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Autor Thema: Ost-in-Edhil  (Gelesen 20481 mal)

Curanthor

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Eine düstere Familiengeschichte
« Antwort #45 am: 15. Nov 2021, 16:46 »
Als Mathan durch das große Thor des Thronsaals schritt, sah er Faelivrin am Fuße des Podests am Ende des Saales, umringt von ein Dutzend Elben. Er bemerkte, dass sich einige Köpfe unmerklich kurz zu ihm drehten, doch scheinbar waren sie sehr in einer Diskussion vertieft. Die Stimmung wirkte angespannt. Seine Tochter hatte einen harten Gesichtsausdruck, die Augen leicht verengt und die Stirn in leichten Falten liegend. Sie nickte hin und wieder und antwortete in einem Dialekt, den Mathan schon öfters bei den Manarîn gehört hatte. Dann winkte sie eine ihrer Zofen, die im Hintergrund warteten heran, wisperte ihr etwas zu und sprach dann weiter mit den Manarîn. Mathan nahm es ihr nicht übel. Er hatte schon damit gerechnet, dass sie beschäftigt war und wollte auch wegen so einer relativ unwichtigen Sache, wie den Aufenthaltsortes ihres Vaters nicht ihre Zeit rauben. Die junge Elbenzofe näherte sich ihm eilig, hielt respektvollen Abstand und verneigte höfisch. Er nickte ihr knapp zu und bedeutete näher zu treten. Sie zögerte, kam dann aber der Aufforderung nach und richtete ihm in knappen Worten Faelivrins Botschaft aus. Sie sprach in einem etwas seltsamen Akzent und betonte einige Wörter der Allgemeinspsrache merkwürdig unpassend an den Satzanfängen. Es war eigentlich nur die Information, dass sein Vater gerade an einer äußerst wichtigen Sache arbeitete und nicht daran gedacht hatte, als er ihm die Botschaft überbracht hatte. In das makellose Gesicht der Zofe flackerte für einen winzigen Moment Unwillen auf, doch hatte sie sich rasch wieder im Griff. „Die Königin empfiehlt, dass Ihr Euch um Eure Schülerin erkundigt. Sie liegt im Haus der Ruhe.“ Sie verneigte sich und kehrte wieder an die Seite Faelivrins zurück. Mathan warf seiner Tochter noch einen Blick zu, machte dann aber kehrt und verließ den Palast. Während er die Treppen zum großen Platz hinabstieg, fragte er sich, woran sein Vater wohl gerade arbeitete. Dann fiel ihm wieder ein, wie Hofmeisterin Istime gezögert hatte, als sie über Adrienne sprechen wollte und auch jetzt wieder hatte die Zofe gezögert. Seine Schritte beschleunigten sich. Irgendwas Schlimmes musste geschehen sein, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es noch nicht vorbei war. Eilig folgte er der Hauptstraße, die von Wägen voller Baumaterial gut gefüllt war und leeren KAaren, die die Stadt wieder verließen. Hin und wieder entdeckte er auch einige der ehemaligen Gefangenen in einem Hauseingang sitzen, manche trugen einen Elbenmantel über den schäbigen Kleidern. Sie hatten die Blicke meist gesenkt, oder sehnsüchtig auf die scharf bewachte Torburg gerichtet. Mathan zog hin und wieder ihre Blicke auf sich, da sein roter, mit Goldgarn bestickter Mantel in den trüben Farben des späten Winters ziemlich hervor stach. Er vermied es jedoch angesprochen zu werden und bog in die engen Gassen ein.
Am Haus der Ruhe angekommen, bemerkte Mathan erst bei seiner Ankunft, dass er gar nicht nach dem Weg gefragt hatte. Das musste er auch nicht, er hatte einfach den Weg aus seiner Erinnerung eingeschlagen. Und die Manarîn hatten das alte Haus der Heiler wieder aufgebaut, zwar in ihrem eigenen Stil und etwas kleiner, aber es stand auch in der kleinen Senke, in der ein kleiner Teich und ein Garten lag, in dem sich die Kranken erholen konnten. Ein Pferd, das am Eingang geduldig wartete, verriet ihm, dass er nicht alleine war – abgesehen von den Heilern. Die Besitzerin kam auch just in dem Augenblick aus dem Eingang, als er eintreten wollte. Es war Ivyn, die Erste der Hwenti. Ihre silbrigen Augen huschten kurz über seine Rüstung, dann das Schwert Halarîns an seinem Gürtel. Sie nickte mit einem Stirnrunzeln, offenbar nicht ganz zufrieden bei dem was sie sah und wandte den Kopf, den Blick dabei in die obere Etage. „Sie ist wach. Ich habe sie gerade behandelt. Morgen kann sie wieder vorsichtig das Bett verlassen, aber heute noch nicht.“
„Habt Dank für Eure Mühen“, bedankte sich Mathan mit einer knappen Verneigung. Er hatte schon von der meisterhaften Heilkunst der Ersten gehört, aber noch nie selber zu sehen bekommen.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Gebt Euch keine Schuld an dem was geschehen ist, oder was noch kommt.“
Er nickte und wollte schon hineingehen, doch sie hielt ihn mit einem starken Griff am Arm fest. „Der Brief. Gebt ihn mir.“
Mathan blinzelte überrascht. Es war so viel geschehen, dass er erstmal verwirrt blinzelte. Ihm war vollkommen entgangen, dass er einen dabei hatte, oder von wem er überhaupt war. Er war sich gar nicht sicher, dass er überhaupt einen Brief dabei hatte.
Sie bemerkte seine Verwirrung und ließ seinen Arm los. „Verzeih, mein Fehler“, entschuldigte sie sich rasch und neigte sich mit ernstem Gesicht zu ihm herunter: „Halarîn soll noch nicht von ihren Geschwistern erfahren. Es ist noch zu früh.“
Mathan schnaubte leise, da er den Schmerz in den Augen seiner Geliebte deutlich vor sich sah und murmelte: „Sind fünftausend Jahre plagende Ungewissheit nicht genug?“
Die Erste richtete plötzlich auf, die Lippen zusammengekniffen und das Silber in ihren Augen nahm an Intensität zu. „Vorsicht“, sagte sie plötzlich leise und klang ganz anders, als die sonst so weise und ausgeglichene Ivyn. Gefährlicher. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab, während sie weitersprach: „Manchmal sollte der Schleier des Ungewissen nicht zerrissen werden…“
Mathan erinnerte sich, dass Halarîn im erzählt hatte, dass ihre Mutter und Ivyn sich nicht gut verstanden hatten. Jetzt konnte er sich auf vorstellen warum. Die Erste konnte sehr unerbittlich sein. Und dennoch konnte er Halarîn einfach nicht damit alleine lassen. Mathan straffte sich und hielt dem bohrenden Blick stand.
„Hm“, machte die Erste nach einigen langen Momenten zufrieden, „Ich bin froh, dass Halarîn so einen willensstarken Mann gefunden hat“, gab sie plötzlich zu und wirkte auf einmal wieder zu ruhig und gelassen wie zuvor. „Mein Gefährte war wild, ungezügelt und ein großer Krieger – doch sein Herz war … düster. Meine Tochter Telperiel hat viel von ihm. Und auch ihre Kinder… bis auf Halarîn.“ Ivyn blickte einen kurzen Moment in weite Ferne, bis sie fragte: „ Du weißt, was ihr Name bedeutet?“
Mathan, der erst überrascht von den persönlichen Worten interessiert zugehört hatte, nickte knapp. „Vom Schatten gekrönte Maid.“
Ivyn schwieg als Antwort und trat zu ihrem Pferd. Während sie die Zügel entknotete, sprach sie weiter: „In andere Sprachen übersetzt, ja.“ Sie machte eine kurze Pause. „Sie hat den Schatten in sich überwunden und trägt ihn seither als Krone, das bedeutet ihr Name. Etwas, dass ich nicht von ihren Geschwistern behaupten kann.“ Die Erste schwang sich elegant auf das Ross und strich der Stute sacht über den Hals. Plötzlich hörte er ihre Stimme in seinen Gedanken. „Mehr werde ich nicht darüber sagen, bis auf dies: Hüte dich vor Haldaría oder Cúndil und halte Halarîn unter allen Umständen von ihnen fern.“ Ivyn lenkte das Pferd an ihn heran und senkte ernst den Kopf: „Selbst, wenn du zum Schwert greifen musst, hörst du? Lasse keinen der beiden an sie heran - niemals.“ Ihre eindringliche Stimme halte in seinem Kopf wider, sodass er nur knapp nickte, noch immer überrascht und besorgt von der Warnung. 
Ivyn wirkte nun zufriedener als zuvor und sagte nun wieder mit ruhiger Stimme: „Ich beglückwünsche dich für deinen Sieg am Sirannon.“ Sie blickte kurz hoch in die erste Etage des Heilerhauses. „Deine Schülerin erwartet dich.“
Mathan lächelte gequält und erwiderte, dass sie die Schlacht um Rómen Tirion verloren hatten, was Ivyn mit einem Kopfschütteln quittierte. „Jedes Leben, das gerettet wurde ist ein Sieg, auch wenn wir diese Schlacht verloren haben, so waren es doch viele Siege. Vergiss das niemals.“
Mathan verstand die Weisheit in den Worten und verneigte sich knapp. Ivyn nickte sacht zum Abschied und ließ das Pferd davontraben. Einen Moment blickte er ihr nach, bis sie hinter der Kuppe verschwunden war. Oben meinte er ein Fensterlade klappern zu hören und schmunzelte, offenbar hatte da jemand das Bett verlassen, entgegen dem Rat der Heiler.

Curanthor

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Mathan und Adrienne über Schatten und Geschichten
« Antwort #46 am: 16. Nov 2021, 05:43 »
Eine der Heilerinnen begleitete Mathan die Treppe hinauf und brachte ihm zum Ende des Flurs, der in einer schlichten braunen Tür endete. Kleine Elbenlampen hingen in regelmäßigen Abständen den Wänden und spendeten ein warmes Licht. Die rothaarige Elbe nickte ihm zu und zog sich diskret zurück. Mathan atmete einen Moment durch und legte eine Hand auf den Knauf. Er hatte keine Ahnung was ihn hinter der Tür erwartete, auch wenn er durch das Geflüster und Gemurmel der Maanrîn mitbekommen hatte, dass Adrienne offenbar überstürzt die Stadt verlassen hatte, nur um einen Tag später übel zugerichtet wiederzukehren. Einige Arbeiter am Palast hatten sich erzählt, dass sie nur durch die Kälte des Schnees überlebt hatte.  Er klopfte sacht und eine matte Stimme antwortete. Mathan verstand sie nicht, trat aber vorsichtig ein. Vor ihm öffnete sich ein warmes und gemütlich eingerichtetes Zimmer. Zwei kleine Elbenlampen spendeten ein klein wenig Licht in der aufkommenden Dämmerung. Das große Fenster stand offen und eine kalte Brise wehte herein, doch man konnte schon spüren, dass der Winter sich bald wieder verzog. Link von ihm prasselte ein warmes Feuer in einem kleinen Kamin; dem gegenüber stand ein großes, weiches Bett aus hellem Holz, wahrscheinlich aus einem Hulstbaum. Ein flauschiges Fell lag auf dem Boden, von der Machart ein Geschenk aus Dunland. In den weichen Kissen und unter einer weiteren Lage Felle blinzelte ihm ein müdes, blasses Gesicht eines jungen Menschenmädchen entgegen. Ein feuerroter, verkrusteter Schnitt zerteilte ihre Augenbraue, das Augenlied schien aber schon fast verheilt, aber das rechte Auge selber hatte sämtliche Farbe verloren und blickte ihm schwarz entgegen. Zwei unterschiedliche Augenfarben, abgrundtiefes schwarz und ein warmes Braun musterten ihn mit einer Mischung aus Erkennen und Scham. Der Schnitt setzte sich noch bis über die Wange fort und endete knapp über ihren Mundwinkel. Sie verzog das Gesicht und schob die Decke etwas höher. Dabei sog sie kurz scharf die Luft ein, als ob das viel zu viel Bewegung auf einmal war.
„Willst du nichts sagen“, brummte sie anstelle einer Begrüßung unwirsch.
Mathan war erst ein wenig überrascht von dem abweisenden Ton, hob aber dann die Mundwinkel zu einem beruhigendem, verständnisvolles Lächeln. „Ich bin froh, dass es dir gut geht.“

Adrienne hatte die ganze Zeit auf das erlösende Klopfen gewartet. Als es endlich ertönte, deckte sie sich noch einmal sorgfältig zu, um es so erscheinen zu lassen, dass sie nie das Bett verlassen hatte. Sobald sie das Gesicht des Schwertmeisters sah, kniff sie leicht geblendet die Augen zusammen. Das Wispern in ihren Ohren verklang, je näher ihr Lehrer an das Bett trat, doch er schwieg und musterte sie lange. Adrienne musste den Impuls unterdrücken eine Hand auf ihre Wunde zu legen, um sie zu verbergen. Trotz der wundersamen Heilkunst der Elben fühlte sie sich elend. Und der schweigende Elb, machte es auch nicht besser. Mürrisch forderte sie ihn schließlich zum Sprechen auf, doch er sagte nur, dass er froh war, dass ihr gut ging. Sie schnaubte leise und fragte, ob sie vielleicht so aussah, als ob es ihr gut ging. Mathan wirkte einen Moment weniger freundlich und zog stattdessen den gemütlichen Sessel von der Ecke bei dem Bücherregal zu ihr an das Bett. Er nahm das Schwert von seinem Gürtel, dass ihr entfernt bekannt vorkam und ließ sich in dem Sessel nieder.
„Also“, begann er mit ernstem Ton und faltete die Hände zusammen, „Du weißt, ich bin nicht gut in sowas.“ Er musterte ihre Wunden noch einmal, abschätzend, kalkulierend, „Das sieht mir nicht wie eine normale Schwertwunde aus. Was ist geschehen?“
Adrienne schob ihre verkrusteten Hände über die Deckenkante und krallte sich daran, auch wenn es ein scharfes Pochen auslöste. Diese Frage hatte sie schon dutzendfach gehört. Von sämtlichen Spitzohren in der Stadt, selbst von Leuten, deren Gesichter sie nicht zuordnen konnte. Dunkel erinnerte sie sich an eine blonde, junge Frau neben ihrem Bett. Sie hatte ihr etwas bedeutet. Das Wispern wurde lauter. Es war wie ein Flüstern, das der Wind auslöste, wenn er durch ein verlassenes Gemäuer pfiff. Es trug einen Namen heran. „Kerry“, murmelte sie leise und das Stimmgewirr in ihrem Kopf wurde zu einem undeutlichen Rauschen.
Mathan runzelte die Stirn und schien etwas sagen zu wollen, blickte sie aber weiterhin fragend an. Adrienne fühlte sich seltsam entrückt. Alles war seltsam fern von ihr, so als ob sie träumte. Ihr verletztes Auge begann zu pochen, woraufhin sie leise stöhnte. Der Elb wirkte nun besorgt und holte ein feuchtes Tuch asu der Schüssel von der kleinen Kommode neben dem Bücherregal. Ohne zu fragen betupfte er ihre Stirn und vorsichtig um die Wundränder herum. Das kühle Wasser, das ihre Haut benetzte verschaffte etwas Abkühlung und dämpfte den heiß pochenden Scherz. Sie hob dankbar die Mundwinkel, wenn auch nur minimal. Sie hatte das Gefühl, dass sie nie wieder klar denken konnte, ständig entglitten ihre Gedanken oder ganze Sätze. Gerade hatte sie sich bedanken wollen, doch nichts kam über ihre Lippen. Frustriert räusperte sie sich und wandte ihm den Kopf zu: „Ich bin froh, dass du da bist“, sagte sie schließlich etwas behäbiger als sie wollte.
Der Elb nickte und legte sein Schwert quer über seinen Schoß, „Leider zu spät um…“ Er verstummte und schüttelte nur den Kopf.
Adrienne wusste, was er sagen wollte und schüttelte ebenfalls den Kopf. „Es wäre so oder so geschehen, ganz gleich wo ich bin und wer bei mir ist…“ Sie bemerkte seinen fragenden Blick, „Es sind jene, die in den Schatten wandeln“, sagte sie und schloss kurz die Augen, „Herolde der Dunkelheit.“ Es hatte Mühe gekostet, das hervor zu würgen und sie atmete mehrmals durch um wieder zu Kräften zu kommen. Die Stimmen flüsterten wieder lauter. Manche waren klar und deutlich wahrzunehmen. Frustriert zischte sie, dass sie endlich die Klappe halten sollten und wollte wütend mit der Faust auf die Matratze schlagen, beherrschte sich aber noch. „Das macht mich noch wahnsinnig“, murmelte sie und schaute zu Mathan hinauf, „Die anderen.“ Sein skeptischer Blick verriet ihr alles und sie lachte bitter, „Ja, so würde ich wohl auch schauen, wenn jemand von Stimmen im Kopf erzählt.“
„Was für Stimmen“, hakte er rasch nach und schien wieder ernst.
Sie blinzelte und antwortete zögerlich: „Atanatáriel. Sie ist eine der lautesten… und jemand anderes, über die ich nicht sprechen möchte. Etwas Böses…“
Mathan erkundigte sich, ob sie davon Ivyin erzählt hatte, was sie entsetzt verneinte. Schließlich hielt man sie jetzt schon für verrückt, oder für eine Gefahr.
„Eine Gefahr?“ Mathan runzelte empört die Stirn, „Welcher Narr erzählt denn sowas?“
Adrienne erzählte, wie sie im Fieberwahn um sich geschlagen hatte, bis sie Kerry erkannt hatte. Dann sei etwas in ihr erwacht. „Ivyns Worte, nicht meine“, sagte sie hastig und schauderte bei dem vagen Gefühl, dass sie kurz überkam. Eine innere Leere, die sämtliches Glück und jedes warmes Gefühl aus ihr heraussog. Die Stimmen wurden jedoch erträglich leise. Sie schüttelte sich unmerklich und die Wärme des Kamins kehrte wieder auf ihr Gesicht zurück. Mit ihm kam auch das leise Wispern der Stimmen im Wind. Die Leere war fort. Mathan musterte sie scharf und schien zu überlegen, was er davon halten sollte. Adrienne stellte überrascht fest, dass sie sich gar nicht groß darum kümmerte, was er von ihr halten würde. Er, Halarîn oder Kerry, keiner von ihnen erschien ihr wichtig. Wenn sie sie nicht akzeptierten, brauchte sie sie nicht. Gleich einer plötzlichen Eingebung zuckte sie bei dem Gedanken erschrocken zusammen und krallte sie fester in die Decke. Mach‘, das es aufhört und haltet die Klappe, schnauzte sie im Gedanken das, was sie liebend gern sagen wollte, doch sie beherrschte sich.

Mathan musterte die verkrusteten Handrücken seiner Schülerin. Akkurate Linien waren in die weiche Haut geritzt und bildeten ein merkwürdiges Muster, das seine Warninstinkte klingeln ließ. Sie schien sichtlich unwohl, mürrisch und deutlich kühler. Ihre Haut war fahl und kühl. Er seufzte besorgt, als sie kurz zuckte und trat zu einem Wandregal und suchte nach einem kleinen Fläschchen, das er von Halarîn kannte. Er fand das leichte Beruhigungsmittel aus einem Kräutersud, geriebenen Wurzeln und etwas Honig. Seine Schülerin schien es zu kennen, denn sie wirkte erleichtert und richtete sich ein wenig in ihrem Bett auf. Mathan trat ans Bett und drückte sie sanft zurück in die Laken. Seine Hand berührte dabei etwas Weiches und seine Schülerin zuckte kurz. „Verzeihung, murmelte er hastig, doch sie winkte ab und sagte, dass er eine Wunde berührt hatte, was er mit einem knappen Nicken zur Kenntnis nahm. Er wusste, dass es nur die halbe Wahrheit war, doch sie lächelte verständnisvoll, offenbar wusste sie, dass er nur sehr wenig als Heiler verstand. Es war das erste Mal, dass sie eine positive Regung zeigte. Erleichtert half er ihr einen Schluck der Medizin zu nehmen und verkorkte wieder das Fläschchen. Adrienne leckte sich die Reste von den fast verheilten Lippen und schloss kurz die Augen, während sie tief durchatmete. Sie schwiegen einen Moment und warteten, bis die Medizin ihre Wirkung entfalten konnte. Mathan fühlte sich dabei unwohl, da er es hasste an Krankenbetten zu stehen. Er verband es immer mit der Anwesenheit des Todes im Feldlazarett, auch wenn dieses Krankenzimmer sehr gemütlich eingerichtet war und zum Entspannen einlud. Er lauschte ihrem Atem, der etwas leichter ging und Adrienne bekam etwas mehr Farbe im Gesicht. Nach einigen langen Momenten, in denen Mathan darüber nachdachte, sich eines der Bücher zu nehmen, räusperte sich Adrienne leise und murmelte einen Dank. Anfangs etwas zögerlich begann sie davon zu erzählen, wie sie schon lange bevor sie nach Anor gegangen war, stets eine innere Unruhe gefühlt hatte. Sie stockte, als sie von der Fehde erzählte, in der sie lag. „Meine Eltern erzählten mir, dass bereits vor der Besetzung sie Probleme hatten, aber sie waren nie genauer geworden.“ Adrienne verstummte für einen Moment und schien ziemlich unglücklich, erzählte dann, das sie während der Besatzung ihre Unschuld verloren hatte und auch ihre Mutter. Auf Mathans vorsichtige Nachfrage, warum ihnen das widerfahren war, hielt sie sich kurz die Schläfen und atmete scharf ein. Ein finsterer Gesichtsausdruck huschte über ihr verkrustetes Antlitz. „Es findet schon lange ein Krieg im Schatten statt. Ich weiß nicht, ob meine Eltern damit zu tun hatten, oder irgendwas an mir…“ Sie schaute sich rasch im Raum um und murmelte, dass sie auch nicht wusste, woher sie das wusste. Mathan merkte, dass sie Schwierigkeiten hatte den richtigen Faden zu finden und half ihr, indem er fragte, wie es denn angefangen hatte, was auch immer da geschehen war.
Adrienne wirkte ein wenig unschlüssig. „Mal hier, mal dort“, murmelte sie und überlegte kurz, „Seit Fornost.“ Ihre Stimme wurde wieder fester, „Seit der ersten Verwundung durch… Dôlguthôr.“ Sie spie den Namen aus wie ein Stück fauliges Brot und erzählte nun mit einer Mischung aus Hass und Unbehagen, dass sie seitdem ständig grässliche Albträume gehabt hatte und immer das Gefühl hatte, dass man sie beobachtete. „Dieser Attentäter aus Tharbad?“, wiederholte Mathan und runzelte die Stirn. Er wünschte sich inständig in den Kampf eingegriffen zu haben. Es war ein Fehler es nicht getan zu haben, wie er verbittert feststellte. In Adriennes Augen las er denselben stummen Vorwurf, doch sie ging nicht weiter darauf ein:  „Von da an wurde es immer schlimmer. Je weiter wir uns Carn Dûm näherten, umso mehr hörte ich das Rauschen des Windes. Und der Wind brachte Geflüster.“ Sie wirkte frustriert. „Mein Bruder hatte immer eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt.“ Adrienne verstummte und blickte an die Decke, „Doch das Geflüster erstarb seitdem nie wieder.“
Mathan wusste, dass der damals verwundete junge Bursche beim Sternenbund war, aber eigentlich sollte er irgendwann mit einer Delegation nach Eregion kommen. Dass er noch immer nicht aufgetaucht war, war in den aufkommenden Kriegswirren vollkommen untergegangen. Seine Schülerin fuhr mit ihrer Erzählung fort und ihren immer schlimmer werdenden Zustand. Sie übersprang Teile der Geschichte und sagte beschämt, dass sie die Nähe von Elben seit Mithlond als sehr anstrengend empfunden hatte und schließlich in Eregion war es dann ganz schlimm. Sie wirkte unwillig und murmelte, dass es in ihren Augen blendete. Sie hatte sich ausgegrenzt gefühlt. Alleine und ungewollt. Ihre Eltern waren getötet worden und ihr Bruder weit weg. Wie ein Vogel im Käfig. Als sie schließlich zur Königin bestellt wurde, war ihr alles zu viel. Die kriechende Dunkelheit im ihren Herzen hatte dann irgendwann die Oberhand gewonnen und Adrienne nur noch mit Instinkt handeln lassen.
Mathan besorgte die Aussage mit dem geblendet sein durch die Elben, da sie Geschöpfe des Lichts waren, behielt das aber tunlichst für sich. Sie warf ihm einen abwartend Blick zu und erzählte tonlos, dass sie Kerry ihre lächerlichen Gefühle gestanden habe und sich dann davon gemacht hatte. Adrienne verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ihr ständiges heile-Welt-Getue und ihre vollkommene… Unfähigkeit Gefahren oder Gefühle von anderen zu erkennen.“ Sie biss knirschend die Zähne zusammen und atmete tief aus und löste ihre Kiefer mühsam, „Manchmal überkam mich der Drang ihr ein Schwert in die Hand zu drücken und zu sagen, was ich für sie empfinde, und dass ich eine Gefahr für sie bin.“ Sie verstummte verbittert und schnaubte leise, „Aber sie ist zu weich. Schwach. Und vor allem leichtgläubig. Alles, was ich nicht sein will.“
Mathan kratzte sich unauffällig an der Schläfe und legte sich die nächsten Worte besonders sorgfältig zurecht: „Faelivrin hatte dich nicht brüskieren wollen. Sie wollte eine Freundin außerhalb von Gefahr wissen. Deshalb bot sie dir an die Stadt zu verlassen, nicht weil du unerwünscht bist.“
Adrienne blinzelte einen Moment, dann noch einen. Mathan konnte förmlich spüren, wie Licht und Schatten in ihre rangen. Ihre Zähne mahlten. „Sie ist deine Tochter, du verstehst sie besser als ich“, gab sie sie etwas widerwillig zu, „Sicherlich würdest du sie in Schutz nehmen… aber... was du sagst… es klingt logisch…“
Er erlaubte sich erleichtert zu lächeln und nickte. „Und Kerry ist … speziell.“
„Das weiß ich doch selbst, aber warum fühlt sich das so scheiße an?!“, fauchte Adrienne ungehalten.
Erstaunt von der heftigen Aussprache blinzelte Mathan überrascht, räusperte sich leise und sagte äußerst bedacht: „Nun, Liebe und Hass liegen sehr nahe beieinander. Und bei dir verschwimmen gewisse Grenzen sehr leicht. Vielleicht siehst du etwas in ihr… das dir im Moment nicht ganz klar ist – und damit meine ich nicht das, was du eben aufgezählt hast.“
Seine Schülerin grummelte ungehalten, wirkte aber nachdenklich, zischte hin und wieder vor sich hin und wirkte, als ob sie gerade einen stummen, inneren Kampf führte. Grimmig winkte sie das Thema schließlich ab und erzählte, wie sie außerhalb der Stadt an den Wanderer geraten war. Den Kampf umriss sie nur grob und erwähnte das Schwert nur verdächtig kurz. Mathan erkannte es trotzdem sofort. Blutklingen. Geschmiedet durch schwarze und bösartige Zauberkünsten, einst erfunden von verdorbenen Elben – Ekel erfüllte ihn und er schob das Thema weit von sich. Abscheu zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, das Adrienne in ihrer Erzählung stocken ließ. Er bedeutete ihr weiter zu erzählen, doch sie wusste nicht mehr viel. „Sie wollten irgendwas wecken… wahrscheinlich dieses Ding , das angeblich in mir schläft. Zumindest wurde das so behauptet. Oder es war eine List um mich in den Wahnsinn zu treiben. Das würde aber nicht die Stimmen erklären.“
Mathan strich sich über das Kinn. „Nun, es gibt auch Geister und Flüche in dieser Welt, aber davon verstehe ich zu wenig“, sagte er nachdenklich.
Adrienne hob skeptisch eine Braue. Es war die verletzte rechte Seite, woraufhin sie schmerzerfüllt zischte. „Ach verdammt“, fluchte sie und zappelte hilflos umher, „Ich will diese Schweine erwischen. Zerhacken, abschlachten, abstechen und ihre Gedärme an die Stadtmauern nageln!“
„Ich denke, dass Faelivrin etwas dagegen hat, wäre schade um die schöne neue Mauer“, wandte er schmunzelnd ein, woraufhin ihre Mundwinkel nach oben zuckten. Etwas Humor war doch noch da, stellte er erleichtert fest.
„Aglarûthiel“, sagte Adrienne plötzlich und die aufkommende lockere Stimmung schwand augenblicklich, „Das ein Name von ihnen. Alcarúsa in Quenya.“
Mathan erstarrte. Den Namen Aglarûthiel hatte er schon einmal gehört, in seiner Zeit in Lórien von einem der seltenen Wanderer der Windan, der ihm einmal bei seiner Rüstung geholfen hatte. Es war ein reisender Schmied gewesen, der seine Handwerkskunst und Geschichten aus dem Osten verkaufte. Gegen ein kleines Fässchen Wein hatte der Elb von einer alten Geschichte erzählt. Einst hatte es in Dervesalend ein kleines Wäldchen gegeben, in der angeblich ein rachsüchtiger Geist gehaust hatte. Wenn die Eingeborenen Opfergaben für den Schwarzen Gott darbrachten und ein Kleidungsstück eines unliebsamen Widersachers, so war der Besitzer des Kleidungsstück innerhalb von einer Woche spurlos verschwunden, ganz gleich ob Mensch, Elb oder Zwerg. Dies war das Werk von Aglarûthiel, einer rachsüchtigen Elbenkriegerin, die von Morgoth gefangen und in den Wahnsinn gefoltert wurde – das war die gleiche Geschichte, nur unter der Elben des Ostens verbreitet.
„Bist du dir sicher?“ hakte Mathan nach und biss sich auf die Lippe.
Adrienne wirkte erst so, als ob er sie für verrückt halte, doch schließlich nickte sie. „Und Númendacil.“
Mathan stöhnte leise bei dem Namen. „Ich hoffe, dass du dich irrst.“
Seine Schülerin wirkte etwas mürrisch, blieb aber dabei. Er seufzte und erklärte ihr, dass mit diesem Titel immer der tödlichste Krieger Saurons geehrt wurde -  manche munkelten, dass er das von seinem Meister übernommen hatte. „Der Schlächter des Westens“, murmelte Mathan, „Und du bist sicher, beide sind hier?“
Adrienne nickte knapp, biss die Zähne zusammen und presste hervor: „Wenn es nichts ausmacht, würde ich meine Folterknechte für eine Weile ausblenden.“
Mathan nickte entschuldigend und griff nach der Glaskaraffe auf dem Nachttisch. Schweigend goss er ihnen beide jeweils ein Glas ein. Das, was seine Schülerin ihm gerade berichtet hatte, war denkbar schlecht. Zwei Namen, die er nur aus Legenden und alten Geschichten kannte. Er musterte sie aus dem Augenwinkel, während sie aus den Gläsern tranken. Wo war sie nur da hineingeraten? Und vor allem: Wie? Er wusste darauf keine Antwort.
„Das ist das Ende“, sagte Adrienne plötzlich, als sie das leere Glas absetzte und blickte ihn mit ihren verschiedenen Augenfarben an, „Oh, nicht dieser Stadt oder der Manarîn. Ich meinte mich. So wie ich jetzt bin. Durcheinander, verwirrt, durcheinander und verworrene Erinnerungen. Sagte ich schon durcheinander?“
„Hier wird dich keiner verletzen“, hielt Mathan scharf dagegen, „Es wird ihr Ende sein.“
Adrienne schmunzelte verbittert und wirkte um Jahre älter. Fast schon zeitlos. Ihr Blick ging ins Leere. Der Augenblick hielt jedoch nur sehr kurz. „Wenn alles nur so einfach wäre…“ Sie hob den Blick, „Danke, dass du hergekommen bist.“
Mathan hatte irgendwie das Gefühl, dass dies ein Abschied war. Jetzt verstand er auch, was er zuvor alles gehört hatte. Es klang endgültig. Er schluckte. Ihre gemeinsame Zeit war kurz, gemessen an seinen Lebensjahren. Dennoch war sehr viel in sehr kurzer Zeit geschehen. Er bereute es, ihr nicht mehr beigebracht zu haben.
Ihr zerschundenes Gesicht wurde weich und sie lächelte, „Sag‘ bloß, dass ich dir was bedeute. Na, ganz so schnell geht es nicht… was immer es auch ist.“
„Wovon redest du, Adrienne?“
Ihr Blick ging wieder ins Leere. „‘enne… Zweck… dem Ende des Zwecks – vielleicht kommst du irgendwann drauf. Alles muss irgendwann enden, aber keine Sorge, „Sie klopfte sich vorsichtig auf die Brust, „Hier ist eine Kriegerin drinnen und ich werde ihnen ein Ende lehren, das sie niemals vergessen werden.“ Ihre Zähne blitzen auf, als sie kriegerisch lächelte, „ Du wirst es schon sehen. Der Kreist schließt sich. Denke daran, alles ist ein Kreis.“
Mathan runzelte verwirrt die Stirn. Kurz ging ihm durch den Kopf, dass die Wirkung des Tranks wohl gerade nachgelassen hatte.  Er wollte gerade Klarheit schaffen, was diese merkwürdigen Aussagen am Ende des Gesprächs bedeuten sollten, doch seine Schülerin hatte die Augen geschlossen und schlief in tiefen, regelmäßigen Zügen. Ihre matte Stimme hallte noch immer in seinen Ohren nach. Mathan war sich sicher, dass irgendwas mit ihrem Geist nicht stimmte, beschloss das aber erstmal für sich zu behalten. Sein Blick ging zum Fenster und der tiefroten Dämmerung. Es war Zeit für das Abendessen. Leise zog er sich aus dem Raum zurück und ließ die Schlafende sich in Ruhe erholen.

