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Autor Thema: Ost-in-Edhil  (Gelesen 8808 mal)

Curanthor

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Über alte Zeiten und Schicksal
« Antwort #15 am: 15. Jan 2019, 17:53 »
Aus der Sicht Amarins

Erste Schneeflocken trudelten vom Himmel hinab und setzten sich auf die Gräser um ihn herum. Amarin blickte nachdenklich in den Norden. Eine tiefe Traurigkeit überkam ihn bei dem Anblick des Schnees. Er erinnerte ihn an seine Geliebte und wie weit fort sie war. Es war eine Zeit, in der sich das Wetter nicht entscheiden konnte ob es Späterbst, oder Anfang des Winters war. Dennoch war er dankbar, dass er nach so vielen Jahren nun endlich bei vollem Bewusstsein dem Schnee beim herunterrieseln beobachten konnte. Amarin streckte die rechte Hand aus, um einzelne Flocken zu fangen. Dabei versuchte er den ständigen Schmerz zu ignorieren. Nach all den Jahren hatte er sich noch immer nicht daran gewöhnt.
"Es wird niemals verheilen", erklang eine sanfte Stimme hinter ihm.
"Das brauchst du mir nicht zu sagen, Ivyn", antwortete er ohne sich umzudrehen, den Blick noch immer auf seine Hand gerichtet. er bemühte sich erst gar nicht freundlich zu klingen. "Weswegen kommst du so weit vor die Stadt? Hast du nicht eine kleine Schülerin, die deinen Lehren bedarf?"
"Darf ich denn nicht einem alten Freund gesellschaft leisten?", hielt sie ruhig dagegen.
Amarin anwortete nicht, sondern blickte hinauf auf die Gipfel des Nebelgebirges. Neben ihm raschelte es und Ivyn trat an seine Seite, seinem Blick folgend.
"Du kannst ihn auch manchmal sehen, nicht wahr?"
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der alte Elb stieß schwer die Luft aus und wandte sich ihr zu. "Vor dir kann man auch gar nichts geheim halten, oder?"
Ivyn schmunzelte, als sie sich ebenfalls ihm zuwandte.
"Das hast du schon bei unser ersten Begegnung festgestellt. Es ist erfreulich zu sehen, wie sich dein Geist von der jahrelangen Folter erholt."
Er kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie sich ehrlich freute. Amarin gab sich geschlagen und nickte ihr auffordernd zu.
"Was ist es, dass du mir sagen möchtest? Solch freundliche Worte verwendest du doch nur, wenn du etwas gesehen hast, dass dir Sorgen bereitet."
Ein Schatten huschte über Ivyns Gesicht. Ihre altehrwürdige Ausstrahlung schwächelte ein wenig, doch hatte sie sich voll im Griff.
"Bin ich so einfach zu durchschauen?", murmelte sie leise, räusperte sich aber dann rasch. "Du überraschst mich. Scheinbar schreitet deine Heilung in den letzten Wochen gut voran."
Amarin hob scharf eine Braue.
"Ich bin nicht senil. Du hast große Gefahren gesehen. Ich spüre es auch. Es liegt in der Luft, die wir atmen, selbst in den Schneeflocken merkt man es."
"Ja", stimmte Ivyn leise zu, "Noch vor dem ersten großen Wintersturm wird uns ein anderer Sturm erreichen. Und er wird große Gefahren für unser Volk bringen."
Ein Knacken hinter ihnen, ließ das Gespräch verstummen. Amarin lauschte den vorsichtigen Schritten im Gras. Ein leichter Duft nach Minze wehte ihm um die Nase.
"Adrienne von Gondor, komm zu uns", sprach Ivyn über ihre Schulter.
Amarin sah dem Mädchen zu, wie sie etwas unbeholfen aus dem Gebüsch stolperte. Dabei machte sie ein ertapptes Gesicht, was ihn leise lachen ließ.
"Du musst noch viel lernen, wenn du dich an Elben heranschleichen möchtest", begrüßte er sie mit einem leichten Grinsen.
"Ich wollte nicht...", begann sie, ließ den Satz aber unvollendet und strich sich unbehaglich durch ihre braunen Haare. "Die Dunländer haben die Nordwacht fertig gestellt. Das sollte ich von Isanasca und Fanathr ausrichten."
Eilig machte sich Adrienne davon, ohne auf eine Antwort zu warten.
"Merkwürdiges Mädchen", befand Ivyn nachdenklich.
Amarin blickte zu seiner Freundin aus alten Zeiten, die versonnen dahinstarrte, wo Adrienne aus dem Gebüsch gestolpert war.
"Sie ist mutig, aber sehr melanchonisch, dennoch eine gute Schülerin. Eigentlich wollte mein Sohn sie unterweisen, da er aber schon seit einigen Wochen fort ist, habe ich mich ihrer angenommen."
"Gib gut auf sie Acht, wenn sie dir ans Herz gewachsen ist", warnte Ivyn düsterer als gewohnt und nickte zum Himmel, "Der Sturm ist nicht mehr fern."
Amarin seufzte und schüttelte den Kopf.
"Ihr Ersten sprecht immer in Rätseln. Das hast du damals auch schon gut gekonnt." Er machte eine kurze Pause und fuhr fort:" Wissen die anderen unserer Familien schon davon?"
Sie schüttelte langsam den Kopf.
"Die Zeit ist eine sehr sensible Sache. Wenn wir ihnen zu viel sagen, können Dinge geschehen, die nicht gedacht waren, doch genau das kann auch passieren, wenn wir etwas zu einem falschen Zeitpunkt enthüllen. Manchmal muss man die Dinge ihren Lauf lassen."
Amarin bemerkte anhand ihrer Stimmlage, dass sie nicht mehr von der drohenden Gefahr sprach.
"Ist es das, was du mir einst gesagt hattest? Dass unsere Schicksale einen merkwürdigen Lauf nehmen würden?"
"Das haben sie schon. Seit unseren Treffen vor so vielen tausenden Jahren, erinnerst du dich?"
Amarin wusste sofort wovon sie sprach und atmete tief durch, ehe er sagte: "Ich weiß wovon du redest. Deine Suche nach ihm hatte mich tief beeindruckt."
Seine alte Freundin nickte erleichtert und blickte verträumt in den verschneiten Himmel, während sich die Flocken in ihrem seidenen Haar sammelten.
"So wie deine Suche mich beindruckte und wir uns gegenseitig halfen. Erinnerst du dich an meine Worte von einst?"
Wie hätte er sie jemals vergessen können. Es war eine der bemerkenswertesten Reisen gewesen, die er jemals erlebt hatte. So viel hatte er gesehen, so viel gekämpft und auch die Verluste der Elben erlebt, die im ständigen Schatten gelebt hatten.
"Es wird eine Zeit kommen, in der wir uns wieder begegnen. Unsere Schicksale sind nun untrennbar miteinander verwoben. Wenn es soweit ist, wirst du erkennen", zitierte er die Worte, die sie ihm zu ihren Abschied gesagt hatte. Ivyn nickte bestätigend. Die unausgesprochene Frage ihrerseits beantwortete er mit einem leisen Lachen. Sie hob fragend eine Braue.
"Ich habe es schon erkannt, als ich in dem Dorf angekam, dass du mir damals beschrieben hattest. Du hast es selbst vorhin gesagt, auch wenn nun eines meiner Augen blind sein mag, ich sehe mehr als man es von mir erwartet. Ich wusste sofort, wer von ihnen deine Tochter war." Amarin blickte ihr in die silbernen Augen, welche ihn sofort an das Licht der Sterne erinnerte.
"Und ich danke dir aus tiefsten Herzen dafür, dass du auf sie Acht gegeben hast. Es war zwar nur für eine kurze Dauer, aber damit hast du den Weg geebnet, der nun vor uns liegt. Ohne dein Handeln, wäre mein Volk heute nicht hier, oder gar restlos vernichtet."
Zu seiner Überraschung verneigte sich Ivyn, ehe er sie davon abhalten konnte.
"Das ist wirklich nicht nötig, du bist eine Erste! Eigentlich sollte ich mich verneigen, um Respekt zu zollen", sagte er eilig, die Hände abwehrend erhoben.
Ein scharfer Wind kam auf und brachte den ersten Schnee dazu, noch heftiger herunterzufallen. Ivyn richtete sich wieder auf und blickte nach Norden.
"Er ist auf dem Weg", murmelte sie zufrieden und wandte sich wieder an ihn, "Das habe ich von einer gemeinsamen Freundin gehört."
Amarin grinste in sich hinein und legte seine Hand auf die Brust, dort wo sein größter Schatz hing. Auch er hatte es gespürt.
"Ich bin wirklich froh, dass wir uns damals kennengelernt haben, Ioristion", sagte seine Freundin dankbar und wandte sich ab, "Ich bin mir sicher, er hätte dich gemocht."
Amarin blieb noch eine Weile stehen, während die hochgewachsene Elbe im Schneetreiben nur nur ein unsteter Schemen war. Er blickte ihr nach und murmelte, wohl wissend, dass sie ihn noch immer hören konnte: "Und ich bin mir sicher, dass er dich noch immer so liebt, wie einst und auf dich wartet, Cúwen."
Ein trauriges: "Ja", war die Antwort, voller Gewissheit und unsagbaren Verlust. Es war der schmerzvollste Laut, den er in den letzten Jahren vernommen hatte, so sehr, dass sich sein Herz verkrampfte. Als Amarin blinzelte, war ihr Schemen verschwunden, während rings herum die Schneeflocken in einem eigentümlichen Tanz zu Boden sanken.

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Das bewachte Land
« Antwort #16 am: 20. Jan 2020, 16:13 »
Oronêl und Kerry aus Dunland

Kaum hatten die beiden Reiter den Fluss überquert, da traten ihnen bereits mehrere schwer gerüstete Wächter entgegen, die offenbar im Schatten einiger Bäume gewartet hatten.
"Wohin des Weges, Reisende?" wollte einer der Elben wissen. Er trug, wie seine Kumpane, einen langen Umhang mit Kapuze und war mit Bogen und Speer bewaffnet. Einige der Wächter hatten kleine Elbenlampen dabei, die ein bläuliches Licht spendeten.
"Wir wollen nach Ost-in-Edhil," sagte Oronêl. "Wir haben eine dringende Botschaft an eure Königin."
"Die Tore der Stadt sind um diese Tageszeit bereits geschlossen," antwortete der Grenzwächter. "Ihr werdet Ost-in-Edhil heute nicht betreten können."
"Es ist wirklich wichtig, dass wir so schnell wie möglich mit Faelivrin reden," mischte Kerry sich ein.
Der Elb warf ihr einen kühlen Blick voller Missgunst zu, ehe er sich kommentarlos wieder an Oronêl wandte. "Sucht euch ein Quartier für die Nacht. Die Tore werden sich für euch nicht öffnen."
Oronêl warf Kerry einen beruhigenden Blick zu. Dann sagte er: "Danke für die Warnung. Gibt es denn einen Ort, wo wir uns für die Nacht einrichten können?"
"Ein gutes Stück entlang der Straße nach Osten gibt es eine Wegstation für Botenreiter," antwortete man ihm. "Dort werdet ihr Unterschlupf finden."

Kerry warf dem Wächter einen bösen Blick zu, ehe sie sich wieder in Bewegung setzten und die Straße entlang ritten. Kurze Zeit später fanden sie die Wegstation, die aus einem hölzernen Unterstand für mehrere Pferde sowie einer kleinen, angrenzenden Hütte bestand. Zwei Elben saßen am Eingang der Hütte. Als Oronêl und Kerry aus ihren Sätteln stiegen und einige Grußworte riefen, standen die Elben auf und verschwanden wortlos hinter dem Haus.
"Wie unhöflich," sagte Kerry.
"Vermutlich kommen nur wenige Fremde in diesen Tagen hier entlang," überlegte Oronêl. "Eregion war all die Jahrtausende verlassen. Dass hier nun wieder gutes Volk lebt, hat sich sicherlich noch nicht herumgesprochen."
"Dass es hier nur selten Besuch für die Manarîn gibt, entschuldigt noch lange nicht dieses unfreundliche Verhalten," beschwerte sich Kerry.
"Ich... glaube nicht, dass diese Elben zu Faelivrins Volk gehören," meinte Oronêl nachdenklich. "Mathan hat einmal nebenbei davon gesprochen, er sagte, es wären noch andere Elben nach Eregion gekommen. Irgendetwas sagt mir, dass es sich dabei um Avari gehandelt hat."
"Avari?" wiederholte Kerry fragend.
"Elben aus dem Landen jenseits von Rhûn," erklärte Oronêl.
"Hm," machte Kerry, die sich darunter nichts vorstellen konnte. "Ich wünschte, Farelyë wäre noch hier. Sie würde ihnen bestimmt Manieren beibringen."
Oronêl schmunzelte. "Du solltest versuchen, ein wenig zu schlafen. Ich bin mir sicher, morgen steht uns ein weiterer langer Tag bevor."
"Glaubst du... wir werden es noch bereuen?" fragte Kerry, während sie sich ihr Nachtlager im Inneren der kleinen Hütte einrichtete.
"Was meinst du?"
"Dass wir nicht heute noch bis nach Ost-in-Edhil geritten sind," sagte Kerry. "Du weißt doch, was wir in Gwŷras Heimat erfahren haben. Eregion ist in Gefahr. Vielleicht sollten wir..."
"Und du hast gesehen, wie wachsam die Elben an den Furten waren," antwortete Oronêl. "Ich weiß, dass unsere Warnung an die Manarîn entscheidend sein könnte. Aber ich vertraue auch darauf, dass ihre Wachsamkeit sie noch einen Tag länger schützen wird. Wenn wir noch heute weiterreiten und vor verschlossenen Toren stehen, wirst du dir noch wünschen, hier geblieben zu sein, wo du wenigstens ein Dach über dem Kopf hast und vor dem Wind geschützt bist."
Kerry sah ein, dass der Waldelb recht hatte. Zwar hatte der Schneesturm längst nachgelassen, doch noch immer lag ein kalter Wind über dem Land und Kerry war froh, dem Wetter für einige Zeit entronnen zu sein. Mitten in der Kälte vor den Mauern von Ost-in-Edhil zu lagern wirkte auf sie nicht gerade wie eine lohnende Alternative.
"Also gut," murmelte sie und gähnte. "Aber du musst mir versprechen, mich morgen bei Sonnenaufgang zu wecken."
Oronêls Antwort hörte sie kaum noch, als ihr schon die Augen zufielen. "Versprochen, Kerry."

Oronêl hielt Wort. Als er Kerry sanft wachrüttelte und sie müde die Augen öffnete, musste sie blinzeln. Schwaches, rötliches Sonnenlicht fiel durch die Tür der kleinen Hütte.
"Guten Morgen," sagte sie undeutlich und richtete sich auf. "Gut geschlafen?"
Der Waldelb schüttelte den Kopf. "Ich habe mich ein wenig in der Umgebung umgesehen," antwortete er. Immer noch wunderte Kerry sich darüber, wie wenig Schlaf Oronêl brauchte. "Es ist wirklich erstaunlich, wie schnell die Besiedelung Eregions vorangeschritten ist, seitdem wir letztes Jahr hier gewesen sind."
"Wie meinst du das?" wollte Kerry wissen, während sie sich reisefertig machte.
"Ich habe im Westen die Silhouette eines Turmes gesehen, der letztes Jahr noch nicht dort gewesen ist," antwortete Oronêl. "Und im Norden sah ich dünne Rauchschwaden, wie sie von den rauchenden Schornsteinen eines Dorfes stammen könnten."
"Mhm," machte Kerry. "Und was hältst du davon?"
"Wir werden sehen," meinte Oronêl. "Es ist gut, dass die Elben sich hier eine neue Heimat erschaffen. Ich hoffe nur, sie erweisen sich der Bedrohung, die im Gebirge wächst, als gewachsen."
"Machen wir uns auf den Weg," schlug Kerry vor. "Ich will nicht noch einen Tag verlieren, um Faelivrin zu warnen."

Am Mittag kam das Ziel ihrer Reise in Sicht. Als Oronêl und Kerry zuletzt hier gewesen war, hatte Ost-in-Edhil aus nicht mehr als einer riesigen Ansammlung von Ruinen bestanden. Nun war die alte noldorische Stadtmauer vollständig instand gesetzt worden und die Dächer, die dahinter zu sehen waren, wiesen allesamt neue, mit roten Ziegeln gedeckte Dächer auf, auf denen nur wenig Schnee lag. Auf den Turmspitzen flatterten die Banner der Manarîn und die Stadt wirkte, als hätte man ihr ein ganz neues Leben eingehaucht.
Doch als Kerry und Oronêl vor den Toren Ost-in-Edhils angekommen waren, erwartete sie die nächste Enttäuschung. Die schweren Torflügel aus mit Eisen beschlagenem Holz waren fest verschlossen. Davor stand eine ganze Kompanie schwer bewaffneter Elben mit gezogenen Schwertern und Langschilden, die den beiden Reitern den Weg versperrten.
"Die Stadt ist auf Befehl der Königin abgeriegelt," sagte der Anführer der Torgarde. "Wir haben die Anweisung, niemanden hineinzulassen der keiner von uns ist."
Oronêl trat vor. "Wir haben eine wichtige Botschaft an eure Herrscherin," begann er. "Wir sind weit geritten, um ihr eine dringende Warnung zu überbringen."
"Sprecht ihr von den Orks, die sich im Gebirge sammeln?" fragte der Gardist. "Darüber weiß sie seit Kurzem Bescheid. Um genau zu sein ist dies auch der Grund, warum sie den Befehl zur Abriegelung gegeben hat. Es gab in letzer Zeit einige... Missverständnisse mit den Avari." Er hielt inne, als hätte er zu viel gesagt.
"Die Königin ist meine Schwester," wagte Kerry zu sagen. "Ihr solltet uns besser durchlassen, wenn ihr nicht wollt, dass sie euch allesamt aus ihrer Garde schmeißt."
Ungläubige Blicke antworteten ihr. "Du bist ein Menschenmädchen. Und eine dreiste Lügnerin," sagte der Anführer schließlich.
Kerry hatte erwartet, dass Oronêl ihre Behauptung bestätigen würde, doch der Waldelb zögerte. "Es ist wahr!" rief sie trotzig.
"Es spielt keine Rolle was du für die Wahrheit hältst," erwiderte der Gardist. "Wir kennen unsere Befehle, und sie sind eindeutig. Keine Fremden dürfen Ost-in-Edhil betreten. Die Stadt wird gegen einen Angriff befestigt, weshalb wir es uns nicht erlauben können, Spione hinter unsere Mauern schlüpfen zu lassen."
"Wir sind keine Spione!" stellte Kerry wütend klar.
"Lass es gut sein," sagte Oronêl leise. "Ich glaube, wir werden hier keinen Erfolg haben." Er führte Kerry einige Schritte vom Tor weg, außer Hörweite der Wächter.
"Ich glaube es einfach nicht," ärgerte Kerry sich.
"Mach den Soldaten keinen Vorwurf," meinte Oronêl beschwichtigend. "Sie befolgen nur ihre Befehle." Abschätzend betrachtete er die Mauern, die von außen glatt und unüberwindbar wirkten. "Außerdem scheinen sie über die Bedrohung aus dem Gebirge bereits Bescheid zu wissen. Vielleicht ist unsere Warnung gar nicht mehr notwendig."
Kerry stemmte die Hände in die Hüften. "Heißt das, wir sollen also einfach wieder umkehren? Ist es das, was du vorschlägst?"
Oronêl sah sie einen Augenblick lang an. Dann beugte er sich vor und sagte mit gedämpfter Stimme: "Ich habe immer noch das Ding bei mir, das du auf der Lichtung an der Geisterklippe gefunden hast. Ich denke, ich sollte es wirklich nach Imladris bringen."
Kerry biss sich unschlüssig auf die Lippen. "Ja, aber..."
Oronêl wirkte nun entschlossener. "Wenn Ost-in-Edhil uns im Augenblick verschlossen bleibt, und die Elben bereits von dem drohenden Angriff wissen, ändert das für mich unsere Prioritäten. Je eher ich diese Kugel in sichere Hände loswerden kann, desto besser."
"Heißt das, du willst nach Bruchtal reiten?"
"Ich denke schon," antwortete Oronêl.

Gerade als Kerry antworten wollte, erregte ein lautes Geräusch ihrer beider Aufmerksamkeit. Die Tore der Stadt öffneten sich mit einem Donnern und ein einzelner Reiter preschte heraus. Kaum war das Pferd zwischen den Torflügeln hindurch galoppiert, schloss sich das Tor bereits wieder.
"Ein berittener Bote," bemerkte Oronêl. "Sieht ganz so aus, als würde er nach Dunland reiten. Vielleicht bitten die Manarîn Aéd um Hilfe?"
Kerry wurde nachdenklich. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Aéd wiederzusehen wirkte gleichzeitig aufregend und besorgniserregend auf sie. "Sie... scheinen wirklich alles mehr oder weniger im Griff zu haben," murmelte sie und meinte die Elben Eregions, die durchaus auf einen Angriff vorbereitet wirkten und nun sogar ihre Verbündeten alarmieren wollten.
"Komm, Kerry. Gehen wir eines nach dem Anderen an," schlug Oronêl vor. "Wir können immer noch zurückkehren, wenn wir den Palantír - wenn es denn einer ist - in Meister Elronds Obhut übergeben haben."
Kerry gab sich geschlagen. Bisher hatte Oronêls Rat sich oft genug als weise erwiesen. Sie beschloss, ihm auch dieses Mal zu vertrauen, auch wenn sie gerne all jene Elben wiedergesehen hätte, die sie auf der Reise von Mithlond nach Eregion kennengelernt hatte; von Halarîn ganz zu schweigen. Als sie an ihre Adoptivmutter dachte, merkte Kerry, wie sehr sie Halarîn in diesem Augenblick vermisste. Wären nur dieses blöden Mauern und Tore nicht im Weg, dachte sie.
Unverrichteter Dinge machten sie kehrt und nahmen die Straße nach Norden, die hier vom Hauptweg zu den Furten des Sirannon abzweigte. Schon bald lag die abgeriegelte Stadt hinter ihnen. Kerry Sorgen hingegen ließen sich nicht so leicht zurücklassen...


Oronêl und Kerry in Richtung Imladris
« Letzte Änderung: 28. Jan 2020, 19:35 von Fine »
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Eine Rückkehr
« Antwort #17 am: 3. Feb 2021, 16:37 »
Elea, Finjas, Arwen, Pippin und Kerry vom nördlichen Eregion


Wo bist du nur, Oronêl?
Viel zu oft hatte Kerry sich diese Frage nun schon gestellt, ohne dass sie eine Antwort erhalten hatte. Pippin, der vor ihr im Sattel saß, schien ihre Sorgen zu spüren.
"Er wird schon wieder auftauchen, spätestens wenn wir diese befestige Elbenstadt erreicht haben, von der du gesprochen hast."
"Ost-in-Edhil," antwortete Kerry wie automatisch, doch ihr Tonfall blieb von Kummer durchzogen.
"Genau die meinte ich," sagte Pippin. "Du hast doch Freunde dort, nicht wahr?"
"Familie, um genau zu sein," erwiderte sie leise. Und tatsächlich linderte das ihre Sorgen ein wenig. Die Manarîn würden wissen, was zu tun war. Und vielleicht hatte Pippin ja recht, und Oronêl würde am Hofe der Königin bereits auf sie warten.
"Ach ja, richtig... du hattest davon erzählt," fuhr Pippin fort. "Ich bin wirklich gespannt wie es dort so aussehen wird. Als ich... zuletzt hier war, gab es in diesem Land nichts als Ruinen."
"Das ist genau der Grund warum wir uns beeilen müssen," sagte Kerry mit fester Stimme. "Wir müssen verhindern, dass Eregion wieder zu einem Trümmerhaufen wird."
Sie musste daran denken, was Elea am Morgen zu ihr gesagt hatte. Ganz besonders hatte ihr aber die Umarmung der Dúnadan gutgetan und sie soweit beruhigt, dass sie sich dem Entschluss gefügt hatte, nicht länger nach Oronêl zu suchen.
"Und genau das werden wir auch tun, Kerry," sagte Pippin einigermaßen gelassen. "Wir haben seitdem wir die Grenze Eregions überschritten haben, noch nichts von irgendwelchen Orks gesehen. Also Kopf hoch! Wir werden rechtzeitig dort sein."

Pippin sollte recht behalten. Einige Stunden später, am späten Nachmittag, erreichten sie eine kleine Anhöhe inmitten der Ebenen. Von dort hatten sie einen guten Blick auf die alte Hauptstadt Eregions, die sich nun südlich von ihnen ausbreitete. Die Mauern wiesen nun bereits viel weniger Lücken auf, wie Kerry bemerkte, und sie sah die Helme der Wächter auf den Wehrgängen im Licht der sinkenden Sonne blinken.
"Ost-in-Edhil," sagte Arwen leise. "Viele Male habe ich seine Ruinen gesehen, wenn mich mein Weg vom Heim meines Vaters zu den Wäldern meiner Mutter führte. Doch niemals war so viel Leben in der alten Stätte wie heute."
Von Weitem konnte sie sehen, dass rings um die Stadt ein reges Treiben herrschte. Zu ihrer Überraschung schienen mehr Leute die Stadt zu verlassen anstatt Schutz hinter ihren Mauern zu suchen.
Finjas brummte. "Kommt mir so vor als würden sie die Frauen und Kinder schon evakuieren."
"Gut nöglich," sagte Elea, die direkt neben ihm ritt.
"Wir müssen schnell herausfinden, was da vor sicht geht!" sagte Kerry aufgeregt und wollte schon losreiten, doch Pippin hielt sie zurück. "Wenn, dann gehen wir alle zusammen."
"Er hat recht," sagte Arwen. "Wir wissen nicht, wie die Manarîn auf unsere Ankunft reagieren werden. Wir haben gehört, dass es Uneinigkeit unter ihnen gibt, insbesondere bei jenen, die aus dem Osten gekommen sind."
Kerry blickte Elea an, die sich mittlerweile für sie zu einer echten Bezugsperson entwickelt hatte. Als die Dúnadan langsam nickte, tat es Kerry ihr gleich.

Vorsichtig ritten sie bis an das Stadttor, das ihnen am nächsten gelegen war. Kerry spürte Anspannung in sich aufsteigen. Das letzte Mal, als sie mit Oronêl hier gewesen war, hatte man sie nicht eingelassen. Ob es diesmal anders werden würde?
Scharen von Elben kamen ihnen aus dem Inneren der Stadt entgegen und Finjas sah seine Vermutung bestätigt. Sie schnappten mehrfach auf, dass diese Elben an einen Ort namens Lissailin eavukiert werden sollten. Dennoch bedeutete das nicht, dass die Wachen unachtsam waren. Kaum war die Gruppe heran, wurde sie schon von mit Speeren bewaffneten Kriegern umringt, die aus einer Tür in der Seite des Torbogens hervorströmten.
"Fremden ist der Zutritt nicht gestattet," sagte der Anführer der Wächter. Sein Gesicht war bis auf die Augen von einem weißen Tuch bedeckt, darüber ruhte ein enger, silberner Helm.
Arwen ließ ihr Pferd ein wenig vortreten. "Ich bin Arwen Undómiel, von Imladris. Bei mir sind Ténawen Morilyë Nénharma und drei unserer Gefährten. Wir bitten darum, mit eurer Königin sprechen zu dürfen."
Der Wächter zögerte, dann jedoch nahm der Soldat neben ihm seinen Helm ab und zog das Tuch vor seinem Mund beiseite. "Na wenn das mal nicht die kleine Kerry ist!" sagte er und grinste.
"Ich kenn dich doch," sagte Kerry, dann fiel ihr der Name des Elben ein. "Fanael, richtig?"
Der Angesprochene nickte und deutete eine gespielte Verbeugung an. "Sieh an, du erinnerst dich also. Es war ein langer Weg von Fornost durch die Eiswüste bis nach Lindon, nicht wahr?"
"Das war es..." sagte Kerry. Hier war einer der drei Gardisten Faelivrins, die ihre Königin von Fornost bis zu den Schiffen der grauen Anfurten begleitet hatten. "Was für ein Glück dass du hier bist! Ich hatte schon befürchtete, sie würden uns wieder nicht einlassen."
"Wieder?" fragte Fanael.
Kerrys Miene verdüsterte sich. "Vor drei Wochen hat man Oronêl und mich fortgeschickt."
Fanael war bestürzt. "So weit ist es also schon gekommen... kommt, ich bringe euch bis zum Palast. Lasst sie durch, Kameraden! Sie sind vertrauenswürdig."
"Du bürgst für sie, Fanael," sagte der Wachhauptmann streng. "Und für all ihre Vergehen."
Fanael nickte, dann führte er die Gruppe durch das Tor hindurch, über den anschließenden Platz jenseits der Mauern und in eine breite Seitengasse. "So... am besten stellt ihr die Pferde hier erst einmal ab, ich lasse sie später zu den königlichen Stallungen bringen," versprach er. "Welch ein Zufall, dass du gerade heute ankommst, Kerry," sagte er dann und rieb sich nachdenklich das Kinn.
"Wie meinst du das?" wollte sie wissen.
"Nun... Farelyë bat mich, heute am Nordtor Wache zu halten. Sie sagte, es gäbe dort heute etwas zu sehen. Und sie hatte recht!"
"Ja, das habe ich für gewöhnlich, mein lieber Fanael," ertönte Farelyës Stimme hinter ihnen. Dort stand die geheimnisvolle Elbin, und zu Kerrys Überraschung trug sie eine Rüstung aus Leder, unter der ein Kettenhemd hervorlugte, und ein langes Schwert an der Seite. Kaum etwas erinnerte nun noch an das kleine Elbenmädchen, das Kerry einst in den Verliesen unter Carn Dûm kennengelernt hatte.
"Farelyë! Du bist hier!" rief Kerry strahlend und umarmte ihre Freundin.
Arwen blieb stehen und musterte Farelyë lange. Dann senkte sie sachte das Haupt. "Erste," grüßte sie respektvoll und schlicht.
Elea trat neben Kerry und fragte: "Diese Dame ist deine Freundin, Kerry?"
"Sie ist wie eine Schwester für mich," erklärte Kerry. "Jetzt, wo sie hier ist, wird alles gut werden. Farelyë, die sind Elea, Finjas, Arwen und Pippin, wir sind aus Bruchtal gekommen, um-"
"Es bedarf keiner weiteren Warnung, Morilyë," sagte Farelyë ruhig. "Das Land befindet sich bereits im Aufruhr. Ihr habt ja gesehen, dass all jene aus der Stadt gebracht werden, die nicht kämpfen wollen oder können."
"Auch meine Amil?"
"Halarîn ist noch hier, keine Sorge. Aber bevor wir dich zu ihr oder zur Königin bringen können, brauche ich etwas von dir."
"Von mir?" fragte Kerry erstaunt.
"Ich brauche jenes, was Mathan dir einst in Fornost Erain gab, und dich bat, darauf achtzugeben."
Kerry brauchte einen langen Augenblick ehe sie verstand, wovon Farelyë da sprach, bis ihr endlich ein Licht aufging. Den ganzen langen Weg von Fornost bis hierher hatte sie es quer durch Mittelerde getragen, verborgen im hintersten Winkel ihrer Tasche. Sie tastete danach, und zog es vorsichtig hervor."
"Eine... Nuss?" wunderte sich Pippin, der als erster erkannte, worum es sich dabei handelte.
"Die Frucht des Hulstbaumes," sagte Arwen.
"Aber woher kommt sie?" wollte Elea wissen.
Farelyë nahm Kerry die Nuss sachte aus der Hand und ging los. "Kommt mit. Im Zentrum der Stadt gibt es einen Garten, wo ein alter Hulst steht, der die Verwüstung von einst überdauert hat. Mathan empfing die Nuss einst von jenem Baum, und nun müssen wir sie ihm zurückbringen."
"Warum?" wollte Pippin prompt wissen.
"Ivyn warnte mich vor solchen Fragen," seufzte Farelyë, dann lachte sie. "Dies alles zu erklären würde viel Zeit beanspruchen - Zeit, die wir jetzt nicht haben," sagte Farelyë und bog um eine Ecke herum. "Die Pferde lasst hier! Fanael und Angatar werden sich um sie kümmern."

Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, bis sie in einen stillen Garten kamen, der nur von kleinen, niedrigen Gebüschen bewachsen war, bis auf einen mächtigen Hulstbaum, der sich inmitten eines Rasenstückes erhob. Der Garten sah aus, als wäre er frisch gepflegt worden, doch als die Gruppe dort ankam, war er vollkommen verlassen. Farelyë zupfte sanft ein Blatt von einem der niedrigen Äste des Baumes, wickelte die Nuss darin ein und kniete sich dann in ungefähr fünf Schritt Entfernung vom Baumstamm auf den Rasen. Als Kerry neugierig neben sie trat, sah sie, dass jemand dort ein ungefähr faustgroßes Loch gegraben und dieses mit Wasser gefüllt hatte. Farelyë murmelte Worte in einer fremden Sprache, dann legte sie die Nuss in das Loch und verschloss es mit der losen Erde, die daneben lag.
"Mögest du gemeinsam mit den Manarîn stark werden und dieses Land zieren," sschloss sie auf Quenya. Dann erhob sie sich. "Ihr müsst erschöpft sein von eurer Reise. Ihr könnt später mit der Königin sprechen, ich sorge dafür dass ein Treffen arrangiert wird. Bis dahin schlage ich vor, dass wir uns in meine Unterkunft zurückziehen, und uns stärken. Keine Sorge, es wird genug für alle geben, und du Kerry, wirst deine Familie bald sehen."
Erstaunlicherweise war es Finjas, der sagte: "Etwas zwischen die Zähne zu bekommen klingt gut."
Alle stimmten ihm zu und verließen den Garten.
« Letzte Änderung: 6. Feb 2021, 17:51 von Fine »
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Re: Eregion
« Antwort #18 am: 5. Feb 2021, 21:53 »
Wer ist diese geheimnisvolle Elbe? Was hat es mit der Hulstenfrucht auf sich? Wer ist diese Halarîn? Und viele weitere Fragen schossen Elea durch den Kopf als sie dieses spontane Ritual beobachtete. Ein Schauer überkam die Dúnadan, als die silbernen Augen Farelyë’s sie bei ihrer ersten Begegnung musterten und doch war sie auf unerklärliche Weise angetan von der Elbe.

Als sie den stillen Garten, der zweifellos ein Heiligtum der Stadt darstellte, verließen wurde Elea ihre Umgebung so richtig bewusst. Wo einst nur Ruinen standen, war nun wieder eine Stadt erwacht. Das Erscheinungsbild war ungewöhnlich und wirkte fremd. Die Gebäude bestanden zwar wie in Gondor überwiegend aus hellem Gestein, aber waren viel detailreicher in ihrer Ausführung. Durch die zahlreichen Rundsäulen, Terrassen, Rundungen und Torbögen wirkte alles weniger wuchtig als in Minas Tirith. Es verlieh Ost-in-Edhil eine Ausstrahlung von angenehmer Leichtigkeit. Eigentlich würde sie sich wohl fühlen, wäre da nicht dieses mulmige Gefühl in ihrer Magengrube.

Farelyë führte die Gruppe vor die Tore des Palastviertel. Bereits nach dem dritten Mal abbiegen in den engen Gassen der Stadt verlor Elea den Überblick über den Weg und folgte nur noch den anderen. Südwestlich des Palastes war eine kleine Anhöhe, auf der eine zweigeschossiges Haus stand. Ein Bogengang schlang sich um das gesamte Erdgeschoss, gegen Westen hin verlängerte sich dieser um eine ausgedehnte Terrasse.
„Es ist alles für euch vorbereitet“, sagte schließlich die silberäugige Elbe „Faelivrin konnte es kaum erwarten, dass du wieder hier sein würdest, Morilië.“
Kerry grinste leicht verlegen. Elea war froh, dass das Wiedersehen mit ihrer Familie, so wie sie sie nannte, die Sorge um das Verschwinden von Oronêl überlagerte.
Alle gemeinsam betraten sie das Haus und gingen in einen großen Speiseraum im südlichen Teil des Hauses. Es war bereits einiges aufgetischt, sodass sie sich ohne Umschweife an den Tisch setzten und reichlich zulangten. Elea beobachtete verstohlen die anderen. Es war schön mitanzusehen, wie Finjas mit großen Happen seinen Hunger stillte, Arwen die mit feiner Anmut ihren Teller befüllte, Kerry die vor lauter Getuschel mit der fremden Elbe auf das Essen vergaß und schließlich Pippin, der sogar mehr vor sich auf dem Tisch hatte als der ausgewachsene Finjas.

„Nun bin ich aber gespannt, wie ihr euch kennen gelernt habt“, fragte Elea ihre blonde Gefährtin und Farelyë.
„Oh das ist schon lange her, Farelyë war damals noch ein Kind“, scherzte Kerry und sah dabei lächelnd zu der Elbe die sofort miteinstimmte. Ihre Backen färbten sich rot.
„Junges Mädchen“, hob Elea tadelnd aber im Scherz den Finger „Also, wenn ich Arwen so ansehe die tausend Jahre älter ist und Jahrzehnte jünger aussieht, möchte ich meinen, dass es mindestens ein Menschenleben lang dauert ehe ein neugeborener Elb überhaupt sein erste Wort von sich gibt“, antwortete Elea „Du kannst sie also nicht als Kind kennen gelernt haben.“
„Und du meinst ihr Menschen habt es schneller heraußen?“, konterte ihre elbische Freundin.
„Was bleibt uns denn anderes übrig“, warf Finjas trocken dazwischen.
Alle am Tisch begannen zu lachen.

Danach fing Farelyë die Geschichte an „Morilië habe ich meine Freiheit zu verdanken. Sie war es, die mich nicht in den Verliesen des Nordens zurückgelassen hat. Sie war es, die mir in der Dunkelheit Hoffnung gab und mir eine Freundin war.“ Bei diesen Worten begannen die Augen der Elbe auf geheimnisvolle Art zu leuchten. Es mussten die Erinnerungen sein, die diese Reaktion hervorriefen.
„Hör schon auf“, tat die Rohirrim es ab und starrte verlegen in ihren Teller.
„Mutig ist sie, da gebe ich euch recht“, unterstützte sie Elea.
Anschließend versiegte das Gespräch und es trat ein betretenes Schweigen ein. Und so sehr sie diesen Moment genossen haben, so verflog er doch und der Grund ihrer Reise nahm wieder seinen angestammten Platz ein.

„Was geschieht hier?“, fragte schließlich Finjas die ansässige Elbe.
„Ost-in-Edhil wird geräumt. Faelivrin hat angeordnet, dass alle Bewohner die nicht in der Lage sind zu kämpfen die Stadt Richtung Westen verlassen“, antwortete die Elbe neutral „Die letzten Monate war es sehr ruhig im Gebirge. Es gab kaum Angriffe von den Orks, aber dies macht die Situation nicht angenehmer. Wir sind dankbar für die Zeit, denn jeder Tag der vergeht, ist ein Tag an dem unsere Verteidigungsanlagen stärker werden. Aber im Endeffekt fehlt es uns an Arbeitern und Soldaten.“
„Bruchtal schickt Verstärkung“, warf nun Arwen dazwischen.
„Das wissen wir und es ist auch notwendig, aber sonst haben wir niemanden auf den wir zurückgreifen können.“
„Was ist mit den Dunländern?“, fragte Kerry irritiert „Habt ihr Ae“, sie stockte, warf einen verstohlenen Blick zu Elea und setzte dann fort „Habt ihr den Wolfskönig benachrichtigt?“
Farelyë nickte: „Die Dunländer unterstützen uns mit ihren helfenden Händen, aber sie scheuen sich vor einem Bündnis. Die Angst eines Angriffes auf das Dunland ist zu groß.“
„Und die Dunedain?“, fragte Elea.
„Nachricht von den Menschen des Nordens haben wir nicht erhalten.“
Elea sah besorgt zu Finjas, er erwiderte ihren Blick und streckte ihr dann unter dem Tisch die Hand entgegen um ihre zu ergreifen. Sie fragte sich, ob Fornost selbst gerade bedroht wurde.
„Entsendet Boten nach Fornost!“, forderte Finjas sie auf.
„Dies sind Angelegenheiten die ihr mit der Königin besprechen müsst, nicht mit mir. Ich denke, dass sie euch bald empfangen wird, vor allem dich Kerry.“
Das blonde Mädchen presste die Lippen zu einem aufgelegten Lächeln zusammen. Elea erkannte wieder die Sorge über Oronêls Verbleiben in ihrem Gesicht.

„Farelyë“, sprach Elea sie nun an „eure Späher, haben Sie im Norden von hier etwas entdeckt? Gab es Angriffe von Orks in letzter Zeit oder sonst etwas ungewöhnliches?“
Erwartungsvoll sah Kerry nun zu ihrer Freundin.
„Nein, wie gesagt, es war sehr ruhig.“
„Hast du was von Oronêl gehört? Oder hast du ihn wahrgenommen?“, platzte es aus Kerry unweigerlich heraus.
„Von Oronêl? Nein“, die Elbe wirkte überrascht „Nein, Kerry“, sagte sie einfühlsam „Ich wusste, dass ihr kommen würde, aber von Oronêl wie ich nichts.“
Arwen klärte sie nun mit ihrer sanften Art über die Geschehnisse der letzten Nacht auf. Farelyë streichelte ihr danach tröstend über den Rücken und sprach ihr leise einige Worte zu.
Elea versuchte noch einige Bissen zu sich zu nehmen, aber es war ihr nicht ganz wohl. Sie ging hinaus auf die Terrasse und schaute über die Stadt. Zum Glück war der Schnee mittlerweile geschmolzen und die Sonne warf ein paar wärmende Strahlen auf sie.
Erst jetzt wurde ihr bewusst was sie fühlte. Genau dieses mulmige Gefühl hatte sie damals in Minas Tirith. Nie wollte sie in den Krieg ziehen, aber sie konnte nicht verhindern, dass er zu ihr kam. Ich muss wir weg. Wir müssen hier weg. So schnell wie möglich. Ost-in-Edhil ist nicht mein Ziel.
1. Char Elea ist in Bree  -  2. Char Caelîf ist in Palisor

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In Farelyës Haus
« Antwort #19 am: 6. Feb 2021, 15:41 »
Als Kerry sah, wie Elea mit einem unwohlen Gesichtsausdruck nach draußen ging, blickte sie ihr eine ganze Weile nachdenklich hinterher. Ein kurzer Blick zu Finjas, dem schweigsamen Waldläufer, ließ sie ahnen, dass er sich ebenfalls um Elea Gedanken machte. Doch nachdem er noch einige Minuten vor sich hin gegrübelt hatte, stand Finjas auf und entschuldigte sich, weil er nach den Pferden sehen wollte. Kerry erwartete zwar, dass Angatar und Fanael die Tiere mittlerweile zu Farelyës Haus gebracht hatten, aber sie stimmte dem Waldläufer darin zu, dass es sicherlich nicht schaden konnte, das Ganze zu überprüfen.
Arwen und Farelyë sprachen leise auf Quenya miteinander, und Pippin hatte sich nach dem reichhaltigen Essen bereits zu Bett begeben; der harte Ritt von Imladris nach Ost-in-Edhil hatte dem Hobbit wohl mehr Kraft gekostet als er selbst geahnt hatte. Kerry beschloss, später nach ihm zu sehen, dann stand sie leise auf und ließ die beiden Elbinnen im Gespräch zurück, um Elea auf den Balkon zu folgen.

Die Sonne ging unter und tauchte die Stadt in ein feuriges Rot, als Kerry hinaus trat. Eleas Silhouette zeichnete sich gegen den Sonneruntergang ab. Beinahe hätte Kerry sie lieber in Frieden gelassen, aber dann fasste sie sich ein Herz und trat neben die Dúnadan. Sie folgte Eleas Blick über die Dächer hinweg, dann schaute sie der Frau ins Gesicht. "Elea?" fragte sie zaghaft.
"Hm? Oh, du bist es, Kerry," sagte Elea etwas überrascht, als wäre sie tief in Gedanken versunken gewesen.
"Ist alles... in Ordnung?"
Elea seufzte und antwortete zunächst nicht, stattdessen ließ sie ihren Blick wieder in die Ferne schweifen. Da nahm Kerry Eleas Hand zwischen ihre beiden Hände. "Du kannst es mir erzählen," sagte sie mitfühlend.
Elea wandte ihr den Blick wieder zu. "Oh... liebes Mädchen, ich,..." stammelte sie gerührt, und legte ihre freie Hand auf Kerrys Hände, sodass sie einander nun nahe beieinander gegenüber standen. "Es ist nur so, dass ich... mich hier in der Stadt nicht wohl fühle, es ruft ungute Erinnerungen wach, und... am liebsten würde ich sofort wieder losziehen, oder sogar rennen, nur um von hier fortzukommen..."
Kerry konnte sich zunächst keinen Reim darauf machen. "Aber... wir sind hier in Sicherheit, und meine Familie und meine Freunde sind hier," sagte sie.
"Und auch sie sind alle in Gefahr," erwiderte Elea und schaute ihr genau in die Augen. "Es zieht Krieg herauf, und ich will nicht hier festsitzen, wenn der Feind diese Mauern hier erreicht, so stark sie auch sein mögen..."
Jetzt verstand Kerry sie besser. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie mit Gandalf auf den Wällen von Fornost gestanden hatte und den Angriff aus Angmar abgewartet hatte. Sie hatte das Gefühl der Machtlosigkeit gehasst, das damals ihr Herz ergriffen hatte. "Ich... ich verstehe was du sagst," murmelte sie, und ließ Eleas Hände nicht los. "Bestimmt hast du von der Belagerung von Fornost gehört?"
"In Bree erzählte man sich davon," bestätigte Elea leise.
"Ich war dabei," sagte Kerry. "Deswegen glaube ich, dass ich weiß, was du fühlst, liebe Elea. Und ich verstehe, dass du Angst hast. Aber dies ist nicht Fornost, dort hatten wir nur sehr wenige kampffähige Leute. Hier, in Ost-in-Edhil, ist die ganze Stadt voller gut ausgebildeter Wächter, und es sind Elben... Elben die dafür kämpfen, ihre neue Heimat zu verteidigen. Die Manarîn werden nicht scheitern... das weiß ich."
"Du machst mir Mut, kleine Kerry," sagte Elea und ein ferner Glanz trat in ihre Augen, "Aber dennoch werde ich das ungute Gefühl nicht los..."
"Wenn... wenn es dadurch leichter für dich würde..." schlug Kerry etwas stockend vor, "Dann... könnten wir doch gemeinsam zu dem sicheren Ort gehen, Lissailin haben sie es genannt, an den gerade alle die nicht kämpfen können evakuiert werden? Wie wäre das? Ich will zuvor mit der Königin sprechen und meine Mutter wiedersehen... aber danach würde ich mit dir gehen, Elea."
"Das würdest du tun?" fragte Elea und wirkte erneut gerührt.
Kerry nickte und umarmte die Dúnadan voller Zuneigung.
"Ich... werde es mir überlegen, mein liebes Mädchen," sagte Elea, die die Umarmung erwiderte. "Aber es ist spät, und wir alle sind müde. Am besten legst du dich für heute hin, wenn du morgen so viel vorhast."
"Ist gut," sagte Kerry, die diesen Vorschlag für eine exzellente Idee hielt. Sie verließ den Balkon und legte sich in Farelyës Zimmer schlafen.
"Normalerweise schläft Ivyn dort," sagte Farelyë noch, ehe sie sich ebenfalls hinlegte und meinte damit das Bett, das Kerry nun beansprucht hatte. "Aber sie verbringt momentan die meiste Zeit im Palast, an der Seite der Königin."
"Morgen spreche ich mit ihr," murmelte Kerry müde, dann machte sie die Augen zu und es dauerte gar nicht lange, bis sie in den Schlaf gedriftet war.

Im Traum ging sie durch einen Wald mit goldenen Blättern. Sie war nie zuvor in ihrem Leben an einem solchen Ort gewesen und wusste auch nicht, wo in Mittelerde es ihn geben könnte. Doch das kümmerte sie nicht. Staunend sah sie sich um und entdeckte zu ihrer Rechten einen breiten Bach mit silbrigem Wasser darin. Sie näherte sich dem Gewässer und beugte sich darüber, denn das Wasser war so klar, dass sie sich darin spiegelte. Verwundert musste sie feststellen, dass sie eine Fremde anblickte. Das Haar war braun, die Ohren liefen spitz zu - eine Elbin, kein Zweifel. Die Gesichtszüge kamen Kerry nur vage vertraut vor. Sie hob die linke Hand an ihre Wange und ihr Spiegelbild tat es ihr gleich.
Ein fernes Grollen ließ sie aufschrecken. Zu ihrem Entsetzen war der friedliche Wald wie verwandelt - dicke Rauchschwaden krochen über den Waldboden, und zwischen den Baumstämmen war ein unheilvolles, rötliches Glühen zu sehen. Der Wald stand in Flammen! Kerry sprang auf, drehte sich vom Fluss weg, der auf einmal blutrot geworden war, und wäre beinahe über eine Leiche gestolpert. Sie schrie vor Angst auf und stellte fest, dass sie sich auf einem Schlachtfeld zwischen den Bäumen befand, das von reglosen Körpern von Elben und Orks übersät war. In der Entfernung sah sie eine Gestalt knien, einen dunkelhaarigen Krieger mit einem langen, gebogenen Schwert, das ihm gerade aus den Händen glitt. Als Kerry einen Schritt in seine Richtung machte, sackte der Fremde hinüber und blieb leblos liegen.

Das war der Moment, in dem Kerry gnädigerweise aufwachte. Zum Fenster herein schien helles Mondlicht, was sie beruhigte. Im Bett gegenüber saß Farelyë, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, und rührte sich nicht - eine Art des Elbenschlafes, die Kerry bereits ein- oder zweimal bei Oronêl gesehen hatte. Sie beschloss, ihre Freundin nicht zu stören und am besten einfach weiterzuschlafen. Da hörte sie, wie die Tür zum Gang hin leicht knarzte und fuhr zusammen. Eine Gestalt schlüfte herein, dann flammte das bläuliche, sanfte Licht einer Elbenlampe auf und Kerry erkannte ein vertrautes Gesicht.
"Amil!" entfuhr es ihr überrascht und erleichtert, und sie sprang aus dem Bett, um Halarîn zu umarmen.
"Vorsichtig, vorsichtig," warnte Halarîn sie und deutete auf ihren Bauch. Ihr Bauch! durchzuckte Kerry ein Gedanke und sie riss vor Staunen die Augen auf. Halarîn war hochschwanger. Sie schien bei guter Gesundheit zu sein, wirkte aber sehr mitgenommen. Ob daran allein die Schwangerschaft schuld war, konnte Kerry nicht erkennen.
"Tut mir Leid..." entschuldigte sie sich sofort.
"Ich habe mich auch gefreut, dich wiederzusehen, meine Kleine," sagte Halarîn sanft. "Farelyë hat mir einen Boten gesandt, dass du hier bist. Bringst du Nachricht von Mathan?"
Kerry hielt inne und dachte nach. "Er ging mit uns bis zum Düsterwald," erzählte sie. "Dann hat er sich nach Norden gewandt, um nach der Heimat seiner Mutter zu suchen, glaube ich..."
"Mach dir keine Sorgen, es geht ihm gut. Wenn ihm etwas zugestoßen wäre, wüsste ich es," beruhigte Halarîn sie. "Ich hoffe nur, er beeilt sich... lange kann das Kind nicht mehr warten, fürchte ich."
"Er wird kommen," beteuerte Kerry sogleich. "Das hat er dir versprochen."
Leise saßen sie gemeinsam auf dem Bett und tauschten sich über die lange Zeit aus, die sie einander nicht gesehen hatten. Kerry sprach von der langen Reise, die sie hinter sich hatte, seitdem sie Eregion mit Oronêl und Mathan verlassen hatte. Der Pfad hatte sie über Imladris und den Hohen Pass durchs Tal des Anduin bis zum Reich der Waldelben und bis zum Einsamen Berg geführt, und von dort auf einem langen Umweg über Rohan, Dunland und Enedwaith wieder zurück zu ihrer Adoptivmutter. Halarîn stellte viele Zwischenfragen, hörte aber auch sehr aufmerksam zu, und Kerry vergaß beim Erzählen ihre Müdigkeit, so froh war sie, Halarîn wiederzusehen. Diese schien sich vor allem für das Schicksal der Elben des Waldlandreiches zu interessieren. "Ich habe auf unserer gemeinsamen Reise ein paar Mal mit Finelleth sprechen können, und bin froh, dass sie sich dazu entschieden hat, die Bürde ihres Vaters auf sich zu nehmen," merkte sie dazu an. Doch ihr Interesse galt auch dem Wiedersehen mit Kerrys Vater und ihrer Zeit mit Aéd. Tatsächlich war das am Ende das Thema, über das die beiden am meisten sprachen, und je später es wurde, desto mehr sprach Kerry sowohl von Aéd, als auch von Helluin, bis Halarîn schließlich glockenhell lachte und sie umarmte. "Nein, meine kleine Morilië, ich kann dir nicht raten, für wen du dich entscheiden sollst, das ist eine Wahl, die nur du treffen kannst. Aber ich bin mir sicher, wenn du tief in dein Herz hinein horchst und deine Gefühle ein wenig erforschst, wirst du die Antwort finden, die du suchst."
"Das ist nicht sehr hilfreich, Amil," sagte Kerry etwas pampig und entschuldigte sich daraufhin gleich wieder dafür.
"Nun, so ist das im Leben nun einmal. Du wirst erwachsen und musst lernen, eigene Entscheidungen zu treffen, Morilië. Wenn dein Geschwisterchen auf der Welt ist, wirst du seine große Schwester sein, und große Schwestern sind für gewöhnlich vernünftig, nicht wahr?"
Kerry schmollte ein wenig, musste aber zugeben, dass Halarîn auf ihre Weise Recht hatte. Es gab niemanden, der ihr die Entscheidung abnehmen konnte, die ihr bevorstand, wenn sie Aéd wiedersehen würde. Sie seufzte tief.
"Lass dir das Herz nicht zu schwer werden," sagte Halarîn. "Du solltest noch ein wenig schlafen. Morgen musst du mit Faelivrin sprechen, sie erwartet dich. Und dann werden wir zusehen, dass wir diese neue Heimat verteidigen gegen diejenigen, die sie uns wegnehmen wollen..."
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Curanthor

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Dunkelheit, umgeben vom Licht
« Antwort #20 am: 6. Feb 2021, 22:24 »
Aus der Sicht Adriennes

Es waren Wochen vergangen, seitdem Mathan und seine Gefährten aufgebrochen waren und in all der Zeit war ihr nie wirklich bewusst geworden, wie sehr sie Gesellschaft schätzte. Die Manarîn waren distanziert, ausgenommen die königliche Familie, die sie nur äußerst selten zu Gesicht bekam. Adrienne war die meiste Zeit damit beschäftigt gewesen, unter Amarin im Schwertkampf unterwiesen zu werden. Der alte Elbenmeister war unbarmherzig und gönnte ihr keinen einzigen Fehler. Er verlangte Perfektion. Jetzt war ihr auch klar, warum Mathan ein Meister mit dem Schwert war. Sein Vater war ein regelrechter Sklaventreiber - oder es kam ihr nur so vor, da sie sich ständig als zu schwach empfand. Dieses Gefühl der Unzulänglichkeit nagte durchgehend an ihr. Nachts fand sie deswegen kaum Schlaf.

Es war wieder so ein Tag wie jeder andere, Adrienne folgte Amarin durch das Nordtor der Stadt. Wie jedes Mal, warf sie einen Blick auf die mächtige Mauer, die für sie in sagenumwobener Rekordzeit wieder aufgerichtet wurde. In regelmäßigen Abständen hatten die Elben Türme errichtet, die die mehr als drei Schritt breite Mauer in Abschnitte unterteilte. Dutzende Steinmetze arbeiteten in Schichtarbeit daran, die letzten Zinnen aufzurichten. Der durchgehende Klang von Meißeln auf Stein erfüllte die Torburg, als sie das Tor durchquerten. Sie blickte wieder zu Amarin, der sich die Arbeiten abschätzend ansah, ohne dabei langsamer zu werden. Einzelne Elben nickten dem alten Meister knapp zum Gruß, die meisten waren jedoch mit ihrer Arbeit beschäftigt. Keiner nahm Notiz von ihr. Sie passierten den großen Exerzierplatz, der vor dem Tor lag. Elbische Befehle wurden gebrüllt. Adrienne erblickte eine Kompanie schwer gepanzerter Elben in silber-blauen Rüstungen auf dem Platz. Sie alle trugen himmelblaue Mäntel, messerscharfe Speere funkelten im Sonnenlicht. Aufgereiht wie die Schnur einer Perle, bildeten sie einen Schildwall. Das Mädchen kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden. Ein weiterer Befehl wurde gebrüllt, die Linie bewegte sich wie ein Mann und bildete einen schützenden Kreis. Sie musterte die Mäntel genauer, an deren Rändern verschlungene, goldene Runen gestickt waren. Adrienne erkannte es. Hier übte die königliche Garde mit all ihren zweihundert besten Kriegern. Weiter hinten erblickte sie Isanasca, die die Übung mit verschränkten Armen beaufsichtigte.
"Komm, wir haben noch viel zu tun, Núlwen", sagte Amarin ohne sich umzudrehen, oder den Elbenkriegern zuzusehen.
In dem Moment gab die Prinzessin einen scharfen Laut von sich und die Garde ließ die Lanzen fallen, um die Schwerter zu ziehen.
"Adrienne", forderte der alte Elbe sie mit Nachdruck auf, sagte dann aber sanfter: "Ah, ich habe vergessen, dass du deinen Spitznamen gar nicht so sehr magst. Mein Fehler."
"Weil mir niemand sagen möchte, was er bedeutet", brummte sie unzufrieden und stapfte dem alten Elb hinterher, zu dem Hügel, unter dem sich die Schmiede Eregions verbarg. Amarin antwortete nicht, sondern führte sie zu dem verborgenen Eingang. Kurz nachdem Mathan abgereist und die übrigen Avari angekommen waren, hatte Faelivrin veranlasst, die Schmiede wieder zu verstecken. Adrienne war einer der wenigen, die wussten, wo in etwa der Eingang war. Sie vermutete aber, dass die hohe Herrin Ivyn eine Art Elbenzauber gewirkt hatte, denn selbst Adrienne konnte ohne Hilfe die verborgene Spalte im Fels nicht finden, obwohl sie die Schmiede schon mehrfach betreten und verlassen hatte.

Unten angekommen passierten sie die übrigen Schmiedeplätze, an denen die talentiertesten Schmiede unter Amarins Aufsicht und nach dessen Anleitung unablässig Schwerter, Rüstungsteile und anderes Kriegsmaterial schmiedeten. Das Hämmern der Schmiedehämmer und die dämmrige Licht, das von dem heißen Öfen flackernd in den Raum geworfen wurden, ließen Adrienne ahnen, wie es in den Hallen der Zwerge wohl aussehen würde. Wie immer stand zuerst ein Kontrollgang an, denn Amarin achtete sehr genau auf die Qualität und setzte seine eigenen Maßstäbe an - nämlich die eines uralten Elben der Noldor. So hatte ihr es Faelivrin eines Abends erklärt, als sie mehr über ihren Lehrmeister erfahren wollte. Doch auch die Königin der Manarîn wusste nicht allzu viel über ihn. Immer wieder fragte sie sich, was dem alten Elb zugestoßen war, das ihn so entstellt hatte. Während Adrienne darüber sinnierte, trottete sie dem Elben hinterher und stieß fast mit ihm zusammen, als er an das übliche Tagewerk ging. Amarin schmiedete schon seit geraumer Zeit ein Paar Schwerter in seiner eigenen Schmiede, wo sie ihn damals gefunden hatten. Irgendwie kam ihr das vor, als ob es schon Jahre zurücklag. Geistesabwesend ging sie wie üblich zur Hand und erledigte kleine Aufgaben, machte Handreichungen, suchte Werkzeug und holte Material. Die meiste Zeit stand sie jedoch daneben und sah dabei zu, wie Amarin den glühenden Stahl mit dem Hammer bearbeitete und das stundenlang. Ihr kam es so vor, als ob der Stahl sich aller Macht wehrte, hatte sie beim Sternenbund doch schon viele Schmiede bei ihrer Arbeit beobachtet. Es war kaum eine grobe Form zu erkennen, jedoch konnte sie schon von der Menge des Materials abschätzen, dass es Langschwerter wurden. Auf die Frage, warum er zwei Schwerter parallel herstellte, winkte Amarin nur ungeduldig ab. Er hasste es dabei gestört zu werden, also fragte sie, ob er noch Hilfe brauchte. Es dauerte, bis er antwortete, hin und wieder brummte er etwas auf elbisch und wirkte ziemlich unzufrieden. Auf ein knappes Kopfschütteln hin, verließ sie wieder die Schmiede.

