuerte eine Treppe an, die links in einer Nische versteckt war.
„Gibt es da etwas, das du mir vielleicht sagen möchtest?“, fragte er schließlich sanft, nun da sie endlich alleine waren. Er ging etwas versetzt hinter ihr, als sie gerade die erste Stufe nahm.
Sie erstarrte in der Bewegung. Mathan konnte ihr Gesicht nicht erkennen, doch er sah, wie sie kurz den Kopf senkte. Schließlich stieg sie weiter die Treppe hinauf und sagte nur leise: „Später, da gibt es etwas anderes, das ich zuerst loswerden will.“
Er respektierte ihren Wunsch und bohrte nicht weiter nach. Sie führte ihn durch das obere Stockwerk des Ostflügels. Von hier oben konnte man den Thronsaal und die gigantische Kuppel bewundern, doch der Blick war nicht ungestört. Überall waren hölzerne Geländer errichtet, es fehlten ganze Wände und kein einziger Raum hatte eine Decke. Weiter hinten konnte er sehen, wie der hintere Teil des Ostflügels von ein paar Elben weitergebaut wurde. Eine Art Kran mit Laufrad wurde genutzt, um die schweren Steine auf die Mauern zu setzen. Faelivrin beobachtete die Arbeiten und nickte zufrieden, als er sich neben sie stellte.
„Einer der frisch eingetroffenen Hwenti hat Nachrichten von Herion überbracht“, sagte seine Tochter schließlich mit etwas gedämpfter Stimme. Mathan horchte auf, als sie fortfuhr: „Onkel Herion sagte, dass Mutters Schwester gesichtet wurde. Die Beschreibung sei eindeutig zutreffend. Sie hat aber nicht die Ländereien der Hwenti betreten. Er wollte uns nur Vorwarnen.“
Mathan blinzelte erstaunt und drehte sich zu ihr. „Vorwarnen? Verstehen sich die Zwei so schlecht? Halarîn erzählt nie über sie, sie kennt noch nicht einmal ihren Namen.“
Faelivrin zuckte etwas unwohl mit den Schultern und scharrte mit ihrem Stiefel kleine Steinchen zur Seite. Er rief sich wieder in Erinnerung, dass Telperiel Halarîn verboten hatte nach ihren Geschwistern zu suchen.
„Onkel schrieb, dass sie wohl mittlerweile als Rámalin gekannt sei. Eine berüchtigte Söldnerin.“
„Hmm… Flügelmelodie… mich würde interessieren wie sie zu dem Namen gekommen ist.“
„Er schrieb, dass sie mit einigen hundert Reitern oder mehr aus dem Norden nach Süden unterwegs war. Wahrscheinlich will sie mit ihren Gefolge nach Kushan oder Minzhu, denn die beiden Reiche werden wohl bald einen massiven Krieg gegeneinander führen. Und das würde auf ganz Palisor Auswirkungen haben“
Mathan hob eine Braue und fragte, warum das so wichtig war. Seine Tochter vermutete, dass es das erste Lebenszeichen ihrer Tante war seit einer langen Zeit, was für ihn auch Sinn ergab. Sie berichtete weiter, dass Kushan bisher Minzhu an weiterer Expansion stets gehindert habe, doch seit geraumer Zeit strebte Kushan selbst nach mehr Ländereien und Bodenschätzen. Dies führte unweigerlich zu Konflikten mit den Nachbarn. Mathan erinnerte sich dunkel, wie Halarîn ihm die Zustände in Palisor erklärt hatte, aber der Süden war immer schon eher für sich gewesen und seine Frau hatte da kaum Kenntnis über die Lage dort gehabt. Er selbst war nur einmal in Minzhu gewesen, aber damals hatte es dort nur zersplitterte Kleinreiche gegeben, die von Kriegsherren beherrscht wurden – keine zentrale Ordnung oder Macht.
„Ich habe Mutter noch nichts von der Nachricht erzählt“, unterbrach sie seine beginnende Grübelei, „Heron hatte sie geschickt, weil Halarîn ihn darum bat ihr Bescheid zu geben, wenn ihre verschollenen Geschwister auftauchten. Die Beschreibung hatte sie wohl meiner widerwilligen Großmutter entlockt.“
Mathan schlug vor das erst später weiterzuleiten, da Halarîn dringen Ruhe brauchte. Er machte sich so schon große Sorgen um sie, da sie eben ungewöhnlich blass gewesen war. Seine Tochter nickte bestätigend und führte ihn wieder zu der Treppe nach unten. Kurz überlegte er, sie danach fragen, was ihr vorhin an der Treppe durch den Kopf gegangen war. Mathan verwarf es, als sie ihn in das fertige Gebäude über der Vorhalle führte, was sich als ihre privaten Gemächer herausstellte. Es war ein riesiger, lichtdurchfluteter Raum, der von einem großzügigen Bett in der Mitte dominiert wurde. Felle und Teppiche lagen auf dem kühlen Marmorboden, eine große, doppelflügelige Tür zog seinen Blick an. Faelivrin ging vor und öffnete sie. Vor ihm lag die Terasse, die auf dem Vorbau des Palastes gebaut worden war. Sie maß vielleicht zehn Schritte, direkt neben der Tür hatte Faelivrin sich einen gemütlichen Liegestuhl hingestellt, zusammen mit einem Beistelltisch, auf dem ein Buch lag. Ein kleines Flämmchen flackerte in einer Feuerschale.