Fine

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  • Ich hab da ein ganz mieses Gefühl bei der Sache...
Zum Lorbeerblatt
« Antwort #47 am: 16. Nov 2021, 14:18 »
Der ausgedehnte Spaziergang zog sich hin, bis der Sonnenuntergang längst hinter ihnen lag. Pippin war es auf unvergleichliche Hobbit-Art gelungen, inmitten des Durcheinanders nahe des westlichen Tores der Stadt tatsächlich ein Gasthaus zu finden, das bereits eröffnet worden war. Zu Kerrys Erstaunen fühlte sie sich dort sogleich an die Städte der Menschen erinnert, die sie in ihrem Leben bereist hatte. Ein warmes Licht drang durch die verglasten Fenster, und drinnen herrschte eine angenehme Temperatur, die von zwei brennenden Holzöfen herrührte. Ein breiter Tresen dominierte den großen Schankraum, der jenseits einer einladenden Eingangshalle lag, und der ungefähr zur Hälfte mit Gästen gefüllt war. Die meisten der Anwesenden schienen zu den vielen Gruppierungen von Wächtern zu gehören, die die Mauern und wichtigen Gebäude der Stadt schützten, doch es waren auch andere Elben da. Sogar zwei Zwerge entdeckte Kerry in einer der dunkleren Ecken. Es duftete anregend nach Kräutern und warmem Essen, und Kerry spürte, wie sie hungrig wurde. Leiser Gesang und die Klänge einer gezupften Laute drangen ihr ans Ohr; im hinteren Teil des Raumes, nahe bei den Öfen gab eine Bardin ihre Kunst zum Besten.

Pippin verlor keine Zeit. Der Schankwirt, ein dunkelhaariger Hwenti-Elb mit auffallend muskulösen Oberarmen, schien den Hobbit bereits zu kennen. Kaum hatte Pippin den Tresen erreicht, wurde er sogleich begrüßt.
"Meister Peregrin! Was für eine Freude, dich so bald wiederzusehen. Das Übliche, nehme ich an?"
Pippin nickte zufrieden. "Morlas, du weißt wirklich, wie du es einem Hobbit in einer Stadt voller Elben gemütlich machen kannst. Wir suchen uns einen Tisch."
"Wir?" wiederholte Morlas, der Wirt, und sah Kerry an. Einen Augenblick später erkannte er sie. "Oh-ho, wenn das nicht die kleine Schwester unserer guten Königin ist," sagte er zwar etwas spöttelnd, aber dennoch freundlich. Sein belustigtes Lächeln wirkte auf Kerry nicht beleidigend, auch wenn sie nicht genau verstand, weshalb. Sie fühlte sich wohl hier. Sie ahmte eine Geste nach, die sie bei Halarîn öfter gesehen hatte: ein freundliches Nicken, kombiniert mit einer angedeuteten Beugung der Knie und einem Absenken der Schultern. Der Wirt antwortete mit einem fröhlichen Lachen, das Aufblitzen seiner Augen verriet, dass er den Gruß erkannt hatte. "Vorzüglich!" lobte Morlas und schlug die Fäuste gegeneinander. "Willkommen im Lorbeerblatt. Wären deine Öhrchen nur etwas spitzer, dann könntest du glatt ein Hwenti-Mädchen sein."
Pippin winkte Kerry zu sich hinüber. Er war einige Schritte vom Tresen in den Schankraum hineingegangen, und hielt Ausschau nach einem freien Tisch. Zum Unglück des Hobbits war zwar der Schankraum erst ungefähr zur Hälfte gefüllt, aber an jedem Tisch saß bereits mindestens eine Person. Kerry hielt die Augen offen, und ihr fiel eine bekannte Gestalt auf, die in einer der Sitznischen an der zur Straße gewandten Seite des Raumes saß.
"Komm, dort drüben können wir uns hinsetzen," raunte sie Pippin zu.
Der Hobbit folgte ihr, und sie setzten sich zu der dunkelhaarigen Frau in die Nische, in der vier Personen ohne Probleme Platz finden und durch das etwas trübe Fenster auf die Straße hinaus schauen konnten. Draußen war erstaunlich viel Licht, denn eine dichte Reihe von Elbenlampen erhellte den Platz auf der Innenseite des Stadttores und die Hauptstraße, die ins Stadtzentrum führte. Ein leichter Regen hatte eingesetzt und dünne Wasserlinien schlängelten sich an der Fensterscheibe hinab.
"Oh, hallo Kerry," sagte Haleth - denn sie war es, die Kerry in jener Nische entdeckt hatte. Die Waldläuferin sah müde, aber dennoch deutlich besser als bei ihrer letzten Begegung außerhalb von Helluins Arrestzelle aus. Haleth musterte Pippin interessiert, dann nickte sie. "Es ist ein weiter Weg vom schönen Auenland, Meister Tuk."
Pippin hob belustigt die Brauen. "Ebensoweit entfernt liegen doch auch die Mauern von Fornost, nicht wahr?" Er legte den Kopf ein wenig schief. "Peregrin Tuk, zu Diensten," stellte er sich dann vor.
"Das ist Pippin," erklärte Kerry sogleich. "Ich hab' ihn bei der Befreiung des Auenlandes kennengelernt."
"Haleth," erwiderte Haleth die Vorstellung und nickte dem Hobbit anerkennend zu. "Du scheinst besser Bescheid zu wissen als die meisten Hobbits."
"Man muss nur die richtigen Leute kennen," sagte Pippin mit einem zufriedenen Nicken. "Und seine Ohren offen hat, der hört so manches - nicht nur über die Waldläufer des Nordens, versteht sich."
"Was bringt dich hierher?" fragte Kerry, an Haleth gewandt.
Die Waldläuferin machte eine auslandende Bewegung, die wohl den ganzen Schankraum miteinschließen sollte. "Das hier," erklärte sie. "Etwas... Ablenkung. Es ist viel passiert, und ich habe dir noch nicht einmal die Hälfte von dem erzählt, was... Oronêl und ich hinter uns haben. Außerdem mache ich mir Sorgen um Rilmir. Er ist schon zu lange verschwunden."
Ehe sie weitersprechen konnte, kam der Wirt, Morlas, mit drei Krügen und einem so großen Tablett voller Speisen, dass Kerry sich nicht mehr wunderte, weshalb seine Oberarme so ausgeprägt aussahen. Elegent stellte Morlas seine Lasten auf den Tisch, machte eine - noch immer etwas spöttische - Verbeugung und verschwand wieder, beinahe so schnell wie er gekommen war, denn weitere Gäste erforderten seine Aufmerksamkeit. Der Schankraum füllte sich.

Kerry schnupperte vorsichtig an ihrem Getränk. Es sah nach klarem, kühlem Wasser aus, nur hier und da stiegen winzige Reihen von Blasen an die Oberfläche, wo sie lautlos zerplatzten. Pippin, der neben ihr saß, grinste. "Es ist das beste, was man anstelle von einem richtigen Bier hier bekommen kann. Morlas behauptet, es stammt aus einer verwunschenen Quelle hier mitten in der Stadt, aber das ist höchstwahrscheinlich Unsinn."
Kerry sah sich um, als erwartete sie, dass der Wirt jeden Moment wieder auftauchen und Pippin für seinen fehlenden Respekt zur Rechenschaft ziehen würde. Haleth hingegen schaute amüsiert drein. "Nun, ich habe vorhin bereits davon kosten können. Es wärmt einem die Knochen und hilft, die Trübsal zu überwinden, aber ich denke nicht, dass es berauschend wirkt."
"Es wärmt...?" wunderte sich Kerry. Der Krug fühlte sich in ihrer Hand relativ kalt an, und auch von seinem Inhalt ging keine spürbare Wärme aus.
"Probiere es, dann wirst du es sehen," sagte Pippin und setzte seinen eigenen Krug an die Lippen, der in seinen Händen gleich eine Spur größer wirkte.
Als Haleth ebenfalls einen Schluck nahm, tat es Kerry ihr gleich, wenn auch etwas zögerlich. Als sich die Flüssigkeit ihren Weg in ihren Rachen bahnte, stellte sie überrascht fest, dass es sich tatsächlich um Wasser zu handeln schien. Sie trank einen Herzschlag lang weiter, dann setzte sie das Gefäß ab. Erst jetzt begann sie zu spüren, wie sich eine Wärme in ihrer Brust auszubreiten begann. "Erstaunlich," murmelte sie und erntete belustigte Blicke von Pippin und Haleth.

Sie machten sich über das reichliche Mahl her und sprachen dabei darüber, was ihnen seit der Ankunft in Eregion widerfahren war. Kerry erfuhr in allen Details, was Oronêl und Haleth in den Minen von Moria zugestoßen war, doch sie wunderte sich dabei über sich selbst. Obwohl die Geschichte nicht gerade beruhigend klang, verspürte Kerry kaum Angst oder Sorgen. Sie dachte sich: Soll dieses Ding doch hervorkommen. Óntaro und die Elben werden es besiegen.
Pippin erzählte von einigen Gerüchten, die er auf der Straße aufgeschnappt hatte. Eines darunter war für Kerry besonders interessant. Die Torwächter erwarteten die Ankunft des Königs der Dunländer, bereits am kommenden Tag. Sie nahm sich vor, sich das Ganze mit eigenen Augen anzusehen. Vielleicht würde sie die Gelegenheit bekommen, mit Aéd zu sprechen und zu erfahren, wie es ihm ging. Eine Menge war zwischen ihnen noch ungesagt geblieben, und seitdem sie sich zuletzt gesehen hatten, war viel geschehen.
Als Haleth von Kerrys Plänen erfuhr, beschloss sie, Kerry zu begleiten. Sie bezahlten den Wirt (aus Kerrys Tasche, sie hatte darauf bestanden) und verabschiedeten sich, allerdings musste Kerry versprechen, das Lorbeerblatt bald wieder zu beehren. Sie willigte nur allzu gerne ein. Zwar waren ihr im Laufe des Abends hier und da einige Blicke der Gäste zugeworfen worden, da sie als Mensch natürlich etwas auffiel, aber sie hatte sich daran nicht groß gestört. Sie vermutete, dass manche Elben sich einfach darüber wunderten, warum eine junge Frau Kleidung nach Art der Manarîn trug, die unverkennbar von der Hand der Meisterschneiderin Nivim stammten.

In Farelyës Haus angekommen gingen alle drei rasch zu Bett. Haleth hatte Kerry versprochen, sie am folgenden Morgen früh genug zu wecken, und die Dúnadan hielt Wort. Bei einem knappen Frühstück leistete ihnen Elea Gesellschaft, die jedoch an diesem Morgen recht wortkarg war. Kerry bekam aus ihr nur heraus, dass sie sich Sorgen um Helluin und Finjas machte, die mit Oronêl nach Norden gegangen waren.
Von Pippin war keine Spur zu entdecken. Vermutlich hatte der Hobbit sich sogar noch früher als Kerry und Haleth aus dem Haus gestohlen. Sie zogen sich an und machten sich dann auf den Weg zum Westtor der Stadt. Kerry trug an diesem Tag änhliche Kleidung wie Haleth - einfache Reisekleidung aus Stoff und Leder, und feste, hohe Stiefel. Nur der Umhang den sie dazu wählte, war von eindeutig elbischer Machhart; auf ihrem Rücken war nun das Wappen von Haus Nénharma zu sehen.

Die Straßen waren relativ leer. Kerry fragte sich, ob es unter den Manarîn viele Langschläfer gab, während sie Haleth durch Ost-in-Edhil folgte. Je näher sie dem Tor kamen, desto mehr Elbenwächtern begegneten sie. Sie waren keinen Augenblick zu spät aufgebrochen, denn kaum hatten sie das Tor erreicht, trafen schon die ersten Dunländer ein, auf kräftigen Pferden reitend. Kerry erkannte viele von ihnen - es waren Aéds engeste Vertraute, sein Wolfsrudel. Der Wolfskönig selbst preschte auf einem beeindruckenden Streitwagen, gezogen von zwei weißen Rössern, durchs Tor und brachte das Gefährt mit geübter Hand zum Stehen, nachdem er die Stadtmauer passiert hatte.
Haleth gab ein für sie untypisches Aufseufzen von sich, als weitere Reiter durch das Tor kamen, unter ihnen eine dunkelhaarige Gestalt mit grauem, zurückgeschlagenen Kapuzenumhang. Es war Rilmir. Die scharfen Augen des Dúnadan hatten die beiden Frauen sogleich erspäht, und er lenkte sein Pferd zu ihnen an den Straßenrand, dann stieg er ab.
"Was für eine angenehme Überraschung," sagte Rilmir, drückte Kerry kurz an sich, und schloss dann Haleth in eine liebevolle Umarmung, die in einem Kuss endete. Kerry wandte sich errötend ab, doch Rilmir lachte. "Man hört ja so Einiges darüber, was Oronêl und du beim Küstenvolk so getrieben haben, aber du musst mir unbedingt alles im Detail erzählen. Zuerst solltest du aber vielleicht..." er deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Straße, wo Aéd gerade, umringt von seinem Wolfsrudel, vom Streitwagen stieg. "Wir sprechen später, in Ruhe."
Kerry ließ Haleth und Rilmir stehen, und bekam noch mit, wie sich die beiden von der Straße entfernten. Ihr Herz pochte ihr mit einem Mal bis zum Hals. Ihr Kehle fühlte sich trocken an, und nach mehreren Schritten auf Aéds Gruppe zu blieb sie stehen. Sie wusste nicht einmal, was sie ihm sagen wollte. Mit einem Mal hoffte sie, er würde sie gar nicht bemerken.
Eine Minute verging, dann nahm ohne Vorwarnung jemand Kerrys Hand und zog sie mit sich, auf Aéd zu. Eine starke Hand teilte die Menge der Dunländer und ehe Kerry es sich versah, stand sie vor dem Wolfskönig. Einer der Wolfskrieger hatte sie erkannt und angenommen, sie habe nicht zu Aéd durchdringen können - und hatte kurzerhand eingegriffen und Kerry nach vorne befördert.
"Kerry! Da bist du ja," sagte Aéd und lächelte ihr zu. "Ich bin froh, dass es dir gut geht. Wir haben gehört, dass Gefahr in Eregion droht."
Kerry fasste sich ein Herz und umarmte ihn. Sie hoffte, dass sie wieder ihre einstigen Gefühle für ihn verspüren würde, und für einen Augenblick fühlte es sich auch so an. Doch Aéd löste sich von ihr, schneller als erwartet. "Was, ähm... was bringt dich nach Ost-in-Edhil?" fragte Kerry holprig.
Aéd legte stolz eine Hand auf eines der großen Räder des Streitwagens. "Wir sind hier um der Königin ein Geschenk zu machen, und ihr im kommenden Krieg beizustehen." Er nickte bekräftigend. "Die Kämpfe innerhalb Dunlands sind abgeflaut. Es kehrt Ruhe ein. Aber unser Volk braucht einen starken Anführer, und ein Krieg jenseits unserer Grenzen könnte eine gute Gelegenheit sein, Erfahrung und etwas Ruhm zu sammeln."
Kerry wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, und entschied, erst einmal froh darüber zu sein, dass die Manarîn Verstärkung erhielten. Sie nickte und ließ sich von Aéd einige der Eigenschaften des Streitwagens beschreiben, auf den er besonders stolz zu sein schien.
"Es ist schön, dich wiederzusehen," sagte der Wolfskönig. "Aber jetzt sollte ich mit der Elbenkönigin sprechen und ihr die Gabe überbringen, die ich ausgesonnen habe." Er deutete auf eine Gruppe von Palastwächtern, die entlang der Straße zum Palast aufgereiht standen, angeführt von einem Kommandanten mit blauem Helmbusch. "Sieht aus als würde sie mich bereits erwarten," kommentierte Aéd. Er drückte Kerry für einen Moment an sich, viel zu kurz für ihren Geschmack, und verabschiedete sich dann von ihr. Kerry blieb stehen und sah ihm nachdenklich hinterher. Sie war kein bisschen schlauer geworden, was ihre Beziehung zu Aéd anging.

Immerhin ist er jetzt hier, und wird wohl so schnell nicht wieder abreisen, dachte sie sich, als schließlich alle Dunländer in Richtung des Palastes Faelivrins abgezogen waren. Kerry beschloss, die Mauern zu ersteigen. Sie glaubte, dass sie den Rückweg zu Farelyës Haus zurücklegen konnte, indem sie entlang der Wehrgänge und Brüstungen ging. Die Stadtwächter wollten sie zuerst abweisen, doch als sie sich auf Mathan berief, erkannte man sie und gewährte ihr, auf den Mauern spazieren zu gehen. Den Blick auf das Land jenseits der Stadtmauer gerichtet machte sie sich auf den Weg vom West- zum Nordtor, das nur einen Steinwurf von ihrer derzeitigen Unterkunft entfernt gelegen war. Die Lande kamen ihr kalt und karg vor, denn der Winter hatte Eregion noch immer fest im Griff. Nebelschwaden hingen über den grauen Hügeln im Norden und selbst die Bäume sahen aus, als wären sie innerlich zu Eis erstarrt. Kerry glaube für einen Moment, wieder in Fornost zu sein; eine Stadt voller Schutzbedürftiger, die auf den Krieg wartet. Sie schüttelte sich, dann wandte sie den Blick hastig ab. Zu viel ging in ihrem Kopf vor; Platz für noch mehr Sorgen war darin nicht mehr. Sie beschloss, noch am selben Abend wieder im Lorbeerblatt einzukehren...
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Curanthor