Nach ein paar Stunden in dem düsteren Licht der Schmiede, erschien ihr das Tageslicht ungewöhnlich grell. Adrienne kniff die Augen zusammen und ging den Weg entlang, der zwischen Exerzierplatz und Bogenstand hindurch in die Stadt führte. Am Tor wurde sie kurz angehalten. Adrienne atmete erschöpft aus und stemmte die Hände in die Hüften.
"Wer begehrt... ah, ihr seid es, Núlwen", sagte die Wache und machte Platz, "Freunde der Königin sind stets willkommen." Es klang nicht so, als ob der Elb froh war, sie einzulassen. Die übrigen Wachmänner warfen ihr merkwürdige Blicke zu, während sie zur Seite traten. Plötzlich kam sie sich ziemlich sonderbar vor. So, als ob sie eine mögliche Gefahr sei... oder wie eine Aussätzige. Ihre Hand berührte den kühlen Stahl ihres Schwertgriffs, obwohl keine Gefahr drohte. Ich bin viel zu übermüdet, murmelte sie zu sich selbst und nahm den verschlungenen Weg durch die verwinkelten Gassen zum Palastviertel. Sie mied die Hauptstraße, da dort zu viel Betrieb war. Erst vor einigen Tagen hatte die Königin den Befehl gegen, die Stadt kampfbereit zu machen. Das hieß, dass Nichtkämpfer nach Westen in die neue Stadt Lissailin gebracht wurden. Viele Elben blieben jedoch, denn sie wurden gebraucht um eventuelle Feuer durch Beschuss zu löschen, Pfeile zu den Kämpfenden zu bringen, Verletzte zu versorgen und auch zu borgen. Adrienne kannte nicht die Stärke der Manarîn, doch zusammen mit den übrigen Avari mussten es einige tausend sein. Geistesabwesend stolperte sie vor dem Palast und fiel fast auf die breite Treppe, die zum Bau hinaufführte. Ein gewaltiger Vorbau aus Rundsäulen, die einen Balkon trugen reckten sich dem großen gepflasterten Platz entgegen, der vor dem Palast lag. Hier würde wohl die Königin zu ihrem Volk sprechen. Ein riesiges, kuppelartiges Gebaude dahinter, was wohl die Eingangshalle war - mehr war noch nicht gebaut, bis auf den großen Westflügel. Die großen Tore waren geschlossen. Die gerüstete Palastgarde mit schwarzen Mänteln blickte regungslos zu ihr hinab. Adrienne straffte sich und erklomm die etwas steilen Stufen- hier waren eindeutig elbische Maße genommen worden. Vor dem Tor blickte sie die Palastgarde an, der Wächter, dessen Gesicht von einem schwarzen Tuch verdeckt wurde nickte kaum merklich.
"Herrin Ivyn erwartet Euch, Núlwen." Mit dem Worten offnete sich das über drei Schritt große, doppelflügelige Tor.
"Sicherlich tut sie das", murmelte sie und trat in die große Eingangshalle, die von Rundsäulen getragten wurden. Während sie die Halle durchschritt, blickte sie nach oben zur Kuppel.
"Augen nach vorn", sagte eine bekannte Stimme amüsiert.
Adrienne stoppte und wäre fast in Ivyn reingelaufen. Die mysteriöse Elbe blickte sie lange an. Irgendwie kam es ihr so vor, als ob sie durch die silbernen Augen geblendet wurde. Ein paar Mal blinzeln und ihre Augen hatten sich daran gewöhnt.
Die Elbe neigte sich ein wenig herab und sagte: "Nicht jedem werden die Tore des Palastes so weit geöffnet, es ist eine große Ehre. Eine, die man sich verdienen muss."
"Das habe ich", entgegnete Adrienne fest und dachte dabei an die Schlacht um Fornost und die Reise mit Mathan, bis sie hier in Eregion angekommen waren, um die Ringe zu vernichten.
Ivyn antwortete nicht, sondern zog nur eine Braue für einen Fingerbreit nach oben. Der Augenblick war jedoch nur sehr kurz, die Elbe wandte sich halb ab und ging langsam zum Thronsaal. "Amarin kommentierte deinen Fortschritt auf dem Weg des Schwerts als äußerst beeindruckend."
Überrascht von dem unerwarteten Lob beeilte Adrienne sich aufzuholen.
"Es ist selten, dass ein Mensch seinem Training standhalten kann. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es der richtige Pfad ist."
Adrienne schnaubte unbewusst. "Klar, weil meine Art der Euren unterlegen ist."
"Das wollte ich damit nicht sagen. Ich denke sogar, dass Menschen und Elben gar nicht so verschieden sind. Auch wir empfinden alle Emotionen, dir Ihr verspürt. Trauer, Wut und auch das Gefühl nirgendwo hinzugehören. Ich kenne sie alle."
Ehe Adrienne etwas sagen konnte, stieß die Palastgarde die Tore zum Thronsaal auf. Ivyn ging voraus. Vor ihnen tummelten sich Elben, von denen sich einige zu ihnen umdrehten. In der Mitte stand ein großer Kartentisch, weiter hinten, am Ende des Raums war ein kleines Podest zu dem sieben Stufen hochführten. Auf dem schlichten Thron aus kunstvoll geschnitzten Holz und silber-goldenen Verzierungen saß die Herrin der Manarîn. Faelivrin beobachtete aufmerksam den Raum, während sie sich mit ihrer Tochter Isanasca unterhielt, die neben dem Thron stand. Kurz streifte der Blick der Königin sie und Adrienne hoffte, dass sie nichts sagte. Falsch gehofft. Faelivrin hob knapp eine Hand. Sofort kehrte Stille ein.
"Adrienne" Die Stimme Faelivrins durchdrang den Raum, obwohl sie sehr leise sprach. Die Angesprochene beeilte sich vor den Thron zu treten und verneigte sich. "Lange Wochen weilst du nun unter uns und viel hast du meinem Volk geholfen. Du bist wahrlich eine Freundin der Manarîn. Und dennoch gibt es viele Stimmen, die eine Fremde in diesen Zeiten innerhalb ihrer Mauern nicht dulden. Ich selbst habe eine lange Reise mit dir durchgestanden und für mich bist du keine Fremde, sondern eine Freundin - ich hoffe, dass du dies ebenfalls so siehst. Und dennoch: Dies hier ist nicht dein Kampf und es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können, sollte dir etwas in den kommenden Sturm zustoßen."
Adrienne bemerkte, dass der Blick der Königin für einen winzigen Augenblick zu Ivyn huschte. In dem Thronsaal war es auf einmal sehr still. Dutzende Augenpaare waren auf sie gerichtet und Adrienne dämmerte es, dass alle auf eine Antwort von ihr warteten. Sie räusperte sich unbeholfen und stammelte: "Ich...Herrin ... ähm..." Hilfesuchend blickte sie zu Faelivrin und Isanasca, dann zu Ivyn, doch sie war auf sich allein gestellt. Enttäuschung flackerte in ihr auf, als sie allein nach einer Antwort rang.
Schließlich erbarmte sich Anastorias und trat neben sie, legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Sie wusste nicht, ob sie gerade rausgeworfen wurde, oder für einen Krieg rekrutiert. Ihr Körper war wie erstarrt. Eigentlich hatte sie nur auf Mathan und ihren Bruder warten wollen. Sie wusste gar nicht, was sie selbst wollte.
"Herrin, ich glaube Núlwen-", Anastorias stoppte, als sie sich bei dem Namen unbewusst versteifte und korrigierte: "Adrienne muss diese Entscheidung mit ihrem Lehrmeister, dem Ahnenherrn besprechen."
Ein Schmunzeln umspielte Faelivrins Lippen und sie nickte knapp. Anastorias zog sie sanft an der Schulter und geleitete Adrienne aus dem Thronsaal.
"Was sollte das denn?", fragte er dabei flüsternd und mit Besorgnis in der Stimme.
"Was soll dieser blöder Name?", zischte Adrienne ungehalten zurück. Die Tore zum Thronsaal schlossen sich hinter ihnen und sie schüttelte seine Hand von der Schulter. Noch immer fühlte sie sich wie vor dem Kopf gestoßen. Warum hatte Faelivrin sie vor dem gesamten Hof bloßgestellt? Stechende Kopfschmerzen gesellten sich zu den bohrenden Fragen dazu. Ihr Blick verschwamm leicht. Anastorias wollte sie mit besorgtem Blick um sie kümmern, doch sie schob ihn von sich.
"Ich brauche keine Hilfe", zischte sie und stapfte erbost davon.
"Es ist ein Name, damit du dich nicht so alleine fühlst!", rief ihr der junge Elb entschuldigend hinterher, "Immerhin bist du..."
Adrienne stoppte und warf ihm einen enttäuschten Blick zu.
"Nur ein bemitleidenswerter Mensch, ich weiß. Und ich verdiene es nicht, einen Elbennamen zu tragen, denn ich bringe jedem in meine Nähe nur Tod und Unglück. Vielleicht sollte ich diese Stadt tatsächlich verlassen - oder gar das Land."
Mit den Worten ließ sie den Elben einfach stehen und stapfte aus dem Palast hinaus. Ein Teil von ihr bereute ihre harschen Worte, doch hatten ihre Gefühle sie überwältigt. der Großteil von ihr verspürte nur Wut und Enttäuschung. Zu lange hatte sie alles nur verdrängt. Während sie durch die Straßen stolperte blitzen immer wieder Bilder von der Schlacht bei Fornost vor ihrem inneren Auge auf. Hin und wieder stolperte sie und stieß dabei gegen Elben, die sich murrend darüber beschwerten. Die Sorgen um ihre Blutfehde kamen wieder und der Kampf gegen Dôlguthôr, falls das überhaupt sein echter Name gewesen war. Erinnerungsfetzen aus den Verließen Minas Thirits mischten sich darunter. Eine Stimme in ihrem Kopf begann zu wispern. Adrienne war schwindelig. taumelnd lehnte sie sich an eine Hauswand. Schließlich konnte sie die Stimme besser wahrnehmen. "Komm; komm zu mir", sagte sie nur immer wieder.
Sie atmete ein und versuchte ihr rasendes Herz beruhigen. Ohne genau zu wissen wohin, ging sie los. Ihre Füße trugen sie irgendwohin, während sich vor ihrem inneren Auge Bilder in rascher Reihenfolge abwechselten und dutzende eindrücke auf sie einprügelten. Ein Tropfen Blut, alles verzehrendes Feuer und Tod. Pfeilspitzen in Holzschilden. Der scharfe Schmerz von Klingen, die ihre Haut zerrissen und tief in ihr Fleisch eindrangen. Der Geruch von verbranntem Fleisch. Schmerzensschreie. Das Betteln um den Tod. Lebendig gewordener Schatten. Ein irres Lachen. Schließlich stolperte sie erneut. Ein hoher Schrei, der nichts Menschliches mehr hatte. Adrienne presste beide Hände auf die Ohren. Tausende Speere in der Morgenröte. Blutüberströmte Steinzinnen. Sie schrie, bis sie heiser wurde und versuchte alles auszublenden. Schließlich stieß sie mit dem Kopf voran gegen etwas Weiches. Ein sonderbares Licht fiel auf sie hinab. Es umfing sie. Wärme breitete sich in ihr aus. Ihr war, als ob ihr der Atem vor dem Mund gefror.
"Schh... es ist vorbei", erklang die Stimme von Farelyë, dann verlor sie das Bewusstsein. Sie fiel in die Dunkelheit, umgeben von Licht.


Ein Tuscheln weckte sie. Eine Tür knirschte leise, dann war es wieder still. Adrienne lag auf etwas Weichem. Es roch nach getrockneten Beeren und eine Spur nach frischem Holz. Ihr Herz schlug ruhig und regelmäßig. Der warme Lichtschein einer Kerze auf einem Nachttisch zog ihren Blick an. Sie schluckte, doch ihr Hals schmerzte nicht, obwohl sie sich sicher war, geschrieben zu haben, bis sie heiser war. Sie versuchte sich zu bewegen, woraufhin ein regelmäßiges Geräusch verstummte. Dann erkannte sie, dass es Atem war.
"Du bist wach", stellte die freundliche Stimme Farelyë erfreut fest, "Das ist gut."
"Wo..."
"In meinem Haus. In Sicherheit. Hier lauern keine Schatten und nichts, das dir Schaden kann."
"Diese Stimme..."
"Ja, das war ich. Und gerade noch rechtzeitig." Neben dem Nachttisch erhob sich Farelyë, die sie mit ernstem Blick ansah. Sie hatte kaum noch etwas von dem kleinen Elbenmädchen an sich. "Ich glaube, dass deine Zeit unter uns begrenzt ist."
Adrienne nickte schwach, auch sie hatte mittlerweile eingesehen, dass irgendwas nicht stimmte.
"So hatte ich das nicht gemeint", berichtete die junge Elbe und ihre Augen glommen einen kurzen Moment silbern auf, "Deine Reise führt dich schlicht auf andere Pfade. Und das sehr bald. Schmerzhafte Pfade."
"Und das eben? Was war das?"
Ein Schatten huschte über das edle Antlitz und Farelyë blieb ihr eine Antwort schuldig.
Adrienne beschloss das Thema zu wechseln: "Wie lange habe ich... geschlafen?"
Nun lächelte die Elbe wieder und deutete zu einem dunklen Fenster, das ihr erst gar nicht aufgefallen war. Es war mitten in der Nacht. Adrienne erhob sich mühsam und setzte sich auf die Bettkante. Betreten blickte sie zu Boden.
"Danke... auch wenn du keinen Grund dazu hattest."
Farelyë hob mit ihren eleganten Fingern ihr Kinn an und schaute Adrienne ins Gesicht, die noch immer den Blick mied. "Du bist dabei gewesen, als ihr mich aus diesem Verließ befreit habt. Ich verdanke meine Rettung also auch dir."
"Wenn du meinst...", antwortete sie mit wenig Überzeugung in der Stimme. Sie hatte kaum zu irgendwas beigetragen. Eigentlich war sie immer nur auf andere angewiesen gewesen. Sie seufzte kaum hörbar.
"Nun, ich glaube es wird dich aufmuntern zu wissen, dass eine deiner Freunde zurückkehrte während du schliefst", sagte Farelyë freundlich, "Sie erholt aber gerade von der anstrengenden Reise."
Gedämpfte Freude kam in ihr auf. Adrienne lächelte gequält. "Gut, dass sie mich nicht so gesehen haben... Ich denke sie schlafen um diese Zeit?"
Die Elbe nickte knapp – die überflüssige Frage trotzdem beantwortend und trat in das Licht der Kerze. Sie trug eine volle Rüstung und war mit einem Schwert bewaffnet. "Erhole dich in meinen vier Wänden und fühle dich wie zu Hause. Ich werde nun woanders gebraucht."
Farelyë nickte ihr noch einmal knapp zu und verließ vorsichtig den Raum. Adrienne massierte sich die schmerzenden Schläfen. Erneut fragte sie sich, was bei allen Sternen vorhin geschehen war. Warum sie im Thronsaal ihre Fassung verloren hatte und wieso sie die letzten Tage sich so ausgeschlossen fühlte. Die bohrenden Gedanken verschwanden nach und nach. Neugierde trat an deren Stelle und sie erhob sich von ihrem Bett. Ihr Weg führte sie ins Erdgeschoss, wo ein Tisch mit Leckereien und Kleinigkeiten gedeckt auf sie wartete. Dabei stand ein kleines Fass Wein und Drei Becher. Probehalber inspizierte sie den Wein. Das Fass war bereits angeschlagen. Mit einem Finger probierte sie einen Tropfen. Süße breitete sich auf ihrer Zunge auf. Eine kleine Stimme im ihrem Hinterkopf sagte ihr, dass dies eine schlechte Idee war. Ihr Hunger siegte und Adrienne machte sich über das Essen her. Was genau so alles auf dem Tisch war, nahm sie kaum war. Sie nahm etwas Brot und mischte es im Mund mit etwas Wein, der vorzüglich schmeckte.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Der Wein war zu einem guten Stück geschwunden und ihr Bauch war voller als je zuvor. Adrienne lehnte sich zurück und dachte an die Zeit mit ihren Gefährten. Waren es Freunde? Sie wusste es nicht genau. Vielleicht einfach nur Kameraden? Was war Freundschaft? Ihr Blick verschwamm hin und wieder. Ihr Kopf schmerzte, aber diesmal nicht so stechend wie zuvor. Irgendwo in ihrem Hinterkopf sagte ihr die Stimme erneut, dass sie wohl betrunken war. Tapsig schnallte sie ihr Schwert vom Gürtel, das mit einem leichten Klappern zu Boden fiel. Vielleicht waren Freunde es Wert, all das durchzustehen, ging es ihr durch den Kopf. Doch hatte sie Freunde? Adrienne war sich nicht sicher. War ihr Name überhaupt Adrienne? Sie erinnerte sich... ihr Vater, Adanhad. War er überhaupt ihr Vater? Sein Gesicht vor ihrem inneren Auge verschwamm mit einer anderen Gestalt. Jemand, der ihr bekannt, aber auch unbekannt vorkam. Ein Namen hallte in ihrem verworrenen Gedächtnis umher, bekam ihn aber nicht zu fassen. Dann fiel ihr schummriger Blick auf ihre Waffe am Boden. Adrienne runzelte die Stirn und beugte sich nach ihrem Schwert. Plötzlich erschien es mit dem Heft voran unter ihrer Nase. "Ooooh mein Schwert... hehe, es kann fliegen! Weeee~"
"Adri?" Die überraschte Stimme von Kerry riss sie aus ihren merkwürdigen Gedankengängen. Sie blickte auf und musste sich dabei am Tisch festhalten, um nicht nach hinten zu kippen.
"Ist das dein Ernst?", entfuhr es Kerry verwundert und schockiert zu gleich.
Adrienne setzte sich aufrecht hin und packte sich mühsam die Waffe. "Nein", gab sie wieder und knallte es neben sich auf die Bank, "Kein Zauberschwert."
Kerrys sorgenvolles Gesicht schob sich in ihr Blickfeld, ihre blonden Haare wirkten ein wenig zerzaust. So als sie gerade aufgestanden war. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie tatsächlich hier war, in diesem Raum.
"Oh, hey Tén.. Tena... Kerry. Hab ich dich geweckt? Das tut mir leid", begrüßte Adrienne ihre Weggefährtin schwerfällig und wollte schon aufstehen um sie zum Umarmen.
"Nein, nicht direkt", Ihre Hände drückten auf Adriennes Schultern, "Und du solltest sitzen bleiben."
Sie tat was Kerry sagte und starrte sie lange an. "Weißt du, eigentlich habe ich nicht damit gerechnet, dich hier zu treffen", sagte diese schließlich.
"Du meinst wohl, mich so zu sehen", berichtigte Adrienne, deren Kopf sich ein wenig klarer anfühlte.
Kerry schien nicht so recht zu wissen, was sie darauf sage sollte. Sie setzte sich neben Adrienne.
"Tja... bis auf meinem verschwundenen Bruder sind alle aus meiner Familie nicht mehr da und Freunde...? Was ist das? Habe ich überhaupt welche?"
"Aber ja, wir sind deine Freunde. Ich bin deine Freundin", entgegnete Kerry sofort und griff nach einer Glaskaraffe, die mit klarem Wasser gefüllt war, "Hier, trink, das sollte etwas helfen.
Adrienne wollte ebenfalls nach der Karaffe greifen, doch Kerry tauschte den Becher in ihrer Hand und schenkte ihr ein. Offenbar traute sie Adrienne ihr nicht zu mit Glas umzugehen, was sie grinsen ließ. "Das erinnert mich an unsere Zeit auf dem Schiff. Da war ich sowas wie die Erwachsene und jetzt schau dich an. Große Abenteurerin. Auf großer Fahrt mit dem großen Oronêl, dem Herr von und zu Grießgram." Dabei machte sie eine ausladende Geste, als ob sie die Welt umfassen wollte.
"Ha, ha, sehr witzig", murmelte Kerry, die wohl an etwas dachte, dass ihr peinlich war, auch wenn sie über ihre Bemerkung schmunzelte.
"Du... hast nicht nur an deine Reise gedacht", stellte Adrienne überflüssigerweise fest.
Kerry schwieg und goss ihr noch etwas Wasser ein. "Achja, das Schiff. In der Kajütte."
Eine betretene Stille trat ein. Adrienne war sich nicht sicher, ob Kerry die erzwungene Intimität peinlich war, oder der unglückliche Zwischenfall mit dem Ring. Sie selbst musste zugeben, dass beides möglich war. Sie hatte Kerry und die anderen mehr beobachtet als mit ihnen gesprochen und konnte sie schlecht einschätzen. Die junge Frau war zur sprunghaft. Und das hatte sie gleich gesehen. Ihre alten Vorwürfe kehrten wieder zurück, dass sie Kerry nicht auf das Kästchen angesprochen hatte.
"Ich wäre eine schlechte Freundin", sagte Adrienne leise, "Kann noch nicht einmal auf jemanden aufpassen, der direkt im Bett nebenan schläft. Ich ziehe das Unglück nur so an, was wieder der passende Beweis dafür ist."
Ehe Kerry erwidern konnte, legte sie ihr einen Finger auf die Lippen und brachte sie zum Schweigen. Sie waren erstaunlich weich und sanft, musste sie überrascht feststellen. Adrienne schüttelte sanft den Kopf.
"Nein, du versuchst immer andere aufzumuntern. Manche haben es einfach nicht verdient. Du bist zu gut zu mir, aber ich habe diese Güte nie annehmen dürfen. Der Tod folgt mir auf dem Fuße. Ich kam in Minas Tirith an, der Tod folgte. Ich kam in Fornost an, der Tod folgte. Ich ging mit Mathan und dir, der Tod folgte. Du wärst fast gestorben. Herr Grießgram sagte zwar, es sei seine Schuld, aber war er es wirklich? Wir gingen nach Dunland und der Tod folgte, selbst in die Schmiede folgte der Tod. Und nun sind wir hier und der Tod steht vor den Toren. Die Stunde der Wölfe ist nah. Nein Kerry, ich bin keine Freundin, nur ein Schatten eines Mädchens, das seine Seele verloren hat. Und das schon lange. Die Welt ist grausam und ich bin daran zerbrochen."
Als sie mit ihrem Monolog abgeschlossen hatte, bemerkte sie erst jetzt, dass sie die ganze Zeit zwei Finger auf Kerrys Lippen verharren lassen hatte. Langsam ließ sie sie heruntergleiten und fuhr dabei über Kinn und ihren Hals. 
Kerry saß einfach vor ihr und sagte gar nichts. Adrienne blinzelte, von sich selbst überrascht. Ihr Gegenüber war offenbar vollkommen überrumpelt, unfähig ein Wort herauszubringen. War da eine Spur von Tränen in den türkis schimmernden Augen? Adrienne neigte sich fasziniert von der Augenfarbe nach vorn. Schließlich riss sie sich zusammen und lächelte gütig, so wie es die Elben immer taten. "Ich danke dir, dass du trotz alledem versucht hast eine Freundin zu sein. Allerdings befürchte ich, dass sich unsere Pfade bald trennen. Ich habe deine erlauchte Gesellschaft genossen, denn du bist eine Königin der Herzen, Kerry. Niyôzi zîr kiyad, trage sie weiter und liebe an meiner Stelle, ârî zîrân."
Adrienne erhob sich und stützte sich dabei auf Kerrys Schultern. Ihr Blick fiel wieder auf ihre Lippen, die sie wohl gerade öffnen wollte, um etwas zu sagen. Kurzentschlossen beugte sie sich hinab und küsste sie sanft, aber flüchtig. Es war ein Ausdruck tiefster Dankbarkeit, aber auch ein Abschied.  Ohne sich noch einmal umzudrehen wandte sich Adrienne ab, packte ihr Schwert und taumelte zur Tür. Kurz verharrte sie, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden und murmelte noch ein "Namárië", dann eilte sie in den anbrechenden Morgen hinaus. Die kühle Morgenluft ließ ihren angetrunkenen Verstand weiter aufklaren. Adrienne wurde sich mit jedem Schritt sicherer, dass sie das Richtige tat. Oder war es doch der Wein? Kurz vor dem Nordtor wurde sie langsamer. Ob sie wohl an ein Pferd aus den Stallungen gelangen könnte? Wohl eher nicht, immerhin wusste sie, dass die Manarîn nur wenige hatten und sie dringen selbst brauchten. Trotzdem Adrienne nicht herzlich behandelt wurde, hegte sie keinen Groll. Sie straffte sich und eilte im Laufschritt hinaus aus der Stadt. Wohin sie ihre Füße trugen, wusste sie selbst nicht.
« Letzte Änderung: 7. Feb 2021, 19:37 von Curanthor »

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Eine schwesterliche Audienz
« Antwort #21 am: 7. Feb 2021, 20:05 »
Kerry blieb wie vom Donner gerührt stehen und starrte regungslos auf die Stelle, an der Adrienne gerade noch gestanden hatte. Viele lange Minuten verharrte sie so, bis sie endlich zu sich kam und die Schultern sinken ließ.
"Was...?"
Ein einzelnes Wort kam über ihre Lippen. Sie hob die Hand an den Mund und konnte es noch immer nicht glauben. Warum hatte Adrienne das getan? Sie geküsst? Und nicht auf die Wange, wie Kerry es zuvor bei einigen anderen Frauen gesehen hatten, die einander nahe standen. Sondern genau auf die Lippen. Es war nur eine kurze, aber intensive, sanfte Berührung gewesen, die Kerrys Gedankenwelt komplett aus den Fugen gebracht hatte. Sie wusste nicht einmal im Ansatz, was das zu bedeuten hatte, und gleichzeitig war sie sich auf eine Weise, die sie selbst nicht verstand, erschreckend sicher, dass sie ganz genau wusste, was dahinter steckte. Es war kein Gefühl, das sie in Worte fassen konnte, auch später konnte sie nie beschreiben, was sie in diesem speziellen Moment tatsächlich empfunden hatte.

Sie kam endlich in Bewegung. Eigentlich war sie erst seit kurzer Zeit wach, denn sie hatte in Farelyës Zimmer geschlafen und war kurz nach dem Aufwachen nur für wenige Minuten im Badezimmer gewesen, um sich frisch zu machen. Als sie zurückgekehrt war, und sich im Esszimmer nach einem Frühstück umgesehen hatte, war Adrienne auf einmal dort gewesen, und hatte... viel gesagt. Zu viel, um es alles auf einmal verarbeiten zu können. Doch ein Satz von ihr hallte noch immer sehr deutlich in Kerrys Kopf wider: Der Tod folgt mir auf dem Fuß. Was das wohl zu bedeuten hatte? Sicherlich, in Fornost waren Menschen gestorben, und auch in Eregion, aber war das wirklich Adriennes Schuld? Kerry war sich da nicht sicher, nein sie hielt die Aussage sogar für ziemlichen Unsinn, wenn sie es sich recht überlegte. Sie beschloss, jemanden zu finden, der Adrienne zur Vernunft bringen konnte.

Elea und Finjas schliefen noch, die beiden wollte Kerry nicht wecken. Arwen und Farelyë waren nicht aufzufinden, vermutlich waren sie entweder gemeinsam oder jede auf eigene Faust unterwegs. Und Halarîn war in der vergangenen Nacht an Kerrys Seite geblieben, bis Kerry eingeschlafen war, doch am Morgen fehlte von ihr jede Spur. Kerry atmete tief durch und beschloss dann, den Palast der Königin - ihrer Adoptivschwester - zu besuchen. Vielleicht war Halarîn ja dort, und falls nicht hatte womöglich Faelivrin einen Rat für sie.
Sie zog sich erneut um, immerhin besaß sie unter den Manarîn einen gewissen Status, dem sie - aus einem Grund, den sie nicht ganz verstand - auch gerne gerecht werden wollte. Also kramte sie aus ihren Taschen eines der beiden Kleider heraus, die Nivim in Lindon für sie geschneidert hatte. Es war aus eisblauem Stoff mit silbernen Verzierungen und langen, weit ausgestellten Ärmeln. Es fühlte sich gut an, nach so langer Zeit wieder etwas so Hübsches zu tragen; die letzte Gelegenheit dazu hatte Kerry in den Hallen des Waldlandreiches gehabt, wenn sie sich recht entsinne konnte. Dazu legte sich ihren Reiseumhang um, der mit seinem Grau recht gut zu dem Kleid passte. So gerüstet verließ sie Farelyës Haus und machte sich auf zum Palast.