„Hier verbringe ich gern meine Abende, wenn ich allein sein möchte. Ein gutes Buch beim Sonnenuntergang entspannt“, sagte seine Tochter, als sie seinen Blick bemerkte, „Komm, ich glaube sie sind mittlerweile angetreten.“
Er folgte ihr und genoss den Blick auf die Stadt, der sich ihm bot. Der Palast saß auf dem höchsten Punkt und man hatte eine gute Übersicht auf die vielen Häuser, die inzwischen errichtet wurden. Wenn er alles ausblendete, meinte er sogar das Plätschern des Glanduins hören zu können. Oder es war seiner Erinnerung die ihm einen Streich spielte, da Ost-In-Edhil genau dort errichtet worden war, wo der Sirannon sich mit dem Glanduin vereinte. Leider war der Sirannon schon seit langer Zeit ausgetrocknet, sonst hätte er nicht einfach trockenen Fußes das Nordtor erreicht. Faelivrin bedeutete ihm an die Brüstung zu treten. Mathan stellte sich neugierig sie und blickte hinab. Ein Befehl wurde auf Avarin gebrüllt. Vor den Treppen des Palasts hatten sich einhundert Elben in einer strengen Formation versammelt. Sie trugen schwere Plattenrüstungen aus silbernem Stahl, lange Hellebarden in den Händen und Umhänge aus rotoranger Seide hingen von ihren Schultern. Schwarze Mundtücher bedeckte das Gesicht bis auf die Augen. Ihre Helme waren prunkvoll verzierte Flügelhelme, die in der Form von Sonnenstrahlen gearbeitet waren. Jeder der Krieger war in etwa gleich groß und jeder trug die gleiche Ausrüstung. Neben der Hellebarde war jeder einzelne auch mit Schwert, Bogen und Dolch bewaffnet. Faelivrin hob knapp die Hand und die Soldaten reckten kurz ihre Waffen in die Höhe, ein vereintes: „Tarinya!“ ertönte. Ein Gruß an ihre Königin. Seine Tochter nickte ihnen zu und drehte sich stolz zu ihm. „Dies ist meine persönliche Garde. Die Erste
Nernehta, sie sind in allen Waffenarten geübt. Dort, wo andere den Tod sehen, sehen sie Ehre. Niemals würden sie ihren Posten verlassen, keinen Befehl verweigern und bis auf den letzten Speer kämpfen.“ Ein kaltblütiges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Lasst die Orks mit Blut bezahlen.“
Mathan musterte die Truppe genauer und kam zu demselben Schluss. Niemand schien den Tod zu fürchten, sie alle warteten vollkommen regungslos auf ihre Befehle. „Und du bist dir sicher, dass du sie nicht hier brauchst?“
Faelivrin verneinte und erklärte, dass ihre königliche Garde mehr als nur diese einhundert Elben umfasste. Schließlich gab Mathan sich geschlagen, da er seine Tochter zu gut kannte. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er sie nur nach einer stundenlangen Diskussion davon abbringen. Und diesmal hatte er keine Zeit dazu. Ein Schmunzeln um ihre Lippen verriet ihm, dass Faelivrin genau darauf abgezielt hatte. Er schüttelte unmerklich den Kopf, während sie ihrer Garde befahl, an der westlichen Torburg auf den Befehl zum Ausrücken zu warten. Die Elben bestätigten mit einem einmaligen Aufstampfen mit einem Bein, dann machten sie auf dem Absatz kehrt und zogen in geordneten Reihen vom Platz. Seine Tochter sagte, dass die restliche Truppen bei Nacheinbruch gemustert dort auf ihn warten würden, doch er beobachtete weiterhin die marschierenden Elben, deren seidenen Umhänge im Wind flatterten. Die Hellebarden funkelten in der beginnenden Dämmerung und das regelmäßige Stampfen des marschierenden Trupps weckte Erinnerungen an die Kriege, die er bisher erlebt hatte. Mathan atmete tief durch, dann folgte er seiner Tochter, die ihm zu einer Mahlzeit einlud. Geistesabwesend stimmte er zu. Mit dem Gedanken war er jedoch auf den Schlachtfeldern längst vergangenen Zeiten. Er merkte nicht, dass seine Tochter ebenfalls tief im Gedanken war und so düster wie noch nie dreinschaute.
Mathan mit der Elbenstreitmacht zum Tal des Sirannon