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Mathan im Lorbeerblatt
« Antwort #48 am: 19. Nov 2021, 03:17 »
Auf der Hauptstraße angekommen, schaute er sich suchend nach den Zwergen aus dem Osten um. Es war bereits dunkel und finstere Wolken schluckten die aufkommenden Strahlen des Mondes. Mathan sah kurz ein paar Elben der Stadtwache dabei zu, wie sie kleine Lämpchen entzündeten, die an den Häuserwänden hingen. Mit weiten Schritten lief er schließlich zu dem großen Marktplatz im Zentrum der Stadt, in der Hoffnung einer der Zwerge dort zu finden. Als er durch das weit geöffnete Tor trat, musste er sogleich schmunzeln. Auf dem großen Sockel in der Mitte des Platzes erkannten seine Elbenaugen einen Zwerg, der es sich mit einem großem Laib Brot und einem ebenso großen Stück Käse gemütlich gemacht hatte. Mathan wich einem Bautrupp aus, der mit vier Mann einen besonders langen Baumstamm über den Markt in Richtung des Palastvorplatzes trugen und trat an den Zwerg heran. Sie erkannten einander. Es war Lorim, das erkannte Mathan an dem schwarzen Haar und dem relativ kurzen Vollbart, der aber dennoch mehr als die Hälfte des Gesichts verbarg. Der Zwerg nahm einen kräftigen Zug aus einer dampfenden Pfeife, biss etwas von einem Stück Trockenfleisch ab und winkte ihn näher. Mathan überwand die paar Schritte zu dem Sockel rasch und nickte knapp zum Gruß.
„Meister Elb!“, begrüßte ihn Lorim kauend und wedelte mit seinem Trockenfleisch umher, „Ich hätte nicht gedacht, dass ihr hier so etwas in den Lagern habt.“ Er grinste feixend unter seinem struppigen Bart. „Auch wenn es nicht ganz so würzig ist, wie ich es gewohnt bin – aber besser als bei den Mensch‘n.“
„Lorim“, erwiderte Mathan den Gruß und sagte mit einem leichten Grinsen: „Nun, dass Elben kein Fleisch verzehren ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Allerdings gibt es viele, die darauf verzichten, aber das kenne ich eher von den Hochelben. Die Avari können sich das nicht leisten…“ Er verstummte, als er den gelangweilten Blick des Zwerges sah.
Lorim winkte ab (noch immer mit dem Trockenfleisch in der Hand) und sagte, dass er wusste, dass die Elben im Osten kaum Ackerbau betreiben konnten und eher die Gaben des Waldes verzehrten, dazu gehörten auch Wildtiere. „Aber deswegen sitze ich hier nicht. Grám sagte, dass er und Andak in einem Gasthaus am westlichen Torplatz auf Euch wartet. Im Lorbeerblatt.“
Mathan hatte schon davon gehört, als einige Soldaten auf dem Heimweg davon gesprochen hatten, sich dort einen Winterwein zu gönnen. „Und Ihr kommt nicht mit?“
Der Zwerg schüttelte den Kopf und biss ein großes Stück von seinem Laib Brot ab. Einige Krümel prasselten in seinen Bart, während er mit vollem Mund sagte: „Zu viele Spitzohren. Ich habe zwar nichts gegen euch, aber ich mag es nicht, mich anglotzen zu lassen. Da bleibe ich lieber alleine.“
„Verständlich“, antwortete Mathan und wandte sich halb ab, blieb aber stehen, als er ein paar Tropfen in seinem Gesicht spürte, „Vielleicht solltet Ihr aber dennoch irgendwo einkehren, Lorim, es regnet gleich.“
Er hörte den Zwerg fluchen und wie er seine Sachen zusammenpackte. Mathan verabschiedete sich und wandte sich gen Westen, auf einer der kleinen Nebenstraßen. Nach einem kurzen Blick fand er eine Stadtwache und trat zu ihr. Es waren zwei gerüstete Elben, die die Lampen entzündeten. Mit knappen Worten bat er sie, einen Boten in den Palast zu schicken, um Valena zum Lorbeerblatt zu bringen. Die beiden – ein Mann und eine Frau, blickten sich kurz an, verneigten sich knapp und sagten aber dabei, dass sie noch die Straße fertig beleuchteten und sich dann um die Bitte kümmerten. Mathan bedankte sich verständnisvoll und ging weiter die Straße nach Westen entlang. Je weiter er sich vom Zentrum entfernte, umso karger wurde die Bebauung. Die großen, filigranen Steinhäuser wichen eher einfachen Holzhäusern, vereinzelt erblickte er noch Zelte, die sonst karge Flächen einnahmen. Der Weg zog sich in die Länge und die Nacht brach endgültig herein. Ein leichter Regen benetzte seine Haare und sein Gesicht. Man merkte, dass es noch Winter war, denn die Tage waren kurz, die Nächte lang. Ihm fiel ein, dass er nicht genau wusste, wann der Fürstenrat tagte, doch Mathan beruhigte sich mit dem Gedanken, dass man wohl nach ihm schicken würde, wenn es soweit war. Die Hauptstraßen machte eine leichte Biegung und endete auf einem gut ausgeleuchteten Platz. An dessen Ende erhob sich die wuchtige Torburg, dessen Türme nur hölzerne Gerippe waren. Man konnte sehen, dass hier noch immer kräftig gearbeitet wurde, denn auch die Stadtmauer war noch nicht auf voller Höhe aufgebaut – von den Arbeitern war aber nichts zu sehen. Der Platz war hingegen schon von einem Dutzend Holzhäusern umringt. Eines davon fiel besonders ins Auge, da oberhalb des Eingangs ein großes, gut lesbares Schild mit der Aufschrift „Zum Lorbeerblatt“ hing, die kunstvoll verschnörkelten Lettern in der Gemeinsprache verfasst. Das Gasthaus war das größte Gebäude am Westplatz und konnte sich schon fast mit der Torburg messen. Es war drei Stockwerke hoch, vier, wenn man das Dachgeschoss mitzählte, fünf mit dem hölzernen Spitztürmen, die jeweils rechts und links aus dem Dach hervorstachen. Es war deutlich, dass hier wahre Baumeister am Werk gewesen waren. Mathan riss sich von dem Anblick los und hielt auf den gut besuchten Eingang zu, von wo ihm schon der Duft von Kräutern, warmen Wein und auch Lautenschläge entgegenwehten, wann immer sich die Türe öffnete. Zwei Elben der Palastgarde, die an ihren schwarzen Mänteln zu erkennen waren, kamen ihm durch die Tür entgegen. Sie hatten ihre Mundtücher wie gewohnt im Gesicht, sodass nur ihre Augen zu sehen waren und in einem Gespräch vertieft. Sie nickten ihn knapp zum Gruß und hielten ihm die Türe offen. Der Duft von warmen Brot, gebratenem Fleisch und Wein stieg ihm in die Nase. Er bedankte sich und bahnte sich einen Weg durch den gut besuchten Schankraum. Dutzende Köpfe drehten sich flüchtig nach ihm um. Kurz blickte er an sich herab und beschloss das nächste Mal seinen auffällig rot-goldenen Mantel abzulegen. Das durchgehende Gemurmel nahm aber keine Notiz von ihm und auch die Bardin an den Öfen spielte unablässig ihr Lied und sang eine Ballade über die Seefahrt der Manarîn in der Gemeinsprache.
Am Tresen blickte ihm ein dunkelhaariger Hwenti-Elb mit einer Mischung aus Neugierde und Erkennen in den Augen entgegen. Ein wissendes Grinsen umspielte seine Lippen.
„Na, wenn das nicht der Feldherr der Manarîn ist“, begrüßte ihn der Schankwirt freundlich und mit gebotener Diskretion – doch mit einem leichten feixen in der Stimme, als Mathan an den Tresen trat. „Willkommen im Lorbeerblatt, es ist uns eine Ehre Euch hier zu begrüßen. Ich bin Morlas –“ Eine Elbenfrau mit fast schwarzen Haaren eilte durch die Küchentür und balancierte sieben voll beladene Teller auf den Armen, „Und das ist Nityel, meine bessere Hälfte.“ Die Elbe hörte ihren Namen, sah sich rasch um ihre hellblauen Augen musterten ihn flüchtig und sie nickte knapp ehe sie im Schankraum verschwand.
„Danke Morlas. Ich bin Mathan“, erwiderte er die Floskel und schaute Nityel hinterher, „Eine Kinn-Lai?“, hakte er nach, als er ihren Namen sich noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
Der Schankwirt grinste nun breiter. „In der Tat, wir fanden uns durch Zufall.“ Er lachte volltönend, „Der beste Tag in meinem Leben. Sie hat mich verdroschen, weil ich bei der Jagd ihre Beute zuerst erwischt hatte. Und seitdem sind wir zusammen.“ Morlas wartete, bis seine Frau wieder in die Küche verschwunden war und neigte sich leicht über den Tresen und flüsterte ihm verschwörerisch zu: „Es war trotzdem meine Beute gewesen, ich hab es zuerst geschossen, aber erklär‘ das mal einer Kinn-Lai.“
Mathan musste ebenfalls grinsen. „Eine Liebesgeschichte voller Poesie und Romantik.“
Morlas lachte noch einmal bellend und stieß die Fäuste zusammen, „Genug davon, was kann ich für Euch tun, Heermeister Mathan?“
Er überlegte einen Moment, während Nityel wieder durch den Schankraum rauschte und ihrem Gatten einen giftigen Blick zuwarf – offenbar hatte sie sehr scharfe Ohren. Mathan musste schmunzeln und fragte, was er empfehlen könnte – für ihn und zwei Zwerge.
„Hmm“, machte der Wirt und strich sich über sein makelloses Kinn, „Zwerge… ja, die habe ich schon mit Met versorgt. Ihr gehört zusammen ja?“ Auf sein Nicken hin schein er auf eine Idee gekommen zu sein. „In Ordnung, dann habe ich ein gutes Abendessen für euch, es sei denn, Ihr wollt kein Fleisch?“
Mathan zögerte. Es war schon lange her, dass er das letzte Mal etwas Tierisches gegessen hatte. Er zuckte mit den Schultern und entschied sich dazu, das zu essen, was er den Zwergen vorsetzen würde.
Morlas‘ Augen blitzen auf und er versicherte ihm, dass er nur das Beste zubereiten würde. „Eine Vorspeise nach Art des Hauses – eine wahre Überraschung. Danach ein sanft angebratenes Hähnchen in Honigsoße und einen großen Teller voll allerlei Gemüse und Kräutern mit einem leckeren Salatdressing. Zum Schluss eine kleine Torte, die meine Tochter erst heute gebacken hat. Na, klingt das nicht verlockend?“ Mathan zögerte. Hühner hatte er nicht allzu oft verspeist, da er die vielen kleinen Knochen nicht mochte. Morlas schien sein Gedanken zu erraten und versicherte ihm, dass er Mathans Portion entbeinen wird. „Ihr werdet gar nichts merken, darauf gebe ich mein Wort, als Koch und als Besitzer dieser Gaststätte.“
„Nun, wenn das so ist“, gab Mathan schließlich nach und blickte sich rasch nach den Zwergen um, „Ich denke aber, dass Ihr Euch diese Mühe bei den Portionen der Zwerge sparen könnte.“
Der Schankwirt lachte laut auf und antwortete schelmisch, dass er für Elben sämtliche Speisen immer entbeinte. „Eigentlich stehe ich nicht oft in der Küche“, gab er mit einem verschwörerischen Zwinkern zu, „Aber für Euch und Eure Freunde kümmere ich mich persönlich um Eure Speisen. Sie sitzen dort hinten in der Ecke.“ Morlas deutete mit seinem Daumen in eine dunkle Sitzecke, hinter der sich eine Treppe nach oben wandte.
Mathan bedankte sich und bahnte sich durch den vollen Schankraum einen Weg in die ruhigere Ecke. Ihm fiel auf, dass viele Elben der Stadtwache, den Wächtern der Mauern und der Palastgarde hier waren. Auch eine große Gruppe Holzarbeiter, die noch immer vereinzelt mit Sägespänen bedeckt war tummelte sich um einen der großen Tische, auf dem ein geöffnetes, kleines Fass Wein stand. Mathan wich einem Becher aus, der übermutig geschwenkt wurde und duckte sich unter einem geworfenen Tablett, das unter allgemeinem Gelächter und Beifall von Nityel gefangen wurde. Eilig machte er sich davon, als die Kinn-Lai lautstark zu schimpfen begann und ließ den lebhaften Teil des Schankraum hinter sich.
Hier hinten waren die Viererplätze mit einem Tisch in der Mitte, wo hauptsächlich Pärchen oder kleine Familien saßen und zu Abend aßen. Grám Feuerhammer, der genau in der Ecke saß, empfing ihm mit einem breiten Grinsen, als er sich zu ihnen auf die weich gepolsterte Eckbank fallen ließ. „Ich muss sagen, diese Elben gefallen mir immer besser, je länger ich hier bin.“
„Sie sind weniger verklemmt als gedacht“, stimmte Andak mit einem amüsierten Schmunzeln zu, das von seinem mächtigen weißen Bart verdeckt wurde.
Mathan, der die Feierlaune der Elben und vor allem der Avari durch Halarîn kannte, grinste wissend und versicherte, dass dies noch harmlos war. Die Zwerge wechselten einen Blick und schienen so, als ob sie hier übernachten wollten, nur um das zu erleben. „Aber das kann einige Tage dauern“, beschwichtige Mathan rasch und fügte hinzu, dass er aber nicht genau wüsste, wie es die Manarîn hielten.
„Die Manarîn also“, begann Andak ernst, seine tiefe, sanfte Stimme klang nachdenklich, „Sie sind ein relativ junges Volk, oder?“
Mathan wandte ein, dass fast zweitausend Jahre seit ihrer „Gründung“ vergangen sind. Woraufhin Grám einwandte, dass es für Elben eine relativ kurze Zeit war.
„Wir empfinden Zeit etwas anders als ihr“, begann Mathan und versuchte so gut es geht zu erklären: „Es gibt Jahre und sogar Jahrzehnte, die fliegen an einem vorbei. Dann gibt es Tage und Wochen, die kommen einem wie eine Ewigkeit vor. Einige von uns bemessen die Zeit sogar nach den Erlebnissen, die sie haben.“
Grám griff nach seinem Metbecher, nahm einen kräftigen Schluck und sagte, als er ihn lautstark absetzte: „Klingt mir zu kompliziert“, Der Zwerg rülpste laut, „Uns geht es darum, herauszufinden, ob sie unser Wissen klug gebrauchen und nicht womöglich gegen andere meines Volkes wenden.“
Mathan nahm dankbar einen Krug entgegen, den Nityel mit einem flüchtigen Lächeln vor ihm auf dem Tisch stellte. „Als Ahnherr des Königshauses kann ich dafür garantieren, dass niemand Euer Wissen falsch gebraucht“, versprach er ihnen, als die Kinn-Lai wieder gegangen war.
Andak strich sich durch seinen mächtigen Bart, nahm einen Schluck Met und lehnte sich etwas über den Tisch zu ihm. „Könnt Ihr das garantieren?“
Mathan runzelte verärgert die Stirn. „Vorsicht, Meister Andak. Wir reden von meiner Familie.“
Grám stieß den alten Zwerg mit dem Ellenbogen an und zischte ihm zu, dass er nicht so misstrauisch sein sollte.  Der Greis entschuldigte sich rasch. „Das, was wir vorschlagen wollen ist sowieso nichts Besonderes…“, sagte Grám und schaute sich rasch um, „Und ist eher ungewöhnlich, selbst bei unserem Volk.“
Andak bedeutete zu schweigen und Mathan folgte seinem Blick. Morlas trat mit einem großen Tablett zu ihnen. Der Elb stellte drei dampfende Schüsseln vor ihnen auf den Tisch. „Es ist nicht mehr so heiß, ihr könnt es trinken. Ein Appetitanreger.“
„Brauchen wir nicht, sind schon hungrig genug“, brummte einer der beiden Zwerge leise. Sie lachten, griffen aber dennoch nach den Schüsseln.
Der Schankwirt grinste und versicherte, dass es den Hauptgang bekömmlicher machen würde. Eine Spezialität des Hauses, wie er stolz verkündete und dann wieder verschwand. Die drei blickten sich kurz an, eher sie aus den Schüsseln tranken, auch wenn Mathan sich gern einen Löffel gewünscht hatte. Als er den ersten Schluck genommen hatte, stellte er fest, dass es nur eine gefilterte Brühe aus Waldkräutern, Wurzeln und etwas anderes war, dass er nicht genau einordnen konnte. Sie schmeckte köstlich und wärmte von innen heraus. Der Abgang war von verschiedenen Kräutern geprägt, die schon lange nicht mehr gekostet hatte. Nostalgie überkam ihn, die aber von einem lauten Rülpsen unterbrochen wurde, als die Zwerge ihre Schüsseln bereits geleert hatten.
„Gar nicht so schlecht“, befand Andak und betupfte sich den Bart.
„Mhh“, macht Grám zustimmend, der noch den letzten Tropfen mit einem Finger herausfischte und zufrieden die Schüssel abstellte. „Für Elbenfutter, vorzüglich.“
Mathan nahm sich etwas mehr Zeit, fragte aber zwischenzeitlich, ob sie bereits andere Elbenkost probiert hatten. Die Zwei sahen sich einen kurzen Moment an, bis einer von ihnen nickte. Abwechselnd erzählten sie, dass sie in Eyriks Rast schon einmal mit einer Gruppe Kindi zusammen gespeist hatten. Und dass es alles andere als genießbar war. „Und nur Grünzeug“, beschwerte sich Grám.
„Da hat mir dieses weiße Getreidezeug in Nishiro besser gefallen“, stimmte Andak zu, „Die hatten da auch interessante Gerichte vom Schwein und Rind.“
Die Zwerge fuhren fort und erzählten ein paar Ausschnitte ihrer Reise, wobei sie nie genau sagten, in welcher Stadt oder welchem Land sie dies und jenes gegessen hatten. Meist waren es Gerichte, die Mathan in einer Art schon kannte, aus seinen eigenen Reisen in den fernen Osten, doch er hörte trotzdem zu, bis Morlas mit dem Hauptgang erschien. Die Zwerge waren plötzlich ganz begeistert von den elbischen Kochkünsten. Die knusprig gebratenen Hähnchen übertrafen alle ihre Erwartungen. Mathan wartete, bis der Schankwirt mit seinem neugierigen Blick wieder hinter den Tresen verschwand, der zum Glück in die entgegengesetzte Richtung – zum Eingang und den Schankraum – ausgerichtet war. Erst dann begann er zu essen. Es war merkwürdig, aber köstlich. Wobei die Honigsoße förmlich in seinem Mund zerfloss. Das Fleisch war unglaublich zart und angenehm subtil, mit den Kräutern zusammen – wobei einige wohl gekocht, oder gedämpft waren – merkte man es kaum. Morlas hatte nicht gelogen, es war vorzüglich – und komplett ohne Knochen. Mathan blickte kauend auf die Zwerge, wo Andak mit einem Stück Knochen sich gerade zwischen den Zähnen herumpulte. Grám trank aus seinem Metkrug und verteilte einen guten Schluck in seinem feurigen Bart. Mathan unterdrückte ein Schmunzeln, da er die zwergischen Tischmanieren schon kannte.
Nachdem alles soweit verspeist war – und Grám sogar etwas Grünzeug von Mathans Teller probierte, das der Zwerg gar nicht so scheußlich fand – schoben sie die Teller von sich und widmeten sich den ernsten Themen.
Andak räusperte sich und eröffnete das Gespräch „Wir haben uns ein wenig umgehört, nachdem wir hier angekommen sind...“
„Die Stadt ist nicht schlecht, befand zumindest Lorim – er ist unser Steinmetz. Die Mauern hoch und stark, die Tore gut gesichert und von dem was wir sehen konnten, ziemlich widerstandsfähig. Allerdings… „ Grám senkte etwas die Stimme und rückte näher an den Tisch, was Mathan und Andak ihm gleichtaten, „Es fehlt sonst an allem. Die Straßen sind nicht existent, ihr habt keine Handelsbeziehungen und nicht genug Arbeiter für Felder, Tierzucht oder andere Dinge, die nicht mit dem Krieg oder der Verteidigung zu tun haben.“
Mathan wollte etwas daraufhin erwidern. Dass sie schon mitten in einem Krieg steckten und einen Großangriff erwarteten, doch Andak hob beschwichtigend seinen Krug, „Wartet ab, Meister Elb.“
„Als wir Saurons Gäste waren – und das für ein paar Monate, haben wir einige Dinge gesehen und gehört, die vielleicht nützlich sein könnten“, eröffnete ihm Grám mit geheimnisvoller Stimme.
„Das heißt, dass ihr über Saurons Kriegspläne Bescheid wisst?“, flüsterte Mathan rasch und blickte sich um, „Ist das wahr?“
Die Zwerge tauschten einen Blick und Grám kratzte sich verlegen an seinem Bart. „Nun, ganz so tiefe Einblicke hatten wir nicht“, gestand Andak etwas kleinlaut und schaute in seinen Krug, der fast leer war.
„Wir wissen über eine Ressource, von der Sauron ziemlich besitzt und die ihm auch ziemlich wichtig ist“, sagte Grám mit fester Stimme und tippte mit seinem dicken Finger auf die Tischplatte, „Und dieses Land braucht es dringend.“
Mathan wusste nicht so recht, was der Zwerg damit sagen wollte, bis Andak knapp einwarf: „Muskelkraft.“
Rasch dämmerte es ihm. „Nein!“, platzte es Mathan sofort heraus und er senkte hastig wieder die Stimme, „Sklaven? Seid ihr des Wahnsinns?!“
Grám schüttelte den Kopf und zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Nein, so hört mir doch bis zu Ende zu.“
Mathan verschränkte die Arme. Faelivrin würde das niemals zulassen, genauso wenig ihre Tochter oder einer der Fürsten. Die Zwerge wirkten aber so, als ob ihnen das wichtig war. Er atmete tief ein und nickte - so knapp, dass es kaum wahrnehmbar war. „Also gut. Ich höre es mir an, mehr nicht.“
Andak wirkte erleichtert und erklärte, dass sie wochenlang von Gefangenenlager zu Gefangenenlager weitergereicht wurden. Die meisten platzten aus allen Nähten. Sauron wollte herrschen, nicht alles Leben vernichten, das - so betonte Grám, hatten die Wächter immer wieder in den Lagern von ihren Kommandanten eingebläut bekommen. Sicherlich war die Behandlung der Gefangenen schlecht bis katastrophal, aber es wurde nicht einfach wahllos getötet. Wenn gerade kein offener Widerstand geleistet wurde, hatte man die Gefangenen als Arbeitssklaven genutzt und sie nach Belieben zwischen die Lager hin- und hergeschickt.
Mathan hatte genug gehört und unterbrach sie: „Und was erwartet ihr von uns? Sollen wir diese Lager angreifen? Ihr wisst doch selbst, dass diese Stadt bald angegriffen wird. Wir können keine Krieger über unsere Grenzen hinaus entsenden.“
„Nicht ganz und das sollt ihr auch nicht“, antwortete Andak kopfschüttelnd und leerte seinen Metkrug, „Wir kenne ihre Wege. Wir wissen, wo sie die Gefangenen transportieren. Und der dunkle Herrscher hat nicht genug Leute, um alle Sklaven von seinen eigenen Getreuen verwalten zu lassen.“
Mathan dämmerte es, worauf die beiden hinaus wollten. „Ihr schlagt vor, dass wir die Sklavenhändler überfallen?“
Grám wirkte nun aufgeregter und setzt sich aufrechter hin. „Nicht nur das. Die Nachricht, dass Sarumans Halt über diese Lande gebrochen sind, hat sich noch nicht weit verbreitet. Wir könnten in seinen Namen eine große Bestellung aufgeben. Oder von Saurons Heerführern. Dann würden sie sie uns sogar bis hier her liefern.“
„Moment, nicht so schnell“, hielt Mathan den Zwerg zurück, „Es sind schon mehrere Wochen vergangen, Gerüchte verbreiten sich schnell.“
„Dann ködern wir sie mit Reichtümern, viele von den Händlern sind gierig. Ihr haltet doch Lond Daer?“ wandte Andak ein.
Mathan nickte knapp, woraufhin der alte Zwerg weitersprach und vorschlug, es so aussehen zu lassen, als ob Lond Daer wieder, oder immer noch unter Sarumans Kontrolle steht – oder kürzlich von Sauron heimlich erobert wurde. „Damit ködern wir die Sklavenhändler, die über das Meer Handel treiben und lassen sie dort mit ihren Gefangenen anlanden. Sollten sie Probleme machen… ich nehme an, die Flotte, von der ich gehört habe ist noch immer kampbereit…“
An sich klang das gar nicht so schlecht, aber es gab noch zwei Dinge, die Mathan störten, die er auch gleich ansprach: Was sollten sie mit so vielen Sklaven anstellen und vor allem, wie sollten sie sie in ihre Dienste treten lassen, ohne damit alle anderen Reiche oder möglichen Verbündeten zu brüskieren und abzuschrecken.
Aber auch darauf hatte Grám eine Antwort: „Schließt Verträge, garantiert ihnen Siedlungsplätze, vorübergehenden Schutz, plumpe Bezahlung oder eine irgendeine andere Art von Gegenleistung. Viele Menschen werden erst nach dem Krieg die Möglichkeit haben in ihre angestammte Heimat zurückzukehren. Ich denke, dass viele von ihnen darauf eingehen würden, mit der Aussicht irgendwann nach Hause zurückzukehren – oder direkt ein neues Leben unter den Schutz von Elben zu beginnen.“
Mathan leerte seinen Met mit einem großen Zug und stellte den Becher auf den Tisch. Tatsächlich war die Überlegung gar nicht so dumm, aber ihn bereitete es immer noch Kopfschmerzen. „Wir würden uns dabei auf sehr dünnem Eis bewegen. Ich weiß nicht, ob die Idee Anklang finden würde, zumal wir kurz vor Kriegshandlungen stehen. Wann sollen wir das bewerkstelligen? Und vor allem, von wie vielen ehemaligen Gefangenen reden wir hier, die was genau machen sollen?“
Andak war es, der schließlich mit der Sprache herausrückte: „Wir arbeiten Pläne für dieses Königreich aus. Entwicklungspläne. Meine Wenigkeit war eine lange Zeit Oberster Baumeister bei meinem Volk. Wir reden hier von Flussbefestigungen, Brücken und einem neuen Handelsweg. Na, klingelt es?“
„Ihr… ihr wollt den Glanduin wieder mit Schiffen befahrbar machen? Vom Gwathló, bis hier her hinauf?“, sprach Mathan ungläubig aus und blinzelte erstmal, während die beiden Zwerge sich angrinsten, „Wie soll das geschehen?“
Grám strich sich durch seinen feuerroten Bart und wirkte etwas weniger motiviert und brachte schließlich hervor: „Nun, wir bräuchten mindestens zweitausend Arbeiter, besser dreitausend.“ Auf Mathans entsetzten Blick hin, fuhr er hastig und beschwörend fort: „Eine direkte Handelsverbindung mit Gondor und womöglich sogar auch mit Minzhu und den Mondlanden. Wisst Ihr denn nicht, was das bedeutet? Ihr habt die Flotte und die Möglichkeit die Seewege zu sichern und…“ Er verstummte und murmelte nun leiser, dass sie erst die drohende Gefahr abwehren mussten. „Aber dennoch“, sagte er wieder lauter, „Die Händler werden Zeit brauchen, um auf die Anfrage zu reagieren. Jetzt wäre ein passender Zeitpunkt und – “
Grám verstummte, als Andak ihm am Arm packte. Der alte Zwerg schüttelte nur kurz den Kopf, da Mathan seinen skeptischen Gesichtsausdruck nicht mehr verbergen konnte. Das Lärmen der Gaststätte schwoll noch ein Stück weiter an. Mathan wiegelte ab. Tatsächlich konnten die Elben Eregion nicht alleine in so kurzer Zeit wieder aufrichten. Sie waren maximal zehntausend und über das gesamte Land verstreut und der kommende Konflikt würde tiefe Spuren hinterlassen. Eigentlich war dies sogar ein Ausweg, ein sehr kontroverser, aber es war eine Möglichkeit. Nun ging es darum, sie in Betracht zu ziehen. Zwischenzeitlich erschien Nityel und stellte ihnen jeweils einen Handteller großen, goldbraunen Kuchen vor die Nase. Er duftete wunderbar und schien sogar noch leicht warm zu sein. Ungefragt füllte sie ihre Becher wieder auf.
Als sie an Mathans Seite trat, neigte sie sich leicht zu ihm herab und flüsterte in sein Ohr: „Ein Bote Ihrer Majestät wartet auf Euch, doch er lässt Euch ausrichten, erst das Mahl zu beenden.“
Er nickte ihr zu, dass er verstanden hatte und bedankte sich. Dabei drehte er den Kopf, um den Boten zu erblicken. Ein leichtes Schmunzeln huschte über sein Gesicht. Nammanor stand am Tresen, in voller Rüstung, eine Hand lässig auf dem Schwertknauf, einen Krug in der anderen Hand und ihm zuprostend. Nityel eilte wieder zurück in die Küche und Mathan wandte wieder den Kopf zu den Zwergen.
Andak räusperte sich und versuchte es diesmal etwas bedachter: „Ihr braucht zusätzliche Manneskraft, daran besteht kein Zweifel. Und diesen armen Seelen wird es bei euch besser ergehen, da sie freiwillig bleiben können, oder es versuchen sich in ihre Heimat durchzuschlagen. Sollten sie hier siedeln wollen… nun, ich denke, dass wir den Vorschlag der Königin unterbreiten sollten.“
„Davon abgesehen könnten zusätzliche Hände die Verteidigungsanlagen schneller fertig stellen“, warf Grám ein, auch wenn er offenbar selber wusste, dass das ein eher schwaches Argument war. 
Mathan wollte erst den Kopf schütteln, stach dann aber lieber mit seiner Gabel in den weichen Kuchen, aus dem eine weißliche Creme quoll. Er war wunderbar, bestand wohl aus Mehl, Milch, Eier, Honig und anderen Dingen, die er mal von Bäckern gehört hatte. Die Creme war hingegen sehr süß und hatte einen zarten Hauch von Minze. Den Zwergen, die inzwischen verstummten waren, schmeckte er wohl nicht ganz so sehr, denn sie beschwerten sich, dass es zu süß war. Mathan ließ sich mit seinem Nachtisch Zeit, so konnte er über den verrückten Vorschlag der beiden nachdenken. Als er die Gabel aus der Hand legte, blickten sie ihn erwartungsvoll an.
„Also gut. Ich werde die Königin von diesem Gespräch unterrichten. Wie sie entscheidet, liegt aber nicht bei mir“, sagte er schließlich, „Wahrscheinlich werden auch die Fürsten darüber entscheiden.“
„Nun, das sollte uns genügen“, befand Andak und machte Anstalten sich zu erheben, „Wir ziehen uns dann mal zurück. Hier sollen die Zimmer ganz gut sein.“
Mathan nickte knapp und erhob sich. Grám kletterte aus seiner Ecke und fluchte leise über die Unfähigkeit der Elben kleine Möbel zu bauen. Die beiden lachten und verschwanden feixend auf der Treppe nach oben. Er selbst ging zum Tresen, wo Morlas und Nammanor auf ihn bereits warteten.
„Ich hoffe, es hat gemundet“, erkundigte sich der Wirt und putzte gerade einen Becher. Auf ein freundliches Nicken hin, strahlte er und flötete: „Beehrt uns bald wieder, Heermeister.“
Mathan wollte nach seinem Münzbeutel greifen, doch Nammanor hielt ihn zurück und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Keine Zeit, der Rat tritt gleich zusammen.“
Morlas schien bereits Bescheid zu wissen, denn er winkte zum Abschied. Nityel tauchte zwischen den Gästen im Schankraum auf und geleitete sie zur Tür. Sie hakte sich rasch bei ihm ein. Die Kinn-Lai lächelte ihn freundlich an und neigte sich ein wenig zu ihm, während sie zur Tür gingen. Leise wisperte sie ihm zu, dass sie hoffte, dass Mathan seine Zeit im Lorbeerblatt als Zeichen ihrer Dankbarkeit wertete, für seine Leistung bei der Schlacht um Rómen Tirion. Er wollte erwidern, dass er das nicht annehmen konnte, doch sie schob ihn ohne viel Federlesens aus der Tür und Nammanor drängte sogleich zum Aufbruch. Etwas unwohl ließ der das große Gasthaus hinter sich und folgte dem Ritter in Mitten der Nacht zum Palast. Auf dem Weg erzählte ihm der Krieger, dass morgen früh wohl der Wolfskönig in die Stadt kommen würde und einige Elben gespannt waren, wie ein König der Menschen aussah. Mathan antwortete jedoch nicht und dachte noch immer über das Gespräch mit den Zwergen nach.