Sie musste eine der überall anzutreffenden Wachen nach dem Weg fragen und geriet dabei anfangs in Schwierigkeiten, da der Wächter - seine Rüstung war silbern und das Halstuch und der Mantel himmelfarben - sie in einem elbischen Dialekt anredete, den sie kein bisschen verstand. Vermutlich gehörte er zu den Hwenti, die aus dem Osten nach Eregion gekommen waren. Als Kerry ihm auf Quenya erklärte, dass sie nach der Königin suchte, bot er ihr schließlich den Arm an, um sie persönlich zum Palast zu bringen, auch wenn Kerry sich nicht sicher war, ob damit alle Missverständnisse nun ausgeräumt waren.
Kurz darauf standen sie vor einem imposanten Gebäude, das von einer großen Kuppel auf dem Dach dominiert wurde. Hier hingen sowohl die Banner der Manarîn als auch die der Hwenti in der Form von unglaublich langen, fein gewebten Wandteppichen links und rechts des Eingangsportals herunter, und Wächter in stählerner Rüstung mit schwarzen Umhängen hielten scharf Wache. Der Hauptmann der Garde, ein grimmig dreinblickender Elb mit einer Augenklappe aus Silber trat vor und Kerry befürchtete bereits, abgewiesen zu werden, als sich der Krieger überraschend vor ihr auf ein Knie herabließ. "Ihr werdet erwartet, Heryn Ténawen, redete er sie respektvoll an, und die Reihe der schildtragenden Wächter gab den Weg zum Portal frei. Kerry war etwas mulmig zumute, als sie eintrat. Niemand folgte ihr. Sie kam zunächst in einen Bogengang, der von weißen Marmorsäulen gesäumt war, und dann stand sie vor einer weiteren Tür, die ganz aus Silber zu bestehen schien. Als sie beinahe heran war, öffneten sich die schweren Türflügel nach innen, doch Kerry sah keine Wachen, die sie aufgestoßen haben konnten. Dahinter lag ein heller Thronsaal, der Kerry sogleich an die Halle Finelleths im Waldlandreich erinnerte. Dieser Saal war etwas kürzer, dafür aber deutlich höher, und wies am Ende eine Treppe auf, die sieben Stufen besaß. Die unterste Stufe nahm die gesamte Breite der Rückwand des Saales ein, und jede darauf folgende Stufe wurde immer etwas schmaler, bis die letzte und oberste nur mehr drei Meter in der Breite maß. Dort standen drei Sitze. Im Zentrum war ein Thron, der auf Kerry wirkte, als wäre er aus purem Metall gegossen worden, und das Licht der vielen Elbenlampen spiegelte sich darin. Daneben standen links und rechts zwei hölzerne Sessel, die mit Schnitzereien reich verziert waren. Die Halle selbst war lichtdurchflutet, denn vielerlei Lampen hingen von der Decke herunter, und über ihnen, am unteren Rand der großen Kuppel, waren große Fenster eingelassen worden, durch die das Sonnenlicht hereinfiel.
Der Thronsaal war offenbar leer, bis auf einige wenige Ausnahmen. Als Kerry sich staunend umdrehte, entdeckte sie zwei gepanzerte Wächter, die regungslos in kleinen Erkern links und rechts des Eingangs verharrten, Speer und Schild in den Händen. Drei Elben standen auf der untersten Stufe etwas nach links versetzt, und auf dem linken Stuhl neben den Thron saß eine hochgewachsene Gestalt mit silbernen Augen, wie Kerry erkennen konnte, als sie näher gekommen war. Ivyn zwinkerte ihr amüsiert zu, als sie Kerry bemerkte. Neben ihr auf dem Thron saß Faelivrin in voller königlicher Aufmachung - ihre Krone ruhte auf ihrem Haupt und in der Hand hielt sie ein Szepter, an ihrer Seite hing ein langes Schwert.
Die drei Elben auf der unteren Stufe stellten sich als Halarîn und Farelyë heraus, die Kerry beide herzlich begrüßten, sowie eine dritte, Kerry unbekannte Frau mit nussbraunem Haar, die Kerry mit Interesse anblickte.
"Willkommen, nésa," begrüßte Faelivrin sie, dann erhob sie sich und ein Teil ihrer königlichen Strenge fiel von ihr ab als sie liebevoll lächelte. Kerry hob den Saum ihres Kleides an, um beim Ersteigen der Stufen nicht zu stolpern und erklomm die Treppe, um die Königin der Manarîn zu umarmen. "Es ist schön, dass du wieder zuhause bist, kleine Schwester," sagte Faelivrin leise an Kerrys Ohr.
"Ich freu' mich auch dich zu sehen," erwiderte Kerry, dann blickte sie in die Runde. Ivyn und Halarîn lächelten wissend, Farelyë hingegen schaute etwas ernster drein und ihr Blick ging nach Norden, als könnte sie durch die dicken Wände des Palastes hindurchsehen. Die Kerry unbekannte Frau hingegen hielt sich etwas zaghaft wirkend im Hintergrund.
"Ich... ich muss euch etwas erzählen, es geht um Adrienne..." begann Kerry, ehe ihr Blick auf die braunhaarige Fremde fiel. "Oh... verzeiht, störe ich gerade bei irgendetwas Wichtigem?"
Als Kerry den Namen ihrer Freundin erwähnte, zog ein Schatten über Ivyns Gesicht und die große Elbin schwieg.
"Nun, es ist nicht so als hätten wir unbegrenzt Zeit, denn es gibt noch immer viel für die Verteidigung der Stadt zu tun," sagte Faelivrin ernst. "Aber einen Augenblick werde ich entbehren können, allein schon um zu wertschätzen, dass du wieder bei uns bist." Erneut durchbrach ein kleines Lächeln ihre erhabene Miene.
"Dies ist Amante," sagte Ivyn und deutete auf die Braunhaarige. "Sie..."
"Wenn es um eine Familienangelegenheit geht, möchte ich nicht im Wege stehen," beteuerte Amante sofort und wirkte, als wolle sie sich gleich zurückziehen.
"Nein, nein, du musst nicht extra deswegen gehen," sagte Kerry hastig. "Ist schon in Ordnung..."
Amante blieb stehen und blickte erst Ivyn, dann Kerry an. Schließlich legte sie die Hände zusammen und nickte langsam.
"Also, was ist nun mit Adrienne?" wollte Halarîn neugierig wissen. Noch immer sah sie recht mitgenommen aus und Kerry wurde klar, dass dahinter der Stress der bald endenden Schwangerschaft sowie die Sorgen um Mathan stecken mussten.
"Sie ist fort," antwortete Farelyë an Kerrys Stelle. Noch immer blickte sie nachdenklich nach Norden. "Sie ging, weil sie glaubt dass sie es muss. Aber ich fürchte, die Dunkelheit trübt ihre Sicht. Sie versucht, ihren ganz eigenen Pfad zu gehen, wie auch immer dieser aussehen mag."
Bis auf Ivyn schien niemand recht zu verstehen, was Farelyë damit meinte. Kerry starrte sie einen Moment lang an, doch dann schüttelte sie nur den Kopf. Bei Farelyë wunderte sie schon länger kaum noch etwas, dass sie also bereits wusste dass Adrienne gegangen war, war da nichts Besonderes mehr. "Ja, sie ist fortgegangen," bestätigte Kerry daher. "Es klang... endgültig. Sie hat sich von mir verabschiedet, und dann... d-dann hat sie... ähm, naja..." Sie spürte, wie sie rot wurde und ihr die Worte ausgingen.
"Was, meine Kleine?" fragte Halarîn sanft und legte Kerry von hinten die Hände auf die Schultern, dabei berührte ihr Bauch Kerrys Rücken.
"Sie hat mich geküsst," murmelte Kerry undeutlich, aber sie hatte vergessen, dass all ihre Zuhörer Elbenohren besaßen. Es gab einige erstaunte Ahs und Ohs, und Ivyn gestattete sich sogar ein kleines Lachen.
"Sieh mal einer an," sagte Faelivrin. "Ich hoffe du hast nichts zu ihr gesagt, das ihr das Herz gebrochen hat, Schwesterchen."
"Was? Nein, das würde ich niemals tun!" beteuerte Kerry. "Ich weiß ja noch nichteinmal, was dieser Kuss zu bedeuten hat, vielleicht hat es gar nichts mit Verliebtheit zu tun?"
"Das kann dir nur Adrienne selbst beantworten," mutmaßte Halarîn. "Wie lange ist sie schon weg?"
"Ähm... vielleicht zwei Stunden," überlegte Kerry. "Aber... da ist noch mehr, sie sprach davon dass der Tod sie verfolgt..."
Halarîn blickte besorgt drein, Ivyn ebenfalls. "Das arme Kind," sagte die Erste leise.
"Ich werde einen Reiter aussenden," beschloss Faelivrin. "So viel können wir entbehren. Oh, und... vermutlich sollte der Ahne informiert werden dass seine Schülerin uns verlassen hat."
"Das werde ich übernehmen," sagte Amante leise. "Ich glaube... ich kenne ihm am Längsten."

Faelivrin nickte daraufhin zufrieden, dann ließ sie sich von Kerry eine Kurzversion ihrer Erlebnisse auf der Reise in den Düsterwald und darüber hinaus geben. Sie schien sich ebenso wie Halarîn sehr für die neue Herrin des Düsterwaldes zu interessieren, aber auch für die militärische Lage auf der jenseitigen Seite des Nebelgebirges, über die ihr Kerry zu ihrem Leidwesen nur vage Angaben machen konnte. Nach einer knappen Stunde bat Faelivrin jedoch Kerry wieder zu gehen, so freundlich es einer Königin und Schwester eben möglich war, denn dringende Beratungen riefen nach ihr. Ivyn blieb als wichtigste Ratgeberin bei ihr, während Kerry, Halarîn und Farelyë beschlossen, zurück zu Farelyës Haus zu gehen und sich um ein Mittagessen zu kümmern. Kerry hoffte, dass Elea mittlerweile wieder wach war, denn das Gespräch vom Abend zuvor kam ihr wieder in den Sinn. Sie nahm sich vor, mit der Dúnadan in einem ruhigen Moment erneut darüber zu sprechen...
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Eine wiedererweckte Elbenstadt
« Antwort #22 am: 9. Mär 2021, 21:34 »
Mathan aus dem nördlichen Eregion/ Tan Hollinór

Seine Beine trugen ihn so schnell wie nur möglich gen Süden. Mathan folgte einem breiten Pfad, der wohl von seinem Volk in letzter Zeit ziemlich oft benutzt wurde. Fast konnte man es sogar schon als Straße bezeichnen. Da er alleine unterwegs war, konnte er auch schneller als jeder Mensch reisen. Damit war er zwar noch immer langsamer als zu Pferde, aber die Reichweite schmolz nur so dahin und die altbekannten Abkürzungen halfen ihm noch mehr Zeit zu sparen. Die ganze Zeit ratterte es in seinem Kopf, wie es in der Zeit seiner Familie ergangen. Sein Gefühl sagte ihm, dass bisher nichts besorgniserregendes Geschehen war, aber die düstere Ahnung, die ihm seit seiner Ankunft am Gebirge begleitete ließ einfach nicht locker. Der Schatten kroch immer näher und sein Instink schrie immer lauter, je mehr Stunden ins Land zogen.

Die Muskeln in seinen Beinen brannten, doch er gönnte sich keine Pause und nach einem langen Tag, ließ er das bergige Gelände hinter sich. Das Land flachte merklich ab und er beschloss die Straße zu verlassen, als er in der Ferne einen Reiter erblickte. Mathan schätzte zu dem Zeitpunkt, dass er nahe der Hauptstadt sein musste. Tatsächlich passierte er mehrere vertraute Wegpunkte, wie einen krumm gewachsenen Baum, die Ruine eines alten Wachturms und einen kleine Bach. Eine zarte Schneeschicht bedeckte die Grashalme und bildete ein unberührter Teppich. Vor ihm lag auf einer kleinen Erhöhung Ost-in-Edhil. Mächtige Stadtmauern beschützten die Nordseite, von der er kam. Er war noch zu weit entfernt, um das Nordtor zu erkennen, aber er stellte sich vor, wie dort zahllose Elben ein- und ausgingen - wie zu alten Zeiten. Einen kurzen Moment verharrte er auf einer Anhöhe und genoss den Ausblick. Hinter den Stadtmauern, die von Wehrtürmen in regelmäßigen Abständen gespickt war, konnte er vereinzelte, filigrane Türmchen erkennen und den Rauch von einigen Feuern. Ob sie schon Kamine gebaut hatten? Sicherlich, immerhin war der Winter da.  Nachdenklich strich er die weiße Strähne aus seiner Stirn und winkelte sie um zwei Finger. Er schüttelte den Kopf und versuchte die aufkommende Nostalgie zu unterdrücken, doch klappte es nicht. Er freute sich auf das Wiedersehen mit seinem Vater und seiner geliebten Halarîn. Mathan fragte sich dabei, ob inzwischen auch Kerry wieder daheim war. Vielleicht mit einen seiner Freunde? Eigentlich rechnete er fest damit einen seiner Freunde dort zu treffen, Oronêl, oder vielleicht auch Finelleth. Neugierde packte ihn, die aber von der düsteren Entdeckung des brennenden Elbendorfs wieder gedämpft wurde. Immerhin hatte Ost-in-Edhil nicht das gleiche Schicksal ereilt. Und er würde alles dafür geben, dass es nie wieder brennen würde.

Aus der Ferne hatte die Stadt eine friedliche und beruhigende Ausstrahlung gehabt. Wie ein Fels in einem Blumenfeld. Doch als er sich ihr näherte, verspürte mehr und mehr Unruhe. Vielleicht trübte der Schein und sie wurde schon angegriffen? Schließlich war Mathan so nah heran, dass er einen Schießstand erkennen konnte und das geschlossene Nordtor. Auf dem großen Exerzierplatz, gegenüber des Schießstandes war der Schnee von dutzenden Fußabdrücken gezeichnet und der Weg zwischen beiden militärischen Anlagen war nur noch matschiger Sand. Offenbar trainierten die Manarîn unablässig und mehrfach am Tag. Offenbar wurde seine Ankunft bemerkt, als Mathan sich dem Tor nährte. Sechs Wachen strömten aus einem simplen Wachhaus, das wohl aus einfachem Holz gezimmert, etwa vier Schritt vor der Mauer gebaut wurde. Sie trugen alle silbern funkelnde Rüstungen und wallende, hellblaue Mäntel. Ihre Gesichter wurden von weißen Mundtüchern bedeckt. Sie stellten sich in einer Reihe vor das Tor und reckten ihm ihre Speere entgegen.
"Diese Stadt empfängt zurzeit keine Besucher!", rief einer der Männer barsch, "Bitte kehrt wieder um."
Etwas überrascht blieb Mathan stehen und legte den Kopf schief.
"Ich bin kein Besucher, dies ist meine Heimat", rief er voller Stolz, "Und meine Tochter erwartet mich - nein, meine Familie sehnt sich danach, mich wieder in ihre Arme zu schließen."
Die Wachen blickten sich unsicher an und schienen sich kurz zu beraten.
"Wie ist Euer Name?", fragte einer der Wachen schließlich neugierig.
"Mathan Nénharma."
Erneut steckten die Wachen die Köpfe zusammen und Mathan glaube ein "Ich hab's euch doch gesagt" zu hören. Schließlich ließen sie ihre Speere sinken und traten zur Seite. Offenbar war der Hauptmann der Wache gerade nicht da, doch scheinbar war dies kein Problem, denn eine Wache sagte steif: "Willkommen zu Hause, Ahnherr."
Mathans Mundwinkel zuckten. Er musste an sich halten, um keine Grimasse zu ziehen und bedankte sich stattdessen knapp. Nach einem lauten Pochen hörte Mathan wie drei schwere Holzbalken von dem Tor entfernt wurden, Ketten rasselten, dann öffnete sich einer der Flügel des Tores. Vor ihm öffnete sich ein kleiner Tunnel der Torburg. Ein hochgezogenes Fallgatter aus Eisen schwebte scheinbar über seinen Kopf. In der gerundeten Decke erblickte er einige Löcher die mit Holz gestopft waren. Einer der Wächter trat neben ihn und pochte laut an das zweite Tor. Erneut rasselten Ketten. Er machte sicherheitshalber einen Schritt zurück. Zu Mathans Überraschung bewegte sich der Flügel des Tores einfach nach rechts und schien in der Wand zu verschwinden. Zu seinen Füßen erblickte er so etwas wie eine steinerne Führungsschiene.
"Beeindruckend", murmelte er und ahnte, dass dies das Werk entweder von seinem Vater oder von Luscora war. Der Wachmann nickte knapp und bot ihn an, ihn bis zum Palast zu begleiten, da es sein Stand so erforderte, doch Mathan lehnte höflich ab. Er bevorzugte es, seine Heimat ganz allein wieder zu betreten und die Eindrücke der wiedererweckten Elbenstadt ungestört in sich aufzunehmen. Es war wie das Eintauchen in eine längst vergangene Zeit. Eine breite Straße lag vor ihm, die von einigen Häusern gesäumt wurde. Einzelne Elben waren unterwegs, einige mit einem Karren beladen mit Baumaterialien oder Metallen, Waffen oder anderen Dingen, andere unterhielten sich in kleinen Grüppchen, doch die meisten eilten von einem Ort zu dem anderen. Ein Truppe Wachen mit hellblauen Mänteln marschierte an ihm vorbei und warfen ihm fragende Blicke zu. Mathan beschloss der breiten Hauptstraße zu folgen, die nach einer Weile einen langgezogene Kurve machte und schließlich auf einem großen Platz endete. Der Eingang zum Platz wurde von einem kleineren Tor kontrolliert, das aber weit offen stand. Mathan bemerkte, dass viele Häuer so etwas wie Balkone hatten, die von Rundsäulen gestützt wurden. Die Bauweise war nicht so filigran, wie die der übrigen Eldar, aber deutlich ästhetischer als die der Menschen. Er vermutete, dass die Manarîn sich beeilt haben und ihr eigentliches Können noch höher war, doch war es bereits jetzt schon beindruckend. Es war, als ob Ost-in-Edhil ein neues Gewand trug, aber darunter noch einige Kleidungsstücke der alten Stadt versteckt hielt. Die Straßenführung kam ihn noch immer vertraut vor. Man hatte bekannte Strukturen benutzt und die alten Fundamente als Basis genommen. Als er den Platz überquerte, bemerkte er, dass mehrfach heimlich auf ihn gezeigt wurde. Mathan bezweifelte aber, dass man ihn erkannte. Immerhin hatte er nichts Besonderes für die Manarîn geleistet, weshalb er ihren Respekt ihm gegenüber nicht so ganz nachvollziehen konnte.
Auf der Mitte des Platzes stand ein gewaltiger Sockel, aus dem offenbar Wasser sprudeln sollte. Einen Brunnen davor gab es noch nicht. Nachdenklich blieb er vor dem Sockel stehen und fragte sich, was dort eines Tages thronen sollte. Es würde eine gewaltigen Maßstab haben und über die gesamte Stadt blicken. Er bemerkte, dass die Rückseite des Sockels auf eine noch breitere Straße deutete, die vom Platz wegführte. In seinem inneren Auge tummelten sich dutzende Elben auf dem Platz, trieben Handel mit Besuchern und strömten schließlich die breite Straße entlang, die er auch nun folgte und landete auf einem etwas kleinerem Platz. Vor ihm erhob sich ein beeindruckender Palast, dessen Vorbau von mannsbreiten Rundsäulen getragen wurde. Hier wurde deutlich, was die Manarîn wirklich konnten. Auch wenn der Palast unfertig war und nur eine Rundkuppel, sowie den linken Flügel erkennbar war, konnte er sich schon mit den Werken der großen Baumeistern messen. Seine Elbenaugen erkannten filigrane Stuckarbeiten, die die Geschichte der Manarîn erzählten. Auf dem Vorbau hatte man eine große Terrasse gebaut. Hier würde seine Tochter wohl sein ihrem Volk sprechen. Mahtan riss schließlich von dem Anblick los und stieg bedächtig die breiten Stufen zu Faelivrins Herrschaftssitz hinauf.

Die Palastgarde trug schwarze Mäntel und ebenso schwarze Mundtücher. Ihre Körper waren in die typischen silberglänzenden Stahlrüstungen gehüllt. Offenbar erkannte sie ihn, denn niemand trat ihm in den Weg. Der Hauptmann der Garde trat vor. Es war ein grimmig dreinblickender Elb mit einer silbernen Augenklappe. Kurz musterten sie einander, bis der Hauptmann und seine Garde auf ein Knie sanken.
"Willkommen daheim, Vater der Königin", begrüßte er ihn höflich und trat zur Seite, "Die Herrin tagt im Thronsaal."
Mathan bedankte sich knapp und betrat durch das weit geöffnete Tor die Vorhalle. Er straffte sich und versuchte seine Vorfreude zu dämpfen, wieder zu Hause zu sein, bei seiner Familie. Es klappte nicht ganz und sein Herz wallte auf vor Freude, endlich seine Lieben in die Arme zu schließen zu können.

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Eine andere Art von Willkommen
« Antwort #23 am: 18. Mär 2021, 01:11 »
In der großen Vorhalle verlangsamten sich wieder seine Schritte. Mathan blickte an die Decke, wo dutzende, lange Banner herunterhingen. Sie waren sicherlich mehrere Schritte lang und in den unterschiedlichsten Farben getaucht. Manche waren mit simplen Mustern bestickt, andere waren aufwändig verziert. Besonders fiel ihm das orange Banner auf, dass er erst auf dem zweiten Blick erkannte. Es waren die Banner der Avari und orange war die Farbe der Hwenti, wie er es in dem niedergebrannten Elbendorf gefunden hatte. Sein Blick suchte die übrigen Banner ab. Über der Pforte zum Thronsaal hing zentral das Banner der Manarîn, rechts daneben das der Hwenti, links ein für ihn Unbekanntes. Es hatte einen mitternachtsblauen Hintergrund, goldgelbe Stickereien die sich umeinander wanden bildeten ein Netz aus Strahlen, in der Mitte prangte ein roter Stern.
"Mathan", sprach ihn eine bekannte Stimme von der Seite an.
Er wandte überrascht den kopf und erblickte Amante. Sie hatte ihre brünetten Haare zu einem simplen Zopf gebunden und ihn sich über die Schulter gelegt. Ihr schlanker Körper steckte in einem unauffälligen, weißen Kleid, das ihren Körper schmeichelte. Ihre rehbraunen Augen musterten ihn abschätzend, dann hoben sich ihre Lippen zu einem sanften lächeln.
"Willkommen zu Hause", sagte sie schließlich und legte sich eine Hand aufs Herz,"Ich war mir sicher, dass du unversehrt hier ankommen würdest."
Mathan verneigte sich ganz knapp und murmelte einen Dank. In Amantes Augen funkelte der Schalk, doch sie schwieg. Eine unangenehme Stille trat ein, zumindest für ihn. Er wusste nie, wie er ihr begegnen sollte. Sie kannten sich seit seiner Kindheit und er hatte sie nie durchschauen können. Immer wieder war sie bei ihnen zu Hause gewesen und hatte ausführlich mit seinen Eltern gesprochen. Er erinnerte sich, dass er dabei nie zuhören durfte. Sie war eine der ältesten Elben, die er kannte. Zwar hatte er noch nie ihr wahres Alter erfahren, doch konnte er anhand der Art, wie sein Vater mit ihr sprach ahnen, dass sie nicht so jung war, wie sie gern vorgab.
"Danke dir", antwortete er schließlich nach einer Weile und schaute sich um, "Eigentlich hatte ich mit..."
"Mit einer anderen Art von Willkommen gerechnet", unterbrach ihn Amante und nickte, "Ich weiß, allerdings ist die Situation auch eine Andere."
"Das hatte ich erwartet. Ich nehme an, meine Tochter ist in einer Besprechung?"
Amante nickte knapp und sagte, dass er erwartet wurde. Natürlich wurde er das, mit zwei Ersten in Eregion war es beinahe unmöglich, dass etwas Unerwartet geschehen konnte. Zumindest war es sein Wunschdenken, geboren aus der Furcht heraus, dass seiner Familie und seinen Freunden etwas zustoßen konnte. Die Zeit bei seiner Mutter hatte ihn gelehrt, wie wichtig ihm seine Freunde waren und hatte seine Wertschätzung der Familie verändert. Ihm waren einige Dinge klar geworden, von denen er bisher nur dachte, er hätte sie verstanden, oder sich nur selbst eingeredet, dass es so war. Mathan ballte eine Hand zur Faust. Amante hob kaum merklich eine Braue, dann breitete sich ein zufriedener Ausdruck auf ihrem Gesicht aus.
"Ich sehe, du hast nicht nur diese Reise überstanden. Du bist mit einem entschlossenen Herzen zurückgekehrt. In ihm brennt ein Feuer, das uns noch allen den Weg weisen wird."
"Du sprichst fast schon wie Ivyn", gab er nur schmunzelnd zurück.
Amante zuckte mit den Schultern. "Das kann sein. Manchmal rutscht das einfach so heraus." Sie zwinkerte ihm zu. "Außerdem, ganz Unrecht habe ich ja auch nicht, oder?"
Mathan blieb ihr eine Antwort schuldig. Ihn beschlich eine Sorge.
"Was ist der Grund, dass du mich hier abfängst?"
Die Elbe mied für einen Augenblick es ihm ins Gesicht zu blicken. "Deine Schülerin ist fortgegangen."
Sein Blick verfinsterte sich. "Gegangen? Hat sie einen Grund genannt?"
Amante schien nicht so ganz zu wissen, wie sie antworten sollte. Sie erzählte ihm schließlich, was sie aus Kerrys Bericht mitbekommen hatte.
"Hmm", machte Mathan besorgt und wollte sich umdrehen, um nach ihr zu suchen, "Der Tod verfolgt sie...", murmelte er nachdenklich und stoppte, als er merkte, dass Amante ihm am Ärmel festhielt.
"Ich weiß, du sorgst dich um sie, aber die Königin hat bereits einen Reiter ihr hinterhergeschickt. Habe etwas vertrauen in unser Volk. Du hast andere Verpflichtungen."
"Unser Volk?"
Amante lächelte erneut und nickte. "Natürlich, Avari sind wie wir. Elben. Durch unseren und ihren Adern fließt das gleiche Blut. Wir alle sind einst im Antlitz der Sterne erwacht und ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle in den Westen gehen, wenn unsere Zeit hier gekommen ist. Das Einzige, was uns von einander trennt, ist die unterschiedliche Entwicklung in allen Winkeln Mittelerdes."
"Du redest wirklich wie Ivyn", murmelte Mathan leiser und setzte nach, "Aber du hast Recht. Ich denke ebenfalls so. Mich hat es nur überrascht das gerade von dir zu hören."
Amante lachte kurz und schüttelte nur den Kopf. "Als ob das jetzt so ungewöhnlich war. Doch genug davon, wir sollten sie nicht länger warten lassen."
Mit den Worten trat sie an das Tor zu Thronsaal, das sich nach einem kurzen Augenblick öffnete. Mathan fragte sich erneut, wer außer seiner Tochter dort auf ihn wartete. Die beiden Flügel des Tores gaben den Blick frei auf einen Saal, der von Elben gefüllt war. Die meisten trugen Waffen, meistens Schwerter, Speere und Bögen. Am Ende des Raumes stand auf sieben Stufen der Thron Faelivrins, der von zwei hölzernen Stühlen flankiert wurde. Alle drei waren leer. Das Getuschel verstummte, einige machten Platz, sodass er einen Großen Kartentisch in der Mitte des Saals erblicken konnte, um den sich die Versammlung gedrängt hatte.
"Willkommen zu Hause, ehrenwerter Großvater", durchdrang Isanascas Stimme das Gemurmel, "Bitte, tritt zu uns."
Seine Enkelin trat aus dem Kreis Elben. Sie trug eine prunkvoll verzierte Rüstung, deren gerundeten Schulterpanzer das Licht brachen. Von ihren Schultern wallte ein purpurroter Mantel und auf ihren dunkelblonden Haaren ruhte ein schmaler, goldener Haarreif in dem ein funkelnder Bernstein eingelassen wurde. Sie machte einen respektvollen Knicks, den er mit einer knappen Verneigung erwiderte. Mathan erkannte zwei Schwerter an ihrer linken Hüfte. Ein weiterer Griff ragte quer hinter ihrem unteren Rücken zur Seite. Ihre schmalen Lippen lächelten herzlich und sie machte eine einladende Geste. "Kommt, meine ehrenwerte Königin  Mutter wird gleich zu uns stoßen. Wir waren gerade dabei, ein wenig die übrigen Avari kennenzulernen, die sich in unseren Landen niedergelassen haben."
Mathan seufzte innerlich. Die Atmosphäre in dem Thronsaal war angespannt. Scheinbar liefen die Verhandlungen nicht gut. Er konnte sich denken, dass die Manarîn für den kommenden Kampf jedes Schwert auf ihrer Seite haben wollten. Er setzte sich langsam in Bewegung und trat an den Tisch. Aus dem Augenwinkel bemerkte er ein paar unfreundliche Blicke. Ein paar von ihnen blieben an seiner weißen Haarsträhne hängen.
"Wenn ich vorstellen darf: Fanathr, Tirumar, Maris und Baranthea von den Hwenti, Calûnor und Sarante von den Kinn-Lai, Adrator von den Cuind und Merolon von den Kindi."
"Ich bin Mathan Nénharma von Eregion", antwortete er nur knapp.
Calûnor drehte sich zu ihm und hieß ihn in seiner Heimat willkommen. Er war ein großer Krieger, der einen Schild auf dem Rücken trug und ein Schwert an der Seite. Sein Gesicht war von einer Narbe an der rechten Wange gezeichnet. Mathan bedankte sich knapp, Sarante, die etwas zierlicher, aber nicht weniger kriegerisch wirkte, nickte ihm so knapp wir nur irgend möglich zu. Die übrigen Hwenti taten so, als ob es sie nicht interessierte. Fanathr warf ihm unauffällig einen Blick des Wiedererkennens zu. Adrator und Merolon hatten beide die Arme verschränkt. Letzterer sagte mit für Elben unüblich tiefer Stimme: "Ich bleibe dabei, meine Leute sind nur ein paar hundert. Wir können uns nicht einmischen. Jedes Leben, das wir verlieren fehlt uns in den Siedlungen." 
Adrator, der einen Helm trug, der dessen ganzes Gesicht verbarg nickte zustimmend. "Auch wenn ich ungern mit einem Kindi der gleichen Meinung bin, sieht es für mich und meine Leute genauso aus. Wir können uns noch immer verstecken, sollte es zum äußersten kommen."
Calûnor schnaubte zur Antwort und deutete auf beide. "Wie erwartet von euch Feiglingen. Die einen verstecken sich feige im Wald und die anderen im Moor, darauf bibbernd, dass der Feind sich doch nicht entdecken möge." Der Krieger wandte sich Prinzessin Isanasca zu. "Und doch werden auch die Kinn-Lai für die Sarante und ich sprechen, sich nicht an diesem Kampf beteiligen. Wir haben von den Manarîn nur Erzählungen gehört. Dass ein paar tausend hinausgezogen sind über das große Meer, aber nichts von glorreichen Schlachten, oder großen Kriegern. Solange wir keine Taten sehen, werden wir uns nicht beteiligen."
"Barbaren", murmelte nun Tirumar und schnaubte abfällig, "Ihr seid vielleicht zweihundert Kämpfer und damit weniger als alle andere und glaubt, dass ihr so hohe Ansprüche stellen könnt, dass sich ein ganzes Volk Euch beweisen muss."
Sarante bleckte die Zähne und zog ihr Schwert ein Stück aus der Scheide. "Und doch kämpft ein Kinn-Lai wie zwei Hwenti, was ich Euch gern beweisen würde. Wir ziehen nur in einen Krieg, wenn unsere Verbündeten es uns wert sind. Sie müssen sich beweisen."
Mathan schüttelte kaum merklich den Kopf. Die Spannung der Avari war so offensichtlich und doch merkten sie alle nicht, dass sie der aufkommenden Dunkelheit so entzweit nichts entgegenzusetzen hatten.

Ein lautes Pochen unterbrach die Zänkerei. Isanasca hatte selbst ihr Schwert gezogen und mit den Knauf gegen den Tisch geklopft. Es war eine leicht geschwungene Klinge, gefertigt aus bestem Stahl.
"Das ziehen einer Waffe im Thronsaal kommt eine Kriegserklärung gegen die Königsfamilie gleich. Ich hoffe, ihr alle wisst, was das bedeutet." Sie hatte kaum die Stimme erhoben, doch ihr Blick sprach Bände. Mathan erkannte das erste Mal, dass seine Enkelin genau die gleiche Ausstrahlung wie Faelivrin besaß, wenn sie es denn wollte. Ein kleiner Schauer rauschte ihm den Rücken hinab. Kalt wie Eis blickte sie die übrigen Avari an und verstaute mit einer einzigen, fließenden Bewegung ihr Schwert. Es ging so schnell, wie Mathan es selbst noch nie gesehen hatte, schneller als ein Blinzeln. Die Präzision und Geschwindigkeit verrieten ihm, dass seine Enkelin vielleicht doch mehr von ihm hatte, als es ihm lieb war. Er konnte sehen, wie ein einziger Gedanke jedem Elben im Raum durch den Kopf ging: Isanasca war eine tödliche Kämpferin mit einem geradezu furchteinflößenden Talent. Eine einzige Bewegung hatte dafür ausgereicht, dies zu verdeutlichen.
Ein leises Klicken ließ sie alle die Köpfe wenden. In einem Seiteneingang neben der Treppe zum Thron stand Ivyn, die mit bedächtigen Schritten sich zu ihnen gesellte. Sie hatte die Augen geschlossen und deutete nur knapp zum Thron, auf dem von allen unbemerkt Faelivrin saß. Mathan schmunzelte. Seine Tochter hatte eine Begabung dafür, ungesehen umherzuwandeln und scheinbar hatte sie dies nicht über die Zeit verlernt. Faelivrin blickte die übrigen Elben mit einer Mischung aus Enttäuschung und bestätigter Erwartung an.
"Isanasca", sagte sie schließlich ruhig, "Wir sind hier nicht unter Feinden."
Die Prinzessin nickte und löste jeden Finger einzeln von dem Griff ihres Schwerts, so als ob sie nur widerwillig zustimmte. Schließlich machte sie auf dem Absatz kehrt und nahm links neben Faelivrins Thron Platz, während sie selbst die Stufen hinabstieg. Mathan bemerkte, dass seine Tochter auch nicht sagte, dass sie unter Freunden seien.
"Ich verstehe eure Sorgen", sagte diese verständnisvoll und nickte zum Kartentisch, "Und doch solltet ihr in Erwägung ziehen, dass es mein Volk nicht ganz Eregion verteidigen kann. Ich, kann dieses Land nicht alleine beschützen, das Land meiner Ahnen und das meiner Kinder."
Die Avari blickten sich verstohlen an und schienen unschlüssig zu sein. Ivyns Stimme wisperte in Mathans Gedanken und ermunterte ihn, von seiner Reise zu erzählen. Er sah zu ihr. Sie hatte noch immer die Augen geschlossen und die Hände aneinander gelegt. Dann warf er seiner Tochter einen Blick zu, die gerade Fanathr in Grund und Boden starrte. Offenbar hatte sie auch mit Ivyn gesprochen, denn sie nickte ihm plötzlich unmerklich zu. Er wusste, was sie meinte.
Mathan trat an den Kartentisch, die meisten Augenpaare richteten sich dabei auf ihn, da er sich die ganze Zeit herausgehalten hatte.
"Ob es Euch gefällt oder nicht, der Feind macht keinen Unterschied ob Manarîn, Hwenti oder Kinn-Lai." Sagte er bestimmt. Sein Finger fuhr über die Karte Eregions, auf der einige Siedlungen eingezeichnet waren. Schließlich stoppte er an den westlichen Hängen des Nebelgebirges. Stumm hob er den Blick zu den Hwenti. Maris, eine hochgewachsene Elbe mit schwarzen Haaren und graublauen Augen wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Fanathr trat neben sie und stützte die taumelnde Elbe.
"Es ist, wie Ihr befürchtet", sagte Mathan leise und blickte zur Seite, "Es gab nichts mehr, was ich tun konnte. Es tut mir leid."
Ein Moment der Stille folgte. Schließlich trat Faelivrin ebenfalls an den Tisch und deutete auf einen Turm im Osten Eregions, direkt vor Moria.
"Rómen Tirion wurde erst vor Kurzem fertig gestellt. Unsere Wacht im Osten steht seitdem unter ständigen Angriffen. Isanasca, ich möchte, dass du und Sanas dort das Kommando übernehmen und unsere Stellung festigt. Wir können uns es nicht leisten sie zu verlieren. Ich möchte, dass ihr euch noch heute auf dem Weg macht."
Isanasca, die sich bereits von ihrem Stuhl erhoben hatte, nickte. "Wir Ihr wünscht, Königin Mutter."
Die Prinzessin eilte mit großen Schritten und wehenden Umhang aus dem Thronsaal. Ivyn trat zu Faelivrin und flüsterte etwas in ihr Ohr. Seine Tochter blickte ihn daraufhin an.
"Uns erreichte heute Morgen eine weitere Nachricht von einer zerstörten Siedlung. Ebenfalls im Norden des Landes."
Fanathr und Maris wechselten einen alarmierten Blick, doch Faelivrin schüttelte den Kopf und blickte zu Merolon. Dieser stieß überraschenderweise einen Fluch auf Avarin aus, in seinem eigenen Dialekt, den niemand verstand. Calûnor zischte und wandte sich ab, als ob das alles nichts mehr anginge. "Die machen uns nach und nach fertig", sprach Sarante besorgt das aus, was wohl die übrigen Avari dachten.
"Deswegen ist es besser, dass wir alle zusammenstehen", schaltete sich Ivyn leise ein und öffnete die Augen, "Oder wir werden alle den Preis zahlen."
Maris schüttelte den Kopf. "Verzeiht mir, ehrenwerte Erste, aber ich kann unsere Siedlungen nicht im Stich lassen."
Adrator nickte und fügte hinzu: "Vielleicht können wir sie schon auf den Weg zu den Siedlungen abfangen. Wir sollten den Kampf zu ihnen tragen."
Die übrigen Avari nickten zustimmend, bis auf die beiden Kinn-Lai, doch auch sie widersprachen nicht.
Ivyns Augen funkelten für einen Moment silbern auf, als sie sagte: "Das ist ein Fehler. Ich wollte es nicht machen, aber ich warne euch alle. Jeden einzelnen in diesem Raum. Dies wird uns auf einen dunklen Pfad führen, der an Schmerzen kaum zu überbieten ist."
Die Macht in Ivyns Stimme und ihre Worte ließ Mathan erzittern und er war nicht der einzige. Faelivrin blickte ihre Großmutter entsetzt an. Nur für einen winzigen Augenblick, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Die Erste machte abrupt kehrt und verließ den Thronsaal.

Die übrigen Avari mieden es Faelivrin oder Mathan anzublicken. Sie hatten ihre Entscheidung gefällt, auch wenn sie damit offenbar dank Ivyns Worte haderten.
Seine Tochter seufzte indessen und winkte mit der Hand. "Sei es, wie es sei. Ich denke, mehr werden wir heute nicht erreichen können." Das Treffen war damit aufgehoben. Als erstes verabschiedeten sich die beiden Kinn-Lai, dann Adrator und Merolon, die zu ihren Siedlungen eilten wollten. Die übrig geblieben Hwenti schwiegen, noch immer beschämt und aufgewühlt durch die Worte ihrer ehemaligen Anführerin. Doch die Furcht in ihren Herzen hatte sie blind werden lassen. Nach und nach verließen auch sie den Thronsaal. Faelivrin schickte kurz darauf den restlichen Hofstaat hinaus, sodass nur noch sie, Mathan und Amante übrig waren. Letztere warf ihm einen unergründlichen Blick zu und schlüpfte ebenfalls zur Seitentüre hinaus. Nun waren nur noch er und seine Tochter im Thronsaal.
"Vater?", fragte sie leise.
"Hmm?", machte er und drehte sich zu ihr um.
Sie stützte sich auf den Kartentisch, hatte die Lippen wütend zusammenkniffen und ihr Szepter fest umklammert, dass die Knöchel weiß wurden. Ihr Zopf hatte sich gelöst und ihre dunkelblonden Haare hingen ihr vor dem Gesicht.
"Wirst du mit uns kämpfen?"
Er machte einen Schritt auf sie zu und legte ihr eine Hand auf den bebenden Rücken. "Dies ist meine Heimat und du mein eigen Fleisch und Blut. Natürlich werde ich an deiner Seite stehen."
Sie wandte ihm den Kopf zu. Ein feuchter Schimmer lag auf ihren geröteten Augen.
"Ivyns Warnung... bei der Dritten wird etwas Schlimmes geschehen. Lass nicht zu, dass es dazu kommt. Ich brauche deine Kraft, mein Volk braucht es. Deine Familie braucht dich."
Mathan fragte sich, was seiner Tochter solch eine Angst einjagen konnte, doch er packte sie an beiden Schultern und schwor ihr, immer für sie da zu sein. Faelivrin lächelte schwach und nickte dankbar. "Du solltest nach Mutter sehen", schlug sie vor, als sie sich beruhigt hatte, "Sie ist im westlichen Flügel und fühlt sich nicht wohl."
Er verstand, dass sie gern alleine sein wollte und ging zu einem der Seitenausgänge "Dann werden ich das tun. Du kommst ja jetzt erstmal ohne mich zurecht."
Er zog die Türe auf und ging hindurch, als er noch einmal Faelivrin hörte: "Vater?“. Mathan steckte den Kopf durch den Türspalt. "Ja?"
Sie hatte sich wieder aufgerichtet und ihre Haare geordnet. Faelivrins Gesicht wurde weich und ihre Lippen hoben sich.
"Es ist schön, dass du wieder daheim bist. Wir haben dich vermisst."
Das ging runter wie Öl. Mathan strahlte sie an und nickte. "Ja, ich euch auch."
"Du hast dir sicher eine andere Art von Willkommen vorgestellt."
Er schüttelte sanft den Kopf. "Das ist egal, wenn ich am Ende des Tages bei meiner Familie bin."
"Das stimmt."
« Letzte Änderung: 18. Mär 2021, 15:52 von Curanthor »

Curanthor

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Zwei Herzen im Palast wieder vereint
« Antwort #24 am: 24. Mär 2021, 00:01 »
Mit einem Lächeln auf dem Lippen schloss Mathan die Tür zum Thronsaal. Er stand in einem unscheinbaren Gang. Sein Lächeln verging, als er über die vergangene Besprechung nachdachte. Die Avari waren uneins, selbst fern ihrer alten Heimat, das wurde mehr als deutlich. Halarîn hatte ihm schon viel über das Verhältnis der Stämme untereinander erzählt. Eigentlich hatte er es in seinem Kopf immer so zusammengefasst, dass es sehr kompliziert war. Ein Stamm hatte eine Abneigung gegen einen anderen, aufgrund deren Art zu leben, oder Streitigkeiten aus der Vergangenheit. Dann gab es noch Abweichler in den Stämmen selbst. Er schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit darüber nachzudenken. Mathan blickte nach rechts den Gang hinab, doch bis auf eine weitere Tür war dort nichts. Er vermutete, dass es dort in den unfertigen Teil des Gebäudes ging. Also wandte er sich nach links. Sein Orientierungssinn sagte ihm, dass es es nach Süden ging. Er kam an einer Kreuzung an, wo zu seiner Erleichterung gerade eine Magd ebenfalls ankam. Die junge Elbendame blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn einen Augenblick lang an. Er konnte in ihren Augen sehen, dass sie angestrengt nachdachte, wer da vor ihr stand.
"Ich möchte in den Westflügel, zu Halarîn", erklärte er schlicht.
Die Elbe schien sofort zu verstehen, verneigte sich knapp und bedeutete ihm zu folgen. Sie sprach kein Wort und führte ihn durch einige engen Gänge in einen langen Korridor, der grozügig Platz bot und eine ziemlich hohe Decke hatte. Mehrere Türen führten wohl zu angrenzenden Räumlichkeiten. Er vermutete, dass er in dem zentralen Teil des Westflügels war. Die Elbe führte ihn in den hinteren Teil, zu einer unscheinbar wirkenden Holztüre. Sie verneigte sich noch einmal und eilte davon. Mathan hatte gar nicht die Chance sich zu bedanken.

Seine Hand zitterte ein wenig, als er sie auf den Knauf legte. Halarîn und er trennten sich nur äußerst selten für längere Zeit und wenn, dann nie mehr als ein paar Wochen. Er atmete tief aus, um sein klopfendes Herz zu beruhigen. Dann drehte er den Türknauf. Vor ihm lag ein geräumiges Zimmer, das mit flauschigen Teppichen und ein paar kunstvoll gewobenen Wandteppichen ausgestattet war. Ein großes Doppelbett unter einem der drei großen Rundfenster zog sofort seinen Blick an. Unter zwei Decken und einem pelzigen Mantel erkannte er eine bekannte Gestalt. Halarîn drehte den Kopf, eine ihrer bronzenenfarbenden Haarsträhnen fiel ihr über das Gesicht. Mathan erkannte ein halb beschriebenes Pergament auf ihrem Nachttisch, daneben eine gefüllte Karaffe mit Wasser und einen leeren Teller mit ein paar Krümeln darauf. Er schloss sanft die Tür. Ihre Lippen hoben sich schwach. Mathan lächelte. Keiner sagte ein Wort, sie starrten sich einfach nur an. Es war nicht nötig etwas zu sagen. Ihre braunen Augen schimmerten vor Freude, glitzerten jedoch etwas feucht. Halarîn war es, die mit einem erleichterten Lachen die Stille durchbrach. Ein, zwei Tränen stahlen sich bei ihr davon, als sie ihn an ihr Bett winkte. Mathan setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und ergriff ihre erhobene Hand, die sogleich sanft über seine Wangen streichelte. Sie waren unglaublich warm.  "Hmmm", machte er und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, dann auf ihre weiche Lippen. Sie schloss die Augen und erwiderte ihn sehnsüchtig. Ihre zwei Herzen waren wieder vereint. Es war, als ob die Zeit stehen geblieben war. Doch alles Wunderbare endete irgendwann, und Mathan zog sich widerwillig zurück. Als sie sich voneinander lösten, wollte Halarîn sich aufrichten, überlegte es sich jedoch anders. Mathan wusste, dass ihr die Schwangerschaft gerade viel abverlangte. Sein Blick wanderte weiter runter, zu ihrem kugeligem Bauch. Ihre Hände fanden sich.
"Es ist bald soweit", sagte seine Geliebte schließlich mit etwas schwacher Stimme.
"Ich bin froh, dass euch beiden nichts gesehen ist."
Eine Furche schien auf ihrer Stirn, als sie ihn mit einem Funkeln in den Augen anblickte.
"Was soll uns denn hier passieren? Ich glaube in Eregion gibt es gerade keinen sicherern Ort als diesen. Die Manarîn sind unglaublich diszpliniert und ihre argwöhnische Ader ist bei drohender Gefahr sogar ziemlich nützlich."
"Ja, aber ich befürchte, dass das auf Dauer zu Problemen führen könnte", murmelte er nachdenklich, als ihm dabei die Besprechung im Thronsaal einfiel.
"Hm", machte Halarîn zustimmend und drückte seine Hand, "Genug davon, wie ist es dir ergangen?"
Er wusste, dass sie aus Sorge um ihn fragte, nicht weil sie neugierig war. Er drückte ihre Hand. "Aufschlussreich. Ringelendis ist ... anders, als ich es in Erinnerung hatte."
"Manchmal verblassen die ältesten Erinnerungen, je länger man lebt. Meine Mutter und Ivyn haben beides selbst erlebt. Es hilft, wenn man sich einige Tage Zeit nimmt, und diese sich wieder ins Gedächtnis ruft."
Mathan nickte nachdenklich. Ihm fiel wieder auf, dass Halarîn fast eintausend Jahre älter war als er. Ihr etwas kindliches Gemüt täuschten ihn immer wieder und das liebte er so an ihr. Unbeschwert, rücksichtsvoll und lebhaft. Er gab ihr einen überraschenden Kuss. Sie blinzelte, grinste aber dann. Scheinbar hatte sie einen ähnlichen Gedanken gehabt, denn sie murmelte etwas wie, dass sie sich gerade furchtbar alt fühlte. Ihm ging aber nicht ein Gedanke aus dem Kopf und bisher hatte er vermieden danach zu fragen. Mathan spürte, wie Halarîn sanft seine Hand drückte. Als er sie anblickte, nickte sie und lächelte sanft. Sie kannte ihn einfach zu gut. Er schloss kurz die Augen, dann fragte er so vorsichtig wie möglich: "Warum erzählst du so wenig von deiner Mutter?"
Seine Frau drehte etwas den Kopf und schaute zur Decke. Es war offensichtlich, dass sie nicht gern darüber redete, doch hielt sie seine Hand noch immer fest und legte sie sich quer über die Brust.
"Telperiel. Das ist ihr eigentlicher Quenya-Name", sagte sie leise nach einer Weile, den Blick noch immer an die Decke geheftet, "Du hast viel mit ihr gemeinsam. Sie war stets rastlos, immer auf der Suche. Ich habe nie nachgefragt, wohin sie ging, wenn sie anfangs ein paar Tage, später Monate oder Jahre verschwand." Halarîn schloss die Augen, wohl um sich die Erinnerungen besser ins Gedächtnis zu rufen. Dann lächelte sie wieder etwas. "Sie hatte mehr von ihrem Vater, als von Ivyn - weniger weise, aber dafür tatkräftig und mutig. Vielleicht ein klein wenig draufgängerisch und beeindruckt von dem Potential der Menschen."
"Ivyn ist nicht so?"
Halarîn schüttelte sacht den Kopf.
"Nein, sie ist eher besorgt über das leicht zu beeinflussende Herz der Menschen. Großmutter geht Konfrontationen eher aus dem Weg, Mutter suchte sie. Die beiden haben sich sehr oft nicht gut verstanden. Und ich hatte es nicht leicht, da Ivyn für mich sorgte, wenn Mutter wieder für eine Zeit lang verschwand."
Er strich ihr verständnisvoll über den Kopf, woraufhin ihre ernste Miene sich etwas erhellte.
"Und warum ist Telperiel mit deinem Vater in den Westen gefahren, wenn sie schon so selten für dich da war?"
Sie bewegte sich etwas unwohl im Bett und drehte sich wieder auf die Seite, sodass sie ihn anblickte - und ihr Bauch nicht schmerzte. Ihre Augen wirkten traurig, als sie antwortete: "Mein Vater hatte sich an bestimmte Dinge erinnert. Sowas kommt wohl ganz selten mal vor, das sollte aber eigentlich nicht sein. Er sagte nie was es war, aber es raubte ihm den Seelenfrieden. Sein Quenya-Name war Aikanár. Er war immer für mich da, wenn ich ihn brauchte - streng und stolz, aber mit einem weichen Herz. Mein Vater war ein viel beschäftigter Mann, ihre rechte Hand zur Zeiten von Ivyn Führung und unserer Oberster Wächter der Pfade - sowas wie ein Grenzwächter. Er war sehr oft unterwegs und in Abwehrgefechten verwickelt, meistens waren es die Menschen, die versuchten in die Wälder zu gelangen. Später führte er selbst die Hwenti an, da er sich deren Respekt verdiente und Großmutter der Last des Anführens müde wurde."
"Klingt nach einem großen Krieger."
Halarîn nickte versonnen und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.
"Das war er. Manchmal glaube ich, dass er enttäuscht war, dass ich nicht wie meine Eltern eine große Kriegerin geworden bin."
"Du kämpfst eben mit deinem Herzen", befand er stolz und strich ihr über die Stirn, "Und heilst die Wunden, die geschlagen werden, ganz gleich welche es sind."
Seine Geliebte lächelte dankbar und drückte erneut seine Hand.
"Meinen Vater quälte es, an was auch immer er sich erinnerte. Mit seinem wachsenden Unmut und Verdruss, wurde er dieser Welt müde. Es zog ihn nach Westen, wo es nach den alten Geschichten hieß, dass dort Elben in Frieden und ohne weltliche Lasten leben könnten. Und meine Mutter... wurde von ihren ganz eigenen Problemen zerfressen." Halarîn wirkte noch trauriger als zuvor, ihre Augen schimmerten sogar etwas feucht, "Sie war was ihre Gefühle anging unglaublich verschlossen. Du weißt, dass ich zwei Geschwister habe, aber sie hat mir nie erzählt wer sie sind. Sie hat mir sogar verboten nach ihnen zu suchen und mein Vater hatte ihren Wunsch berücksichtigt."
"Klingt als hätte Telperiel ganz eigene Probleme gehabt, mit denen sie dich nicht unnötig belasten wollte", befand Mathan, der wusste, dass alles andere Halarîn nur weiter aufwühlen würde. Er drückte ihre Hand wieder fest und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
"Sie sagte mir nie, wenn sie etwas belastete. Ihre Entscheidung Mittelerde zu verlassen kam ganz plötzlich, nachdem sie schwer verwundet von einer jahrelanger Reise zurückkehrte. Da sie das Einzige war, das Aikanár in dieser Welt hielt - da ich schon erwachsen war, ging er mit ihr. Selbst Ivyn versuchte nicht es ihnen auszureden."
Mathan antwortete nicht, sondern drückte ihre Hand ganz fest, die schon etwas schmerzte, da Halarîn sie mittlerweile fest umklammerte. Er vermutete, dass ihre Mutter das, was sie suchte irgendwann fand und ihr nicht gefiel, was es war. Das war weit hergeholt, aber das war das einzige, was er aus der Erzählung an Rückschlüssen ziehen konnte. Halarîn schniefte indessen und wischte sich über die Augen, dann lächelte sie schwach: "Ach, diese Schwangerschaft macht mich fertig - und ziemlich emotional."
Er lächelte zurück und legte eine Hand auf den Bauch. "Bald ist es geschafft."

Nach einer kurzen Stille bat sie ihn zu erzählen, was er alles erlebt hatte. So verging der ganze Nachmittag, indem er ihr die Reise von Eregion, bis zum Düsterwald beschrieb. Er konnte sehen, wie ihre Augen vor Ehrfurcht flackerten, als er von seiner Begegnung mit Ringelendis auf dem Hohen Pass beschrieb, dann machte sie ein nachdenkliches Gesicht, als er von seinem Abschied im Düsterwald erzählte.
"Ob es Finelleth wohl gut geht?", murmelte Halarîn nachdenklich. Sie bemerkte seinen fragenden Blick und setzte nach: "Immerhin schien dort Saruman die Kontrolle zu haben. Neuigkeiten von ihr sind bei mir noch nicht angekommen."
"Oder es wollte dich einfach niemand unnötig belasten", befand Mathan und streichelte wieder ihren kugelrunden Bauch, "Ich bin mir sicher, ihr geht es gut."
Als sie nickte, fuhr er fort und erzählte rasch, wie er zu seiner Mutter gefunden hatte und wie es dort aussah. Die Erfahrung in den Tiefen unter dem Eis ließ er im Anbetracht ihres Zustandes aus. Die unsagbare Dunkelheit, die er dort unten gesehen und erlebt hatte, würde nur zusätzlich auf ihr Gemüt drücken. Und zur Zeit brachte er es einfach nicht über das Herz ihre aufhellende Laune mit so düsteren Dingen zu belasten. Halarîns Augen funkelten vor Staunen, als er von dem prächtigen Bauten aus Eis erzählte und die wahre Herkunft seiner Mutter. Mathan schmunzelte, da er dieses neugierige Glitzern in ihren Augen kannte. Ihr brannten tausende Fragen auf der Zunge, aber sie beherrschte sich und wartete auf einen besseren Zeitpunkt. Er ließ einige Dinge in der Erzählung aus, darunter die stundenlangen Gespräche mit seiner Mutter. Als Mathan schließlich bei seinem Rückweg nach Eregion ankam stockte er und überlegte, ob er ihr von dem niedergebrannten Dorf erzählen sollte. Halarîns Blick verriet ihm jedoch, dass sie schon etwas Unschönes ahnte. 
"Es hat also schon begonnen", murmelte sie nur betrübt und blickte ihm ernst in die Augen, "Deine Tochter und deine Enkel werden dich brauchen."
"Wir brauchen einander", berichtigte er und küsste sie sanft, "Keine Sorge, ich werde Faelivrin und ihre Kinder – unsere Enkel, mit aller Kraft unterstützen."
Seine Frau wirkte wieder ziemlich nachdenklich und legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel.
"Du solltest bei Gelegenheit auch mit Ténawen sprechen, sie ist ebenfalls erst vor Kurzem von ihrer Reise zurückgekehrt und das Gespräch mit Adrienne hat sie doch ziemlich aufgewühlt. Und ich bin in letzter Zeit keine gute Zuhörerin."
Mathan horchte auf. "Welches Gespräch?" Seine Mundwinkel hoben sich dennoch, erleichtert darüber, dass seine Adoptivtochter wohlbehalten nach Hause gekommen war.
"Nun, offenbar hat deine Schülerin Gefühle für sie. Ich hörte sogar von einem Kuss."
Er fasste sich an den Kopf. In was war er da schon wieder reingeraten.
"Bist du sicher, dass es nicht einfach freundschaftlich war? Oder als Abschied?"
Halarîn hob eine Braue leicht an und gab nachdenklich zu: "Das könnte auch sein. Kerry erwähnte, dass es ziemlich endgültig klang."
Mathan seufzte schwer. Ihm war schon vorher die Dunkelheit in Adriennes Herzen aufgefallen. Einsamkeit und Verlust waren ihr ein ständiger Begleiter. Kerry musste ihr da wie ein leuchtendes Beispiel sein.
"Ich hätte hier sein sollen", befand er schließlich bitter, "Immerhin habe ich sie als Schülerin angenommen, damit sie sich nicht selbst verliert. Als wir sie das erste Mal in Fornost trafen, hatte ich ein Gefühl, dass ich nicht ganz erklären konnte. Ich kann es immer noch nicht richtig in einen Satz zusammenfassen."
"Es hatte mich schon etwas gewundert, als du die beiden als Schüler akzeptiertest. Vielleicht hattest du so eine Art Vorsehung? Manche Elben erleben sie auf verschiedene Art und Weise." Halarîn dachte angestrengt nach, "Ich selbst habe diese Gabe zwar auch, aber ich komme damit nicht zurecht, also tue ich so, als ob sie gar nicht da ist. Vielleicht hilft dir es, wenn du an deinen ersten Eindruck von ihr denkst?"
Mathan schloss die Augen. Es wurde still in dem Raum, nur das leise Geräusch ihres Atems zu hören. Es dauerte auch nicht lange, bis er eine Antwort hatte: "Großes Potential."
"Und war es ein gutes, oder ein schlechtes Gefühl?"
Er öffnete die Augen.
"Beides."
Halarîn machte ein ernstes Gesicht und nickte nur. Er konnte sehen, wie sie grübelte, aber immer wieder den Faden verlor, denn sie kaute unzufrieden auf ihren Lippen herum.
"Lass es gut sein", befand er schließlich und atmete tief ein, "Du solltest dich nicht überanstrengen. "
Seine Frau blies für einen Moment beleidigt die Wangen auf, gab aber dann klein bei. Wenn auch nur kurz. Neugierde blitzte in ihren Augen auf, als sie ihn darum bat zu erzählen, was in der Besprechung vorhin entschieden wurde. Auf seine Frage, woher sie von der Besprechung wusste, antwortete sie, dass Faelivrin kurz vorher bei ihr war. Jetzt wusste er auch, warum seine Tochter nicht in dem Thronsaal gewesen war, als er dort angekommen war. Offenbar kümmerte sie sich selbst um Halarîn, was diese ihm auch prompt belustigt berichtete. "Stell dir vor, sie hat diese Raum mit als erstes von dem ganzen Palast einrichten lassen, nur damit mir warm genug ist", schloss sie die Erzählung, wie ihre Tochter sie umsorgte. Mathan grinste nur verständnisvoll. Er hätte wahrscheinlich ebenso gehandelt. Schwangerschaften unter Elben waren relativ selten, auch unter den Avari, die sich sonst ziemlich von den Edain unterschieden. Dennoch war ihm aufgefallen, dass Avari-Pärchen öfters das Bett teilten, was damals, als er die ersten Jahre mit Halarîn zusammen gewesen war, eine große Überraschung gewesen. Wie unerfahren damals gewesen war. Mathan spürte, wie ihm ein wenig die das Blut in die Wangen schoss. Halarîn bemerkte es sofort und fragte verschwörerisch zwinkernd, woran er wieder gedacht hatte.
"Nichts besonderes", winkte er sofort ab und drehte den Kopf, um ihr griemeln nicht sehen zu müssen, "Soll ich jetzt von der Besprechug erzählen oder nicht?"
Seine Frau lachte nur herzlich und sagte immernoch kichernd: "Mach nur, mach nur."
Er verschränkte mit gespielten Ärger die Arme vor der Brust und schwieg. Er spürte, wie sie mit zwei Fingern sein Bein hinauftippelte, nur um ihn dann heftig in die Seite zu pieksen. Mathan unterdrückte ein Grinsen und packte Halarîn an den Schultern. Mit einem überraschten Ausruf ihrerseits drückte er sie vorsichtig zurück auf das Bett. Ihre Gesichter verharrten kurz ganz nahe beinander. Er konnte ihren Atem auf seinen Lippen spüren. Ihre haselnussbraunen Augen funkelten sehnsüchtig. Sie öffnete ihre Lippen ein Stück für einen Kuss. Mathan unterdrückte ein Schmunzeln und biss ihr ganz sanft in die Unterlippe. Halarîn ließ ein unzufriedenes Grummeln von sich und drehte den Kopf weg, als er sich von ihr löste. "Wie gemein", murmelte sie mit gespielter Beleidgung in der Stimme.
Mathan setzt sich zurück auf die Bettkante und grinste nur. Sie legte sich wieder auf die Seite und schüttelte tadelnd den Kopf, dann wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst. Er atmete noch einmal durch, dann begann er von dem Treffen zu erzählen. Offenbar war es nichts Neues für sie, denn Halarîn wirkte nicht groß überrascht. Die Spannungen zwischen den Stämmen war sie wohl mehr oder weniger gewöhnt. Umso erstaunter war sie über seinen Eindruck von Isanasca.
"Ist sie wirklich so begabt?", hakte sie nach, als er mit der Erzählung endete.
Er nickte knapp. "Ich denke, sie kann mich übertreffen, falls sie es nicht schon getan hat. Und offenbar steht sie was Charisma und Ausstrahlung angeht absichtlich im Schatten ihrer Mutter."
"Und das kannst du alles von einer einzigen Bewegung ablesen?"
"Du hättest es auch gesehen. Die Geschwindigkeit war selbst für uns Elben wirklich hoch. Zumindest ist sie was das angeht, auf jeden Fall schneller als ich. Präzision hat sie ebenfalls auf gleicher Stufe."
Halarîn wollte sich interessiert aufsetzen, doch sie hielt in der Bewegung inne und stützte ihren Bauch. Mathan half ihr kurzerhand und schob ihr eines ihrer Kopfkissen hinter den Rücken. Sie lächelte dankbar und sagte schelmig: "Interessant, dass du freiwillig zugibts, dass jemand besser ist in deinem Spezialgebiet, Schwertmeister."
Er zog unwillkührlich eine Grimasse. "Sehr witzig. War klar, dass dir das gefällt."
"Es ist beruhigend", antwortete sie wieder ernst und nickte zu seinen Schwertern, "Du kannst nicht alles alleine machen, mehr Klingen auf unserer Seite und vor allem, wenn sie so viel Können besitzen wie du, ist ein Segen, den wir unbedingt in diesen Zeiten brauchen."
Mathan verstand, was sie damit sagen wollte. "Meinst du nicht, dass ich damit Faelivrins Authorität untergrabe?"
"Nein... glaube ich zumindest. Ich habe da ein ganz schlechtes Gefühl, was den östlichen großen Wachturm angeht", sie zuckte mit den Schultern, "Nenn es weibliche Intuition, oder einfach die unberechenbare Laune einer Schwangeren. Geh' und beschütze unsere Enkelin, das ist alles worum ich dich bitten möchte." Sie seufzte und trank etwas Wasser aus ihrem Glas. "Ich hoffe, dass mein Gefühl mich täuscht und du dort einfach deine Enkelin besser kennenlernen kannst und nicht einen Kampf ausfechten musst. Ich bin mir sicher, dass Faelivrin das versteht."
Er sah in ihrem Blick, dass sie sich auf keine Diskussion einlassen würde. Auf seine Frage hin, warum sie sich so stark auf ihr Gefühl verließ, antwortete sie nur, dass sie in den letzten Wochen Isanasca besser kennenlernen konnte und sie nicht wollte, dass ihr etwas zustieß. Mathan seufzte geschlagen. Es war keine Frage ob er ging, nur war ihm nicht wohl dabei, seine hochschwangere Frau wieder alleine zu lassen, doch sie legte ihm ermunternd eine Hand auf den Arm.
"Es ist doch nur für ein paar Tage. Keine Sorge, ich bin mir ziemlich sicher, dass du rechtzeitig zurück bist."
"Noch so eine Intuition?"
Halarîn zwinkerte ihm verschwörerisch zu, "Nein, aber meine Großmutter ist eine großartige Heilerin."
Natürlich konnte eine Erste in etwa abschätzen, wann es soweit war. Er nickte beruhigt. Seine Hände tasteten an seinen Schwertgurt. Die Silmacil wollte er eigentlich nicht mitnehmen, da er sich nicht mehr voll auf sie verlassen konnte. Besser gesagt, er konnte sie kaum noch führen. Halarîn, der er davon erzählt hatte, bemerkte, wie er unschlüssig an dem Gurt nestelte.
"Warum nimmst du nicht mein Schwert?", schlug sie nach einer Weile vor, "Ich kann es zur Zeit sowieso nicht benutzen."
Mathan schaute zu der Klinge, die in der Scheide steckte, die er ihr einst geschenkt hatte. Halarîn hatte die Waffe auf der freien Seite des Doppelbettes gelegt, wo er schlafen würde. Er musterte den reich verzierten Griff. Die noldorische Klinge leuchtete blau, wenn Orks in der Nähe waren, sie würde definitiv eine Hilfe sein im kommenden Kampf.
"Schwert und Schild", murmelte er leise, "Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich damit gekämpft habe."
Seine Geliebte lächelte mitfühlend. "Seit den Schlachten um Eregion, ja. Vielleicht ist es ja Schicksal?"
"Du meinst, um zu verhinden, dass sich die Ereignisse wiederholen?" Er nahm vorsichtig die Waffen entgegen, die sie ihm mit dem Griff voran entgegenstrecke. "Der Gedanke gefällt mir."
Kurzentschlossen legte er den Gürtel ab, an denen seine beiden eisigen Schwerter hingen. Seine Frau beobachtete ihn dabei gebannt. Mit einem raschen Handgriff gürtete er sich Halarîns Schwert um. Es war leichter als seine alten Waffen. Er legte seine Hand auf den Knauf an seiner rechten Hüfte und rückte den Gürtel mit dem Bastardschwert gerade. Einen Schild würde er sich aus Faelivrins Waffenkammer holen. Halarîn verriet ihm, wo diese im Palast versteckt war, während sie die Silmacil neben sich auf das Bett legte.
"Also, am besten machst du dich gleich auf den Weg", schlug sie erstaunlich energisch vor und murmelte: "Dann kann ich endlich wieder etwas schlafen."
Er grinste und verneigte sich knapp. "Wie die Dame wünscht."
Halarîns Kichern begleitete ihn, als er zur Tür ging und sie aufzog.
"Marillindo."
Er drehte sich noch einmal um. Sie lächelte warmherzig, "Ich liebe dich."
Mathan zwinkerte ihr zu. "Ich weiß" Er ging durch die Tür, verharrte dann kurz und setzte dann nach: "Ich dich auch, Amandis."
Sie schloss die Augen und legte sich zurück auf die Seite, noch immer mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Mathan brannte sich das Bild in sein Gedächtnis und schloss ganz langsam die Tür. Auf dem Korridor atmete er mehrmals tief durch, um nicht erneut durch diese Tür zu gehen und bei Halarîn zu bleiben, bis das Kind da war. Abschiede konnten grausam sein. Nach einem Moment des Sammelns wandte er sich von der Tür ab. Stattdessen blickte er den Gang hinab und setzte sich in Bewegung, zur Waffenkammer.
« Letzte Änderung: 24. Mär 2021, 00:23 von Curanthor »