Curanthor

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Königlicher Besuch
« Antwort #49 am: 29. Nov 2021, 22:16 »
Nammanor geleitete Mathan durch die nächtlichen Straßen Ost-In-Edhils zurück zu dem Palast. Auf dem Weg begegneten ihnen kaum anderen Elben, nur Patrouillen der Stadtwache, die knapp grüßten und wachsam in die engen Gassen blickten. Auf dem Weg fragte sich Mathan, warum Valena nicht zu dem Gasthaus gekommen war, beruhigte sich aber mit dem Gedanken, dass sie wohl schlief – wie die meisten Menschen um diese Zeit. Eine Tatsache, die ihm manchmal entglitt, wenn er nicht lange Zeit unter Menschen weilte, so wie seine Zeit in Arnor. Er fühlte sich ausgeruht, die paar Stunden im Gasthaus waren ausreichend gewesen, um neue Kraft zu tanken. Trotzdem sehnte sich ein Teil von ihm, in einem Garten zu sitzen und sich zu entspannen. Weit weg von allen Auseinandersetzungen, Streitigkeiten und anderen Konflikten. Sein Blick fiel auf die Banner der Avari in der Vorhalle, als er durch die hohen Tore des Palastes trat. Innerlich straffte er sich, während Nammanor zielstrebig zum Thronsaal marschierte, die Flügel standen ein Stück offen. Der Ritter öffnete die rechte Seite ein Stück. Mathan folgte ihm, seine Stiefel glitten lautlos über den polierten Steinboden. Im Saal erblickte er bekannte Gesichter: Faelivrin, Isanasca und Ivyn unterhielten sich am Fuße des Podests zum Thron. Am Kartentisch, der in der Mitte des Saals stand, warteten die übrigen Fürsten, die Mathan nur flüchtig getroffen hatte. Die Zwillinge Taniel und Túniel musterten ihn nur kurz und blickten wieder auf die Karte – sie kannte er gar nicht. Artana – Istime, wie sie vermehrt genannt wurde, blickte jedoch auf und machte einen Schritt auf ihn zu.
„Heermeister“, begrüßte die Hofmeisterin ihn mit gebotenem Respekt, ganz anders als zuvor in der Vorhalle, „Danke für Euer kommen.“
Kurz meinte er ein Feixen in ihrer Stimme zu hören, doch wurde der Gedanke von Faelivrins Räuspern unterbrochen.
„Danke, dass ihr um diese nächtliche Stunde hergekommen seid. Es gibt einige wichtige Fragen zu klären“, begann seine Tochter leise und schritt zu ihnen an den Tisch, ihr Blick glitt kurz zu Isanasca, dann fuhr sie fort, „Und grundlegende Dinge festzulegen, die unser künftiges Reich definieren werden.“
Istime warf rasch ein, dass auch Vorschläge, Anregungen und Ideen willkommen seien. Mathan bemerkte die flüchtigen Blicke, die ihn dabei zugeworfen wurden. Er hasste Politik, auch wenn es in so kleinem Kreis stattfand. Gerade dann, wenn er die meisten der Anwesenden kannte. Isanasca hatte wohl schon Vorbereitungen getroffen, dass er die Vorschläge der Zwerge weitergeben konnte. Wie überaus scharfsinnig, dachte er sich und nickte unmerklich. Ivyn ergriff das Wort und gab zu bedenken, dass diese Form des Rates ein Überbleibsel aus dem alten Königreich war. „Nun, da wir mehr als nur Manarîn in diesem Königreich haben, sollten wir darüber nachdenken, auch jene eine Stimme zu geben, die bisher nicht hier vertreten sind.“
Túniel gab das erste Mal eine Regung von sich und schüttelte den Kopf. „Und diese Streithähne da draußen in diese Hallen einladen?“, warf der alte Elb ein, „Sie würden doch den ganzen Tag nur da sitzen und diskutieren. Vor allem die Kinn-Lai und die Kindi würden sich an die Kehlen gehen.“
„Dann müssen wir Regeln aufstellen“, hielt Isanasca dagegen und erntete einen missbilligen Blick von den Zwillingen „Oder das Regierungssystem in seinen Grundfesten neu ordnen.“
„Solche Änderung müssen aber gut durchdacht sein“, mahnte Istime, die wohl irgendwo zwischen ‚neu ordnen‘ und ‚Regeln aufstellen‘ schwankte, „Oder was meint Ihr, Majestät?“
Seine Tochter hatte nachdenklich die Arme verschränkt und strich sich über das Kinn. Sie blickte ihn kurz fragend an, doch Mathan schüttelte unmerklich für die anderen Anwesenden nur den Kopf. Kurz meinte er Ivyns Stimme in seinen Gedanken zu hören, sie sagte, dass es noch zu früh dafür war. Rasch blickte er zu ihr, doch sie fragte gerade die Hofmeisterin Istime über den Baufortschritt aus. So erfuhr Mathan, dass die feindgewandten Seiten der Stadt, also der Osten und wohl auch der Norden soweit gesichert waren. „Der Westen macht mir noch Sorgen, die Mauern sind breit, aber nicht hoch genug, die Torburg halb-fertig – und Lissailin…“, schloss Istime ihren Bericht und blickte halb fragend zu Faelivrin.
Seine Tochter seufzte leise und sagte: „Lissailin liegt verborgen… allerdings wäre es einen Angriff schutzlos ausgeliefert.“ Sie wandte sich an ihn, „Vater, Ihr wisst von den verborgenen Tal. Das Nebeltal, von dem Ihr mir in meiner Kindheit erzählt habt.“
Mathan wusste sofort wovon sie sprach. Sein Vater hatte ihm den Ort gezeigt, da er als jünger war. Es war ein beliebter Rückzugsort der Noldor gewesen. Ähnlich wie Imladris geschützt, aber nicht in einer Schlucht, sondern in einem Tal gelegen, umgeben von einigen Bergen und einem kleinen See. Er nickte und vergewisserte sich, ob sie den verborgenen Pfad unter den Bergen gefunden hatten. Seine Tochter nickte knapp. „Nun, dann würde es Saruman schwer fallen die Stadt zu finden. Außerdem müsste er dafür durch die Talath Neldor von Norden oder Nord-Westen anrücken – und wäre meilenweit zu erkennen.“
„Warum nicht vom Westen her?“, erkundigte sich Taniel rasch.
„Weil zwischen den Bergen um Lissailin und den Bruinen nur eine felsige Einöde gibt. Die alten Verteidigungsgräben erschweren ein Durchkommen, da sich durch die Jahrhunderte Regen, Wind und Wetter sie sich tief sich ins Land gegraben haben, dass es unmöglich ist sie mit einer Armee zu durchqueren“, erklärte Mathan und deutete dabei auf die Karte. Sein Finger wanderte weiter nach Süden, „Und die Schwanenfleet würde nur ein Wahnsinniger durchqueren – keine Heere.“ Mathan tippte auf die Mitte von Nunta Hollinor, in dessen Mitte die Ebene der Birken lag. „Talath Neldor. Hier reichen ein paar Wachposten mit schnellen Reitern und jeder Überraschungsangriff kann abgefangen werden. Wenn wir sie früh genug entdecken, kann man sogar aus der Hauptstadt schnell genug eingreifen.“
„Vorausgesetzt“, hob Faelivrin an und legte ihre Hand flach auf den Kartentisch, „Die Lage der Stadt wäre dem Feind bekannt – was nicht der Fall ist.“
„Es würde nicht schaden, trotzdem vorsichtig zu sein“, mahnte Ivyn leise und wandte sich wieder ab. Seine Tochter schien unzufrieden mit dem Einwurf. „Ich bin Beraterin“, sagte die Erste ohne hinzusehen, als ob sie Faelivrins Unmut gespürt hatte, „Also berate ich. Nicht mehr, nicht weniger. Es liegt an der Königin Entscheidungen zu treffen.“
„Gut“, seufzte seine Tochter und bat einen der Zwillinge darum die Wachposten einzuteilen, wenn auch mit geringer Stückzahl. „Da das geklärt ist, würde ich nun gerne von dem Vorschlag unserer zwergischen Gäste hören“, wandte sie sich nun an Mathan. 
Er hatte sich schon überlegt, wie man das Thema so schonend wie möglich ansprechen konnte, doch seine Tochter hatte ihm mit ihrer Aufforderung den Boden unter den Füßen weggezogen. Mathan räusperte sich und gab in knappen Worten wieder, was Grám und Andak vorgeschlagen hatten. Niemand unterbrach ihn und bis auf gelegentlich skeptische Blicke erhob sich kein Protest, als er endete.
„Also sollen wir die Sklavenhändler über das Ohr hauen und die Gefangenen befreien – mit dem Ziel so viele wie möglich zum Bleiben zu bewegen“, fasste Istime zusammen und grinste auf einmal, „Die Idee gefällt mir!“
„Und das mit unserer Flotte, die wir dann wieder bemannen müssten“, wandte Isanasca ein und biss sich nachdenklich auf den Lippen, „Würde nicht alleine die Tatsache, dass wir Sklavenhändler einladen für Anstoß erregen?“
„Für eine List? Sicherlich nicht. Wir haben doch nicht vor mit ihnen zu handeln, sondern sie auszurauben“, stellte Istime klar und klopfte auf den Tisch, „Doch dafür müssten die Zwerge auch liefern.“
„Entwicklungspläne“, sagte Ivyn nun nachdenklich, „Für eine Wasserstraße von der Mündung des Gwathló bis zur Hauptstadt. Ich hab von einigen Cuind erfahren, dass sich viele für eine Siedlung in den Schwanefleet interessieren… wenn sie sich dort niederlassen wäre das gar nicht so abwegig.“
Alle anwesenden Elben starrten die Erste mehr oder weniger verblüfft an. Faelivrin hakte nach, ob sie tatsächlich das in Erwägung ziehen sollten. Ivyn nickte bekräftigend und sagte, dass Handelswege unglaublich wertvoll sind. „Tharbad würde wieder zu einem wichtigen Umschlagsplatz werden – falls wir Lond Daer nicht dafür heranziehen. Davon würden auch die Dunländer profitieren. Und falls Amarin keinen Unsinn erzählt hat, fuhr man in den alten Tagen mit den kleinen Schiffen auch bis in die Schwanenfleet.“
Mathan nickte, fühlte sich aber ein wenig überflüssig, während die Fürsten diskutierten und überlegten, ob solche ambitionierten Pläne überhaupt möglich waren. Dazu kam immer wieder die Frage auf, ob sie überhaupt den Platz für so viele Menschen hätten – und Bedenken, ob sich einige Elben nicht eingeschränkt fühlten. Sie alle wussten, dass manche Avari nicht gut auf Menschen zu sprechen waren, sie im eigenen Land siedeln zu lassen, würde bei einigen sicherlich auf Abneigung stoßen.

Nach mehreren Stunden kündigte sich der Tag mit blassen Sonnenstrahlen an. Faelivrin löste den Rat schließlich auf und vertagte die Angelegenheit auf später. Sie waren zu keinem klaren Ergebnis gekommen, dafür hatten die Zwerge zu wenig preisgegeben, was Mathan mehr als einmal betonen musste. Die Zwillinge verließen den Saal als Erste, dann Isanasca, die einen Trupp Soldaten trainieren ging. Ivyn wollte nach Halarîn sehen und dann zu Adrienne ins Haus der Ruhe gehen. Die Erste schritt bedächtig von dannen und hielt kurz inne, nur um zu verkünden, dass bald Besuch in der Stadt eintreffen würde. Faelivrin seufzte und murmelte einen Dank. Auf seinen Blick hin, sagte seine Tochter: „König Aéd wird bald eintreffen. Willst du bei den Besprechungen dabei sein?““
Mathan gähnte zur Antwort und grinste: „Eine Besprechung reicht mir, aber ich werde warten, bis er eintrifft.“ Er klopfte ihr auf die Schultern und massierte ihren Nacken, „Erst dann lasse ich dich mit den ungewaschenen, wilden Dunländern alleine.“
Faelivrin lachte leise, „Nenn sie nicht so“, ermahnte sie ihn amüsiert, „Und alleine werde ich nicht mit ihnen sein. Zuvor muss ich mich aber erfrischen.“
Mathan nickte und sagte, dass er ebenfalls endlich aus seiner Rüstung raus wollte, die er seit der Schlacht trug, auch wenn er das Blut darauf schon längst entfernt hatte. Seine Tochter nickte und nickte ihm dankbar für die kurze Massage zu. Sie wandte sich an eine Elbe der Palastgarde – das erkannte er an der Antwort der Gardistin und gab Befehl für eine Ehrenformation mitsamt Spalier. Die Elbe verneigte sich und eilte mit wehendem schwarzem Mantel davon. Er blieb alleine im Thronsaal zurück, während seine Tochter in ihre eigenen Gemächer ging. Sein Blick wanderte noch einmal über die Karte, dann über die Skizzen von Bauwerken. Es waren Planungen für einen zweiten Verteidigungsring der Stadt. Einige Notizen waren an den Rändern der Zeichnungen gekritzelt, die er kaum entziffern konnte. Mathan seufzte und fasste sie zu einem geordneten Stapel zusammen. Es würde Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern Ost-In-Edhil zu befestigen. Und selbst dann, wäre es kein Bollwerk, das lange Belagerungen standhalten konnte – zumindest war es sein bisheriger Eindruck, ihm war klar, dass er sich auch täuschen konnte.
Aus der Vorhalle hörte er geschäftiges Treiben, offensichtlich die Palastgarde, die sich auf dem Platz und auf der Halle hinauf zum Tor postierte.
„Ah, Heermeister“, begrüßte ihn die Stimme Nammanors, woraufhin Mathan von den Planungen aufblickte. Der Ritter trat in den Thronsaal ein. Er trug eine polierte, Rüstung, die mit allerlei Goldätzungen verziert war. Sie bildeten verschlungene Muster an den Rändern. Ein wallender, dunkelblauer Mantel hing von seinen Schultern und endete knapp über den Boden. Eine, mit kleinen Edelsteinen verzierte Schwertscheide hing an seiner Seite. Sein Gesicht war wie gewohnt von seinem Helm verdeckt, diesmal trug er jedoch einen Flügelhelm, dessen Wangenklappen und übrige Fertigung an Sonnenstrahlen erinnerte. Der blaue Rosshaarbusch war mit roten Strähnen ergänzt. Nammanor bemerkte seinen ausführlichen Blick und zuckte leicht mit den Schultern, während er sich darüber beschwerte, dass er es hasste sich so herauszuputzen. Mathan antwortete mit einem Schmunzeln, dass es ihm ganz gut stand. Der Ritter gab eine Mischung aus einem amüsierten Glucksen und einem abwertenden Grunzen von sich. „Ich mag es auch nicht sonderlich“, fügte Mathan hinzu und schaute Nammanor dabei zu, wie er die Karte zusammenrollte und die beschriebenen Pergamente sich unter die Arme klemmte.
„Nun, wir haben auch nicht oft besuch, also ist es nicht allzu schlimm“, lenkte der Ritter ein und nickte ihm noch einmal zu, ehe er in den Ostflügel ging. Offensichtlich brachte er die Pergamente zu Istime. Kurz fragte Mathan sich, ob sie bereits schon Hofschreiber hatten, doch das war unwahrscheinlich. Er blieb im Thronsaal und beschloss zu warten, bis Faelivrin zurückkehrte. Seine Rüstung ablegen konnte er auch später. Mathan beobachtete, wie einige Elben den Thronsaal für die Ankunft Aéds herrichteten. Der Kartentisch wurde an eine Seite geschoben, ein niedrigerer Tisch hereingetragen, dazu einige gepolsterte Stühle, die ziemlich neu aussahen. Man brachte leichte Speisen auf dem Tisch auf – Waldfrüchte, die im Winter ziemlich schwer zu finden waren, etwas Käse, helles Brot und Trockenfleisch. Zum Schluss wurde ein kleines Fass unter den Tisch gestellt. Eine Ehrengarde bestehend aus der Palastgarde und Faelivrins persönlicher Leibwache – erkennbar an den roten Haarbüschen auf den Helmen strömte in den Palast. Sie trugen eher zeremonielle Waffen, altmodische Gleven, gebogene Schwerter und einen Bronzeschild mit dem Wappen der Manarîn bespannt– der untergehenden Sonne des Westmeeres. Die Garde postierte sich am Eingang, an jeder Säule der Vorhalle und verteilte sich im Saal. Die Spitze ihrer Gleven waren auf den Boden gerichtet. Mathan schmunzelte und strich seinen roten Mantel gerade. Faelivrin hatte offenbar seinen Erzählungen sehr aufmerksam zugehört, denn die Waffen gen Boden zu richten, war ein Zeichen für Vertrauen, aber auch ein Zeugnis an den Gast, dass man ihn in jedem Falle beschützen kann – oder sich selbst.


Nach einer Weile, hörte man lauter werdendes Gemurmel von den offenen Toren. Auf dem Vorplatz hatten sich ein paar hundert neugierige Elben versammelt. Faelivrins Garde hatte eine breite Gasse gebildet, geradewegs hinauf zu den Stufen des Palasts führend. Mathan war unbewusst aus dem Thronsaal hinausgegangen, um besser auf den großen Platz zu blicken. Von links von ertönten Schritte und er hörte Nammanors Stimme, der sich mit Istime unterhaltend aus dem Ostflügel näherte. Die beiden verstummten, als sie neben ihm an einer Säule zum Stehen kamen. Er warf ihnen einen raschen Blick zu, doch sie wirkten ziemlich steif – vielleicht auch ein wenig angespannt. Mathans scharfe Augen erblickten Bewegung auf der gepflasterten Straße, die vom großen Marktplatz zum Palastvorplatz führte. Die Schulter seiner Tochter schob sich plötzlich in seinen rechten Augenwinkel. Faelivrin war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Sie warf ihm einen raschen Blick zu und hob kaum merklich die Mundwinkel. Sie trug ein weißes, weit ausstaffiertes Kleid mit hohen Kragen und weiten Ärmeln. Ein goldenes Diadem, in dem ein tropfenförmiger Rubin in der Mitte einer stilisierten Sonne eingelassen war, ruhte auf ihrem Haupt. Mathan machte Platz und trat hinter seiner Tochter aus dem großen Tor, hinaus vor die Stufen. Er machte einen Schritt zur Seite, sodass Isanasca neben ihrer Mutter stehen konnte, sie trug noch immer ihre volle Rüstung und zwei ihrer Schwerter, darunter auch Fâncrist. Ein silberner Haarreif hielt ihre langen, blonden Haare aus dem Gesicht. Er spürte Ivyns Anwesenheit, konnte sie aber nicht sehen. Selbst Luscora stand im Schatten einer der Säulen des Vorbaus – hinter einem Palastgardisten versteckt. Mathan unterdrückte ein stolzes Schmunzeln und blickte wieder nach vorn. Seine Familie war hier. Gerade als er an seine Geliebte denken wollte, schob sich eine warme, schmale Hand in die Seine. Er musste sofort lächeln. Mathan drückte sie sanft und Halarîn legte ihren Kopf an seine Schulter. Ein rascher Seitenblick verriet ihm, dass seine Frau mit der Hilfe einer Zofe gekommen war, die sich gerade knapp verneigte. Er schenkte ihr ein dankbares Lächeln und strich seiner Frau über das blasse Gesicht.
Halarîn lächelte flüchtig und nickte nach vorn. „Da kommt er.“
Faelivrins Palastgarde begleitete den Tross Dunländer im Laufschritt. König Aéd saß auf einem großen Fuhrwerk – einem massiven Streitwagen, der von wahrhaft großen Pferden gezogen wurde. Mannshoch waren sie und sorgten für aufgeregtes Getuschel unter den Elben. Der Wolfskönig blickte sich neugierig um, grüßte hier und da einige Elben, die eine Begrüßung riefen. Es kam zwar selten vor, aber einige Avari, meist Manarîn, hießen ihn willkommen. Als er auf dem Palastvorplatz einfuhr, heftete sich sein Blick sofort auf die breite Treppe und dem Ehrenspalier davor.
„Das ist neu“, murmelte Halarîn beeindruckt und richtete sich zu voller Größe auf. Ihre Hand blieb fest in seiner, offenbar um das Gleichgewicht zu behalten. Er packte fest zu.
Der Wolfskönig saß selber auf dem Kutschbock und fuhr langsam, sodass seine Wolfskrieger hinter ihm Schritt hielten konnten. Rechts und links von ihnen liefen etwa fünfzig Palastgardisten, die auf dem langen Weg quer durch die Stadt postiert waren und sich dem Tross angeschlossen hatten, wenn er sie passierte, um Aéd die Ehre einer Eskorte zu erweisen. Mathan konnte sehen, dass der Wolfskönig ein klein wenig nervös wirkte und ein wenig nachdenklich. Der Eindruck verflog aber, als er gekonnt das Gespannt zum Stehen brachte. Seine Krieger, von denen acht auf den massigen Pferden ritten, kamen ebenfalls geordnet zum Stehen, oder sprangen von den Pferden. König Aéd stieg als letzter ab und richtete sich zu voller Größe auf. Er trug einen neuen Helm aus Stahl, auf dem ein weißer Wolfskopf aufgesetzt war. Auf seinen Schultern ruhte ein ebenfalls weißer Wolfspelz. Sein Gesicht hatte einen ernsten Zug angenommen, als er das Spalier entlangschritt. Seine Augen glitten über die Stangenwaffen, die mit der Spitze zum Boden zeigten. Hinter ihm folgten seine Wolfskrieger. Dutzende Elbenaugen lagen auf ihnen, sodass einige von ihnen ziemlich nervös wirkten. Wahrscheinlich hatten sie noch nie so viele aus seinem Volk gesehen, dachte sich Mathan und blickte wieder zu Aéd, der vollkommen Ruhe und Autorität ausstrahlte. Der Wolfskönig stoppte an der Treppe zum Palast. Eine gebannte Stille lag auf dem Platz. Faelivrin blickte nur einen Wimpernschlag auf ihre Gäste hinab, dann setzte sie ihren Fuß zuerst auf die Stufe. Getuschel machte sie breit. Mathan hörte, wie man sich weiter hinten auf dem Platz erzählte, dass die Königin der Manarîn den ersten Schritt gemacht hatte. König Aéd reagierte sofort  trat ebenfalls auf die Treppe. Das Tuscheln verstummte augenblicklich. Die beiden Herrscher nahmen nun jeweils gleichzeitig eine Stufe, wobei Faelivrin etwas nach links schwenkte. Aéd wusste, was sie vorhatte spiegelte die Bewegung. Beide schritten betont langsam jede einzelne Stufe, sodass man schon fast mitfieberte, dass sie sich in der Mitte traten. Mathan merkte, dass Halarîn seine Hand fester griff. Schließlich war es soweit, als beide ihren Fuß auf die mittlere Stufe der Treppe setzten. Es war so unterschiedlich wie es nur sein kann. Aéds schwerer Stiefel aus Wildleder und Pelzen, gegen Faelivrins leichten Schuh aus fein gewebten Elbenstoff und einer vierfachen Lage weichen Leders als Sohle. Mathan musste ein Schmunzeln unterdrücken, als die beiden sich einfach nur anblickten. Er wusste, dass seine Tochter ein sehr gutes Gespür für Situationen hatte, aber Aéd hätte er es nicht zugetraut.
„Willkommen in Ost-In-Edhil, Wolfskönig Aéd Forathson, Herrscher des Dunlands und Häuptling vom Stamm des Schildes“, begrüßte ihn Faelivrin ihn schließlich mit sanfter Stimme. Sie hatte leise gesprochen, doch war ihre Stimme weithin zu hören. Unter leisem Gemurmel der Umstehenden streckte sie ihm eine Hand entgegen, „Ich, Königin Faelivrin Nénharma, danke Euch, dass Ihr unsere Anfrage angenommen, und die Reise nach Eregion auf Euch genommen habt.“
Aéd ergriff ihre Hand und sprach laut und deutlich: „Es ist eine Ehre, dass Ihr Euch an uns gewendet habt. Ich hoffe, dass dies ein neues Kapitel in der Freundschaft zwischen unseren Völkern aufschlägt und unsere Beziehungen als gute Nachbarn festigt.“
Das Gemurmel verstummte, als Aéd endete und Mathan spürte, dass die anfängliche Abneigung vieler Elben abnahm. 
Faelivrin schenkte ihm ein warmes, aber dennoch charismatisches Lächeln, „So wie wir auf einer Stufe stehen, so sehe ich, dass Eure Worte vom Herzen kommen und ich verspreche, dass wir auch künftig als Freunde auf einer Stufe stehen, König Aéd. Denn nur Freunde kommen zu einem in das Haus, wenn ein dunkler Sturm droht – so seit mir als Freund in meinem Hause willkommen.“
Faelivrins Garden nahm augenblicklich Haltung an und stieß ihre Waffen einmal gegen die Schilde. Das Donnern hallte einmal laut über den Platz. Das Spalier wandte sich mit dem Gesicht zum Palast. Faelivrin hielt Aéds Hand noch immer, während Isansca ihm bedeutete den Palast zu betreten. Gemeinsam schritten die beiden Herrscher die Treppe hoch, Hand in Hand als Zeichen der Freundschaft. Als sie an ihm vorüberkamen, nickte Mathan Aéd zum Gruß, als sein Blick ihn und Halarîn kurz streifte. Der Wolfskönig zwinkerte ihm rasch zu, dann war an ihm vorbei. Die schaulustigen Elben auf den Platz hatten sich inzwischen so weit verstreut, während die restliche Garde in geordneten Reihen die Treppe hinaufströmte. Ein Dutzend Elben machten sich daran die Pferde abzusatteln und zu versorgen.
Halarîn seufzte neben ihm erleichtert auf. „Endlich ist es vorbei. Ich verstehe dieses zeremonielle Gehabe nicht, aber es war auf eine merkwürdige Weise schön – wenn auch etwas spannungsgeladen.“
Mathan geleitete seine Frau zurück in die Vorhalle. Er schaute auf ein Dutzend Rücken, die in den großen Thronsaal gingen, dann sah er Halarîn an, auf deren Gesicht kleine Schweißperlen standen.
„Du solltest dich schonen“, sagte er etwas leise und überging ihren aufkommenden Protest, „Ich weiß, du bist nicht krank, aber du siehst auch nicht gesund aus.“
Halarîn schmollte ein wenig, winkte aber dann die Zofe heran, die sie sogleich stütze. „Dafür werde ich mir was einfallen“, versprach sie ihm mit einem verheißungsvollen Schmunzeln und ließ sich zurück in ihr Zimmer führen. Mathan unterdrückte ein Grinsen, da er ihre Art sich für herumkommandieren zu rächen schon kannte. Sie wusste aber, dass er es nur gut meinte – und vielleicht etwas übervorsichtig war. Mit langen Schritten folgte er ihr und der Zofe, die überrascht zurückblickte und Halarîn etwas ins Ohr flüsterte.
„Oh, dann kann er draußen schlafen“, sagte sie laut – auch wenn man hören konnte dass sie ein Lachen unterdrückte. Mathan grinste und stellte rasch einen Fuß in die Tür ihres Gemachs, bevor sie zufallen konnte.