Curanthor

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Re: Ost-in-Edhil
« Antwort #25 am: 8. Apr 2021, 22:01 »
Faelivrin verbrachte den Nachmittag damit, Befehle zu erteilen und ihr Volk auf den kommenden Kampf vorzubereiten. Sie orderte neue Pfeillieferungen und zerbrach sich den Kopf, wie sie den Feind an die stärkste Seite ihrer Mauern locken konnte. Die Torburgen im Osten und im Norden waren in aller Eile fertig gestellt worden und ihr größter Schutz für ihr Volk. Die einzelnen Türme, die die Mauerabschnitte überwachten erhielten gerade ihr hölzernes Innenleben aus Treppen und kleinen Lagerräume für Pfeile und Steine. Luscora, der ihr gerade Bericht erstattete, deutete auf eine große Karte, auf dem Kartentisch im Thronsaal auf die östliche Mauer. Mit seiner gewohnt nachdenklichen Art, erklärte er ihr, dass er noch Probleme hatte, die Spannkatapulte aufzustellen. Er deutete auf die zwei Stellen, jeweils zwei Mauerabschnitte von der Torburg rechts und links gelegen.
"Wie lange brauchst du noch?", fragte Faelivrin ihren Sohn besorgt, "Ich bin mir sicher, dass wir sie in dem Kampf brauchen werden. Sie sind unsere größte Waffe gegen Belagerungswaffen."
Luscora warf ihr einen Blick mit einer Mischung aus Anspannung und Stress zu. Insgeheim tat er ihr leid, dass sie ihn so unter Druck setzte, aber sie hatten keine Zeit mehr. Sie beschloss ihm die ungemütliche Wahrheit zu sagen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Es ist von größter Wichtigkeit, denn wir haben nicht die Kraft, einem anrückenden Feind in einer Feldschlacht zu begegnen. Du hast die Besprechungen erlebt. Die Hwenti sind stur und die übrigen Stämme weigern sich. Die Manarîn stehen allein."
Sie sah, dass sich sein Blick veränderte. Berechnender und vor allem gefestigt.
"Sind sie es, die stur sind?", fragte Luscora und hob eine Braue, "Oder erwartest du etwas von ihnen, das sie noch nie hatten. Treue für eine Herrin, die sie nie kennengelernt haben, Loyalität für ein Land, das fremd für sie ist. Du bittest sie, ihr Blut zu vergießen, ihre Kinder auf das Schlachtfeld zu schicken, von dem sehr viele nicht widerkehren werden." Er warf ihr einen ernsten Blick zu, "Mutter, du hast dich nach Vaters Ableben verändert. Früher hast du uns alle immer gefragt, ob wir etwas tun möchten. Du hattest uns abstimmen lassen, ob wir in neue Gefilde ziehen wollen. Du hattest eine Vision. Ambitionen. Ein Bild, von einem vereinten Stamm, nein, mehr noch, du wolltest die Wälle der Stämme zu Fall bringen. Das war es, das Finuor sich stets gewünscht hatte, mein ehrenwerter Vater. Schwesterherz lebt seinen Wunsch weiter. Ich tue es auch. Nicht nur für Vater, nicht nur für dich, sondern für unser Volk, für meine Kinder und deren Kinder und unser aller Wohl."
Luscora wandte sich ab, ihre Hand rutschte von seiner Schulter. Faelivrin blieb wie erstarrt stehen. Noch nie hatte ihr Sohn so offen ihr ins Gesicht gesagt, was er dachte. Er war stets der wohlgesonnen und überlegte Mann, der sich im Hintergrund neue Dinge einfallen ließ.
Sie blickte zu Boden. "Du hast Recht", sagte sie mit belegter Stimme. Ihre Hand ballte sich zur Faust, "Und doch habe ich keine Wahl. Ivyn hat ihre erste Warnung ausgesprochen."
Luscora drehte sich ihr wieder halb zu und hob skeptisch eine Braue. "Man hat immer eine Wahl", sagte er kühl.
"Du verstehst nicht!", sagte sie nun lauter, mit deutlicher Strenge. Ihr Sohn zuckte ein wenig zusammen, überrascht von dem plötzlichen Schwung ihres Temperaments. Gefasster setzte sie nach: "Es ist Schicksal. Eine Warnung wird angedacht, den schnatternden Krähen auf dem zitternden Dach; die zweite Warnung, der verborgenen Flamme, die im Zwielicht bange; die Dritte ... , soll erst enthüllt werden, wenn die Zeit gekommen ist."
Luscoras Verstand erfasste die erste Warnung sofort und er drehte sich mit neu gewecktem Interesse wieder zu ihr. Sie wusste, dass er eigentlich nichts von Prophezeiungen, oder der Gabe der Weitsicht hielt.
"Die Krähen... die Stämme der Avari. Das Dach soll wohl Eregion sein. Sie schnattern und kümmern sich nicht darum, dass ihnen das Dach unter den Füßen wegbricht. Wer hat diese Voraussicht ausgesprochen?"

Faelivrin blickte zur Seite, da Ivyn ihr nicht viel mehr erklärt hatte. "Großmutter hat es mir nicht sagen wollen, sie sprach nur davon, dass nach der dritten Warnung alles was sie kannte und wofür sie gearbeitet hatte, zunichte gemacht sei. Offenbar trägt sie diese Warnungen schon ziemlich lange mit sich herum, noch vor meiner Geburt."
Luscora schien zu verstehen, sagte jedoch: "Vielleicht dauert es noch hunderte Jahre, bis die zweite Warnung ausgesprochen wird. Ich denke, du solltest dich bei deinen Entscheidungen nicht auf so etwas Vages verlassen."
Faelivrin machte einen Schritt auf ihn zu und fasste ihn mit beiden Händen an den Schultern. "Edanel, wir stehen mit dem Rücken zu Wand", sagte sie ernst und blickte ihm in die dunkelbraunen Augen, "Die Manarîn sind die Einzigen, auf die ich mich jetzt verlassen kann. Kann ich mich auf dich verlassen?"
Ihr Sohn schaute ihr ebenfalls gefasst in die Augen. Kurz senkte er den Blick und atmete tief aus. Dann blickte er wieder auf. "Natürlich, Mutter", sagte er leise, so als ob er wieder an andere Dinge dachte. Für einen winzigen Augenblick sah sie in seinen Augen Furcht aufflackern, es war so kurz, wie ein Blinzeln. Nachdenklich ließ sie ihn los.
"Ich werde die Spannkatapulte bis zur Schlacht fertigstellen", versprach er ihr und wandte sich ab, "Selbst wenn ich dafür selbst ein Schwert ergreifen muss."
Faelivrin wollte noch etwas sagen, wusste aber nicht was. Luscora war das Kämpfen zuwider, das war weithin bekannt. Offenbar hatte sie ihn mit ihrer unbedachten Äußerung, ob sie sich auf ihn verlassen konnte gekränkt. Sobald sich die Tore zum Thronsaal schlossen und sie alleine war, hieb Faelivrin wütend über sich selbst mit der Faust auf den Kartentisch.


"So schlecht gelaufen?", fragte eine bekannte Stimme von der Seite her. Sofort richtete sie sich auf und streckte den Rücken durch. Aus dem Schatten trat ihr Vater. Mathan war in eine Rüstung gehüllt, wie sie ihr Volk trug. Der polierte Brustpanzer schimmerte silbern, ein roter Mantel mit goldener Schmuckborte hing von seinen Schultern hinab - ein Zeichen der königlichen Familie. Sofort erkannte sie das Schwert ihrer Mutter an seiner Seite, in seinen Händen hielt er einen Schild aus ihrer persönlichen Rüstkammer. Sie lächelte darüber. Eigentlich wollte sie ihm den Schild als Geschenk überreichen. Offenbar war ihre Mutter schneller gewesen.
"Es ist nicht immer einfach", antwortete sie ausweichend auf die Frage und fragte stattdessen: "Und, gefällt er dir?"
Mathan drehte den Schild in seinen Händen und ließ ihn einmal spielerisch durch die Luft wirbeln. Mit einer gekonnten Bewegung fing er ihn so auf, dass er ihm kampfbereit am Arm lag. Mathan nickte knapp. Faelivrin hatte extra Amarin gebeten einen Schild zu schaffen, der ihrem Vater perfekt saß. Es war ein stählerner Rundschild, der einen Großteil des Oberkörpers schützte, ein Buckel in der Mitte diente als Dekoration, das Wappen der Manarîn war darin eingeätzt. Eine aufgehende Sonne über dem Meer.
"Ich glaube, ich habe dich noch nie ohne Doppelschwerter gesehen", gab sie nach einem kurzen Moment des Überlegens zu.
Mathan schien einen Moment unwohl zu sein, dann sagte er mit düsterer Stimme: "Nun, ich ziehe in den Kampf. Also kämpfe ich, um zu beschützen und zu töten."
Dabei hob er jeweils seinen Schild und legte die freie Hand an den Griff seines Schwerts. "Faelivrin, ich bin stolz auf das, was du geleistet hast. Du hast das Leben zurück in meine Heimat gebracht - in unsere Heimat. Jetzt werde ich für dieses Leben kämpfen."

Sie blinzelte einen Moment, erneut überrascht von dem plötzlichen Kompliment, fing sich dann aber wieder. Faelivrin wollte Mathan eigentlich nicht so früh bitten zum Schwert zu greifen. Es war ihr Notfallplan gewesen. Ihr Vater war ein Meister des Schwertkampfes, sie fühlte sich nicht wohl dabei, ihn aus der Stadt gehen zu sehen. Er war wohl der Einzige, neben Ivyn, der wirklich Kriegserfahrung unter ihnen allen hatte. Seine Erfahrung wurde hier gebraucht. Zwar gab es damals bei den Hwenti und später den Manarîn auch vereinzelte Belagerung aber niemals solche, wie in diesem Ausmaß, das sich hier anbahnte.
"Vater ich-"
"Deine Tochter", unterbrach er sie und Faelivrin machte erneut eine überraschte Pause, "Deine Mutter macht sich große Sorgen um sie. Und du weißt, dass, wenn Halarîn irgendwo ein schlechtes Gefühl hat..."

Er musste den Satz nicht zu Ende bringen. Ihr lief ein winziger Schauer über den Rücken. Sie wusste noch zu gut, dass Halarîn es war, die den großen Waldbrand in tiefsten Rhûn bemerkt hatte, als sie noch zu klein war, um für sich selbst zu sorgen. Mathan war zu dem Zeitpunkt etwas zu Essen auftreiben gewesen. Hätte ihre Mutter nicht so früh geahnt, dass etwas nicht stimmte, hätte das Feuer sie beide eingeschlossen. Der Geruch von brennenden Kiefern weckte in ihr immer noch Furcht.
"Sie ist bei Rómen Tirion, zusammen mit Sanas", sagte sie schließlich nach einer Weile, "Sie müssten bald ankommen, wenn sie im vollen Galopp reiten."
Ihr Vater nickte knapp. „Ich werde heute Abend losreiten. Nachts werden die Orks entschlossener angreifen, aber auch unvorsichtiger. Vielleicht gelingt es mir sie durch eine List sie abzulenken und dem Turm damit eine Verschnaufpause zu verschaffen.“



Mathan wollte schon wieder den Raum verlassen, als seine Tochter ihm am Arm hielt. Ihr Blick sprühte vor Entschlossenheit.
„Du gehst nicht alleine“, sagte sie bestimmt und ihr Blick wurde wieder weicher, „Meine Späher haben mir von immer stärker werdenden Angriffen berichtet. Du wirst gegen eine Übermacht antreten und wir brauchen dich noch in den nachfolgenden Konflikten.“ Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. „Dreihundert. Ist das in Ordnung?“
Er blinzelte überrascht. Mathan hatte zwar schon einmal größere Truppen befehligt, aber nie mehr als zweihundert Elben. Vielleicht war es an der Zeit, mehr Verantwortung zu übernehmen. Und er wollte aufhören, vor seiner Vergangenheit davon zu laufen. Seine großen Niederlagen hatten ihn auch viele Dinge gelernt. Dinge, die er nun gegen den Feind brauchen würde, dessen gierigen Krallen nach seiner Familie griffen.
„Das wird genügen. Wie sind sie ausgebildet, worauf spezialisiert…“ Er verstummte, als seine Tochter anfing zu lächeln.
„Es sind die Besten“, antwortete sie nur knapp und er spürte, dass ihr Hand anfing zu zittern, „Du hast Isanasca gesehen. Sie ist die Zukunft dieses Landes. Sie wird uns beide eines Tages übertreffen. Der Traum meines Mannes… mein Traum, lebt in ihr und meinen Sohn weiter. Lass‘ ihn nicht vergehen. Es ist eine selbstsüchtige Bitte, das weiß ich und dennoch...“
Mathan spürte ihre Angst um das Wohl der Elben, die ihr Vertrauten und die vielen Leben, dir von ihren Entscheidungen abhingen, aber die Augen, die ihn anstarrten waren die einer Mutter, die um ihr Kind fürchtete. Er legte ihr beruhigend seine Hand auf die Ihre.
„Faelivrin, ich werde mein Enkelkind beschützen, verlasse dich auf mich. Ich bin dein Vater, ich kann es nicht ertragen dich, oder irgendjemand anderes unserer Familie leiden zu sehen.“
Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Ihre Hand löste sich von seinem Arm. Als sie die Augen öffnete, war die Furcht wieder verschwunden. Mathan lächelte ihr aufmunternd zu. Ein silbernes Flimmern huschte über die stahlgrauen Augen, dann wandte sie sich ab.
„Wachen“, sagte seine Tochter leise, woraufhin die zwei Palastgardisten am Tor zur Vorhalle aus den Schatten traten. Beide sanken sofort auf ein Knie, die geballte Faust auf dem Boden aufgestützt. „Man schicke einen Boten zu Anastarios mit folgenden Befehlen: Hisst die Flaggen auf den Türmen und bemannt sie mit den schärfsten Elbenaugen, die sich finden lassen. Verdoppelt die Anstrengungen der Pfeilmacher, rekrutiert dazu alle Handwerker, die nicht kämpfen werden – aber zieht keine Arbeiter von den Mauern und den Gräben ab. Die Heiler sollen frische Bandagen und Kräuter bereithalten. Unterbrecht den Bau der Brücke an der südlichen Torburg.“
Einer von beiden senkte den Kopf und antwortete ergeben: „Jawohl, Herrin.“
„Und versammelt eine Nernehta meiner Leibgarde. Dazu zweihundert aus der regulären Armee.“ Die beiden Wachen erhoben sich, verneigten sich knapp und stießen das Tor weit auf. Zwei neue Palastwachen, die aus der Vorhalle kamen, nahmen ihre Plätze ein. Seine Tochter bedeutete ihm Geduld zu haben und schritt bedächtig ebenfalls durch das Tor.
Mathan hob indessen eine Braue und hakte nach: „Eine Sturmspitze?“ Nur um sicher zu gehen, dass er sie richtig verstanden hatte. Er kannte diese Art von Truppenteil nur aus der Schlacht auf der Dagorlad, sie waren die schlagkräftigste aller Einheiten gewesen. Die Speerspitze, die jeden Angriff anführte und Breschen in die feindlichen Linien schlug.  Wenn keine großen Schlachten anstanden versammelte man sie eigentlich nicht, umso mehr verwunderte ihn es, jetzt davon wieder zu hören.
Faelevrin warf ihm einen Seitenblick zu, schaute aber dann auf die großen Tore des Palastes, die sich gerade wieder schlossen und den Blick auf die breite Außentreppe verweigerten. Sie schlenderte langsam in die Vorhalle und er trat neben sie, sodass sie gemeinsam durch die Halle gingen. Eine ihrer Hände strich sanft über eine der großen Marmorsäulen, die die hohe Decke trugen. „Die Manarîn sind keine großen Baumeister wie die Noldor. Wir waren nicht so kämpferisch wie die Kinn-Lai, sind nicht so offen zu Fremden wie die Kindi, oder waren geschickt wie die Cuind, keine guten Schmiede wie die Windan oder zäh wie die Penni. Mein Volk ist aber an den Herausforderungen auf den Inseln gewachsen, mehr als alle anderen. Zwar sind wir einem voll ausgebildeten Trupp Kinn-Lai bei gleichen Zahlen unterlegen, aber wir können ihnen mittlerweile einen harten Kampf liefern. Auf dem Schlachtfeld aber, dürfte uns keiner der anderen Stämme mehr gewachsen sein. Wir sind vielleicht nur ein paar tausend, aber mit Ivyns Wissen und Weisheit haben wir uns darauf vorbereitet unsere Heimat mit allen Mitteln zu verteidigen.“
„Deswegen deine Furcht um Isanasca. Sie ist die absolute Elite, wie ich es schon vermutet habe –sozusagen dein Meisterstück. Und ihr wirst du die Krone vermachen.“
Seine Tochter nickte und erklärte, dass Ivyn sie persönlich ausgebildet hat. Faelivrin wirkte einen Moment so, als ob sie mit etwas haderte. Ihr Blick huschte aus dem Augenwinkel kurz zu ihm. Eine kurze Stille trat ein, doch der Moment ging vorbei. Sie sagte nichts und ging in den Ostflügel, zu dem ihnen die Wachen das Tor öffneten. Mathan folgte ihr in den Korridor, der einfach in einer Baustelle endete. Sie steuerte eine Treppe an, die links in einer Nische versteckt war.
„Gibt es da etwas, das du mir vielleicht sagen möchtest?“, fragte er schließlich sanft, nun da sie endlich alleine waren. Er ging etwas versetzt hinter ihr, als sie gerade die erste Stufe nahm.
Sie erstarrte in der Bewegung. Mathan konnte ihr Gesicht nicht erkennen, doch er sah, wie sie kurz den Kopf senkte. Schließlich stieg sie weiter die Treppe hinauf und sagte nur leise: „Später, da gibt es etwas anderes, das ich zuerst loswerden will.“
Er respektierte ihren Wunsch und bohrte nicht weiter nach. Sie führte ihn durch das obere Stockwerk des Ostflügels. Von hier oben konnte man den Thronsaal und die gigantische Kuppel bewundern, doch der Blick war nicht ungestört. Überall waren hölzerne Geländer errichtet, es fehlten ganze Wände und kein einziger Raum hatte eine Decke. Weiter hinten konnte er sehen, wie der hintere Teil des Ostflügels von ein paar Elben weitergebaut wurde. Eine Art Kran mit Laufrad wurde genutzt, um die schweren Steine auf die Mauern zu setzen. Faelivrin beobachtete die Arbeiten und nickte zufrieden, als er sich neben sie stellte.

„Einer der frisch eingetroffenen Hwenti hat Nachrichten von Herion überbracht“, sagte seine Tochter schließlich mit etwas gedämpfter Stimme. Mathan horchte auf, als sie fortfuhr: „Onkel Herion sagte, dass Mutters Schwester gesichtet wurde. Die Beschreibung sei eindeutig zutreffend. Sie hat aber nicht die Ländereien der Hwenti betreten. Er wollte uns nur Vorwarnen.“
Mathan blinzelte erstaunt und drehte sich zu ihr. „Vorwarnen? Verstehen sich die Zwei so schlecht? Halarîn erzählt nie über sie, sie kennt noch nicht einmal ihren Namen.“
Faelivrin zuckte etwas unwohl mit den Schultern und scharrte mit ihrem Stiefel kleine Steinchen zur Seite. Er rief sich wieder in Erinnerung, dass Telperiel Halarîn verboten hatte nach ihren Geschwistern zu suchen.
„Onkel schrieb, dass sie wohl mittlerweile als Rámalin gekannt sei. Eine berüchtigte Söldnerin.“
„Hmm… Flügelmelodie… mich würde interessieren wie sie zu dem Namen gekommen ist.“
„Er schrieb, dass sie mit einigen hundert Reitern oder mehr aus dem Norden nach Süden unterwegs war. Wahrscheinlich will sie mit ihren Gefolge nach Kushan oder Minzhu, denn die beiden Reiche werden wohl bald einen massiven Krieg gegeneinander führen. Und das würde auf ganz Palisor Auswirkungen haben“
Mathan hob eine Braue und fragte, warum das so wichtig war. Seine Tochter vermutete, dass es das erste Lebenszeichen ihrer Tante war seit einer langen Zeit, was für ihn auch Sinn ergab. Sie berichtete weiter, dass Kushan bisher Minzhu an weiterer Expansion stets gehindert habe, doch seit geraumer Zeit strebte Kushan selbst nach mehr Ländereien und Bodenschätzen. Dies führte unweigerlich zu Konflikten mit den Nachbarn. Mathan erinnerte sich dunkel, wie Halarîn ihm die Zustände in Palisor erklärt hatte, aber der Süden war immer schon eher für sich gewesen und seine Frau hatte da kaum Kenntnis über die Lage dort gehabt. Er selbst war nur einmal in Minzhu gewesen, aber damals hatte es dort nur zersplitterte Kleinreiche gegeben, die von Kriegsherren beherrscht wurden – keine zentrale Ordnung oder Macht.
„Ich habe Mutter noch nichts von der Nachricht erzählt“, unterbrach sie seine beginnende Grübelei, „Heron hatte sie geschickt, weil Halarîn ihn darum bat ihr Bescheid zu geben, wenn ihre verschollenen Geschwister auftauchten. Die Beschreibung hatte sie wohl meiner widerwilligen Großmutter entlockt.“

Mathan schlug vor das erst später weiterzuleiten, da Halarîn dringen Ruhe brauchte. Er machte sich so schon große Sorgen um sie, da sie eben ungewöhnlich blass gewesen war. Seine Tochter nickte bestätigend und führte ihn wieder zu der Treppe nach unten. Kurz überlegte er, sie danach fragen, was ihr vorhin an der Treppe durch den Kopf gegangen war. Mathan verwarf es, als sie ihn in das fertige Gebäude über der Vorhalle führte, was sich als ihre privaten Gemächer herausstellte. Es war ein riesiger, lichtdurchfluteter Raum, der von einem großzügigen Bett in der Mitte dominiert wurde. Felle und Teppiche lagen auf dem kühlen Marmorboden, eine große, doppelflügelige Tür zog seinen Blick an. Faelivrin ging vor und öffnete sie. Vor ihm lag die Terasse, die auf dem Vorbau des Palastes gebaut worden war. Sie maß vielleicht zehn Schritte, direkt neben der Tür hatte Faelivrin sich einen gemütlichen Liegestuhl hingestellt, zusammen mit einem Beistelltisch, auf dem ein Buch lag. Ein kleines Flämmchen flackerte in einer Feuerschale.
„Hier verbringe ich gern meine Abende, wenn ich allein sein möchte. Ein gutes Buch beim Sonnenuntergang entspannt“, sagte seine Tochter, als sie seinen Blick bemerkte, „Komm, ich glaube sie sind mittlerweile angetreten.“

Er folgte ihr und genoss den Blick auf die Stadt, der sich ihm bot. Der Palast saß auf dem höchsten Punkt und man hatte eine gute Übersicht auf die vielen Häuser, die inzwischen errichtet wurden. Wenn er alles ausblendete, meinte er sogar das Plätschern des Glanduins hören zu können. Oder es war seiner Erinnerung die ihm einen Streich spielte, da Ost-In-Edhil genau dort errichtet worden war, wo der Sirannon sich mit dem Glanduin vereinte. Leider war der Sirannon schon seit langer Zeit ausgetrocknet, sonst hätte er nicht einfach trockenen Fußes das Nordtor erreicht. Faelivrin bedeutete ihm an die Brüstung zu treten. Mathan stellte sich neugierig sie und blickte hinab. Ein Befehl wurde auf Avarin gebrüllt. Vor den Treppen des Palasts hatten sich einhundert Elben in einer strengen Formation versammelt. Sie trugen schwere Plattenrüstungen aus silbernem Stahl, lange Hellebarden in den Händen und Umhänge aus rotoranger Seide hingen von ihren Schultern. Schwarze Mundtücher bedeckte das Gesicht bis auf die Augen. Ihre Helme waren prunkvoll verzierte Flügelhelme, die in der Form von Sonnenstrahlen gearbeitet waren. Jeder der Krieger war in etwa gleich groß und jeder trug die gleiche Ausrüstung. Neben der Hellebarde war jeder einzelne auch mit Schwert, Bogen und Dolch bewaffnet. Faelivrin hob knapp die Hand und die Soldaten reckten kurz ihre Waffen in die Höhe, ein vereintes: „Tarinya!“ ertönte. Ein Gruß an ihre Königin. Seine Tochter nickte ihnen zu und drehte sich stolz zu ihm. „Dies ist meine persönliche Garde. Die Erste Nernehta, sie sind in allen Waffenarten geübt. Dort, wo andere den Tod sehen, sehen sie Ehre. Niemals würden sie ihren Posten verlassen, keinen Befehl verweigern und bis auf den letzten Speer kämpfen.“ Ein kaltblütiges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Lasst die Orks mit Blut bezahlen.“
Mathan musterte die Truppe genauer und kam zu demselben Schluss. Niemand schien den Tod zu fürchten, sie alle warteten vollkommen regungslos auf ihre Befehle. „Und du bist dir sicher, dass du sie nicht hier brauchst?“
Faelivrin verneinte und erklärte, dass ihre königliche Garde mehr als nur diese einhundert Elben umfasste. Schließlich gab Mathan sich geschlagen, da er seine Tochter zu gut kannte. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er sie nur nach einer stundenlangen Diskussion davon abbringen. Und diesmal hatte er keine Zeit dazu. Ein Schmunzeln um ihre Lippen verriet ihm, dass Faelivrin genau darauf abgezielt hatte. Er schüttelte unmerklich den Kopf, während sie ihrer Garde befahl, an der westlichen Torburg auf den Befehl zum Ausrücken zu warten. Die Elben bestätigten mit einem einmaligen Aufstampfen mit einem Bein, dann machten sie auf dem Absatz kehrt und zogen in geordneten Reihen vom Platz. Seine Tochter sagte, dass die restliche Truppen bei Nacheinbruch gemustert dort auf ihn warten würden, doch er beobachtete weiterhin die marschierenden Elben, deren seidenen Umhänge im Wind flatterten. Die Hellebarden funkelten in der beginnenden Dämmerung und das regelmäßige Stampfen des marschierenden Trupps weckte Erinnerungen an die Kriege, die er bisher erlebt hatte. Mathan atmete tief durch, dann folgte er seiner Tochter, die ihm zu einer Mahlzeit einlud. Geistesabwesend stimmte er zu. Mit dem Gedanken war er jedoch auf den Schlachtfeldern längst vergangenen Zeiten. Er merkte nicht, dass seine Tochter ebenfalls tief im Gedanken war und so düster wie noch nie dreinschaute.