Fine

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Auenländische Küche
« Antwort #50 am: 19. Jan 2022, 14:07 »
Weder von Aéd noch von Faelivrin gab es ein Zeichen, seitdem der Wolfskönig den Palast der Herrin der Manarîn betreten hatte - vermutlich dauerte der königliche Empfang den ganzen Tag. Kerry, die gehofft hatte, noch einmal ausführlicher mit Aéd sprechen zu können, war enttäuscht. Sie vertrieb sich die Zeit mit Pippin, der ihr Geschichten aus dem Auenland erzählte und ihr einige hübsche Eckchen in der Stadt zeigte, die er bei seinen bisherigen Streifzügen entdeckt hatte. Am frühen Nachmittag kamen die beiden wieder in den westlichen Teil der Stadt, und der Hobbit bugsierte Kerry in Richtung des Lorbeerblatts. Pippin hatte angedeutet, dass ihm eine gute Idee gekommen war, und damit hatte er Kerrys Neugierde geweckt.

Morlas, der Wirt, begrüßte sie mit einem großen Hallo. Er schien wie immer bei bester Laune zu sein. Als er Pippins Vorschlag hörte, klatschte der Elb begeistert in die Hände.
"Rezepte aus deiner Heimat, Meister Peregrin? Nur her damit, nur her damit! Wir beiden werden jetzt die Köpfe zusammenstecken, und heute Abend bringen wir die ersten Neuheiten auf die Speisekarte. Ich bin mir sicher, die Gäste werden es lieben. Man sagt, dass die Halblinge hervorragende Feinschmecker sind."
"Das sind sie," bestätigte Pippin zufrieden. "Ich selbst bin zwar kein besonders begabter Koch, aber..."
Morlas winkte ab. "Es genügt, wenn du mir die Geschmäcker und Eigenheiten der Gerichte des Auenlandes beschreibst und mir beim Zubereiten ein wenig zur Hand gehst. Oh, und du, vintári;" er ergriff Kerrys Hand und zog sie einige Schritte mit sich, "Du kannst dich ebenfalls nützlich machen, wenn du möchtest - es lohnt sich, denn du darfst von allem als Erste probieren!"
"Nenn' mich nicht so," sagte Kerry etwas verstimmt. Sie wollte nicht als Herrin oder Prinzessin bezeichnet werden. Im Vergleich zu den würdevollen Elben im Palast kam sie sich klein und unbedeutend vor. "Ich heiße doch Kerry."
"Oh, deinen Namen habe ich nicht vergessen," sagte Morlas amüsiert. "Wusstest du nicht, dass es der Elben Art ist, den Dingen neue Namen zu geben?"
"Wenn dir mein Name nicht gefällt, dann nenne mich eben Ténawen, oder Morilië," hielt Kerry dagegen.
"Schluss damit!" mischte sich Pippin ein. "Mir wurde auenländische Küche versprochen. Du bist doch ein Ehrenmann, nicht wahr, Morlas? Fangen wir an!"
Morlas lachte und führte sie in seine Küche. Schon bald waren sie zu dritt bei der Arbeit.

Kerry staunte darüber, wie viele Gerichte an diesem Nachmittag ausprobiert wurden, und wie geschickt Morlas die ausführlichen Beschreibungen Pippins in die Tat umsetzen konnte. Kurz nachdem sie mit der Arbeit begonnen hatte, war eine schwarzhaarige Elbin zu ihnen gestoßen, die Morlas knapp als seine Gemahlin Nityel vorgestellt hatte. Zu viert war es beinahe zu eng in der kleinen Küche, doch irgendwie gelang es ihnen, Morlas nicht bei seinem Werk zu behindern. Kerry war beeindruckt davon, wie mühelos dem Schankwirt die Umsetzung gelang, selbst von Dingen, die er laut eigener Aussage noch nie gesehen hatte. Die Krönung war eine feine auenländische Torte (in Hobbit-Größe), die mit Himbeeren belegt war und deren Duft Kerry beinahe um den Verstand brachte. Sie vergaß für einen Augenblick sogar ihre ständige Sorge um Helluin und Oronêl, die irgendwo im Norden Eregions in lebensgefährlicher Mission unterwegs waren.

"So," sagte Morlas schließlich, als die ersten goldenen Sonnenstrahlen der Abendröte durchs Fenster fielen. Der Schankwirt wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Ich denke, da waren wir doch recht erfolgreich, nicht wahr?"
"Unbedingt," stimmte Pippin ihm mit vollem Mund zu. Die Himbeertorte war zur Hälfte verschwunden; der Hobbit rieb sich zufrieden den Bauch.
Nityel war bereits in den Schankraum gegangen, wo die ersten Gäste eingetroffen waren. Als sie zurückkehrte, blickte sie recht erstaunt drein. "Es ist voller als wir es gewohnt sind," erklärte die dunkelhaarige Elbin. "Hast du herumerzählt, dass es heute etwas Besonderes auf der Speisekarte geben soll?" fragte sie ihren Gatten.
Morlas blickte unschuldig auf seine Finger. "Oh, nun, du weißt doch, die Leute reden eben. Vielleicht habe ich heute einigen von ihnen wissen lassen, dass es heute echte auenländische Küche geben wird... vielleicht gibt es aber auch eine vollkommen andere Erklärung. Viele der Manarîn sind weitsichtig, nicht wahr? Ob einer von ihnen gewusst hat, dass sich unser kleines Küchenabenteuer heute ereigen wird?"
Nityel zog die dunklen Brauen zusammen, ein gefährlicher Blick trat in ihre Miene. Kerry und Pippin duckten sich instinktiv; sie spürten, dass mit dieser Elbin nicht zu spaßen war. Doch Morlas ließ sich nicht einschüchtern. "Wir dürfen die Gäste nicht warten lassen," sagte er ungerührt. "Wenn es jetzt schon so voll ist, werden sie uns in spätestens einer Stunde die Bude einrennen."
"Dann brauchen wir mehr Schankmaiden, alleine schaffe ich das nicht," sagte Nityel und ihr Blick fiel auf Kerry.
Kerry brauchte einen Augenblick um zu verstehen, doch dann nickte sie. "Ich weiß, wie das geht," sagte sie. "Ich helfe gerne!"
"Aber zuerst musst du dich umziehen, Kleines," sagte Nityel und deutete auf den teuren Stoff, den Kerry trug. "Meisterin Nivim in Ehren, aber das Kleid wäre viel zu schade, um mit Morlas' Spielereien bekleckert zu werden. Im Nebenraum der Küche solltest du etwas Passendes finden."

Kerry fand nach kurzer Suche einige Kleider, die gewöhnlicher aussahen als das feine Gewand, das Nivim für sie gemacht hatte. Der Stoff war dünner, und etwas rauer; das Kleid, das Kerry wählte, war tiefblau und hatte kurze Ärmel, die oberhalb der Ellbogen endeten. Es war etwas tiefer ausgeschnitten als es ihr recht war, doch Kerry hatte jetzt keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen. Sie band sich eine hellbraune Schürze um und begab sich in den Schankraum. Dort war bereits eine Menge los. Eine Gruppe Zwerge saß in den Sitznischen an den Fenstern und rief nach Morlas, der mit wippenden Schritten herbeigeeilt kam. Elben standen nahe des Eingangs und am Tresen, viele unterhielten sich in einem Avarin-Dialekt mit Nityel, wovon Kerry kaum ein Wort verstand. Andere Gäste saßen an einem der länglichen Tische im hinteren Teil des Schankraumes, wo ein großer Ofen in Gang gebracht worden war, der die Kälte von draußen vertrieb. Da hob ein Elb die Hand und winkte Kerry zu sich, und sogleich schaltete sie innerlich in einen geschäftigen Zustand um, den sie sich nach all der Zeit gar nicht mehr zugetraut hatte. Sie hatte in Bree ein Jahr gekellnert, und der Fuchs war eine viel schlimmere Spelunke als das Lorbeerblatt gewesen, mit unangenehmen, mürrischen Gästen. Die meisten Elben waren freundlich und geduldig, aber beinahe alle von ihnen waren zu Späßen auf Kerrys Kosten aufgelegt. Ein jeder schien zu wissen, in welcher Verbindung sie zur Königin stand, und vor allem von den Avari musste sich Kerry einige bissige Sprüche gefallen lassen. Dennoch war niemand offen unfreundlich und jeder Gast bedankte sich bei ihr, wenn sie die bestellten Speisen und Getränke brachte. Selbst die Zwerge waren bei guter Laune und einer raunte Kerry zu, sie sei der hübscheste Anblick, den er seit seinem neulichen Abstecher in die Kristallminen von Gundzanar gesehen hätte. Sie wurde rot und machte einen artigen Knicks, dann riefen die nächsten Gäste nach ihr.

Es wurde ein fröhlicher, wenn auch anstrengender Abend. Kerry kam mächtig ins Schwitzen, aber irgendwie machte ihr die Arbeit wirklich Spaß. Sie fühlte sich zugehörig, als wäre ihr das Blatt wie zu einer neuen Heimat geworden. In all dem Trubel dachte sie weder an Aéd noch an Helluin. Es tat ihr gut, ihre Sorgen zumindest für einige Zeit zu vergessen. Und als schließlich einige Gäste - es waren Hwenti, die mit Morlas verwandt zu sein schienen - sie fragten, ob sie nun öfter hier in als Schankmaid arbeiten wollte, bejahte Kerry die Frage, ehe sie darüber nachgedacht hatte. Sie hielt für einen Moment inne, änderte aber nicht ihre Meinung. Sie war gerne hier, wie sie feststellte. Und als der Schankraum sich nach und nach leerte, lehnte sie sich erschöpft, aber glücklich gegen den Tresen und sah Morlas an, der gerade über das glatte Holz strich und einige Tropfen dort verschütteten Weins wegwischte.
"Ich... würde das gerne wieder tun," sagte sie sachte.
Morlas sah sie nicht an, aber er lächelte. "Dann müssen wir über deine Bezahlung sprechen," merkte er an.
"Ich brauche keine," sagte Kerry sofort und stellte sich ihm gegenüber. Er hob den Blick und schaute ihr in die Augen. Seine linke Braue wanderte nach oben. Kerry nickte zur Bekräftigung. "Ich mag diesen Ort," fuhr sie fort. "Sehr sogar. Ich möchte Nityel und dir helfen, ihn so wundervoll zu erhalten, wie er ist."
Nityel, die besonders scharfe Ohren zu haben schien, kam aus der Küche und musterte Kerry, dann lächelte sie. Kerry sah sie in diesem Augenblick zum ersten Mal mit einer solchen Miene, denn die Schwarzhaarige war als Einzige den Abend über meist ernst geblieben. "Wir würden uns freuen, dich hier arbeiten zu lassen," sagte Nityel.
Morlas nickte, dann lachte er schallend. "Und ob!" stimmte er seiner Gattin zu. "Aber um einen guten Lohn kommst du nicht herum, ob du willst oder nicht." Er zwinkerte ihr zu. "Wir werden uns etwas Besonderes für dich ausdenken."
Kerry, die glücklich und müde zugleich war, um genauer nachzuhaken, nickte einfach. Sie verabschiedete sich von den beiden Elben und Pippin begleitete sie zu ihrer Unterkunft zurück.

Kerry fiel rasch in einen tiefen Schlaf, nachdem es ihr gelungen war, sich in ihr Bett zu legen, ohne Haleth oder Elea dabei aufzuwecken, denn die beiden Dúnedain schliefen bereits. Sie hatte einen lebhaften Traum, an den sie sich so gut erinnern konnte, als wäre er Wirklichkeit gewesen. Kerry fand sich im belagerten Fornost wieder, auf dem Höhepunkt der Kämpfe. Der große Turm, auf dem sie gestanden hatte, war eingestürzt und nun klaffte eine mit Bruchstücken und Felsen übersäte Lücke in der Verteidigungslinie. Schon näherten sich die ersten Gestalten aus dem Nebel im Süden. Eine schlanke, hochgewachsene Silhouette mit einer langen Klinge in der Hand schälte sich hervor, und für einen Augenblick fiel vor Erleichterung die Anspannung von Kerry ab. Oronêl war hier, und würde die Turmruine verteidigen.
Sie sah genauer hin und erkannte zu ihrem Schrecken, dass sie sich getäuscht hatte. Dies war nicht ihre Erinnerung. Es war nicht Oronêl, auch wenn die spitzen Ohren verrieten, dass es sich um einen Elbenkrieger handelte. Kerry fuhr es eiskalt den Rücken hinunter, als sie das bösartige Antlitz Laedors erkannte - Oronêls altem Feind, der sein Ende in den Gruften unter Carn Dûm gefunden hatte. Sie spürte die Angst in sich aufsteigen, aber da war noch etwas anderes. Kerry stellte fest, dass sie sich an alles erinnern konnte, was bis zu ihrer Rückkehr nach Eregion geschehen war. Sie war nicht mehr das wehrlose Mädchen, das fehl am Platz in der Belagerung von Fornost gewesen war. Sie hatte Ozeane und Flüsse bereist, Gebirge und Wälder durchquert und mehrere Schlachten überstanden. Mathans Lektionen, die sie widerwillig an Bord der Naicanga erhalten hatte, kamen ihr wieder in den Sinn, und Kerry hob das Schwert eines gefallenen Waldläufers auf. Sie war von Entschlossenheit erfüllt. Sie würde Laedor aufhalten, selbst wenn es ihr Leben kostete.
Wie ein tödlicher Blitz raste der Feind auf sie zu. Ihr Schwert glühte auf, als sie es zur Parade erhob, und Funken stieben davon, als Laedors Klinge abprallte. Kerry drehte sich um die eigene Achse, den Schwung in einen zielsicheren Schlag lenkend, der Laedors Schultern von seinem Kopf befreien sollte. Doch als die leuchtende Klinge auf ihn zuschnellte, veränderte sich ihr Gegner. Die Augen strahlten eisblau auf, die Züge verzerrten sich zu einer ungetümen Fratze, die Gliedmaßen verrenkten sich unmenschlich und Flügel breiteten sich hinter seinem Rücken aus. Ein eiskaltes Monster ragte drohend über Kerry auf und ihr Schwert fiel nutzlos zu Boden. Dann packte sie eine Hand am Arm und riss sie fort, in die Dunkelheit hinein, die sich rings um den Turm ausgebreitet hatte. Sie hörte Farelyës Stimme rufen: "Es ist noch nicht an der Zeit!", dann wachte sie schwer atmend auf.

Es dauerte lange, bis Kerry wieder Ruhe fand und weiterschlafen konnte. Sie wusste weder, was ihr Traum bedeuten könnte, noch ob er überhaupt etwas zu bedeuten hatte...
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Fine

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Farelyës Spur
« Antwort #51 am: 4. Mai 2022, 13:28 »
Die Sonne war noch nicht ganz über die in der Ferne aufragenden Gipfel des Nebelgebirges geklettert, als Kerry aus dem Schlaf hochfuhr. Eine Hand hatte ihren Arm berührt und ein eiskalter Blitz schoss Kerry durch die Glieder. Sie blickte sich um, zunächst etwas disorientiert. Dann erkannte sie Farelyës scharf geschwungene Gesichtszüge, die auf Kerry herabblickten. In diesem Moment bemerkte Kerry, dass alles Kindliche aus dem Gesicht der Cuventai-Elbin gewichen war. Die Augen gaben ein silbriges Leuchten von sich, das wie von fernen Sternen durch einen vom Zwielicht verhüllten Nachthimmel hervorsickerte. Sofort musste Kerry an ihren Traum denken, der sie in der vergangenen Nacht gequält hatte.
"Ich bin nicht wegen deines Traumes hier," sagte Farelyë, als hätte sie Kerrys Gedanken gelesen.
Kerry rieb sich die Augen, dann suchte sie Farelyës Blick. "Und weshalb weckst du mich dann um so eine unangebrachte Uhrzeit? Wie spät ist es?"
"Spielt das denn eine Rolle?" fragte Farelyë ruhig. "Der Feind rückt nahe, und mit ihm der drohende Untergang dieser Stadt und all jener, die hinter ihren Mauern Zuflucht suchen. Wir müssen uns eilen." Sie trat einen Schritt von Kerrys Bett weg und sah zum Fenster, durch das nun die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer drangen. "Ich brauche deine Hilfe."
Kerry setzte sich auf, gähnte herzhaft und kletterte dann aus dem Bett. Dass sie Farelyë helfen würde stand für sie außer Frage. Rasch zog sie sich ihre Reisekleidung an. "Und wie kann ich dir helfen?" fragte sie, als sie fertig war.
"Als ich dich inmitten des Schneesturmes fand, südlich des Sirannon, umzingelt von Wölfen, da blieb mir keine Zeit, die seltsame Aura zu ergründen, die dir damals anhaftete. Und danach trennten sich unsere Wege für einige Zeit. Beinahe hätte ich jenen Augenblick vergessen, als ich den schwachen Eindruck wahrnahm, dass du mit etwas in Berührung gekommen sein musstest, das ... den Hauch der Altvorderen Künste an sich trug."
Kerry, die Farelyë mittlerweile aus dem Haus heraus und auf die Straßen der Stadt gefolgt war, zog verwundert die Brauen zusammen. "Wovon sprichst du?" wollte sie wissen.
Farelyë hatte ein eiliges Tempo eingeschlagen und führte Kerry nach Südwesten, in Richtung jener Stadtviertel, die bislang noch nicht vollständig fertig gestellt worden waren, denn sie lagen nahe am Fluss im Rücken der Stadt und wären bei einem Angriff aus dem Norden oder Osten, wo die feindlichen Streitmächte vermutet wurden, am wenigsten in Gefahr, weshalb die Baumeister der Manarîn sich zunächst auf die Mauern und Befestigungen anderer Stadtteile konzentriert hatten.
"Was auch immer es war, das du berührt oder mit dir getragen hast," fuhr Farelyë im Gehen fort, "du brachtest es bei deiner Rückkehr nach Eregion nicht mit dir und die Aura jenes Gegenstandes war längst verblasst. Ich hatte sie nicht vergessen, doch es gab wichtigere Dinge, die meine Aufmerksamkeit erforderten."
"Und was hat sich geändert?" hakte Kerry nach.
"Gestern," sagte Farelyë, blieb stehen und sah Kerry in die Augen, "habe ich sie erneut gespürt."
Kerry brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was Farelyë damit andeuten wollte. "Warte... du willst damit sagen, dieses Ding, das Oronêl aus den Wäldern der Geisterküste mitgebracht hat, ist hier?"

Farelyë packte Kerry am Arm und zog sie weiter, bis sie an die leerstehende Ruine einer alten, riesigen Elbenhalle mit mehreren Flügeln kamen, zu der noch kein Handwerker der Manarîn vorgedrungen war. Das Dach, das einst aus einer großen Kuppel bestanden hatte, war eingestürzt, gemeinsam mit dem Großteil der Rückwand. Pflanzen hatten sich in dem Gebäude breit gemacht und hatten Säulen und Statuen überwuchert. Die Schritte der beiden Frauen klangen hohl auf dem gesprungenen, marmornen Boden, ehe Farelyë neben einem umgestürzten Podest stehenblieb.
"Zunächst einmal musst du mir alles erzählen, was du über jenen Gegenstand weißt," sagte sie dringlich, aber mit so gedämpfter Stimme, dass Kerry sich anstrengen musste, um ihre Worte zu verstehen. "Worum handelt es sich? Wie ist er beschaffen? Wie kamst du damit in Berührung?"
Kerry erzählte so leise sie konnte von ihrem Abenteuer mit Oronêl und Gwỹra im Land der Glannau Môr an der Geisterküste, und ihrer geisterhaften Begegnung mit der Erscheinung Sarumans im Hain der Hexen. Sie berichtete Farelyë davon, wie sie den geheimnisvollen Stein von der Lichtung mitgenommen und zu Elrond in Bruchtal gebracht hatten, welcher die Vermutung aufgestellt hatte, es handelte sich dabei um einen Versuch Sarumans, einen den Palantíri ähnlichen Sichtstein zu erschaffen.
"So," sagte Farelyë, als Kerry ihre Erzählung beendet hatte, und ihre Stimme verhallte zwischen den bewachsenen Mauern der uralten Halle. "Dann hat entweder jemand diesen Stein aus Imladris gestohlen und hierher gebracht, oder..."
"...oder es gibt mehr als einen davon," ergänzte Kerry.
"Und ich vermute, Zweiteres ist der Fall," meinte Farelyë mit Sorge im Tonfall. "Nach allem was wir wissen, sind es Sarumans Horden, die nun aus dem Gebirge herab strömen und Eregion bedrohen. Sollte einer dieser Steine hier in der Stadt sein, in Ost-in-Edhil, öffnet er dem Zauberer ein Einfalltor, von dem niemand etwas ahnen wird, bevor es zu spät sein wird."
"Was?" entfuhr es Kerry erschrocken. "Du meinst, er könnte... hierher kommen?"
"Nicht er selbst," antwortete die Elbin. "Aber sein mächtigstes Werkzeug: seine Stimme. Wenn jemand den Stein hierher gebracht hat, dann hat Sarumans Einfluss Ost-in-Edhil bereits infiziert und wird sich nur noch weiter ausbreiten, wenn wir nichts unternehmen."
"Das dürfen wir nicht zulassen!" stellte Kerry entschlossen dar. "Kannst du... spüren, wo dieses Ding sich befindet?"
"Nicht weit von hier, wenn mich die Sternsicht nicht täuscht," sagte Farelyë. "Seinetwegen sind wir in diese Ruine gekommen. Hilf mir, sie zu durchsuchen... aber sei' vorsichtig. Die Diener des Weißen Zauberers könnten in der Nähe sein."

Zwei der drei Flügel der alten Halle, die einst die Noldor von Mathans Volk erbaut hatten, fanden die beiden Frauen vollkommen verlassen und ohne jegliche Spuren vor. Um den dritten, südlichsten Flügel zu erreichen, mussten sie den großen Schutthaufen ersteigen, der beim Einsturz der Dachkuppel entstanden sein musste. Nach einigen Mühen gelangten sie so in einen langen Gang, der beinahe vollständig von Pflanzen überwuchert war. Sie kamen nur mühsam voran, denn weiterhin bemühten Farelyë und Kerry sich sehr, so leise wie möglich zu sein. Als sie den Gang betraten, blieb die Elbin stehen.
"Wir sind am richtigen Ort," wisperte sie nahezu lautlos.
Der Gang endete in einer schmalen Wendeltreppe, die sie offenbar in einen Turm führte. Es gab keine Fenster, weshalb sie nur schätzen konnten, wie viele Stockwerke sie erstiegen. Licht schenkte ihnen dabei nur der fahle Schein, den Farelyë mit ihren Fingern erzeugte, so wie sie es einst in den finsteren Verliesen unterhalb von Carn Dûm getan hatte. Kerry kam der Aufstieg über die vielerorts brüchigen und zersprungenen Treppenstufen schier endlos vor. Sie konnte sich nicht erinnern, beim Betreten des alten Gebäudekomplexes einen so hohen Turm gesehen zu haben. Sie fragte sich bereits, ob sie nicht wieder träumte, als Farelyë ohne Vorwarnung stehen blieb und Kerrys Hand ergriff. Ein festes Drücken übermittelte Kerry die lautlose Nachricht: Dort vorn ist etwas.
Farelyë ließ das Licht an ihren Fingerspitzen ersterben und das Letzte, was Kerry sah, war der Funken in den Augen der Elbin, der zu Finsternis erlosch. Als sich Kerrys Wahrnehmung an die Dunkelheit gewöhnt hatte, bemerkte sie einen schwachen Schein, der von oben kam. Farelyë bewegte sich darauf zu und Kerry folgte ihr. Sie erreichten das obere Ende der Wendeltreppe. Über ihnen sickerte fahles Sonnenlicht durch die dicht überwucherten Überreste einer schlank zulaufenden Turmspitze, die nach Süden hin auf einen kleinen Balkon hinauslief. Dort stand eine dunkle Gestalt, gehüllt in einen langen Umhang, der Kopf und Gesicht verdeckte. Die Hände schienen etwas zu halten, was Kerry von ihrer Position unterhalb der vorletzten Treppenstufe nicht erkennen konnte. Sie fragte sich, was sie nun tun sollte, als sich Farelyë neben ihr aufrichtete.
"Er wird nicht antworten," sagte sie im ruhigen, aber gut hörbaren Tonfall, offenbar an die Gestalt auf dem Balkon vor ihnen gerichtet, keine drei Meter von ihr entfernt.
Die Gestalt fuhr herum, zwar eindeutig überrascht, aber nicht so sehr, dass von Schock oder Schrecken die Rede sein konnte. Dabei rutschte die Kapuze nach hinten und enthüllte rabenschwarzes, langes Haar und graue, vor Verlangen aufblitzende Augen, die Kerry und Farelyë mit festem Blick begegneten. Die beiden Hände waren um einen Gegenstand geklammert, der der geheimisvollen Kugel, die Oronêl von der Lichtung an der Geisterküste mit nach Bruchtal gebracht hatte, zum Verwechseln ähnelte. Kerry war sich sicher, dass es eben jener Stein war, den sie selbst im Land von Gwỹras Volk in Händen gehalten hatte. Sie starrte das Ding an, dann erst fiel ihr Blick auf das Gesicht, welches sich ihnen offenbar hatte. Ihr wurde es eiskalt, als sie Elronds Tochter erkannte, während Arwen nur Augen für Farelyë zu haben schien und ihr Blick beinahe feindselig wurde...
« Letzte Änderung: 8. Aug 2022, 12:43 von Fine »
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Curanthor

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Re: Ost-in-Edhil
« Antwort #52 am: 6. Aug 2022, 06:17 »
Niemand hatte ihr gesagt, dass Stille so dröhnend sein kann. Lärmende Stille, gibt es das überhaupt? Sie schüttelte unmerklich den Kopf und blickte auf die geschlossene Fensterlade. Zwischen frisch eingeölten Birkenbrettern kroch sanft ein Lichtstrahl herein. Adrienne atmete unmerklich auf und lauschte angestrengt. Es war still in dem Haus der Ruhe, nur das Blut in ihren Augen rauschte kaum vernehmbar. Ruhig und gelassen pochte ihr Herz in der Brust, so als ob die Tortur vor einiger Zeit gar nicht stattgefunden hatte. Der stechende Schmerz als sie blinzelte erinnerte sie aber, dass das alles kein Böser Traum gewesen war. Adrienne leckte sich über die trockenen Lippen und berührte dabei den verkrusteten Schnitt. Ein leichtes Brennen an der Wange, dort wo die Klinge ihrer ärgsten Feinde ihr fast den Kopf gespalten hatte, ließ sie scharf einatmen. Ihr verletztes Auge tränte schon wieder. Zum Glück hatte sie einen Schlaftrunk für die Nacht bekommen. Der Gedanke, dass sie ohne das Zutun dieser Spitzohren erst gar keine Pflege nötig gehabt hätte, ließ ihre aufkeimende Dankbarkeit ersticken. Niemand hatte sich wirklich interessiert wie es ihr geht. Und ihr Bruder war schon lange von ihr getrennt. Was es überhaupt ihr Bruder? Sie erinnerte sich an sein Gesicht, aber auch wenn sie sich konzentrierte, ihr fiel kein einziges Bild aus ihrer gemeinsamen Kindheit an. Alles vor ihrer Flucht aus Gondors Hauptstadt existiert nicht, nur vage Schemen die ein undeutliches Bild zeichnen. Wenn sie träumt, sind es mehrere Bilder. Dinge voller Blut und Asche. Schemen die wie in Trance umhertaumeln, begleitet vom immerwährenden Flüstern zahlloser Stimmen. Der Traum endete aber stets damit, dass ein Paar große, vernarbte Hände grob nach ihr griffen und ihren Kopf unter Wasser drückte.
Ein leises Knirschen ließ ihren Blick kurz zur Tür fliegen, doch da war niemand. Zumindest niemand auf den sie gewartet hatte. Eine der Heilerinnen war eingetreten und öffnete die Fensterläden, womit das vormals düstere Zimmer mit dem Licht der aufgehenden Sonne durchflutet wurde. Sie blinzelte mit ihrem unverletzten Auge. Ein Wispern zog an ihrem Ohr vorbei. Inzwischen wusste Adrienne, dass niemand einfach da sein kann. Sie hatte mehrfach einfach in den Raum gesprochen, da sie diese Stimmen nie richtig verstehen konnte. Sie meinte sogar dabei einmal Kerrys und Mathans Gesicht gesehen zu haben. Adrienne kaute nachdenklich auf der Lippe, zuckte jedoch vor Schmerz und zischte leise.  Die Heilerin bemerkte nun, dass sie wach war und trat sogleich an das Bett heran. Sie wechselten kein Wort miteinander, doch Adrienne konnte spüren, wie die dunkelhaarige Elbe sie erwartend, fast schon nach Gefahren abschätzend musterte. Offenbar war Adrienne es nicht wert vorsichtig zu sein, zumindest beugte sich die Heilerin nun zu ihr herab, um eine Art Salbe auf die Wunden aufzubringen. Adriennes Blick fixierte den ungeschützten Brustkorb. Ihre verkrustete Hand zuckte. Mit einem Dolch könnte sie ihr von unten zwischen die Rippen sofort ins Herz stechen. Vor ihren Augen quoll helles Blut über ihre Hand. Adrienne blinzelte. Ihre Hände waren feucht und umklammerten etwas Hartes. Es roch nach Blut. Als sie ihren Blick senkte, erkannte sie einen schmucklosen Dolch. Zu ihren Füßen lag eine schlanke Gestalt mit dunklen Haaren, ein rasch größer werdender blutiger Fleck breitete sich auf dem weißen Kleid aus. Sie hatte spitze Ohren, doch einen leeren Blick. Ihre zitternden Finger gaben den blutigen Dolch frei, der klirrend zu Boden fiel.
„Estamíri!”, hallte eine gellende Stimme eines Mannes hinter ihr.
Adrienne hob den Blick und starrte in das Gesicht einer Fremden. Sie hatte wundervoll hochgesteckte kastanienbraune Haare, mahagonibraune Augen und eher kindliche Gesichtzüge. Ein Paar spitze Ohren zeichneten sich unter der Haarpracht ab. Seltsam angezogen von dieser Erscheinung betastete Adrienne ihr eigenes, gespaltenes Gesicht. Ihr Gegenüber spiegelte die Bewegung. Die eleganten Finger waren nicht so zerschnitten wie ihre eigenen und auch ihr Gesicht war wunderschön und nicht entstellt. Plötzlich quoll Blut unter den Fingernägeln der Fremden hervor.

Eine kurze, kühle Berührung im Gesicht brachte sie zur Besinnung. Die Heilerin beugte sich immer noch über sie, hatte diesmal aber einen besorgten Gesichtsausdruck. Fein säuberlich und mit großer Vorsicht bestrich sie Adriennes Gesichtswunde. Dann wandte sie sich zum Gehen, an der Tür stoppte sie nur kurz und sagte leise, dass sie vielleicht etwas gegen diese Albträume machen sollte. Adrienne blieb stumm, bis die Tür mit einem leisen Klicken schloss. Erst dann blinzelte sie die aufkommenden Tränen fort. Sie hoffte, dass niemand sie so sehen würde. Ihr Gefühl sagte aber, dass es dafür schon zu spät war. Dass einer ihrer wirren Träume etwas an Wirklichkeit beinhaltete. Sie hoffte, dass es der mit Mathan war, zu groß waren die Emotionen die sie überrollten, wenn sie an Kerry dachte. Scham, dass sie am liebsten die Decke über den Kopf ziehen wolle für das was sie getan hatte; Wut, die sie in die Welt hinausbrüllen wollte darüber, dass jemand so naives und blauäugiges ihr etwas bedeuten kann und Hass. Sie hasste sich selbst am dem Abend getrunken zu haben, sie hasste sich dafür, dass sie in Fornost sich aus einer lächerlich kindischen Laune heraus von einem erfahrenen Elben die Schwertkunst erlenen wollte; dass sie nicht mitbekommen hatte, wie ihr Vater gestorben war und dass sie nicht ihre Mutter hatte retten können. Sie hatte nichts zu der Rettung von Kerry beigetragen. Und selbst gegen ihre ärgsten Feinde hatte sie jämmerlich versagt. Adrienne schluckte den dicken Brocken im ihren Hals hinunter. Zornig blinzelte sie ihre Tränen fort. Ihr verschwommener Blick ging zu ihrem Nachttisch. Es war einer ihrer selteneren klaren Momente. Sie atmete durch und hob den rechten Arm. Sie tastete eine Weile über das polierte Holz und bekam es endlich zu fassen. Das Messer, mit dem ihre Nachtverbände geschnitten wurden. Ihre Finger umschlossen den Griff aus Kiefernholz. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Es war, als ein Aufschrei von Stimmen im Kopf explodierte, als sie zitternd die blanke Klinge über ihre Brust hielt. Die Spitze auf das Herz zielend. Wenn sie dem Ganzen nicht Einhalt gebot, würde sie sich nicht mehr wiedererkennen, schoss es ihr durch den Kopf. Aber es gab nur diesen Weg. Ihre freie Hand umklammerte nun ebenfalls den Griff. Alles andere war nur ein Pfad des Leidens und der Qualen für sie und alle um sie herum. Wenigstens ihren Bruder musste sie schützen, egal ob sie blutsverwandt waren oder nicht. Doch das war aussichtslos, das hatte sie nun begriffen. Sie schloss die Augen und rief sich noch einmal mit großer Mühe die Gesicht vors innere Auge. Ihre Eltern zusammen glücklich auf einem Feld in den westlichen Lehen, Acharnor stolz im Gewand der Schwanenritter auf einem Pferd zu Besuch bei ihnen. Sie winkten ihr zu. Ihre Lippen erhoben sich zu einem Lächeln, als sie zurückwinkte, ohne Schmerzen. Bald würde sie bei ihnen sein. Kurz blitzten Mathans, Halarîns und Kerrys Gesichter der Reihe nach auf. Dann stießen ihre Hände hinab.



Mathan ruckte aus seiner leichtem Dämmerzustand auf und setzte sich kerzengerade auf das Bett. Halarîn war bereits wach. Ihre Augen hatten einen silbernen Schimmer. Er fasste sich an die Brust. Ein klammes Gefühl hatte sich dort eingenistet, das er nicht ganz zuordnen konnte.
„Ich habe es auch gespürt“, wisperte seine Geliebte und tupfte sich über die Augen, „Etwas ist geschehen…“
Laut pochte es an der Tür. Ivyns Stimme ertönte auf der anderen Seite, ohne Aufforderung trat sie ein. Die Erste blickte ernst drein und trat sofort zu Halarîn an das Bett. Rasch wurde Herzschlag und Körpertemperatur überprüft. Schließlich atmete Ivyn auf und nickte knapp.
„Ein Schatten hatte sich dieser Stadt genähert“, erklärte sie knapp, „Etwas Böses, aber das ist noch nicht alles.“ Sie legte leicht den Kopf in den Nacken. „Der Himmel ist bedeckt.“
„Und… woher kam dieses… Wesen?“, fragte Halarîn vorsichtig.
Mathan legte ihr beruhigend eine Hand auf den Bauch, die sie sofort umklammerte. Die Erste vermutete indessen, dass das wohl ein fauler Zauber gewesen war. Sie machte eine Pause und blickte zu Mathan, der sich sofort an Oronêls Erzählung erinnerte. Ohne sich abzusprechen hatten sie beschlossen Halarîn nichts genaueres von diesem Dämon zu erzählen.
„Nun“, wechselte Mathan das Thema und nickte in Richtung Decke, „Den Himmel zu bedecken ist eine bewährte Taktik.“
„Der Krieg klopft an unseren Toren“ bestätigte Ivyn, „Noch heute. Oder die nächsten Tage.“
Halarîn wurde eine Spur blasser, woraufhin Mathan sie damit zu beruhigen versucht, dass ein Angriff auf die Stadt schon frühzeitiger entdeckt werden würde.
„Das erinnert an Fornost“, murmelte sie leise, fast schon atemlos, „Nur das wir sicherlich nicht das Glück haben werden, dass die Armee einfach abzieht.
„Nein, das werden wir nicht“, bestätigte Ivyn düsterer als sonst, „Hier wird sich das Schicksal unseres Volkes entscheiden. Wir stehen an einem Wendepunkt und Dinge werden ins Rollen geraten, die man nie wieder aufhalten kann.“ Ihr Blick ging ins Leere und es war klar, dass sie weiter sah als alle anderen, „Halarîn, du bleibst die nächsten Tage immer an meiner Seite, besonders wenn Mathan nicht da ist, ganz gleich was geschieht.“
Seine Gattin nickte nur knapp, woraufhin sich Ivyn zur Tür bewegte, aber kurz ins Stocken geriet. Mathan runzelte die Stirn, das einengende Gefühl in seiner Brust wollte einfach nicht weichen.
„Sie sind hier“, sagte die Erste schließlich und öffnete die Tür, vor der gerade ein Laufbote eilig zum Stillstand kam, „Wappnet euch.“, mit dem Worten verließ sie das Gemach.
Der Bote räusperte sich und sagte, dass die Späher eine verdächtige Gruppe mit weißer Flagge einige Meilen vor dem Nordtor gesichtet haben und die Königin die Stadt in Alarm versetzt hat. Kurz darauf ertönte der laute Schlag von einem Hammer auf Holz. Regelmäßig und vor allem drängend. Eine Glocke mischte sich darunter. Wie ein Messer durchschnitt sie die Stille. Mathan sprang auf und sagte, dass er sofort zum Thronsaal eilen würde. Der Bote nickte und rannte davon. Aus dem Korridor hörte man eilige Schritte. Erste Rufe ertönten, dass der Feind sich näherte. Er half Halarîn aus dem Bett und trat an seinen Rüstungsständer. Seine eigene Schmiedekunst streifte er nur mit einem Finger und legte stattdessen die mittelschwere Rüstung der Manarîn an. Halarîn half ihm wo sie konnte und befestigte zum Schluss den rot-goldenen Mantel an seiner Rüstung. Er seufzte und gürtete sich ihr Schwert um. Ihre Blicke begegneten sich. Ein Funken Furcht schwamm in ihrem Blick, der aber vom unerschütterlichen Vertrauen in ihn übermächtig überschattet wurde. Mathan hob das Kinn und würde alles tun, um sie zu beschützen, solange sie selbst es nicht tun konnte. Niemals würden sie ihr ungeborenes Kind in Gefahr bringen. Gemeinsam verließen sie schließlich ohne große Worte das Gemach. Sie mussten nichts sagen.
Auf dem Weg zum Thronsaal holte Valena zu ihnen auf. Sie schloss sich wortlos an. Mathan warf ihr einen Seitenblick zu.  Auch sie trug Rüstung der Art der Manarîn – wenn auch weniger schwer und fein gearbeitet – an ihrer Hüfte hing ein Schwert, eine Axt und auf ihrem Rücken ein Schild. In ihrer Hand ein Kurzspeer. „Noch kämpfen wir nicht“, brummte er, als sie seinen Blick bemerkte.
„Ich bin mit Waffen groß geworden, ohne fühle ich mich nackt“, erklärte sie gleichgültig, schulterte den Speer aber dann lockerer und sagte zu Halarîn „Ich bin Valena Bjornstochter vom Raureiftal.“
Sie bogen um die Ecke in die große Eingangshalle, in denen schon mehrere Dutzend Elben und Menschen warteten, auch die drei Zwerge konnte Mathan auf einer Bank erkennen. Die Tore zum Thronsaal waren noch verschlossen. Auf der Treppe vor dem Palast standen ebenfalls Elben, sowohl Avari als auch Manarîn. Ein Bote eilte die Stufen gerade hinauf, ein weiterer lief quer über dem Platz. Dichtes Stimmengewirr schwirrte durch den Raum. Die Alarmglocke verklang. Erste gerüstete Truppen sammelten sich auf dem Vorplatz. Halarîn winkte ihre Zofe zu sich, die am Rand der Halle etwas verloren dastand und bat um etwas Wasser.
„Also geht bald los… Ich habe gehört Ihr habt eine Schülerin…ist-“, begann Valena, doch Mathan unterbrach sie: „Verwundet. Sie… sollte …“ Er brach ab, als er zum Eingang sah. Aufgeregtes Getuschel folgte seinem Blick. In dem großen doppelflügeligen Tor stand eine blasse Adrienne, zumindest glaubte er, dass sie es ist. Ihr Gesicht war von einem langen Schnitt noch immer gezeichnet, doch war auf der Wunde bereits eine dicke Kruste. Ihr verwundetes Auge bereitete ihm jedoch Unbehagen, die Iris war schwarz, selbst das Weiße wirkte dunkelgrau. Adrienne ging barfuß, bis auf ein weißes Leinenkleid trug sie nichts weiter. Ein roter Fleck auf Höher ihrer Brust ließ ihn die Stirn runzeln. Aus dem Ostflügel des Palastes kam Istime, die Hofmeisterin mit einem Umhang geeilt. Die Elbe fragte, ob sie sie zurück zu den Heilern bringen sollte, während sie ihr den Mantel umlegte, doch Adrienne schüttelte den Kopf. Sie ging gemächlichen Schrittes auf Mathan zu und blieb vor ihm stehen.
„Danke für Euren Besuch“, sagte sie mit tonloser Stimme, ihr Blick huschte zu Valena, ihren Waffen dann zu Halarîns Klinge, „Wo bekommt man hier eine Waffe? Mein Ersatz ist ja schon da, also kann ich jetzt im Kampf sterben. Und das würde ich gern mit einer Klinge in der Hand.“ Jedes Wort klang gleichgültig und kühl, als ob da gerade eine Andere vor ihnen stünde als die etwas grüblerische aber kämpferische Adrienne, mit denen sie wochen- oder monatelang umhergereist sind. Mehr als vierzig Augenpaare waren auf sie gerichtet. Selbst einige neugierige Dunländer konnte Mathan aus dem Augenwinkel wahrnehmen. Er holte Luft um zu antworten, doch seine Gattin war schneller.
„Was redest du da?!“, fauchte Halarîn empört, „Niemand wird dich ersetzen. Solch ein Unsinn!“
Valena musterte Adrienne scharf, die den Blick herausfordernd begegnete.
Mathan wusste nicht was geschehen war, aber so ein Verhalten konnte er nicht dulden. „Genug. Beide“, sagte er leise und bestimmt. Er machte einen Schritt zwischen den beiden jungen Frauen und wandte sich leise Adrienne zu, „Was hat das hier zu bedeuten?“ Eines ihrer Augenlieder zuckte, dann hoben sich kurz ihre Mundwinkel unmerklich, „Nun“, sagte sie, „Mich kann sowieso keiner hier ausstehen, also schadet das nicht. Ich möchte eine Waffe. Wenn Alarm geschlagen wird droht Gefahr und die muss man beseitigen.“
Er blinzelte. „Wie wäre es dann mit einer Rüstung… und Fußbekleidung?“
Seine Bemerkung zeigte Wirkung, denn ihre Augen blitzten amüsiert. Ihre verkrustete Wunde verzog sich und etwas Blut tropfte über ihren Mundwinkel, als sie grinste. Adrienne zuckte darauhin mit den Schultern. „Ja gut, ich wollte eben meiner miesen Laune Luft machen… Und mich für den Kampf bereit machen. Ich weiß aber nicht wo meine Sachen sind…“
„Und anstelle wie ein normaler Mensch einfach zu fragen“, mischte sich Valena ein, „Platzt du hier wie eine Bettlerin rein und redest selbstmörderischen Schwachsinn. Der Ersteindruck ist dir gut gelungen.“
Halarîn, die offenbar gerade mit ihrer Zofe gesprochen hatte, packte die junge Kriegerin sanft an der Schulter und führte sie bestimmt in die andere Richtung außer Hörweite. Nicht ohne dass Adrienne noch hinterhersagen konnte: „Mir ist es egal was andere von mir denken, allen voran du.“
„Also kannst du wieder laufen?“, unterband Mathan ein weiteres Geplänkel, auch wenn sein Gefühl ihm sagte, dass die beiden eher sich so kennenlernten als stritten.
Adrienne grunzte belustigt, „Gut beobachtet. Irgendjemand hat mir so ein merkwürdiges Getränk eingeflößt, dann ging es mir besser.“ Sie wischte sich den Blutstropfen vom Mundwinkel, „Ich war aber ziemlich weggetreten… weil vorher-“ Adrienne verstummte, als die Tore zum Thronsaal aufschwangen. „Vielleicht bekomme ich ja jetzt ein Schwert.“ Mit den Worten marschierte sie an ihm vorbei. Mathan runzelte die Stirn und machte sie ernsthafte Sorgen um sie. Er hoffte, dass Kerry bald eintreffen würde und Adrienne wieder beruhigen könnte, denn er hatte keine Ahnung was er sonst mit ihr tun sollte, da ihm wahrscheinlich bald ziemlich viele Leben anvertraut werden würden, um die er sich kümmern musste. Mathan hoffte, dass es nicht so kommen würde, aber wenn seine Tochter ihn bitten würde, bliebe ihm keine andere Wahl, schließlich steht seine Familie über allem.

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Die Wahrheit
« Antwort #53 am: 8. Aug 2022, 19:06 »
Für einen langen, schrecklichen Augenblick schien die Zeit rings um Kerry still zu stehen. Ihr Blick war auf Arwen gerichtet, die Sarumans Stein gestohlen und nach Ost-in-Edhil gebracht hatte, und deren Hände das Artefakt fest umklammert hielten.
Wieso hat sie dieses Ding hierher gebracht? Was hat sie damit vor? schoss es Kerry durch den Kopf. Ist sie... eine Verräterin? Nein, nein, das kann nicht stimmen... es muss Saruman sein, der sie verzaubert hat. Aber... wie konnte er...?

Farelyë war Arwens Reaktion mit einer kalten Ruhe begegnet. Die Cuventai-Elbin wartete beinahe regungslos ab, ob Elronds Tochter ihr antworten würde. Kerry wagte kaum, einen Atemzug zu tun, doch der Moment zog sich für sie immer länger und länger dahin, bis sie es nicht mehr aushielt. Sie musste einfach etwas unternehmen.
"Warum hast du diesen Stein mit dir gebracht?" fragte sie, darum bemüht, ihre Stimme ruhig zu halten.
Kerrys Frage hatte eine sonderbare Wirkung auf Arwen. Ihr Kopf ruckte, wie als müsste sie sich von Farelyës Blick gewaltsam losreißen, und die grauen Augen richteten sich mühsam auf Kerry. Doch die Feindseligkeit verblasste, und ein Finger nach dem anderen löste sich von der Kugel aus dunklem Stein, bis Arwen das Artefakt nur noch locker auf der Handfläche balancierte.
"Anfangs wollte ich ihn an jene übergeben, die gefahrlos davon Gebrauch machen könnten," sagte sie, nun ebenso ruhig wie Farelyë.
"An die Dúnedain des Südens," bemerkte die Cuventai-Elbin an, als wäre es ein Fakt. Ein Nicken Arwens bestätigte das.
"Weiß... Meister Elrond davon?" fragte Kerry. Erneut gab es ein knappes Nicken Arwens.
"Ich hatte nie vor, den Stein selbst zu benutzen," sagte sie, die Stimmlage etwas leiser als zuvor. "Doch nachdem ich von Eleas Sohn erfuhr, dass - "
Arwen hielt für einen Augenblick inne, dann fuhr sie fort: "Dass Gondors König wieder in Freiheit ist, da überkam mich das Verlangen, ihn zu sehen... denn wir alle sind nun Gefangene dieser Mauern, gegen die der Feind bald schon anstürmen wird. Nichts wäre mir lieber als auf schnellstem Wege gen Süden zu reiten, doch die Gefahr ist zu groß."
"Also habt Ihr den Stein verwendet, und seid Saruman begegnet, anstelle von jenem, den Ihr zu sehen erhofftet," sagte Farelyë.
"Ja," bestätigte Arwen.
"Hast deshalb nur heimlich hineingesehen?" wollte Kerry wissen. "Du hättest es uns doch sagen können..."
"Und damit den Herren dieser Stadt einen Grund gegeben, mich in Ketten legen zu lassen? Nein, Kerry... ich weiß, dass es vermutlich nicht weise war, in den Stein zu blicken, doch es ist nicht nur Schlechtes daraus erwachsen. Ich weiß, wo sich der Weiße Zauberer befindet."
"Hat er dies preisgegeben?" hakte Farelyë nach.
"Freiwillig nicht," antwortete Arwen. "Doch es gelang mir, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Er sprach aus dem Turm von Dol Guldur zu mir. Die Heere Mordors haben ihn dort eingeschlossen und auch wenn die Mauern der Festung noch standhalten, wird es nicht ewig so bleiben. Dies ist eine Gelegenheit für Gondor, Saruman zu retten. Er wird in ihrer Schuld stehen und seinen Angriff auf Eregion abbrechen. Wenn ich nur Aragorn erreichen könnte... aber der Stein ließ sich meinem Willen nicht weit genug unterwerfen."
"Es gibt andere Wege, um Nachrichten in die Ferne zu senden," sagte Farelyë. "Ihr hättet dies nicht alleine versuchen dürfen." Sie sah sich um, dann nickte sie langsam. "Immerhin ist der Einfluß von Sarumans Stimme nicht bis in die Stadt vorgedrungen. Der Stein darf nicht erneut verwendet werden."
"Das sehe ich ein," sagte Arwen. "Aber er muss nach Gondor gelangen, um dort entweder verwahrt oder vernichtet zu werden."
"Sobald der Weg nach Süden frei ist, könnt Ihr den Stein dorthin bringen. Doch solange muss ich darauf bestehen, dass er von mir verwahrt wird."
Arwen hielt inne. Sie musterte Farelyë einen langen Augenblick, dann jedoch nickte sie und reichte der Cuventai-Elbin das Artefakt. "Einverstanden."

Kerry atmete tief durch. Sie war froh, dass - soweit sie es verstanden hatte - alles noch einmal gut ausgegangen war. Als sie Arwen und Farelyë durch die alten Ruinen zurück auf die Straßen der Stadt folgte, fragte Kerry sich, was Oronêl wohl von all dem halten würde. Sie wünschte sich, er wäre wieder in der Stadt, und noch mehr wünschte sie sich, dass die Dinge zwischen ihnen besser stünden. Sie waren nicht direkt im Streit auseinander gegangen, aber die einstige Harmonie zwischen ihnen war durch einige Streitigkeiten belastet worden - insbesondere durch das Thema Helluin.
Warum kann er nicht verstehen, dass Helluin nicht mehr der Dúnadan ist, der den Goldenen Wald untergehen ließ, dachte sie. Ein Teil von ihr kannte die Antwort auf diese Frage natürlich, doch Kerry wollte sie nicht hören. Je länger sie über Oronêl nachdachte, desto mehr ersetzte die Sorge um ihren Freund ihren Ärger über seine Ansichten über Helluin. Arwen und Farelyë hatten einander darin zugestimmt, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Ost-in-Edhil von Feinden umringt sein würde, und Eregion war bereits jetzt nicht mehr sicher. Oronêl war irgendwo dort draußen, keinen Tag nachdem er einem namenlosen Schrecken in den Minen von Moria entkommen war, und Kerry fürchtete um sein Leben, wie sie feststellte. Sie wünschte sich nicht zum letzten Mal, dass der Waldelb in die Stadt zurückkehren würde - in Begleitung Helluins, den Kerry ebenso vermisste.

Noch bevor sie die Unterkunf der kleinen Gemeinschaft, die von Bruchtal aufgebrochen war, erreicht hatten, erfuhren sie von den in Richtung der Mauern eilenden Stadtwachen, dass tatsächlich die ersten Feinde vor der Stadt gesichtet worden waren. Kerry beschloss, sofort zum königlichen Palast zu gehen. Sie verabschiedete sich von Arwen und Farelyë, dann lief sie los.