Mathan mit der Elbenstreitmacht zum Tal des Sirannon
« Letzte Änderung: 28. Apr 2021, 15:35 von Fine »

Fine

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Ein Traum von Eis
« Antwort #26 am: 13. Apr 2021, 08:20 »
Kerry hatte bei ihrer Rückkehr zu Farelyës Unterkunf feststellen müssen, dass sowohl Elea als auch Finjas verschwunden waren. Anscheinend unternahmen sie einen gemeinsamen Streifzug durch die Stadt. Kerry konnte das gut verstehen, denn sie selbst hatte eine gewisse Neugierde in sich erwachen gespürt, als sie Ost-in-Edhil wieder betreten hatte. Als sie zum ersten Mal hier gewesen war, war die Stadt nichts als eine Ruine gewesen. Jetzt pulsierte sie wieder vor Leben, und überall schossen neue Bauten in die Höhe. Sie nahm sich vor, das Gespräch mit Elea ein wenig zu verschieben und begann, sich eine kleine Mahlzeit an der Kochnische zuzubereiten.

Es dauerte keine zehn Minuten, da hatte der Geruch von Essen bereits jemanden angelockt. Leise, kaum hörbare Schritte in ledernen Schuhen näherten sich, und eine Stimme sagte: "Das riecht ja vorzüglich. Du solltest öfters deine Kochkünste vorführen, Morilyë."
Es war Farelyë, die den Kopf durch die Tür gesteckt hatte. Hatte sie am vergangenen Tag noch eine schwere Rüstung nach Art der Manarîn getragen, so schien sie sich heute entschlossen zu haben, etwas traditioneller aufzutreten. Sie trug ein langes, meerblaues Kleid, dessen Ärmel in langen, weiten Spitzen ausliefen, die ihr beinahe bis zu den Knien hingen. Um Hals und Brust lag locker ein langer, weißer Schal, und die spitzen Ohren waren mit zwei großen, kristallenen Ohrringen versehen. Auf jede Wange war eine Elbenrune mit schwarzer Farbe gemalt worden, was ihr würdevolles Aussehen in Kerrys Augen ein klein wenig schmälerte. Doch sie hatte schon vor langer Zeit aufgegebn, Farelyës Tun und Lassen zu hinterfragen. Die Cuventai-Elbin war ein Fall für sich, selbst unter den vielfältigen Manarîn und Avari aus dem Osten gab es niemand, der ihr auch nur in irgend einer Weise ähnlich war - abgesehen von der weisen Ivyn, die nach wie vor als Farelyës Mentorin fungierte.
"Möchtest du probieren? Es ist nicht viel, aber es ist warm," sagte Kerry und reichte Farelyë eine Schüssel mit dem Eintopf, den sie gerade gemacht hatte.
"Probieren? Ich hätte gerne eine vollständige Portion," korrigierte die Erste sie mit einem frechen Lächeln. "Diese Stadt macht mich hungrig. Es sind hier so viele Leute auf einem Haufen, da fühle ich manchmal... ein wenig unwohl." Ihr Lächeln verblasste für einen Augenblick, doch nachdem sie von dem Eintopf gekostet hatte, kehrte es auf Farelyës Lippen zurück.
Kerry bediente sich ebenfalls und zusammen setzten sie sich an einen der flachen Tische im Raum. "Ich verstehe," begann sie mitfühlend, "Und... auch wieder nicht. Du hast dich so sehr verändert, in so schneller Zeit, und... warst zuvor so lange allein gewesen... es ist eine Umstellung, die ich kaum erahnen kann."
Farelyë wog nachdenklich den Kopf hin und her. "Das ist nicht... das eigentliche Problem," sagte sie. "Es sind die Elben. Sie sind mir selbst nach all den Monaten, die ich nun unter ihnen weile, ein Rätsel. Sie haben ein gemeinsames Ziel, und einen gemeinsamen Feind, und sie stecken alle in derselben Gefahr. Warum also streiten sie so viel, und sind uneins? Es... bereitet mir Kopfschmerzen. Diese Konflikte an jeder Straßenecke zu sehen... es setzt mir zu, Morilyë."
Kerry dachte einen langen Augenblick über die Problematik nach, ehe sie zu einer Antwort kam. "Ich kann nicht gerade behaupten, mich in der... Politik der Elben auszukennen," begann sie etwas unsicher. "Aber ich weiß, dass hier in Eregion nicht nur die Manarîn siedeln, sondern auch die unterschiedlichsten Stämme aus dem Osten. Und sie wollen nicht einfach so eine Königin akzeptieren, die sie nicht kennen. Würdest du Befehle von jemandem entgegennehmen, dem du nicht vertraust?"
"Es braucht nicht viel um zu sehen, dass Faelivrin eine gute Anführerin ist," sagte Farelyë. "Man braucht nur Augen und Ohren, um zu sehen und zu hören. Ich würde ihr folgen, selbst wenn ich sie nicht so gut kennen würde. Wieso können sie das nicht erkennen? Sind sie so sehr von ihrem Stolz geblendet, dass sie lieber alleine gegen die drohende Dunkelheit ziehen, anstatt geeint zu kämpfen?"
"Ich... ich weiß es nicht," gab Kerry etwas verzagt zu. Farelyës Worte setzten ihr zu. Sie hatte nicht gedacht, dass die Uneinigkeit der Elben Eregions so schlimm geworden war, dass selbst eine so große Gefahr sie nicht dazu brachte, zusammenzuarbeiten.
"Nein. Natürlich weißt du es nicht," sagte Farelyë überraschend sanft. "Aber du hörst mir wenigstens zu. Die meisten am Hofe halten mich noch immer für eine Absonderlichkeit... mich stört das nicht, ich weiß wer und was ich bin, und selbst die größten Skeptiker können nicht verleugnen, dass ich das Licht der Ersten in mir trage. Doch leider ist der Respekt davor nicht bei allen Avari so groß, wie er... sein sollte."
"Wie meinst du das?" wollte Kerry wissen.
"Sie dulden mich bei Hofe, aber mein Wort wiegt nicht schwer," erklärte die Erste. "Sie halten mich für nützlich, aber nicht vertrauenswürdig. Ich sehe es in ihren Blicken und in ihrem Gebaren. Die Kinn-Lai sind die Schlimmsten. Ich glaube, bis auf Ivyn gibt es niemanden, der wirklich versteht, was... mit mir geschieht."
"Was mit dir geschieht?" hakte Kerry besorgt nach.
"Es ist kein Jahr vergangen, seitdem Sarumans Schergen mich aus dem Eis holten," antwortete Farelyë leise, und sie klang sonderbar verletzlich dabei. "Ein... Teil von meinem Geist ist noch immer dort gefangen, fürchte ich. Es wird dauern, bis... ich vollständig bin. Je mehr von meinem Sein zu mir zurückkehrt, desto mehr passt mein Körper sich an."
"Bist du deswegen so schnell gewachsen?"
Farelyë nickte. "Ich sah etwas zwischen den Sternen," kurz bevor du hier her kamst. Ich sah Eis, das gebrochen wurde, ein lange verschlossenes Siegel, das geöffnet wurde. Ein Stück meines Selbsts kehrte zu mir zurück in jenem Moment, aber... noch etwas anderes wurde in jenem Augenblick befreit. Etwas, das älter ist als Ivyn oder ich. Älter, als diese Welt. Etwas, das niemals hätte befreit werden dürfen."
Kerry erschrak. "Wovon sprichst du?"
Farelyë legte eine Hand an ihre Schläfe. "Ich... versuche seit Tagen, mich darauf zu konzentrieren, aber... es ist mir nicht gelungen, noch einmal einen Blick auf dieses Wesen zu erhaschen. Die Sternsicht ist... sehr komplex, und sie ist nicht Ivyns Fachgebiet, weswegen sie mir nur wenig dabei helfen kann. Ich brauche Konzentration und Ruhe, aber in dieser Stadt ist so viel Konflikt und Streit, dass ich seit Tagen gegen eine unsichtbare Wand ankämpfe..."
"Dann musst du fort von hier," sagte Kerry, mit einem Mal ganz ruhig. "Und dir einen ruhigen Ort suchen, wo du dich konzentrieren kannst."
Farelyë sah sie an, die Augen ein wenig geweitet und seit langer Zeit wirkte sie so, als wäre sie tatsächlich überrascht. "Aber... ich kann nicht fort. Was, wenn ich hier gebraucht werde?"
"Ich habe das Gefühl, dass... das, was du gesehen hast, wirklich wichtig ist," sagte Kerry langsam. "Vielleicht... sollten wir gemeinsam gehen?"
Die Cuventai-Elbin sagte für einen langen Augenblick nichts. Dann lächelte sie, und war wieder sie selbst - gelassen und eine Spur amüsiert wirkend. "Nichts überstürzen," sagte sie ruhig. "Ich akzeptiere deinen Ratschlag, Schwester Morilyë, aber eines nach dem Anderen. Du hast noch etwas zu erledigen, hier in der Stadt der Elben. So lange werde ich noch ausharren. Danach können wir die Abgeschiedenheit dort draußen suchen und... Antworten finden."

Darauf hatte Kerry keine Antwort, denn sie wusste, dass Farelyë nicht absichtlich in Rätsel sprach. Sie wusste es für gewöhnlich nicht besser. So aßen sie gemeinsam den Eintopf leer, ehe Farelyë sich wieder verabschiedete. Sie hatte beschlossen, Ivyn ihre Entscheidung mitzuteilen, und bot Kerry an, sie in den Palast zu begleiten. Doch Kerry lehnte ab. Sie kam sich fehl am Hofe der Königin vor, obwohl sie einen Großteil dort gut kannte. Nach Rang und Namen wäre sie dort vermutlich recht angesehen, doch als sie am Tag zuvor bei Faelivrin gewesen war, waren ihr so manche Blicke nicht entgangen, die vor allem von den Avari gestammt hatten. Sie wusste, dass ihre Familie sie niemals gering schätzen würde, und ihr die meisten Fehltritte verzeihen würde, aber die Zeit in der Wildnis, die sie gerade erst hinter sich hatte, hatte Kerry geprägt. Sie wollte keine schwer zu merkenden Etikette einhalten oder ruhig dastehen, während die Edlen über das Vorgehen im Krieg stritten. Sie nahm sich vor, die Mitglieder ihrer Familie privat zu besuchen, noch ehe sie mit Farelyë die Stadt verließ. Und außerdem gingen ihr die Worte der Cuventai-Elbin nicht aus dem Sinne, dass sie in Ost-in-Edhil noch etwas zu erledigen hatte. Schon während der Unterhaltung mit ihrer Freundin hatte sie darüber nachgegrübelt, was Farelyë damit wohl gemeint haben konnte.

Ein Klopfen riss Kerry aus ihren Gedanken, und sie schreckte hoch, als die Tür zum Esszimmer sich ohne Vorwarnung öffnete...
RPG:

Curanthor

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Re: Ost-in-Edhil
« Antwort #27 am: 22. Apr 2021, 23:09 »
Aus Anastorias' Sicht

Es hatte wieder angefangen zu schneien und der kühle Nordwind trieb die Schneeflocken unermüdlich in die Gesichter der Arbeiter. Ihr Atem stand in kleinen Wölkchen vor ihren Mündern. Anastorias hatte alle Hände voll zu tun, die Anordnungen der Königin weiterzugeben. Er selbst half einigen Elbenfrauen die Banner der Manarîn auf den Türmen der Mauer zu hissen. Es brauchte seine starken Arme, um die Seile festzuzurren, damit der Stoff nicht wegflog. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Auf einer schmalen Holzkonstruktion wurde  einer Stange hochgezogen, an der das Banner selbst befestigt war. Kurz warf er einen Blick auf die kleinen Türme, die hier und da aus der Stadt herausragte. Sie waren eigentlich als Kornlager eingerichtet, auf der Spitze hatte man aber eine Plattform gebaut, sodass man dort Bogenschützen postieren konnten. Wenn ein Teil der Mauer eingenommen werden würde, schossen die Schützen einen Brandpfeil, um das Banner zu verbrennen. Damit wusste jeder sofort wo der Feind genau war und von wo er in die Stadt eindringen konnte. Der junge Elb klopfte sich zufrieden den Baustaub von der Kleidung und hüpfte von dem Podest herunter. Eine der jungen Elbendamen, die ihm zuvor das aufgerollte Banner gereicht hatte, gab ihm einen warmen Mantel, den er dankend annahm. Sie warf ihm ein kokettes Lächeln zu, eilte aber dann scheu davon. Die übrigen zwei, die wohl etwas älter waren, schmunzelten nur und verabschiedeten sich. Die Sonne stand bereits tief und warf lange Schatten. Er wusste, dass seine Großmutter um die Zeit gern eine Mahlzeit zu sich nahm, aber er hatte wichtigeres zu tun. Ihm war zudem die Stimmung im Palast zu bedrückt, aber das würde er ihr nicht ins Gesicht sagen. Geistesabwesend ging er in die wuchtige westliche Torburg. Im Inneren umrundete er das hochgezogene Fallgatter und nahm eine der versteckten Treppen hinunter. Auf der breiten Straße in die Stadt hinein, hatte sich eine schwer gerüsteter Trupp Elben versammelt. Anhand der Ausrüstung erkannte er die königliche Garde, die in geordneten Viererreihen sechs Mann tief standen. Er zählte zehn Trupps mit rotorangen Mänteln. Schweigsame Krieger, die stumm auf den Befehl zum Ausrücken warteten. In den anliegenden Straßen saßen und standen hingegen etwas leichter gerüstete Elbenkrieger mit himmelblauen Mänteln in kleinen Gruppen, doch auch sie wirkten ziemlich still. Anastorias hörte aus den leisen Gesprächen der regulären Armee, dass sie noch heute Nacht gen Osten zogen, um die Prinzessin zu beschützen. Immer wieder hörte er, dass ein neuer Befehlshaber zurückgekehrt war und dieser sie zum Sieg führen würde. Offenbar herrschte vorsichtiger Optimismus. Ein erleichtertes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. So wie sie von dem Befehlshaber sprachen, bedeutete das wohl, dass Mathan wieder da war und nun selbst in den Kampf zog. Anastorias hatte mit ihm Seite an Seite gekämpft und war sich sicher, dass er seine Mutter wohlbehalten wieder zurückbrachte. Damit war eine seiner dringendsten Sorgen von ihm beruhigt. Ermuntert davon, ging er durch das westliche Tor hinaus und sprang in einer der Gräben, die sie unerlässlich aushoben. Der steinige Untergrund machte das Vorhaben beinahe unmöglich, aber dank der Kraft der Elben ging die Arbeit gut voran, auch wenn die Gräben für ihre Feinde nur eine lästige Unbequemlichkeit waren, als ein echtes Hindernis. Anastorias ging durch den Graben, an der nord-östlichen Ecke der Stadtmauer und kontrollierte dessen Tiefe. Meistens war er nur bis zu seinem Knie, oder seiner Hüfte ausgehoben. Der Elb schüttelte den Kopf und legte selbst Hand an. Er griff nach einer der herumliegenden Werkzeuge und begann mit der Arbeit. Mit jedem Schwung der Spitzhacke löste er mehr und mehr festen Erdboden, der von größeren Gesteinsbrocken durchsetzt war. Die gelösten Steine warf er auf einem Haufen, die Erde schaufelte er zu einem kleinen Wall. Ab und zu kam ein Elb mit einem kleinen Wagen, lud die Steine auf und schaffte sie in die Stadt. Es war keine sonderlich fordernde Arbeit und Anastorias hing seinen eigenen Gedanken nach. Immer wieder fragte er sich, ob Alassindowen hier in der neuen Heimat wohl glücklich geworden wäre. Ihm kam es so vor wie gestern, als sie einfach aus seinem Leben gerissen wurde. Unwillkürlich musste er plötzlich an Adrienne denken, die auch einfach so aus der Stadt verschwunden war. Das Menschenmädchen hatte einen verwirrten Eindruck gemacht und bei Hof rätselte man, ob sie vielleicht aus Angst vor dem Krieg davongelaufen war. Einige böse Zungen zweifelten ihre Loyalität an, doch seine Familie war sich sicher, dass sie einfach nur verängstigt war.

„Junger Herr?“, ertönte eine weibliche Stimme freundlich und Anastorias blickte überrascht auf.
Vor ihm stand eine der Leibgardisten der königin, anders als sonst trug sie keine schwere Rüstung, sondern ein graues Kleid mit hohem Kragen, weit ausgestellten Armen, an dessen Enden seidene Stoffbahnen hingen, die sie sich elegant die Arme hochgewickelt hatte. Er blinzelte verwundert und erkannte erst auf dem zweiten Blick Asea. Die abgehärtete Gardistin lächelte etwas unsicher und verneigte sich knapp. Es war das erste Mal, dass er sie ohne Rüstung traf und ohne Helm. Anastorias versuchte nicht auf die offenen Haare zu starren, die stahlschwarz in ganz leichten Wellen ihr bis auf die Brust reichten – er hatte bisher noch nie auch nur eine Haarsträhne von ihr gesehen. Er räusperte sich nach einem unsicheren Blick von ihr und riss sich von ihrem Anblick los.
„Verzeihung“, murmelte er etwas verlegen und klopfte sich den Staub von seinem warmen Mantel, „Ich war ziemlich im Gedanken.“
Er konnte sehen, wie sie aus Höflichkeit nickte, ihm aber trotzdem aus dem Graben half. Die letzten Sonnenstrahlen verabschiedeten sich, als er mit der Elbe an der Mauer zum Tor entlangschlenderte. Keiner von beiden brachte ein Wort heraus. Anastorias war immer noch damit beschäftigt sie nicht anzustarren und Asea schien generell unwohl zu sein. Gleichmäßiges Marschieren ließ sie beide den Kopf heben. Geordneten Reihen von Elbenkriegern strömten aus dem östlichen Tor. Es waren Hunderte, ihre polierte Gleven und Rundschilde blitzen in den letzten Sonnenstrahlen. An der Spitze konnte er einen roten Mantel mit goldener Schmuckborte erkennen. Sie waren zu weit weg, um ihnen etwas zuzurufen, doch er vermutete, dass Mathan nicht länger warten wollte. Anastorias schlug die Hacken zusammen und richtete sich zu voller Größe auf. Dann legte er sich die linke Hand aufs Herz und die Rechte hoch an die linke Schulter. Es war ein Gruß, den ihnen Ivyn gezeigt hatte. Eine Form von höchstem Respekt unter den Avari. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass Asea es ihm sofort gleichtat. Die umstehenden Elben in den Gräben unterbrachen ihre Arbeiten und auch sie zollten den ausziehenden Heer Respekt. Selbst die Hwenti, die die Arbeiten sonst mit einer Spur Argwohn beobachtet hatten, erkannten die Geste und taten es ihnen nach. Ein seltsamer Moment der Verbundenheit erfasste ihn.
„Sowas brauchen wir öfters...“, murmelte Asea ergriffen, ansonsten war es still.
Als das Elbenheer fast aus der Sichtweite war, hielt es zur allgemeinen Überraschung kurz an. Ein deutlich hörbares Donnern von Schwertern auf Schilden folgte, dann setzte es sich wieder in Bewegung. Ein letzter Abschied. Und ein Versprechen zahlreich zurückzukehren.
„Ich dachte, dass du es vielleicht sehen wolltest“, ergriff die Elbe wieder das Wort und warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, „Immerhin ziehen sie aus um deine Mutter retten, unsere Kronprinzessin.“
Anastorias sah, dass ihre Hand leicht zitterte, doch sie versteckte sie schnell in einem ihrer weiten Ärmel. Er bemerkte, dass sie ihn nicht so förmlich wie sonst ansprach. Eigentlich legte er auch darauf keinen Wert, allerdings hatte er das nicht bei der sonst so respektvoll distanzierten Gardistin erwartet. Auf ihrer langen Reise durch den Norden Eriadors hatten sie auch kaum ein Wort gewechselt. Er vermutete, dass irgendjemand in diesem Heer marschierte, der ihr viel bedeutete, denn sie starrte noch immer auf den Horizont, der von dem gewaltigen Nebelgebirge dominiert wurde. Anastorias beschloss ihr noch ein wenig Gesellschaft zu leisten und legte Asea beruhigend eine Hand auf die Schulter. Die Elbe zuckte überrascht von der Berührung zusammen, lächelte aber dann dankbar und starrte wieder in die Landschaft hinaus.
Es vergingen lange, schweigsame Momente, in denen jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Die Sonnenstrahlen waren nun verschwunden und Dunkelheit überkam das Land. Etwas unwohl nahm Anastorias die Hand von Aseas Schulter, da sie sich die ganze Zeit nicht beklagt hatte. Eine sanfte Berührung am Arm hielt ihn aber davon ab. Sie blickte weiter nach vorn und sagte leise: „Bitte… erlaubt mit diesen selbstsüchtigen Moment. Nur dieses eine Mal.“
Überrascht ließ er seine Hand wieder auf ihre Schulter sinken.  Er spürte, wie ihre Körper ein wenig bebte und schwieg respektvoll. Anastorias kannte Asea so gut wie gar nicht. Er erinnerte sich aber, dass seiner Mutter einst erwähnte, dass ihre Eltern bei der Sturmflut, die den König tötete ebenfalls umkamen, seitdem war ihr nur ihr Bruder als Familie geblieben. Ihre Hand tastete nach seiner und drückte sie sanft. Asea murmelte einen Dank, dann löste sie sich von ihm und wandte sich nach Norden. Anastorias wurde klar, dass ihnen bestimmt drei Dutzende Augenpaare folgten. Das Gerede konnte er sich schon denken. Er fluchte leise und folgte ihr, den Blick auf den Boden gerichtet. Die Arbeiter im Graben tuschelten leise und er dachte, dass sie ihn meinten, bis er gegen Asea stieß, die plötzlich stehen geblieben war. Sein Blick folgte ihren ausgestreckten Arm, der auf etwas im Schnee deutete. Das Gemurmel der Elben in den Gräben wurde lauter und auf der Mauer wurde lauthals nach Bogenschützen und einem Heiler gerufen. Anastorias kniff die Augen zusammen. Eine rote Spur zog sich durch den Schnee, bis zu einem bleichen Körper.
„Ein Späher“, rief Asea alarmiert und reffte ihr Kleid um loszurennen, doch Anastorias hielt sie zurück sprintete seinerseits los. 

Die weiche Schneedecke zerbrach unter seinem Schritt und je näher er der Gestalt kam, umso vertrauter wurde sie ihm. Sein Herz krampfte sich zusammen. Die kühle Luft in seinen Lungen brannte. Dutzende Befürchtungen gingen ihm durch den Kopf, die er alle panisch von sich schlug. Schließlich kam er abrupt zum Halt. Die langen, kastanienbraunen Haare lagen zerzaust über den entblößten, blutigen Rücken. Die Arme von sich gestreckt, bedeckt von grausamen Wunden, die ein eigensinniges Muster ergaben. Anastorias schluckte hart. Er wusste wer es war. Ein schwarzer Pfeil stecke in ihrem rechten Bein. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen.
„Einen Heiler!“, schrie er und ging vor der Verletzten in die Knie. Anastorias nahm all seinen Mut zusammen und packte sie an der Schulter. Dann drehte er sie um. Die Hälfte ihres Gesichts war eine einzige blutende Wunde. Ein tiefer Schnitt zog sich über Stirn, Augenbraue, Auge und Wange. Ihr Oberkörper war ebenfalls bedeckt von tiefen, blutigen Schnitten, die ein archaisches Muster ergaben. Sofort zog er sich seinen Mantel aus und bedeckte sie. Atemlos hielt er ihr einen Finger an die Nase. Ein banger Moment folgte… Komm schon Adrienne, atme. Rasch befeuchtete er einen seiner Finger im Schnee und hielt ihn erneut unter ihre Nase. Endlich spürte er einen Luftzug. Schwach und kaum vernehmbar.
„Holt mir einen Heiler verdammt!“, brüllte er noch einmal, sodass seine Stimme von den Stadtmauern zurückgeworfen wurde. Er hörte, wie auf den Mauern der Ruf nach einem Heiler drängender weitergegeben wurde.
Asea eilte an seine Seite und blieb ebenfalls stehen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die gestählte Gardistin mit Fassungslosigkeit auf ihre ehemalige Gefährtin starrte. Folter war nicht alltäglich und auch nicht in diesem Ausmaß. Dann überwand sie sich und kniete ebenfalls neben der Verletzten. Anastorias schob sein Arm unter die schlaffen Beine, Asea hob den Oberköper leicht an und platzierte ihn so, dass der Kopf auf seiner Schulter lag. Er erhob sich vorsichtig und begann loszulaufen, zum Osttor. Er mied es der Verletzten ins Gesicht zu blicken. Zu sehr erinnerte es ihn an Alassindowen. Asea deutete auf das Tor, wo eine Traube von Leuten bereits auf sie wartete. Zwei Elben mit einer Trage eilten ihnen entgegen – wahrscheinlich die Heiler. Nach einigen atemlosen Momenten erreichten sie sie.
„Bringt sie sofort in das Haus der Ruhe“, fuhr er die beiden Elben harsch an und platzierte Adrienne auf der Trage. Ein Wimmern ertönte. Anastorias tauschte mit Asea einen Blick aus Erleichterung und Sorge. Immerhin war noch etwas Leben in ihr. Unterdessen hatte die Stadtwache alle Mühe die Schaulustigen zu vertreiben. Kurzentschlossen trat er an den Hauptmann der Wache.
„Ihr da, schickt euren schnellsten Boten zu Herrin Ivyn. Sofort!“
Ein ersticktes Kreischen ließ ihn herumfahren. Adrienne begann auf der Liege zu zappeln und um sich zu schlagen. „Bindet sie fest!“, befahl er ohne groß nachzudenken, „Sonst verliert sie zu viel Blut.“
„Sie erkennt uns nicht“, rief einer der beiden Träger, der seine Mühe hatte die Verletzte zu fixieren, „Wenn sie so weiterzappelt…“
Anastorias fluchte, dann blickte er zu Asea. „Du verständigst die Königin, ich hole ein bekanntes Gesicht. Jemand ohne spitze Ohren. Weißt du, wo sie ist?“
Die Gardistin verstand und beschrieb ihm den Weg zum Haus von Farelyë. Anastorias machte auf den Absatz kehrt und rannte die Hauptstraße entlang. Er bog in eine der vielen, verwinkelten Nebengassen und fand nach einer Weile schließlich das Haus der Ersten der Cuventai. Atemlos sprintete er die Anhöhe hinauf und durch die offenstehende Tür.

Kurz verharrte er, verwirrt durch einen ungewöhnlichen Eindruck, den er erst nicht einordnen konnte. Es roch nach Eintopf. Anastorias eilte an die Tür zum Esszimmer und klopfte, riss sie dann aber ohne große Rücksicht auf. Kerry saß auf einer Bank vor dem Esstisch, eine geleerte Schüssel vor sich. Sie sah aus, als ob sie einen Geist gesehen hatte. Mit geweiteten Augen starrte sie ihn an.
Ehe sie etwas sagen konnte, griff er nach ihren Arm, „Du musst mitkommen. Sofort!“ Doch Kerry schreckte zurück und starrte auf seine Hände. Sie waren blutverschmiert, genauso wie seine restliche Kleidung. Doch in ihrem Blick sah er neben Schrecken auch Sorge.
„Das ist nicht meins. Es ist Adrienne. Sie braucht dich. Jetzt sofort.“
Kerry schien was sagen zu wollen und öffnete den Mund, schloss ihn jedoch. Ihr Blick wirkte wieder gefasst und sie erhob sich sogleich. Anastorias stutzte kurz, da er nicht damit gerechnet hatte, dass sie so ruhig bleiben kann. Er schüttelte die Verwunderung ab und winkte sie hinter sich her.
„Keine Zeit zu erklären. Je länger wir brauchen, umso schlimmer wird es.“
Mit den Worten hastete er aus dem Raum. Hinter sich hörte er Kerrys Schritte und hielt ihr die Tür nach draußen offen. Als sie ihn passierte, warf sie ihm einen beunruhigten, sorgenvollen Blick zu. Er konnte sehen, dass ihr hunderte Fragen durch den Kopf gingen. Im Gehen zog sie sich ihren Mantel enger. Anastorias überholte sie und verfiel in leichten Trab. Kerry beschleunigte ebenfalls und hielt Schritt. Langsam aber stetig wurde er schneller und bog um eine scharfe Ecke. Eine Elbendame machte ihnen erschrocken Platz. Sie passierten die große Hauptstraße im Osten und bogen in eines der älteren Viertel ein. Plötzlich meinte er Hufe auf Stein zu hören. In einer der Parallelstraßen erblickte er an vorbeiziehenden Häusern Ivyn auf einem weißem Pferd in halsbrecherischen Geschwindigkeit durch die Straßen jagen. Zwei weitere, vermummte Reiter folgten ihr. Dann bogen die Reiter vor ihnen auf die gleiche Straße ein, auf der er und Kerry liefen. Hinter sich hörte er die junge Frau langsam schwerer atmen, doch hielt sie tapfer das hohe Tempo, das für Menschen wohl alles abverlangte. Er konnte die Sorge um ihre Freundin verstehen, auch er selbst hatte sie ins Herz geschlossen. Ein dritter Reiter auf einem schwarzen Pferd preschte plötzlich an ihnen vorbei. Die Straße ging in leicht bergab und in einer Senke lag vor ihnen das Haus der Ruhe. Es war das vor kurzem fertig gestellte, dreistöckige Haus, in dem die Räume für Kranke waren, auch wenn Elben nie erkrankten. Jeder Raum verfügte über einen eigenen Balkon. Bei einem auf der zweiten Etage war die Tür geöffnet. Da man aber mit Gästen und auch mit Verletzten rechnen musste, hatte man keine Mühen gescheut um einen Ort der Erholung und der Heilung zu schaffen. Anastorias verlangsamte und merkte, dass Kerry erleichtert aufatmete, aber deutlich unruhiger wurde. Eine Elbenfrau erschien in dem Eingang, der von Rundsäulen flankiert wurde. Sie warf blutige Bandagen in einen Weidenkorb und eilte wieder ins Innere. Dabei warf sie ihnen einen wissenden Blick zu und nickte knapp. Aus dem Augenwinkel bemerkt er die vier Pferde, die ihnen aufmerksam die Köpfe zuwandten.
Anastorias und Kerry folgte der Heilerin schließlich und traten ins Innere. Sie befanden sich in einer großen Eingangshalle, die von allerlei Blumen, Sitzgelegenheiten und zwei großen Bücherregalen an der Wand dominiert wurde. Alles machte einen recht friedlichen Eindruck, der wurde allerdings von einem gedämpften Schrei unterbrochen. Die Heilerin stieg eine Treppe hinter dem Bücherregal hinauf und führte sie durch den zweiten Stock an das Ende des Flurs. Ohne zu klopfen stieß sie die Tür auf. Anastorias verharrte kurz und legte Kerry eine Hand auf die Schulter.
„Ich kann dich nicht darauf vorbereiten, was du darin siehst. Ich weiß aber, dass du dem gewachsen bist. Wenn es trotzdem zu viel wird… sagst du Bescheid.“
„Habt ihr etwa gezögert, als ihr damals in die Verliese unter Carn Dûm stiegt, um mich zu retten?“ sagte Kerry mit leiser, aber fester Stimme. „Adri war damals mit dabei, und es ist das mindeste, was ich jetzt für sie tun kann, indem ich meinen Mut für sie finde. Und ich habe ihn gefunden. Lass uns hinein gehen.“
Anastorias nickte erleichtert – und auch eine Spur Stolz auf seine ‚Tante‘ und ging vor. Der Geruch von Blut stieg ihm in die Nase. Auf einem erhöhten Tisch mit weicher Polsterung erblickte er eine gefesselte Adrienne, die sich nach Kräften wehrte. Sie wurde umring von drei Heilern, Ivyn selbst war ebenfalls schon da und betupfte gerade den langen Schnitt im Gesicht mit unglaublicher Präzision, trotz des Gezappels der Verletzten. Adriennes Gesicht war blass wie Marmor, tiefe, dunkelblaue Ringe lag unter ihrem gesunden Auge, das halb verdreht an die Decke starrte, während sie gerade nach einer der helfenden Hände biss. Weiter hinten im Raum standen zu seiner Überraschung Faelivrin, Amarin und sogar Amante mit düsteren oder sorgenvollen Gesichtern. Ihm erschloss es sich nicht, warum letztere hier war, aber das war auch nicht so wichtig. Die Königin bemerkte sie sofort und umrundete den Tisch. Wortlos nahm sie Kerry in die Arme und jegliche Autorität war in dem Moment an ihr verblasst. Dann löste sie sich von ihr und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Es war ein kurzer Moment der Anerkennung. Anastorias wollte den Raum verlassen, doch sie hielt in fest an der Schulter.
„Schwester“, sagte Faelivrin schließlich sanft, „Ich bitte dich ungern darum, aber niemand kann zu ihr durchdringen. Sie ist im Fieberwahn, leidet Schmerzen und erkennt uns nicht mehr. Vielleicht kannst du sie erreichen. Erst dann können wir ihr etwas ohne Gefahren verabreichen. Und endlich diese Wunden nähen.“
„Sie hat sehr viel Blut verloren“, befand Ivyn emotionslos und tauschte ihr blutiges Tuch mit einem Frischen aus, „Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. Wahrscheinlich hat die Kälte sie gerettet.“ Ihr silberner Blick wanderte kurz zu Kerry. „Wenn du sie beruhigen willst, solltest du es jetzt tun, sonst… wird es unschön.“

„Adrienne“, sagte Kerry mit fester Stimme, auch wenn die Elben sehen konnten, dass die Hände des blonden Mädchens ein wenig zitterten, was wohl dem Anblick ihrer Freundin geschuldet war. „Ich weiß, dass du mich hören kannst. Ich bin hier, und ich lasse dich nicht im Stich.“ Ihre Hand berührte die Verletzte sanft an der unverletzten Wange und das Zittern in den Fingern ließ nach. „Egal wer du zu sein glaubst, oder was dir die Schatten einreden wollen... du bist meine Freundin, und mein Vorbild. Du bist stärker als diese Dunkelheit. Du hast sie dein Leben lang bekämpft, willst du jetzt etwa aufgeben? Wir haben noch nicht einmal über... den Kuss geredet.“ Sie wurde rot, und lächelte sanft. „Mindestens das bist du mir schuldig.“ Eine Träne stahl sie ihre Wange herab, als sie etwas lauter sagte: „Ich möchte dich nicht verlieren, Adri. Wir haben einander erst so kurz wiedergesehen, und... du bist mir sehr wichtig. Komm zurück zu mir, hörst du? Komm zurück!“
Man konnte hören, wie jeder im Raum die Luft anhielt. Anastorias wunderte sich ein wenig über den Kuss, doch seine Aufmerksamkeit galt wieder der Verletzten, die in ihrem Wahn innehielt. Es war nicht klar, ob es die Worte, oder die Hand an der Wange der Grund dafür war war. Zwei, drei, vier Herzschläge vergingen, in der Adriennes gesundes Auge ziellos den Raum absuchte, dann wanderte es über die versammelten Gesichter und erfasste die Hand, die an ihrer Wange lag. Bis sie Kerry direkt anblickte. Tränen stiegen ihr in die Augen. Adrienne schien etwas sagen zu wollen, doch plötzlich bäumte sich ihr Körper auf. Kerry versuchte ihre Freundin trotzdem nahe zu sein und so gut es geht ihr Gesicht zu halten – obwohl ihr der Schreck deutlich anzusehen war. Ivyn schickte derweil die drei Heiler mit einem bellenden Befehl hinaus und schrie dabei fast, sodass er selbst zusammenzuckte. Die Verletzte spannte gegen ihre Fesseln und ein tiefes Knurren war zu hören. Die Tür schloss sich. Adriennes verletztes Auge öffnete sich. Und leuchtete glühend rot. Es war so, als ob jegliches Licht aus dem Raum gesogen und der Ton gedämpft wurde. Die Kerzen in den Laternen flackerten, einige erloschen. Amante und Ivyn tauschten einen Blick und beide Frauen hoben ihre Hände. Gleißendes, weißes Licht durchflutete den Raum, sodass er die Augen zusammenkneifen musste. Anastorias bedeckte hastig Kerrys Gesicht. Ein hoher, unmenschlicher Schrei war zu hören, der ihm schmerzhaft in den Ohren klingelte, dass er erneut zusammenzuckte. Dann war es vorbei. Ivyn und Amante stützten sich auf den Tisch, sichtlich besorgt - wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Anastorias nahm seine Hand fort und stellte erstaunt fest, dass Adrienne anfing zu blinzeln, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Keine Spur von Rot in ihren Augen.

„Ein letztes Aufbäumen der Dunkelheit“, beantwortete Amarin die große Frage, die im Raum schwebte, „Die andere Frage bleibt, ob wir Adrienne wiederhaben oder nicht.“
„Mein Leben…“, krächzte diese kaum hörbar und ihre bandagierte Hand tastete nach Kerry welche sie sofort vorsichtig in beide Hände nahm und streichelte, „es gab… so viele. Ich… es… tut mir leid.“ Sie rang sichtlich nach Worten, „Kann nicht… Erinnere mich…“
Ivyn zog eine Tasche hervor und entkorkte ein Fläschchen. Ohne viel Rücksicht flößte sie es ihr ein.
„Ein Trank zur Beruhigung und um klarer zu denken. Ich habe einen Verdacht, aber ich möchte ihn vor dir hören“, befand die Erste und blickte jeden einzelnen im Raum an, „Und das was hier besprochen wird, verlässt niemals diese vier Wände.“
Einige Herzschläge vergingen, in dem auf die Wirkung des Tranks gewartet wurde. Adriennes rastloser Blick verlangsamte sich und auch ihr schneller Atem. Ihr Blick sucht wieder Kerry, die noch immer ihre Hand hielt: „Ich bin hier bei dir, und ich werde auch nicht wieder gehen, bis es dir nicht besser geht. Du brauchst dir nicht die Schuld daran zu geben. Erinnerst du dich an Fornost? Ich habe schon zuvor gesehen, wie eine böse Präsenz Besitz von einem Freund ergreift. Das was da vorhin gewütet hat, das warst nicht du. Du, Adrienne, bist meine Freundin, und ich lasse nicht zu, dass irgendetwas - oder irgendjemand - dich mir wegnimmt.“
„Das was da gewütet hat… war ein Teil von mir“, antwortete Adrienne leise und schien die Blicke zu meiden, „Gezwungenermaßen. Jetzt, da ich wieder klarer denken kann…“ Sie rang mit sich selbst vor einen Augenblick und sprach weiter: „Es fällt mir schwer die Kontrolle zu behalten. Selbst jetzt. Ich höre Stimmen in meinem Kopf. Stimmen von der, die ihr Adrienne nennt, aber auch andere.“ 
„Mir ist gerade nur deine Stimme wichtig“, sagte Kerry bewegt. „Denn das heißt, dass du am Leben und bei verstand bist... und das ist alles was für mich jetzt zählt.“ Sie umarmte ihre Freundin äußerst vorsichtig. Anastorias wechselte einen Blick mit Amarin und bemerkte, dass die Elben ihre Vermutung bestätigt sahen.
„Adrienne, ja, sie ist die lauteste“, antwortete die Verletzte schließlich mit einem gequälten Lächeln, „Aber im Moment bin ich nicht sie – wenn auch nur für eine kurze Zeit, dann verschwinde ich wieder ins Dunkel. Ich weiß selbst nicht, wie ich hier gelandet bin…“
Kerry wirkte etwas verwirrt, lächelte aber und bat um eine genauere Erklärung.
„Es gibt ältere und gemeinere Geschöpfe als Orks in dieser Welt“, sagte Adrienne und prüfte ihre Fesseln, „Und eines dieser Wesen… lebt in mir. Es ist wie eine Spinne in meinem Bewusstsein, spinnt und trennt Fäden zu Erinnerungen. Ich weiß nicht was es ist und... keine Zeit es zu erklären. Nach einer gewissen Zeit werde ich von ihnen gefangen und sie führen eine Art... Ritual durch“, sie blickte auf ihre Arme, „Um es zu wecken. Dann trennt es alle Erinnerungen und alles wird schwarz. Manchmal mit Folter, manchmal ohne.“
„Eine andere Art von Gehirnwäsche“, murmelte Faelivrin nachdenklich, aber laut genug, dass man es hören könnte, „Wie grausam.“
Adrienne nickte knapp. Kerry wirkte noch immer verwirrt, fragte aber sanft, wie man ihr helfen konnte, doch ihr antwortete nur ratloses Schweigen. Die Verletzte hatte inzwischen die Augen geschlossen und schien zu schlafen – oder bewusstlos zu sein. Ivyn war es schließlich, die alle Anwesenden bat den Raum zu verlassen, damit sie sich ungestört um die Verletzte kümmern konnte. Dabei schaute sie vor allem Kerry und Anastorias an, der sie daraufhin an den Schultern nahm und zur Tür führte. Er spürte ihren Widerstand und konnte sie gut verstehen, aber mit Ivyn war die beste Heilerin Eregions an Adriennes Seite, es gab keinen Grund für Sorgen. Oder nicht?

Thorondor the Eagle

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Arreste der Stadt
« Antwort #28 am: 24. Apr 2021, 01:10 »
Helluin aus Dunland

Aus der Sicht von Arwen:

Als Arwen an diesem frühlingshaften Morgen die Augen öffnete, fiel ihr Blick durch das Fenster auf den blauen Himmel der von einzelnen weißen Wolken besprenkelt war. Die Vögel zwitscherten schon ihre ersten Lieder, sie hörte es deutlich obwohl diese neue Stadt mit ihrem geschäftigen Treiben sehr laut war. Es blieb ihr nicht unbemerkt, dass die Bewohner der Stadt diese kleinen Geschenke die die Welt ihnen bot, nicht immer wahrnahmen.

Sie versuchte sich an den Traum den sie während des Ruhens hatte zu erinnern, doch er war in weite Ferne gerückt. Feine Falten legten sich auf ihre sonst makellose Stirn. Je verbissener sie hinter des Rätels Lösung kommen wollte, umso mehr befiel sie die Sorgen, dass sie sich niemals mehr daran erinnern würde. Plötzlich bemerkte sie, wie sich die Wolken am Himmel verdichteten. Es wurde finsterer in ihrem Zimmer, hier in Farelyë’s Unterkunft. Irritiert stütze sie sich auf ihren Unterarm und hob ihren Oberkörper aus der Waagrechten. Die Wolkendecke wurde grau und dann zunehmend schwarz und am Horizont blitzten unheilvolle Lichter auf.

Nein, Arwen! sagte sie sich selbst Nein! Lange genug hast du in der Dämmerung verbracht und dich vom Unheil einschüchtern lassen. Du hast die Zeichen empfangen, ja selbst dein Vater hat sie dir bestätigt, wenn auch nur widerwillig. Es gibt Hoffnung, Arwen Undomiel Sie schloss ihre Augen und dachte an die schöne Zeit, die sie mit Aragorn in Imladris verbracht hatte. Sie fühlte die Vollkommenheit, die Liebe und die Unbekümmertheit in ihrer Erinnerung und in ihrem Herzen. Die Angst wich aus ihrem Körper und die Schultern ließen von ihrer unnatürlichen Anspannung ab. Als sie die Augen erneut öffnete, offenbarte sich ihr wieder der blaue Himmel und die weißen Wolkenfetzen.

Neuen Mutes strich sie sich kaltes Wasser über das Gesicht und schlüpfte in ein hellblaues Kleid mit goldenem Saum. Es war die Farbe der Manarîn und auch wenn sie keine von ihnen war, so zeugte es doch von Respekt. Lautlos ging sie nach unten. Es war ihr noch nicht gelungen mit Elea und Finjas über den weiteren Reiseverlauf zu sprechen, aber das beunruhigte sie kaum. Etwas schien sie noch in dieser Stadt zu halten, auch wenn Elea wie auch die Elbe selbst unverzüglich weiterziehen wollten.
 
Im Erdgeschoss angekommen fand sie jemanden vor, den sie nicht erwartet hatte:
„Magor!“, begrüßte Arwen einen blonden, großgewachsenen Elben. Er hatte grün-braune Augen und ein spitzes Kinn.
„Herrin“, antwortet er und neigte den Kopf.
„Wie ergeht es dir hier in Eregion seit mein Vater dich hierher entsandt hat?“
„Nun, ich habe mich eingerichtet. Viele der einheimischen Elben lernte ich bereits kennen und sie schätzen mich. Leider sind die Differenzen dieser Völker sehr tief verwurzelt und sie scheinen kaum überwindbar zu sein. Vielleicht vermag euer Vater mehr dazu beitragen, um eine Annäherung der Avari herbeizuführen.“
„Seine Fähigkeiten diesbezüglich stehen außer Frage bei den Völkern die er kennt, die Avari des Ostens sind uns aber vollkommen fremd und wir ihnen ebenfalls. Ich denke es wird noch eine Weile dauern, bis sich unsere Völker anfreunden.“
„Das mag wohl sein, doch dies ist nicht der Grund warum ich hergekommen bin.“
Interessiert sah Arwen den Gesandten von Imladris an.
„Vor wenigen Tagen kam ein Trupp der Manarîn aus dem Süden zurück. Sie waren in Dunland um mit dem Wolfskönig zu verhandeln. Sie brachten einen Gefangenen mit, den die Dunländer bereits seit mehreren Tagen mit sich mitführten.“
„Ein Gefangener?“, frage Arwen noch interessierter „Wer ist es?“
„Es ist Helluin von den Dunedain.“
Die Elbe konnte nicht glauben, was sie da hörte: „Helluin?“, wiederholte sie ungläubig „Elea’s Sohn?“
Magor nickte: „Wärt ihr nicht hier, ich hätte ihn zweifelsohne nach Imladris bringen lassen, wo Herr Elrond weise über seinen Verbleib entscheiden hätte können. Doch nun, da ihr hier seid und seine Mutter mit euch gereist ist, erschien es mir richtig euch Bescheid zu geben.“
„Es war die richtige Entscheidung“, bestätigte sie ihn „Wo ist er jetzt?“
„Die Kerker von Eregion sind noch nicht fertiggestellt. Er ist unter Arrest in der Kaserne, nahe dem südlichen Tor.“
Soll ich es Elea gleich mitteilen? Sie wäre überglücklich und gleichzeitig würde sie sich Sorgen, denn sie weiß nicht, was oder wer sie dort erwartet. Helluin ihr Sohn, Helluin der Verräter…
„Es ist wohl am besten, wenn ich ihm selbst einen Besuch abstatte, ehe ich es Elea sage. Kannst du mich dorthin bringen?“
Magor nickte.
Unverzüglich verließen die beiden Elben das Haus auf der Anhöhe und folgten den engen Nebengassen in Richtung Süden. Je weiter sie sich vom Palastviertel entfernten umso einfacher wurden die Gebäude der Stadt. Sie waren weit ärmer an Verziehrungen, teilweise waren sie sogar nur aus Holz errichtet. Es war wohl doch eine zu kurze Zeit um all dies hier zu schaffen. Schließlich erreichten sie ein größeres Steingebäude, dass genauso wie das Tor nur teilweise fertiggestellt war. Magor durfte wie auch schon zuvor passieren und zeigte Arwen unmittelbar den Weg zu Helluin. Ehe die Wachsoldaten die Tür öffneten nahm sie einen tiefen Atemzug.



Aus der Sicht von Helluin:

Ruckartig öffnete sich die Tür seiner neuen Behausung, wie er Gefängnisse jeglicher Art mittlerweile empfand. Ein Elb in vollausgestatteter Rüstung trat herein, doch seltsamerweise hatte Helluin diesesmal keine Angst oder Sorge, ein angenehmes Gefühl von Vertrautheit erfüllte ihn. Dann wurde es ihm klar, als er in die nur allzu bekannten Augen von Elronds Tochter schaute. Der Raum füllte sich mit einem sanften Licht.
„Arwen“, flüsterte er leise und stand augenblicklich auf. Es entging ihm nicht, dass die Wache seine Bewegungen achtsam verfolgte, mit der Hand das Schwertheft fest im Griff. Am liebsten wäre er der Elbe in die Arme gefallen, aber er zuckte aus Selbstschutz und Unsicherheit zurück. Sie wird denken ich möchte ihr etwas antun. Arwen kennt mich als den Verräter des Nordens.
„Helluin“, entgegnete sie ruhig und bestimmt, aber das schnelle Heben und Senken ihrer Brust verriet, dass sie aufgeregt war.
„Dich hier zu treffen ist ein Segen.“
„Ein Segen?“, fragte sie skeptisch.
„Ich wollte schleunigst nach Bruchtal kommen.“
„Hoffst du auf Zuflucht in Bruchtal, dass wir dich dort vor den Dunedain verbergen? Oder um deine Familie, deine Mutter, wiederzusehen?“
„Meine Mutter?“, ließ sich Helluin ablenken. Der Gedanke, Elea wieder gegenüberzutreten, ließ ihn nach wie vor erstarren.
„Ja genau, deine Mutter. Nun es wird dich freuen zu hören, dass sie auch hier in Ost-in-Edhil ist.“
Der Waldläufer verkrampfte sich noch mehr: „Ist sie auch hier?“
„Nein, ich habe ihr noch nichts von deinem Arrest hier erzählt.“
Er seufzte erleichtert auf.
„Sag es ihr nicht“, bat er sie flehentlich „Ich kann ihr nicht unter die Augen treten. Noch nicht.“
„Ich denke nicht, dass du in der Lage bist diese Entscheidung zu treffen.“
„Bitte“, flehte er nochmal „Sage es ihr nicht.“
„Sie ist die Einzige die dich gut genug kennt, um zu sagen, ob du von Sarumans Fluch befreit bist oder nicht. Ihrem Urteil vertraue ich.“
Enttäuscht von sich selbst setzt er sich wieder auf sein Bett: „Wenn ich mich nicht kenne, wie soll mich irgendjemand anderer kennen.“



Aus der Sicht von Arwen:

Die Elbe hatte Mitleid mit dem jungen Waldläufer, blieb aber auf Distanz. Sie hatte beschlossen dem Bittgesuch Helluin’s erstmal nachzukommen und über die Situation abzuwägen.
„Ich werde versuchen zu veranlassen, dass sie dich hier gut behandeln. Lass nach mir schicken, wenn du deine Meinung änderst oder wenn du mit jemandem reden möchtest.“
Er nickte zaghaft.
„Arwen?“, stieß er noch heraus ehe sie ging „der Wolfskönig überreichte mir diesen Brief und meinte ich soll ihn einer gewissen Halarîn übergeben. Ich vertraue dir, du wirst ihn mit Sicherheit an die richtige Person übergeben. Er übergab ihr ein zusammengefalltetes Pergamentstück. Es wirkte schon etwas zerfleddert, aber es waren deutliche Letter darauf zu lesen: Ténawen Morilië Nénharma. Überrascht schaute sie den Waldläufer an, der kaum Notiz davon nahm.
„Werde ich“, versicherte die Elbe und verließ die Arrestzelle.
« Letzte Änderung: 26. Apr 2021, 11:04 von Fine »
1. Char Elea ist in Bree  -  2. Char Caelîf ist in Palisor

Fine

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Ein wildes Durcheinander
« Antwort #29 am: 26. Apr 2021, 17:55 »
Kerry stolperte sehr nachdenklich durch die Straßen von Ost-in-Edhil. Anastorias hatte sich angeboten, sie noch zurück zu Farelyës Haus zu begleiten, doch als sie eine Straßenkreuzung überquert hatten, waren sie mitten in eine Patrouille der Stadtwache geraten und hatten einander aus den Augen verloren. Der hochgewachsene Manarîn hatte ohnehin ein Tempo vorgelegt, bei dem die erschöpfte Kerry nicht mehr Schritt halten konnte. Ihre Gedanken waren erfüllt von der Sorge um Adrienne und von der Angst über das, was sie gerade miterlebt hatte. Dass ein uraltes Wesen Besitz von ihrer Freundin ergriffen haben sollte, war schwer vorstellbar für Kerry, aber laut den Elben bestand an dieser These kein Zweifel. Kerry fürchtete sich. Was wenn sie die Nächste war, die von einer solchen Kreatur verschlungen wurde? Konnte man sich gegen so etwas wehren? Oder war man derlei Dingen hilflos ausgesetzt? Sie wusste es nicht, und das frustrierte sie.

Als sie nach einiger Zeit vor Farelyës Häuschen angekommen war, fielen ihr die seltsamen Dinge ein, die die Cuventai-Elbin zuvor gesagt hatte. Farelyë hatte von einem Wesen gesprochen, das älter war als die Welt selbst. Ob sie damit dieses Ding gemeint hatte, das von Adrienne Besitz ergriffen hatte? Kerry beschloss, Farelyë direkt darauf anzusprechen. Vielleicht würde sie einen Weg finden, um Adrienne zu helfen.
Im Haus angekommen fand sie jedoch anstelle von Farelyë nur Arwen vor, die so aussah, als wäre sie ebenfalls gerade eben erst dort angekommen.
"Ah, Kerry," begrüßte Elronds Tochter sie mit einem Lächeln. "Dich suche ich. Dies bat man mich, dir zu bringen." Sie zog einen versiegelten Brief hervor und reichte ihn an die überraschte Kerry weiter.
"Ein Brief für mich? Von wem stammt er?" fragt sie nach, und setzte sich an den Tisch, der im Raum stand.
Arwen trat neben sie. "In den Verliesen befindet sich ein junger Dúnadan namens Helluin. Er hatte den Brief von einem gewissen Wolfskönig bei sich und gab ihn mir. Eigentlich wollte er, dass ich ihn Halarîn gebe, aber der Name auf dem Umschlag spricht für sich, nicht wahr?"
Kerry ließ den Umschlag wie vom Donner gerührt sinken. "Helluin ... ist hier?" entfuhr es ihr und sie starrte Arwen mit offenem Mund an.
"Es scheint mir, dass du ihm bereits begegnet bist," sagte Arwen und hob die Augenbrauen. "Ich weiß nicht, ob die Wachen dich zu ihm lassen würden. Doch dieser Brief schien ihm wichtig zu sein. Vielleicht solltest du ihn erst einmal lesen. Doch eines noch: Helluin bat darum, dass seine Mutter nicht erfährt, dass er hier in der Stadt ist."
Kerry spürte ihr Hände zittern, Arwens Worte drangen kaum noch zu ihr durch. Ein Brief von Helluin an mich, dachte sie und spürte, wie ihre Wangen sich erwärmten. Und er ist hier, in Ost-in-Edhil! Sie brach das Siegel und zog das Pergament im Inneren mit etwas Mühe hervor, dann entfaltete sie es auf dem Tisch vor sich und begann zu lesen.

Kerry,

Ich befinde mich auf dem Weg zurück ins Herz von Dunland, um mit den Stammesführern über das Bündnisangebot der Manarîn zu beraten. Wenn alles glatt läuft, werde ich in einer knappen Woche selbst nach Ost-in-Edhil kommen, um mit der Königin - deiner Schwester - zu verhandeln. Ich weiß von einer gewissen Isanasca, dass du ebenfalls dort bist. Es ist einige Zeit vergangen, seitdem wir uns im Dorf des Schildstammes getrennt hatten und du mit Oronêl in Richtung Norden aufgebrochen bist. Ich hatte viel Zeit um nachzudenken und ich habe mit deinem Freund Rilmir gesprochen. Es ist nicht fair dir gegenüber, dir meine Entscheidung auf diesem Wege mitzuteilen, weshalb ich dich eindringlich bitten möchte, in Ost-in-Edhil auf meine Ankunft zu warten. Du bist mir zu wichtig um dir nicht Auge in Auge zu sagen, wozu ich mich entschlossen habe.

~ Aéd

Kerry stützte ihr Gesicht mit beiden Händen ab, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt. Das Chaos in ihrem Kopf war nun endgültig vollkommen, so sehr, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Helluin war hier, in Ost-in-Edhil, und auch Aéd war nun hierher unterwegs. Dazu kam das Chaos rings um Adrienne, und die unausgesprochenen Dinge, die zwischen ihr und Kerry noch offen waren. Sie bleib eine lange Zeit regunglos so sitzen, während sie Arwen auf und abgehen hörte. Die Elbin schien ihr glücklicherweise Raum zu geben, um über die Nachricht in Ruhe nachzudenken. Schließlich verschwand Arwen, und Kerry stellte erschrocken fest, dass es Nacht geworden war. Von draußen fiel etwas Mondlicht herein. Wie lange hab' ich hier gesessen? fragte sie sich und schüttelte den Kopf, dann las sie Aéds Brief noch einmal durch.

In diesem Augenblick kehrten Elea und Finjas zurück. Wo sie gewesen waren wusste Kerry nicht, aber beide sahen so aus, als hätte ihnen die Auszeit gut getan. "Hier riecht es gut," stellte Elea mit einem kleinen Lächeln fest, als sie in das Esszimmer trat und Kerry entdeckt hatte.
"Ähm, das ist Eintopf," erklärte Kerry. "Es ist noch ungefähr die Hälfte übrig, bedient euch doch."
Finjas schien sich das nicht zweimal sagen zu lassen, und er marschierte direkt in die Küche hinüber, um für sich und Elea je eine große Schüssel zu füllen. Die Dúnadan hingegen setzte sich Kerry gegenüber an den Tisch und musterte sie nachdenklich. "Was liest du da, Kerry?" fragte sie schließlich.
"Ein Brief von... einem guten Freund," sagte Kerry. "Arwen hat ihn mir gebracht, sie bekam ihn von Hellu...." Hastig schlug sie die Hände vor den Mund und starrte Elea an. Arwen hatte ihr doch noch eingeschärft, dass Helluin seine Anwesenheit hatte geheimhalten wollen, insbesondere vor seiner Mutter. Ob sie...? dachte Kerry, doch ihre Gedanken kamen nicht weit.
"Helluin?" fragte Elea mit leiser Stimme. "Er hat dir diesen Brief gebracht?"
Kerry konnte Elea nicht anlügen. Sie wurde rot, und sagte schuldbewusst: "Ich ... bin gebeten worden, es dir nicht zu verraten, aber... wieder einmal habe ich meinen Mund nicht halten können..." gab sie kleinlaut zu. "Helluin ist hier, in Ost-in-Edhil. Sie halten ihn in den Verliesen gefangen, die Elben. Arwen ist bei ihm gewesen..."
"Dann ist der Brief von ihm? Darf ich ihn sehen?"
"Nein, er ist nicht von Helluin, aber... du darfst ihn trotzdem sehen," sagte Kerry leise und schob Elea das Pergament hinüber.
Die Dúnadan überflog den Text und blickte dann nachdenklich zu Kerry auf. "Das scheint eine recht private Angelegenheit zu sein," sagte sie.
"Oh, ich, ähm... n-naja, eigentlich suche ich schon länger jemanden, mit dem ich darüber reden kann..." gab Kerry zu.
"Wenn du dich mir anvertrauen möchtest, dann bin ich für dich da, meine Liebe," sagte Elea sanft, doch Kerry konnte eine gewisse Unruhe in ihren Augen sehen. "Doch zuerst muss ich Helluin sehen. Du verstehst das bestimmt."
Kerry nickte, doch sie war hin- und hergerissen. Beinahe hätte sie es gewagt, Elea zu bitten, sie mitzunehmen. Doch etwas hielt sie davon ab. Du bist nur eine Außenstehende. Dich zwischen Mutter und Sohn zu drängen... das wäre nicht angebracht.
„Würdest du gerne mitkommen?“ fragte Elea die verdutzte Kerry.
„Ähm, also wenn ich darf, dann sehr gerne!“ beantwortete sie die Frage hastig und versuchte sich ihre Erleichterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
„Ich habe da so meine Zweifel, dass man euch zwei in die Verliese lassen wird,“ merkte Finjas an, der mittlerweile seinen Eintopf leer gegessen hatte. „Diese Elben sind nicht unbedingt von der vertrauensseligen Sorte.“
Elea dachte einen Augenblick nach. „Wir sollten nach der Dame suchen, die uns hierher gebracht hat. Ihr Wort scheint bei den Elben hier einiges an Gewicht zu haben. Sicherlich wird sie uns helfen.“
Kerry wusste gleich, wen die Dúnadan damit meinte. „Das ist eine gute Idee! Fangen wir doch gleich am Tor mit der Suche nach Farelyë an!“

Sie warfen sich ihre Umhänge über und zogen los. Unterwegs sprachen sie nur wenig, denn Kerry war viel zu aufgeregt um einen klaren Gedanken zu fassen. Glücklicherweise brauchten sie nicht allzu lange, bis sie Farelyë gefunden hatten - sie stöberten die Elbin in der nähe der Stallungen am Nordtor auf. Als Farelyë gehört hatte, worum es Elea und Kerry ging, erklärte sie sich sofort zur Hilfe bereit.
„Ich denke, ich kann die Wachen überzeugen, euch in die Verliese zu lassen,“ sagte sie und lief voran. „Solange ich für euch bürge, dürfte es keine Probleme geben.“
Diese Annahme stellte sich als korrekt heraus. Die Wachen sprachen mit Farelyë in einem ziemlich komplexen Dialekt, den Kerry kaum verstand, doch schließlich durften sie die Verliese betreten. Elea ging sofort hinein, doch als Kerry ihr folgen wollte, hielt Farelyë sie mit dem Arm auf.
„Was soll denn das?“ wollte Kerry verwundert wissen.
„Dies ist eine Sache zwischen Helluin und seiner Mutter,“ sagte Farelyë und klang wie so oft so, als wüsste sie über alle möglichen Dinge Bescheid, die sie eigentlich überhaupt nicht wissen konnte. „Warte hier.“
Verdutzt und etwas verloren blieb Kerry stehen und kam sich etwas nutzlos vor. Sie fror, weshalb sie über die Schwelle der Verliese trat, aber weiter hinab zu gehen wagte sie nicht. Als sie die Ohren spitzte, hörte sie leise und undeutlich die Stimme von Elea zu ihr herauf dringen... und dann eine zweite, ihr ebenfalls vertraute Stimme.

Helluin. Er war also wirklich hier...
« Letzte Änderung: 26. Apr 2021, 19:29 von Fine »
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