Am Palast waren so viele Elben versammelt, wie sie Kerry schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie wäre vermutlich gar nicht bis zu den großen Toren der königlichen Residenz durchgedrungen, wenn nicht plötzlich eine kräftige Stimme "Macht Platz für Hírilya Morilië!" gerufen und ihr damit einen Weg durch die Massen gebahnt hätte. Es handelte sich um den Hauptmann der Palastgarde, der Kerry ein breites Lächeln schenkte, während er dafür sorgte, dass sie unversehrt die breiten Stufen erreichte, die zum Eingang des Palastes hinaufführten.
"Zu Euren Diensten," sagte er und deutete eine Verneigung an.
Kerry - die es ja eigentlich eilig hatte - blieb stehen und sah ihn an. Sie stand auf der zweiten Stufe der Treppe, dennoch überragte er sie mit seinem von einem prächtigen Helmbusch gekrönten Helm. "Ich kenne deinen Namen nicht," sagte sie. "Danach wollte ich schon länger mal fragen."
"Eure Aufmerksamkeit ehrt mich, hírilya,," erwiderte der Gardist. "Ihr könnt mich Tárdur nennen."
Sie nickte. "Ich danke dir, Tárdur. Ich muss-"
"Ich weiß," sagte er gelassen, was Kerry erstaunte. Wurde nicht jeder verfügbare Soldat nun auf seinem jeweiligen Posten gebraucht? Aber Tárdurs Gelassenheit beruhigte sie und half ihr, ihre Gedanken zu ordnen. Sie nickte, dann eilte sie die Stufen hinauf. "Viel Glück!" rief ihr der Gardist noch hinterher, und Kerry nahm es sich zu Herzen.

Im Inneren des Palastes herrschte beinahe noch ein größerer Aufruhr. Kerry sah, wie sich die Tore des Thronsaales öffneten, und sie bewegte sich darauf zu. Als sie näher heran gekommen war, entdeckte sie Mathan und Halarîn, die etwas abseits standen. Halarîn winkte Kerry hektisch zu, als sie sie bemerkt hatte, doch sie schien auf etwas zu deuten, oder... auf jemanden? Kerry, die nicht stehen geblieben war, sah genauer hin. Da war eine Frau, die kaum Kleider am Leib und keine Schuhe trug...
"Adrienne?" entfuhr es ihr. Als die Angesprochene sich umdrehte, erstarrte Kerry vor Schreck. Das Antlitz ihrer Freundin war von einer grausamen Wunde entstellt, die die gesamte rechte Gesichthälfte bedeckte. Als Kerry Adrienne zuletzt gesehen hatte, war die Verletzung unter den Verbänden verborgen gewesen. Es verschlug Kerry beinahe die Sprache. So eine große Narbe würde sich nicht verstecken lassen. Mit Anstrengung rief sich Kerry in Erinnerung, weshalb sie hier war und schloss zu Adrienne auf.

Kerry kam neben ihr zum Stehen, direkt vor den geöffneten Toren des Thronsaales. Adriennes Zustand verschlug ihr erneut die Sprache. Instinktiv griff sie nach der unverletzten Hand Adriennes.
Ihre Freundin schien Kerry erst jetzt so richtig zu bemerken. Der Blick, den Adrienne ihr fast schon entgegenschleuderte ließ Kerry erbleichen. Sie sah den Tod in den Augen Adriennes.
"Ich brauche eine Schwert," sagte Adrienne mit fester Stimme. "Der Feind ist da und ich werde ihn bekämpfen."
Das brachte Kerry zurück auf den Boden der Tatsachen. "Du willst kämpfen? In deinem Zustand?" Sie zerrte Adrienne ein wenig beiseite, in Richtung Mathan und Halarîn, und war erstaunt, dass ihr nur geringer Widerstand entgegen schlug.
"Ich muss," beharrte Adrienne. "Ich muss..."
"Du hast nicht einmal Schuhe an," sagte Kerry. "Adri, wenn du wirklich kämpfen willst, dann brauchst du eine Rüstung!"
"Was macht es denn für einen Unterschied, ob ich damit in der Schlacht ein wenig länger lebe?" hielt Adrienne stur dagegen. "Ich brauche nur etwas, mit dem ich den Feind töten kann, mehr nicht."
"Was es für einen Unterschied macht?" Kerry konnte kaum glauben was sie da hörte. "Ich will nicht, dass du dein Leben wegwirfst! Und du bist nicht nur mir wichtig, das weißt du..."
"Pah! Mathan hat mich bereits durch eine neue Schülerin ersetzt!" schnaubte Adrienne. "Und du rennst einem dahergelaufenen Waldläufer hinterher... oder war es ein Dunländer? Oder beiden?"
Kerry biss die Zähne zusammen. Ihr kam wieder in den Sinn, was Adrienne mit ihr gemacht hatte, doch sie schob ihre Gefühle darüber für den Augenblick beiseite. "Ich bitte dich," sagte sie und legte Adrienne die Hände auf die Schultern. "Wir können ... gemeinsam herausfinden, wie... es mit uns weitergeht. Aber nur, wenn du am Leben bleibst und dich nicht in den Tod stürzt..."
Zum ersten Mal sah sie ein Zögern in Adriennes Blick. Kerry legte nach. "Versprich mir, dass du am Leben bleiben und auf dich aufpassen wirst, wenn die Kämpfe losgehen."
Eine lange Pause trat ein. Adrienne kniff die Augen zusammen und sah Kerry an. „Versprechen…. Es sind nur Worte, aber….“, Sie hielt inne, doch dann gab sie sich geschlagen. Der Hauch eines Nickens. "Meinetwegen. Ich ... werde mir eine Rüstung geben lassen."
Kerry atmete auf. "Bitte sei vorsichtig, ich... will dich nicht verlieren," fügte sie hinzu. Was Adrienne darauf antworten würde, wusste sie nicht.
Sie konnte es nur geschehen lassen.
« Letzte Änderung: 9. Aug 2022, 09:23 von Fine »
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Curanthor

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Eine Versammlung im Thronsaal
« Antwort #54 am: 29. Jan 2023, 18:00 »
Mathan bemerkte aus dem Augenwinkel wie Kerry den Thronsaal erreichte und verlangsamte seine Schritte. Valena sah sich indessen staunend um und musterte die Kuppel der Decke mehrfach. Halarîn flüsterte ihm zu, dass alle wichtigen Personen anwesend waren. Mit halbem Ohr hörte er dem etwas verkühltem Gespräch der beiden jungen Frauen zu. Wenigstens hatte Kerry seine Schülerin überreden können eine Rüstung zu tragen.
„Was kümmert es dich, ob du mich verlierst?“, flüsterte Adrienne am Ende des Gesprächs leise, während sie sich von Kerry abwandte.
Er wusste nicht, ob sie es gehört hatte und konnte auch nicht nachsehen, denn ein lautes Pochen vom Podest ließ seinen Blick nach vorn wandern. Faelivrin stand vor dem Thron, rechts neben ihr überragte Ivyn alle anderen und blickte in weite Ferne. Links von seiner Tochter stand die Hofmeisterin, die einen langen, schmucklosen Metallstab in der Hand hielt. Erneut stieß sie mit dem Ende auf den Boden und das Geflüster im Saal verstummte, während König Aéd das Podest betrat und sich neben Ivyn stellte.
Faelivrin sparte sich eine Einleitung und verkündete: „Der Wolfskönig der Dunländer und ich haben ein Bündnis geschlossen!“ Sie musterte dabei vor allem die Vertreter der Avaristämme scharf, „Sie werden uns bei der Verteidigung der Stadt und in dem aufkommenden Krieg unterstützen. Ich erwarte, dass sie als Verbündete angesehen werden. Sollte das für einige von euch befremdlich sein, so seht sie als hilfreiche Gäste.“ Ihre Augen blitzten dabei kurz auf und schien jeden zu durchbohren, der etwas anderes sagen wollte. Es regte sich kein Widerstand unter den Elben, nur zustimmendes Gemurmel mit unterschiedlicher Intensität an Zurückhaltung oder Zerknirschtheit. Mathan blickte vor allem die Kinn-Lai an, von denen aber die meisten mit verschränkten Armen dastanden und sich nichts anmerken ließen. Sie alle wussten, dass die Manarîn zuerst in Eregion – vor allem in Ost-In-Edhil waren und somit bei fast allem was die Stadt betraf das letzte Wort hatten.
 Faelivrin nickte Istime knapp zu, die daraufhin verkündete: „Unsere Wachposten haben eine Gruppe von Feinden mit einer weißen Flagge ausgemacht. Sie werden in Kürze vor dem nördlichen Toren eintreffen. Unsere Späher beobachten sie.“
„Und warum lassen wir unsere Feinde bis an die Tore herankommen?“, fragte Merolon von den Kindi, den Mathan anhand dessen tiefen Stimme in der ersten Reihe ausmachte.
Istime antwortete auf diese Frage, als ob sie mit einem Kind sprach: „Weil jede Stunde Zeit, die wir gewinnen unsere eigene Verteidigung erstarken lässt. In dieser Stunde werden hunderte Pfeile, dutzende Speere, Schwerter und andere Waffen gefertigt. Alles Dinge, die wir dem Feind bei einem verfrühten Angriff nicht entgegenbringen können. Auch unsere Anzahl wächst stetig, da die verstreuten Manarîn hierher eilen und…“ Sie verstummte, als Faelivrin sacht eine Hand hob.   
„Die Avari, die in dieser Stadt weilen haben die Wahl: Entweder sie laufen davon, um bei einer gnadenlosen Treibjagd durch die Hände minderer Kreaturen vernichtet zu werden, oder sie kämpfen mit ihren Brüdern und Schwestern für eine neue Zukunft.“ Seine Tochter hatte mit ruhiger und verständnisvoller Stimme gesprochen, was aber umso bedrohlicher wirkte. „Und rächen sich für die Vernichtung ihrer Siedlungen.“ Vor allem das zeigte Wirkung, denn die Kinn-Lai waren die ersten, die eine kämpferische Zustimmung aussprachen. Die übrigen Stämme folgten, nicht jedoch ohne zu betonen, dass es dauern würde alle Stammesmitglieder zu versammeln. Das schien Faelivrin jedoch zu genügen. Sie nickte zufrieden und deutete hinaus in die weite Ferne. Inzwischen hatten sich hunderte Elben versammelt und standen dicht gedrängt im Thronsaal, der Eingangshalle und sogar auf der Palasttreppe. „Der Feind steht irgendwo da draußen!“, rief Faelivrin nun lauter, „Er baut darauf, dass wir schwach und uneins sind! Sie werden versuchen uns Angst zu machen! Sie werden versuchen uns weiter zu entzweien! Sie werden versuchen unsere zarten Bande, die gerade erst zueinander finden zu zerschneiden! Sie werden versuchen alte Freundschaften zu zerstören! Sie werden versuchen jeden von uns abzuschlachten, wenn sie die Chance dazu erhalten!“, sie machte eine kurze Pause und musterte jeden einzelnen in dem Saal. Mathan hörte ihr gebannt zu. Der gesamte Saal hing an ihren Lippen. Seine Tochter ergriff einen kunstvoll verzierten, mit Rubinen und Bernstein besetzten Speer den Istime ihr reichte. Es war offenbar das Königsssymbol, Finuors Speer, wie manche umstehenden Manarîn mit Ehrfurcht und Bewunderung flüsterten. Faelivrin hob den Speer etwas in die Höhe, dass ihn jeder sehen konnte. „Doch das werden wir nicht zulassen!“ Sie machte erneut eine kurze Pause und richtete die Speerspitze auf jeden in dem Saal, „Wir zeigen ihnen, dass wir standhaft bleiben, ganz gleich was sie uns entgegenschleudern. Zeigt ihnen, dass wir nicht weichen, ganz gleich was sie aufbringen werden! Zeigt ihnen, ganz gleich was ihr voneinander haltet: heute werden wir nicht weichen und morgen auch nicht. Tut es nicht für mich, tut es für euch selbst, für eure Kinder und unsere Zukunft.“ Sie machte erneut eine Pause und atmete hörbar durch, dann sagte sie etwas leiser „Und für unser Volk.“ Sie legte kurz die Stirn an die flache Seite des Speers, übergab ihn dann an Istime. Mathan war sich sicher, dass dies ein Traum Finuors gewesen war, dass die Elben wieder Seite an Seite kämpften. Vielleicht war dies der erste Schritt dafür.
Unterdessen stampfte jemand im Saal mit dem Fuß auf dem Boden. Rasch folgten weitere, manche schlugen sich gegen den Brustharnisch oder den Schild. Nach einigen Augenblicken war der Thronsaal erfüllt vom zustimmenden Dröhnen.
Ein erleichtertes Lächeln huschte Faelivrin über das Gesicht, ehe sie knapp eine Hand hob und der Tumult rasch verebbte. Sie berief einige Elben zu Kommandanten von Mauerabschnitten, die meisten kannte Mathan jedoch nicht.
Nammanor wurde zum kommandierenden General von Faelivrins Leibgarde berufen – wie der Befehlshaber der Garde in Kriegszeiten genannt wurde. Der Krieger in prunkvoller Rüstung marschierte wie alle anderen vor dem Podest – ging jedoch kurz auf ein Knie und bedankte sich. Nachdem der Krieger sich an die Seite des Podests gestellt hatte, wanderte Faelivrins Blick durch den Saal und erfasste Mathan. Er ahnte etwas, da er diesen Blick seiner Tochter kannte. Diesen Anflug von Schalk, den sie meisterlich verbarg würde er immer erkennen.
„Heermeister Eregions“, sagte sie nun lauter, „Diesen Titel verleihe ich Kraft meines Amtes dem Mann, der so viele Leben – aber vor allem meine Tochter bei Rómen Tirion gerettet hat. Mathan, ich berufe Euch.“
Einige Köpfe wandten sich zu ihm und es  wurde eine breite Gasse vor ihm gebildet. Halarîn verbarg rasch ein Grinsen und klopfte ihm stattdessen auf die Schulter. Er seufzte unmerklich und ließ sich nichts anmerken. Mathan schritt durch die Reihen und trat vor das Podest, wo er einen winzigen Augenblick zögerte. Er wusste von einem vorherigen Gespräch mit Isanasca, dass sie als Kronprinzessin den gleichen Rang im Kriegsfall inne hatte, weshalb es ihm etwas merkwürdig vorkam, doch er straffte sich und antwortete trotzdem: „Ich folge der Berufung.“ Er deutete eine Verneigung nur ganz knapp an und schritt hinüber zu Nammanor.
Der Krieger brummte nur, dass er ihrer beider Berufung geahnt hatte und zupfte missmutig an seinem Mantel.
Mathan unterdrückte ein Grinsen anstelle einer Antwort, da dutzende Augenpaare auf ihnen ruhten.
Indessen rief Istime zwei Elben auf und Faelivrin ernannte sie zu Beschützern der Krone, woraufhin er aufhorchte. „Euch unterstehen zwanzig Krieger meiner Leibgarde. Ihr seid für den Schutz des Prinzen und seiner Familie persönlich verantwortlich.“ Die beiden Krieger, die Mathan unbekannt waren, verneigten sich tief und marschierten zackig an die gegenüberliegende Seite des Saals.
„Tárdur“, rief Istime einen weiteren Elben auf. Einer der Palastwachen am Tor ruckte mit dem Kopf herum, setzte sich dann sofort in Bewegung. Der schwarze Mantel strich wehend über den Boden, sein prunkvoller schwarzer Haarbusch auf dem Helm wippte bei jedem Schritt. Der Blick der knapp über dem Mundtuch aus dunkelbraunen, fast schwarzen Augen hervorstach sprühte vor Loyalität und Ruhe. Faelivrin bedeutete ihm stehen zu bleiben, als er niederknien wollte. „Euch gebe ich zwei der besten Krieger meiner Leibgarde.“ Ihr Blick wanderte zu Kerry, wie Mathan es sich schon fast gedacht hatte, „Ihr werdet für die Sicherheit meiner Schwester sorgen, solange wir Feinde von bedroht werden. Sorgt dafür, dass der Prinzessin kein Haar gekrümmt wird.“
Der Krieger ging trotzdem auf ein Knie und legte eine Hand auf den Brustharnisch und sagte mit wohlklingender Stimme: „Bei meinem Leben“ und senkte dabei den Kopf. Als er nach einem kurzen Moment keine Anstalten machte aufzustehen, wurde er von der Hofmeisterin zum Sprechen aufgefordert.
„Verzeiht meiner Dreistigkeit, die Entscheidung meiner Königin in Frage zu stellen“, hob er respektvoll an und wandte knapp den Kopf zu der Stelle, wo er Kerry in der Menge vermutete und fuhr fort, als er nicht unterbrochen wurde: „… und doch sorge ich mich darum, dass nur drei Krieger womöglich zu wenige sind, um die junge Prinzessin ausreichend zu beschützen.“
Faelivrin wirkte für einen Moment amüsiert und bedeutete ihm aufzustehen. „Es sei Euch verziehen, Hauptmann. Wie ich meine Schwester kenne, würde sie nicht erfreut über einen Begleiter sein, der ihr keinen Augenblick von der Seite weicht.“ Im Saal hörte man vereinzeltes, amüsiertes Flüstern.
„Ständig? Also, egal wohin ich gehe? Na das kann ja heiter werden…“, hörte Mathan Kerrys Stimme kaum vernehmbar, was bei den Umstehenden für ein Schmunzeln sorgte. Sie klang trotz der Worte erleichtert.
Faelivrin tat so als ob nichts wäre, auch wenn ihr Mundwinkel kurz zuckte und antwortete dem Hauptmann der Palastwache: „Gemessen an Euren Fähigkeiten sind drei genug – zumal sie auch meines Vaters Schutzes genießt und die Gunst einiger guten Krieger.“
Tárdur verneigte sich noch einmal und verschwand in der Menge. Istime berief indessen einige Soldaten in führende Positionen, die sich nach dem Kampf um Rómen Tirion besonders hervorgetan hatten. Danach wurde die gesamte nördliche Stadtmauer bemannt und in Alarmbereitschaft versetzt, woraufhin ein gutes Dutzend Elben den Saal verließen, allen voran die frisch beförderten Kommandanten der jeweiligen Mauerabschnitte. Die Königin nannte einige weitere Befehlshaber und forderte sie auf, nach der Versammlung zu verweilen. Mathan war nicht darunter, dafür aber Isanasca. Er war sich sicher, dass er den Posten des Heermeisters hauptsächlich bekommen hatte, um seiner Enkelin beratend und unterstützend beizustehen, was ihm aber ganz recht war. So konnte er seine große Erfahrung weitergeben.
Faelivrin wandte sich noch einmal an die versammelte Menge, diesmal so ruhig wie ein Fels in der Brandung: „Wir werden noch einmal geordneter zusammenkommen, wenn die Situation an dem Nordtor geklärt ist.“ Sie lächelte Mut machend. „Habt Zuversicht und bewahrt Ruhe. Wappnet euch, schärft eure Klingen und stählt eure Herzen, damit dort das Feuer der Hoffnung unermüdlich brennen kann. Gemeinsam werden wir diese Herausforderung bewältigen, denn nach jeder finstern Nacht geht die Sonne wieder auf.“
« Letzte Änderung: 29. Jan 2023, 20:38 von Curanthor »

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Der Geleitschutz
« Antwort #55 am: 1. Feb 2023, 11:39 »
Kerry hatte den Beginn von Faelivrins Ansprache damit verbracht, über Adrienne und Aéd nachzudenken. Ihre Sorge um ihre Freundin war etwas geringer geworden, da es ihr immerhin gelungen war, Adrienne dazu zu bringen, eine Rüstung in den kommenden Kämpfen zu tragen. Dennoch blieb eine große Ungewissheit. Adrienne schien noch immer nicht sonderlich an ihrem eigenen Leben zu hängen. Außerdem war sie offensichtlich verärgert, dass Mathan eine neue Schülerin an seiner Seite hatte. Kerry fragte sich, was es mit der fremden Frau wohl auf sich haben mochte. Ihr waren weder Name noch Gesicht der Kriegerin bekannt, die neben Mathan stand. Kerry beschloss, bei einer passenden Gelegenheit die Bekanntschaft der Fremden zu machen.

Ihr Blick war immer wieder an Aéd hängengeblieben. Wie stark und königlich er an der Seite der Elbenherrscherin wirkte! Kerry hatte zunächst befürchtet, dass Faelivrins Glanz ein schlechtes Licht auf den Wolfskönig werfen und ihn im Vergleich ärmlich und primitiv wirken lassen würde, doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Faelivrins Worte erhoben Aéd zu einem mächtigen, nahezu ebenbürtigen Verbündeten, der die Sicherheit seines eigenen Reiches riskierte, um den Elben Eregions im Kampf beizustehen. Standhaft und kriegerisch sah der Wolfskönig aus, wie er mit seiner Wolfskrone auf dem Haupt und mit Schwert und Axt bewaffnet neben der Königin der Manarîn stand und ihr durch seine Anwesenheit seine Unterstützung versicherte. Kerry hatte viele der jungen Krieger in Aéds Wolfsrudel kennengelernt und wusste, welche Leistungen die Dunländer im Kampf zeigen konnten. Sie würden in den kommenden Schlachten eine unschätzbare Verstärkung für Ost-in-Edhils Verteidiger darstellen.

Kerry stellte fest, dass das nachdenkliche Antlitz Helluins, das ihre Gedanken oft begleitet hatte, in jenen Momenten dort im Thronsaal weit in den Hintergrund gerückt war. Mit einem Mal stellte sie ihre Entscheidung in Frage, getrennten Weges von Aéd zu gehen. Zweifel nagten an ihr und wieder einmal stritten Gefühle in ihr miteinander, die sich nicht so leicht vereinbaren ließen. Ein Teil von Kerry war es mittlerweile Leid, sich ständig mit derlei Fragen herumzuschlagen. Ein anderer Teil machte sogar Adrienne Vorwürfe, weil sie die Verwirrung in Kerrys Herzen noch um ein Vielfaches verstärkt hatte. Sollte sie versuchen, Aéd in einem ruhigen Moment nach dem Ende von Faelivrins Ansprache beiseite zu ziehen und offen mit ihm über ihre Gefühle zu sprechen?
Nein, nein, das kannst du nicht machen. Er hat doch Wichtigeres zu tun, sagte sie zu sich selbst.

Sie wäre ohnehin nicht weit gekommen, falls sie ihren Gedanken wirklich in die Tat hatte umsetzen wollen. Aéd wurde gleich nach dem Ende der Rede der Königin zum Kriegsrat gerufen, dem auch Mathan als oberster Kommandant angehörte. Als Kerry, noch immer stark von ihrem inneren Konflikt beeinträchtigt versuchte, sich in Richtung des Hauptausgangs des Thronsaals zu bewegen, lief sie mitten in eine schwarze, weiche Wand.
Stoff? fragte sie sich noch, ehe eine starke Hand sie an der Schulter packte - sanft, aber mit Nachdruck - und davon abhielt, einen ganz und gar Prinzessinnen-unwürdigen Spagat auf dem glatten Saalboden hinzulegen. In ihrer Gedankenverlorenheit hatte sie vergessen, dass sie nun auf Faelivrins Anordnung hin auf Schritt und Tritt von Tárdur, dem Palastwächter und seinen beiden Gefährten begleitet wurde.
"Nicht so hastig, hírilya," ertönte Tárdurs Stimme, aus der Kerry das amüsierte, aber respektvolle Schmunzeln heraushören konnte, auch wenn sein Mund hinter dem schwarzen Stoff verborgen blieb, aus dem auch sein breiter Mantel bestand - in dem Kerry sich verfangen hatte. Wie so oft schoss ihr die Schamesröte in die Wangen. Sie fragte sich, ob wohl viele Augen ihr Missgeschick mitbekommen hatten und war erleichtert festzustellen, dass so gut wie alle Elben in der Halle sich längst ebenfalls in Bewegung gesetzt und dadurch einen so großen Trubel ausgelöst hatten, dass Kerrys Fehltritt wohl nur von den Wenigsten bemerkt worden sein konnte.
Ich frage mich, was diese ganzen hohen Herrschaften - abgesehen von nésas Familie - wohl von mir halten, dachte sie und war mit einem Mal ganz froh, einen kompetenten Beschützer zu haben. Tárdur verlieh ihr eine gewisse Legitimität als Prinzessin der Manarîn - wenn auch nur durch Adoption. Und ihre Begleiter konnten sie vor den meisten Blicken schützen, wenn sie es wünschte. Kerrys Stolz erwachte, wenn auch nur in einem Teil von ihr. Schon verlachte sie sich selbst, als sie merkte, was geschah. Vergiss nicht, wer du bist, sagte sie sich selbst. Eine lächerliche Gestalt inmitten all dieser prunkvollen Elbendamen und mächtigen Krieger. Sie legte eine gedankliche Pause ein, dann gestattete sie sich ein knappes Lächeln. Aber immerhin wichtig genug, um drei Leibwächter verpasst zu bekommen.

"Wir sollten reden," sagte Kerry, nachdem sie sich gesammelt hatte. Der Thronsaal war mittlerweile leerer geworden; nur hier und da strebten noch einige Nachzügler auf die Ausgänge zu.
Ihre drei Begleiter blieben stehen. Sie flankierten Kerry rechts und links, während der dritte Palastwächter einen Schritt hinter ihr ging. Bewaffnet waren sie mit langen Speeren mit breiten Klingen, die sie zweihändig führten. Weitere Waffen hingen an ihren Gürteln - jeweils zwei kurze Schwerter - und über der Schulter war ein Bogen gehängt, dessen Sehne abgenommen und zusammengerollt worden war.
Die Elben blieben stumm, als Kerry ihren Satz beendet hatte. Also sprach sie weiter. "Tárdur, deinen Namen kenne ich bereits. Doch wer sind die beiden anderen? Ich möchte wissen, mit wem ich nahezu jeden Moment meines Lebens in den kommenden Tagen teilen werde."
"Wie Ihr wünscht, hírilya Morilië," sagte Tárdur.
"Kennt ihr ein ruhiges Plätzchen, wo wir vier uns setzen und miteinander unterhalten können?" fragte Kerry in die Runde. "Vielleicht gibt es einen Ort, der so sicher ist, dass ihr nicht ständig auf der Hut bleiben müsst. Dann könnt ihr die Helme abnehmen und mir eure Gesichter zeigen."
"Wenn dies Euer Befehl ist, werden wir uns Euch nicht verweigern," antwortete Tárdur. "Einen vollständig sicheren Ort werden wir nicht finden, und unser Eid und unsere Ehre verbietet es uns, in unserer Wachsamkeit nachzulassen. Wir haben geschworen, Euch mit unserem Leben zu verteidigen." Als er weitersprach, hörte Kerry wieder dieses typische Schmunzeln aus seiner Stimme. "Und im Vertrauen, hírilya,, ich bin nicht gerade dafür bekannt, mein Wort zu brechen."
"Dasselbe gilt für mich," fügte der zweite Gardist hinzu. Der dritte Elb nickte bestätigend.
Kerry sah sie der Reihe nach an. "Na gut. Aber gibt es vielleicht irgendwo einen Ort, wo wir zumindest halbwegs in Ruhe reden können?"
"Wie wäre es mit Euren Gemächern hier im Palast?" schlug Tárdur vor.
"Ich.. habe hier eigene Gemächer?" fragte Kerry. "Ich wohne doch bei Farelyë, in ihrem Haus."
"Dennoch wurden Euch hier eigene Unterkünfte vorbereitet - für den Fall," meinte Tárdur. "Die königliche Residenz ist der sicherste Ort in der ganzen Stadt. Sollte die Behausung der Herrin Farelyë in Gefahr geraten, habt Ihr hier einen Rückzugsort."
Kerry nickte verstehen. "So ist das also. Da sieht man es mal wieder; Faelivrin denkt wirklich an alles." Sie blickte in die Runde. "Also gut, wer von euch kennt den Weg dorthin?"

Sie brauchten nicht weit zu gehen. In den oberen Stockwerken, die sie über eine gewundene Treppe erreichten, waren viele Gemächer eingerichtet worden nachdem die Bauarbeiten am Palast fertiggestellt worden waren. Kerrys persönliches Gemach lag an der linken Flanke des Gebäudekomplexes und besaß einen kleinen Erker mit runden Fenstern. Türkise Vorhänge filterten das Sonnenlicht, das hereinfiel. Kerry war froh, drei Stühle neben dem Bett zu entdecken, das für sie vorbereitet worden war. Sie bat ihre Leibwächter, Platz zu nehmen, doch sie stieß dabei auf Widerwillen.
"Ich möchte euch dreien keine Befehle geben," sagte sie notgedrungen. "Das passt nicht zu mir. Aber mir wäre es wirklich lieber, wenn ihr mich nicht so auf ein Podest stellen würdet... ich habe wirklich nichts dagegen, wenn ihr sitzt. Ich werde mich aufs Bett niederlassen und ihr stellt die Stühle daneben, in Ordnung?"
"Wie unschwer festzustellen ist, hat die junge Dame noch viel über ihre hohe Stellung zu lernen," scherzte Tárdur, dann tauschte er sich im Flüsterton mit seinen Kameraden aus. Den Quenya-Dialekt, den sie dabei benutzten, konnte Kerry kaum verstehen, doch sie war erfreut festzustellen, dass zwei der Elben schließlich Platz nahmen. Tárdur hingegen blieb stehen. "Ich werde vor der Türe Wacht halten, bis Ihr Eure Neugierde im Bezug auf diese beiden befriedigt habt. Danach werden sie meinen Platz auf dem Flur einnehmen und ich werde mich Euren Fragen stellen, hírilya."
Kerry erkannte, dass sie nicht mehr erreichen würde als das. Also nickte sie und bat dann die beiden Gardisten, ihre Helme abzunehmen und sich ihr vorzustellen.
"Ramatar," sagte der erste.
"Ristallë", sprach die zweite Gardistin, deren Stimme Kerry bislang nicht gehört hatte. Sie war erstaunt, eine Frau hinter der schwarzen Gesichtsmaske vorzufinden.
Beide Krieger stammten aus den Neuen Landen und waren vergleichsweise jung, geboren während der Herrschaft Finuor Mârins. Ramatar war ursprünglich Marinesoldat gewesen und hatte sich in mehreren Seegefechten ausgezeichnet, was ihm seinen Aufstieg zur ehrenvollen Position der Palastgarde ermöglicht hatte. Ristallë stammte von einer der kleinsten Inseln des Seereiches der Manarîn, die immer wieder Ziel von Überfällen durch Piraten gewesen war, die in den Meeren südlich der Neuen Lande ihr Unwesen trieben. Sie hatte von klein auf gelernt, sich und andere zu verteidigen und war dem Weg der Kriegskunst bis zur Ehrengarde gefolgt.

Nachdem Kerry ihre beiden Beschützer eine Weile mit Fragen gelöchert hatte, entließ sie Ristallë und Ramatar schließlich. Sofort setzten die beiden ihre Helme wieder auf und bezogen vor Kerrys Tür Stellung, während Tárdur Kerry damit überraschte, dass er sich neben sie auf das Bett setzte.
"Nun, meinen Namen kennt Ihr bereits," begann der Gardist, ehe er seinen Kopfschutz abnahm. Sein Haar war blond und relativ kurz; eine Seltenheit unter den Manarîn, wie Kerry wusste. "Was möchtet Ihr wissen?"
Kerry überlegte. Sie war mit Tárdur bereits viel vertrauter als sie gedacht hatte. Sie legte den Kopf um eine Winzigkeit schief und sagte: "Erzähl' mir eine unterhaltsame Anekdote aus deinem Leben, Tárdur."
Der Gardist strich sich mit einem Finger über das Kinn, doch er zeigte keinerlei Überraschung hinsichtlich der ungewöhnlichen Frage Kerrys.
"Weißt du, als ich zum Gardisten ausgebildet wurde, passierte mir einmal etwas sehr Peinliches", begann er. "Ich war damals noch sehr unerfahren und hatte Schwierigkeiten, mich an die strenge Ausbildung anzupassen."
Kerry nickte und hörte aufmerksam zu.
"Eines Tages wurden wir aufgefordert, einen Hindernisparcours zu absolvieren, bei dem wir unser Gleichgewicht und unsere Koordination beweisen mussten", fuhr Tárdur fort. "Ich war so nervös und aufgeregt, dass ich auf einer der Herausforderungen stolperte und mit dem Gesicht voran in einem Haufen Stroh landete."
Kerry kicherte, während Tárdur weitersprach.
"Ich war so beschämt, dass ich mich nicht einmal traute, aufzustehen", sagte er. "Aber meine Ausbilder und die anderen Anwärter lachten nicht über mich. Stattdessen halfen sie mir auf die Beine und sagten, dass ich es beim nächsten Mal besser machen würde."
"Das ist schön zu hören", sagte Kerry lächelnd. "Es zeigt, dass die Gardisten eine starke Gemeinschaft sind, die zusammenhält und sich gegenseitig unterstützt."
Tárdur nickte. "Genau das ist es. Und ich bin stolz darauf, Teil dieser Gemeinschaft zu sein."
"Und hast du den Hindernislauf dann im zweiten Versuch erfolgreich abgeschlossen?" hakte Kerry nach. Dass ein so ruhiger und erfahren wirkender Krieger auch einst ein blutiger Anfänger gewesen war, machte ihn umso nahbarer für sie.
"Es hat noch mehr als einen Anlauf gebracht," gab Tárdur zu und zeigte wieder das gewohnte Schmunzeln. "Das habt Ihr nicht erwartet, nicht wahr?"
"N-naja, ich schätze... jeder muss irgendwann einen schwierigen Anfang hinter sich bringen, also, im Leben, meine ich," sagte Kerry etwas holprig.
"Und so ist es bei Euch ebenfalls," sagte Tárdur. "Ihr werdet sehen, die Rolle der Prinzessin wird sich schon bald viel einfacher für Euch anfühlen."
Kerry nickte. Er machte ihr Hoffnung, und das war gut. Ihr fiel auf, dass sie schon die ganze Zeit über weder an Aéd, noch an Adrienne oder an Helluin gedacht hatte. Und das war ihr im Augenblick viel wert.
RPG:

Curanthor

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Valena und Adrienne
« Antwort #56 am: 18. Feb 2023, 20:15 »
Adrienne stand mit verschränkten Armen an einer Säule gelehnt und hatte der Rede der Königin mit gleichmütiger Miene zugehört. Sie hörte die Stimme der Elbe, aber es war so, als ob sie durch einen dichten Schleier zu ihr sprach. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie irgendwelche Krieger hervorgerufen wurden, dann Mathan. Ihr Blick bemerkte die Fremde die neben ihren ehemaligen Lehrmeister in der Menge stand. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Unwohl wechselte sie das Bein, mit dem sie sich an die Säule lehnte.
 Ihr Ersatz hatte lange rote Haare und schien in einem ähnlichen Alter zu sein. Sie wirkte viel kriegerischer als sie selber, allein dadurch, dass sie stets mit gerecktem Kinn und gerader Statur dastand. Adrienne konnte sich dem Gedanken nicht verschließen, dass die Fremde vielleicht doch eine bessere Wahl war als sie selber. Dann sollte es so eben sein, warum gegen das Schicksal ankämpfen, es war sowieso zwecklos.
Ihr Blick wanderte zu Kerry, als die Versammlung aufgelöst wurde. Die Blonde warf ihr zwar einen Blick zu, den Adrienne jedoch nur gleichmütig erwiderte. Ihr war noch immer nicht klar, was sie dazu gebracht hatte sie zu küssen. Nüchtern betrachtet war es nichts als der Wunsch nach einer engen Freundin und etwas Zuneigung gewesen. Zumindest war sie zu dem Schluss gekommen, nachdem sie mit dem Messer in der Hand vor einigen Stunden wieder aufgewacht war. Alles was sie bisher getan hatte, kam ihr so lächerlich unbedeutend vorgekommen. Warum war sie überhaupt hier? Sie ließ sich mit den übrigen Elben aus dem Thronsaal treiben. Ihr Blick hing auf den wolkenverhangen, dunkelgrauen Himmel. Aus dem Augenwinkel sah sie einen kleineren blonden Haarschopf, der von drei in schwarz Gewandten Elbenkriegern in einen großen Westflügel geleitete wurde. Adrienne atmete tief durch, aber das Gefühl von Enge wollte nicht von ihrem Brustkorb weichen. Sie spürte, wie ihre Augen wieder etwas feucht wurden, bis ein dumpfes Pochen in ihrem verletzten Auge sie zum Blinzeln brachte. Irgendjemand legte ihr einen Mantel um die Schultern.



Valena schaute abwartend zu Mathan, als die Versammlung aufgelöst wurde. Sie fühlte sich etwas fehl am Platz. Der Elb gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen draußen zu warten. Die anfängliche Begeisterung über diesen Ort war bei ihr bereits verflogen, also schritt sie relativ zügig hinaus zu dem großen Portal zur Treppe, die hinaus auf dem Palastvorplatz führte. Niemand sprach sie an, die meisten liefen entweder eilig die Treppen hinunter und verteilten sich, oder warfen ihr einen neugierigen Seitenblick zu. Sie atmete tief durch, als ein Windzug etwas frische Luft mit sich brachte.
Als sie sich wieder umwandte, wurde das Tor zum Thronsaal geschlossen. Inder Vorhalle waren nur ein paar wenige Elben übrig. Etwas verloren stand die verwirrt wirkende Gestalt der anderen Schülerin Mathans in der Mitte der Halle und starrte ins Leere. Valena hatte nur kurz mit ihr zu tun gehabt, aber es hatte gereicht um ihren Geisteszustand anzuzweifeln. Damit war sie offenbar nicht alleine, denn alle die an ihr vorbeigingen, machten einen großen Bogen um sie. Sie seufzte und ging auf sie zu. Die kastanienbraunen Haare der jungen Frau waren durcheinander und eine große Wunde zeichnete ihr Gesicht. Sie musste entweder einen ungleichen Kampf bestritten haben oder eine Menge Glückt gehabt haben. Valena war sich sicher, dass jeder normale Hieb sonst jemanden den Kopf gespalten hätte. Sie löste die Klammern ihres Umhangs und legte sie der Barfüßigen um die Schultern. Erst jetzt, wo sie direkt vor ihr stand nahm sie Notiz von ihr. Ein Anflug von Hass flackerte in den nussbraunen Augen auf, der aber sofort mit Gleichmut ersetzt wurde.
„Ist dir nicht kalt?“, fragte Valena etwas unbeholfen.
Erst starrte die Angesprochene nur an ihr vorbei, bis sich ihr Blick unwillig auf ihr Gesicht fixierte. „Etwas“, entgegnete sie nur knapp.
„Du bist Adrienne, auch eine Schülerin von dem Elbenherrn“, stellte Valena unbeeindruckt fest und nickte dabei zur verschlossenen Türe des Thronsaals, „Hab‘ ich von den anderen gehört.“
Ein knappes Nicken. Adrienne begann etwas auf den Fußballen hin und her zu wippen.
„Vielleicht sollten wir dich einkleiden.“
Sie stoppte und legte fragend den Kopf schief.
Valena stöhnte genervt auf. „Wenn du dich selbst umbringen möchtest…“ begann sie mit einem Blick auf den dunkelroten, verlaufenen Fleck auf Herzhöhe ihres weißen Oberteils, „Da gibt es andere Wege.“ 
„Hmm?“, machte Adrienne überrascht. Ihr trüber Blick wurde plötzlich klar und ihre Augen fixierten sie. „Warum sollte ich so etwas Dämliches tun?“
Valena runzelte die Stirn. „Du hast eben ziemlich selbstzerstörerisches Zeug von dir gegeben, schon vergessen?“
„Oh, das.“ Adrienne schaute wieder über Valenas Schulter in die Ferne, „Warum gegen das Schicksal ankämpfen? Es holt doch sowieso wieder einen ein.“
Valena rollte die Augen. „Schwachsinn. Ich glaube nicht an Schicksal, aber das sei jedem selbst überlassen.“
Adrienne schnaubte leise. „Bist du nur hier um mich zu nerven?“
„Ich mache mir nur Sorgen um dich an der Stelle unseres Lehrmeisters. Er hat im Moment wichtigere Aufgaben.“
„Ja, so ist das mit den feinen Elben. Immer gibt es etwas Wichtiges, oder jemanden anderen. Es gibt immer jemanden an letzter Stelle. Dort habe ich mich selbst hin befördert. Es lieg nicht an dir, das zu korrigieren, dafür ist es zu spät.“
Valena erschauderte unwillentlich. Sie kannte diesen Blick nur vom Schlachtfeld -  oder von den Lagern des roten Auges. In den Tiefen der schwarzen Iris Adriennes brannte ein gefährliches Feuer. Scheinbar hatte sie akzeptiert was geschehen würde, was auch immer es war wovon sie überzeugt war. Es hatte kaum einen Sinn gegen jemanden, der abgeschlossen hatte anzureden. Sie seufzte und antwortete, dass sie von solchen Dingen nicht viel verstand.
Adrienne legte fragend den Kopf schief.
„Ich erzähle dir jetzt nicht meine Lebensgeschichte. Bei uns gab es keine Elben, nur alte Geschichten und andere Bräuche. Jetzt sei nicht so stur.“  Valena verlor allmählich die Geduld und schob sie an den Schultern einfach in die Richtung, wo sie die Rüstkammer vermutete. Adrienne schien sich kurz zu widersetzen, gab dann aber plötzlich nach. Einer der herumstehenden Elben in Schwarz beschrieb ihr einen Raum, in dem behelfsmäßig Ausrüstung ausgegeben wurde. Valena wunderte sich noch immer über ihren Zweck, bedankte sich aber bei dem Mann und ging in den Ostflügel. Mittlerweile musste sie Adrienne auch nicht mehr vor sich herschieben, sondern sie an der Schulter gepackt bestimmt leiten.

Als sie an der unscheinbaren Türe, die aus frischem Holz bestand angekommen waren, befreite sich Adrienne mit einem Schulterzucken von dem Griff und klopfte. Ein Ruf aus dem Inneren ließ die beiden eintreten. Ein dunkelhaariger Elb mit einer breiten Narbe auf der Stirn und einfachen Roben gekleidet blickte von einem kleinen Tisch auf. Rechts und links von ihm türmten sich Truhen, Schachteln und Kisten, aus denen Griffe aller Art und allerlei Ausrüstungsgegenstände ragte. Auf einigen simplen Rüstungsständern hinter ihm hingen mehrere Elbenrüstung unterschiedlicher Machart.
„Valena vom Raureiftal“, stellte sie sich mit einem knappen Nicken vor und deutete auf die leicht bekleidete Adrienne, „Ich denke unser Anliegen ist offensichtlich.“
Der Elb legte eine Zange beiseite, mit der er an einem Kettenhemd gearbeitet hatte. „Und auf wessen Geheiß seid Ihr hier, Dame Valena?“ Er hatte eine sanfte, melodische Stimme, wie fast alle Elben die sie in den letzten Tagen sprechen gehört hatte.
„Mein Lehrmeister ist der ehrenwerte Herr Mathan“, antwortete sie knapp.
Der Elb hob eine Braue. „Ach, tatsächlich.“ Er griff erneut nach seiner Zange und arbeitete einige weitere Ringe in das Kettenhemd. „Und was wünscht Ihr nun von mir?“, fragte er ohne aufzublicken. 
„Eine neue Ausrüstung für meine…“, Valena blickte aus dem Augenwinkel zu Adrienne, die eine unergründliche Miene aus Gleichmut aufgesetzte hatte, „Mitschülerin. Ein Paar Schuhe allen voran.“
„Davon ging ich aus.“ Der Elb legte erneut seine Zange zur Seite und beugte sich nach rechts hinab. Als er sich aufrichtete, warf er ein Paar Lederstiefel quer durch den Raum. Valena und Adrienne fingen jeweils einen Schuh. Es waren Reiterstiefel, die fast bis zu den Knien reichten. Das Leder war sehr weich und dunkelbraun, fast schwarz.  Valena reichte ihn prompt weiter. Adrienne nickte sogar knapp.
„Eben fertig geworden. Neu besohlt. Dürften eine lange Zeit halten“, brummte der Elb. Er deutete mit dem Daumen hinter sich auf zwei etwas kleiner wirkende Rüstungen, die auch schon mit Schulterschutz, Arm- und Beinschienen versehen waren. „Je nach euren Kampfstil. Genietetes Leder für Beweglichkeit, oder ein Stahlkürass für die Schlacht. Für Extrawünsche müsstet ihr zu Herrn Amarin gehen, er hat auch eure Maße genommen.“
„Oh“, machte Adrienne und klang tatsächlich erstaunt, „Danke.“
Der Elb brummte etwas Unverständliches in einer unbekannten Sprache, sagte aber dann etwas unwirsch: „Unterkleidung und dergleichen sind in der Truhe links von den Streithämmern. Hosen und Beinbekleidung in der Kiste links von der Tür. Ich empfehle eine mehrschichtige Lederhose.“
Valena hob überrascht eine Braue und wandte den Kopf langsam zu Adrienne. Wäre sie so verrückt ohne Unterkleidung herzumzulaufen? Eine leise Stimme in ihrem Kopf stimmte dem zu. Valena schloss genervt die Augen, hörte aber wie Adrienne die Truhe öffnete und sich die übrigen Kleidungs- und Ausrüstungstücke zusammensuchte, die der Elb ihr beschrieb wo sie zu finden waren.

Jemand tippte ihr dann nach einer kurze Weile auf die Schulter. Adrienne stand vor ihr, einen Berg Ausrüstung auf beiden Armen, neben ihr der etwas garstige Elb. Erst jetzt bemerkte sie, dass eines seiner Hosenbeine ins Leere ging und er auf einem Bein balancierte. Rasch fixierte sie seine Narbe, den missbilligenden Blick vermeidend.
„Besser Ihr helft ihr, Dame Valena“, brummte der Elb und hielt sich an einer Kiste fest, als er zu seinem Tisch zurückkehrte, „Damit sie wenigstens etwas in Würde herumläuft. Und jetzt lasst mich alleine, ich habe noch sehr viel zu tun.“
Valena kam der Aufforderung gerne nach und verließ recht eilig das Arbeitszimmer des unwirschen Elben. Adrienne folgte ihr auf dem Fuß. Auf dem Korridor tauschten sie einen Blick. Scheinbar hatte auch sie auch noch nie so eine Begegnung gehabt.
„Dann wollen wir dich mal einkleiden“, schlug Valena mit einem Blick auf dem genieteten Lederharnisch vor.
Adrienne brummte zustimmend und nickte zu dem Nachbarraum, dessen Tür einige Schritte weiterlag.
Vielleicht war sie doch nicht so verloren wie sie dachte. Aber stark war sie, fiel ihr auf. Allein das Kettenhemd auf ihren Armen wog einiges, ging es ihr durch den Kopf als sie in einen leeren Raum traten. Er besaß keine Fenster und schien erst vor kurzem fertig gestellt worden zu sein.
Sie wechselten keine weiteren Wörter, während Valena Adrienne half sich anzukleiden und die Rüstung anzulegen. Sie bemerkte drei gewaltige Narben, wobei eine sich quer über den Oberkörper zog. Auch sonst war der Körper ihrer Mitschülerin so sehr gezeichnet, als ob sie hunderte Schlachten erlebt hatte. Überall waren feine weiße Narben von Schnitten, Stichen und anderen alten Wunden.
Als sie fertig waren, blickte Adrienne zweifelnd an sich herab. „Ich würde es schätzen, wenn du das was du gesehen hast für dich behältst.“ Ihr Blick traf Valena und sich wirkte das erste Mal nicht abweisend, „Manche Augen lassen sich leider nicht täuschen. Du hast einen starken Blick.“ Ein Anflug eines Lächelns lag in ihren Augen, der rasch verschwand, als sie ihr den Mantel zurückgab, doch Valena schüttelte den Kopf.
„Behalte ihn. Als Entschädigung für unsere… missglückte erste Begegnung.“
Adrienne legte kurz den Kopf schief, nickte aber dann. „Wenn du es so willst.“ Sie zögerte kurz und setzte nach: „Er wird mir gute Dienste leisten.“ Sie ging an ihr vorbei und öffnete die Tür, „Ich werde dir diesen Dienst erwidern.“ Mit den Worten fiel die Tür wieder zu.
Valena blickte mit einem verwirrten Gesichtsausdruck auf die Tür und schüttelte den Kopf. Eine eigenwillige Art sich zu bedanken, aber der Gedanke zählt. Wer weiß was sie erlebt hat...

Curanthor

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Besprechung unter aufziehenden Schatten
« Antwort #57 am: 21. Okt 2024, 03:16 »
„Unsere Späher berichten, dass die vermummten Krieger unter weißer Flagge ihren Schritt stark verlangsamt haben“, berichtete Baranthea von den Hwenti, „Es ist nur eine Hand voll in schwarz gekleidete Fremde, aber sehr schwer gerüstet und hinterlassen so gut wie keine Spuren. Wenig Proviant, bis auf einen großen Leinsack. Keine Orks, soweit wir beurteilen konnten. Zu wenige für einen Angriff.“
„Was auf ein relativ nahes Lager hinweist“, schloss Isanasca besorgt und nickte knapp zum Dank.
Baranthea, eine junge Hwenti-Elbe kaum dem Jugendalter entsprungen lief eine Spur rot an und trank hastig einen Schluck Wasser.

Mathan strecke seine Füße. Sie saßen schon seit einiger Weile auf hölzernen Stühlen in einem großen Kreis im Thronsaal. Fast alle Anführer oder Sprecher der Avari waren gekommen, Aéd saß neben Faelivrin und gönnte sich einen leichten Wein, den Ivyn gerade ausschenken ließ. Der Wolfskönig hörte aufmerksam zu und hatte bisher nur versichert, dass seine Krieger bald eintreffen werden. Sarante von den Kinn-Lai saß direkt nehmen ihn und wollte etwas sagen, als eine Nebentür aufschwang und Amarin den Raum betrat. Er wirkte müde, sein Gesicht mit Ruß verschmiert, eine lederne Augenklappe verdeckte sein trübes Auge.
„Weitermachen.“ Er hob nur lässig einen Arm und lehnte sich an den Türrahmen.
Einige blickten irritiert zu ihm, dann zu Faelivrin und Ivyn, die jedoch keine Regungen zeigten.
Merolon von den Kindi erhob das Wort: "Ich denke, diese Fremden sind uns ohne Zweifel feindlich gesinnt und mit der Absicht gekommen, unsere Verteidigungsanlagen auszukundschaften . Es wird wohl keine Verhandlung geben.“ Seine tiefe Stimme verhallte kaum im Saal, als Adrator von den Cuind ein leises Schnaubten von sich gab.
„Wart Ihr es nicht, die lieber den Kopf in den Sand stecken wolltet? Jetzt sind es 'unsere' Verteidigungsanlagen?“, fragte Sarante spitz und wandte sich an Faelivrin, „Dennoch ist die Überlegung nicht so abwegig.“
„Wir sollten sie von hier vertreiben“, schlug Adrator vor, „Wahrscheinlich waren sie es, die unsere Siedlungen überfallen haben.“
Fanathr hob beschwichtigend die Hände: „Wir sollten nicht übereilt handeln.“

Mathan tauschte einen Blick mit seinem Vater. Amarin rollte etwas mit den Augen. Sie beide hatten keinen großen Gefallen an Verhandlungen oder großen Besprechungen.
Er unterdrückte ein Grinsen und deckte sein Glas rasch mit einer Hand ab, als eine Elbenmagd ihm nachschenken wollte: „Danke, wir sollten einen klaren Kopf bewahren.“
Seine Tochter wandte ihm daraufhin ihren Blick zu. Mathan kannte diesen Ausdruck. Fordernd. Er räusperte sich leise und wandte sie stattdessen zu seiner Enkelin, während Faelivrin kurz überrascht eine Braue hob: „Prinzessin?“
Isanasca trug ein kleines Veilchen in ihrem blonden Haar und hatte bisher kein Wort gesagt. Sie hatte die ganze Zeit über schweigend dort gesessen und eher wie ein Rüstungsständer gewirkt.

„Ich denke, wir sollten sie vor den Toren anhören“, sagte sie schließlich bedacht, als alle Blicke auf ihr lagen, „Die äußerlichen Verteidigungsmerkmale werden sie auch so erkennen, da macht es keinen Unterschied ob sie auf der Anhöhe stehen oder direkt vor dem Tor.“

Ehe murren oder Widersprüche kamen, erklang unvermittelt Amarins Stimme: „Außerdem sollten wir herausfinden mit was wir es zu tun haben. Keine Orks? Ungewöhnlich. Dann doch Menschen im Dienste Sarumans? Etwas anderes? Mir gefällt das nicht.“

Ivyn nickte zustimmend und Mathan fiel auf, das sie das erste mal unruhig wirkte. „Etwas trübt meine Sicht, doch sie zu vertreiben wäre töricht.“ Ihr Kopf ruckte zum Tor, ihre Blick ging ins Leere, „Und doch sind es Augenblicke wie dieser... die mir Sorgen bereiten.“

„Amante hat mir eben davon berichtet“, ergänzte Amarin besorgt, „Und auch andere mit der Gabe berichteten ähnliches.“

Die übrigen Avari murmelten zustimmend und tuschelten besorgt, während Faelivrin Aéd scheinbar mit leisen Worten erklärte, worum es ging.

„Ich schlage vor...“, hob Isanasca an und wurde unterbrochen als ein Bote eintrat. Sie wartete, während er eilig herankam und ihr den Bericht ins Ohr flüsterte. Sie nickte knapp.
Ivyn wandte sich an Mathan mit einem zuckendem Mundwinkel, ihre Augen voll mit silbernen Glanz: „Feldherr, holt euer Großschwert und euren Schild, Ihr werdet sie brauchen.“
Mathan starrte sie einen Moment lang an. Sein Großschwert hatte er schon seit sehr langer Zeit nicht mehr geführt. Und wenn, dann in seinen verzweifelten Stunden. Sein Magen zog sich zusammen. Ihn beschlich ein aufkommendes Gefühl von Verderben.
„Geht“, drängte Ivyn, die irritierten Gesichter der übrigen Elben ignorierend, „Amarin, es ist Zeit.“
Sein Vater gab ein fast schon trauriges Atmen von sich und das teilnahmslose Gesicht verhärtete sich zu noldorischen Stahl. Er zog Mathan unvermittelt vom Stuhl, der mit anfangs wackeligen Beinen auf die Füße kam. Gemeinsam verließen sie den Saal über eine Seitentür. Er hörte noch, wie Faelivrin verkündete, dass die wichtigsten Mitglieder des Hauses und Verbündeten auf die Torburg des nördlichen Tores als Zeugen kommen sollten, wenn die Fremden in Sichtweite waren.

In dem engen Gang kam ihnen Nivim entgegen. Sie wirkte überrascht und machte breit grinsend Platz, ihre knallgrünes Kleid schien brandneu zu sein. Mathan war froh, dass wenigstens sie ihre gute Laune nicht verloren hatte.
„Na, habt ihr Estora gesehen? Sie hat sich heute wieder einmal gut versteckt.“
„Bedaure“, Amarin schüttelte den Kopf, „Du solltest außerdem sie jetzt nicht mehr aus den Augen lassen.“
Nivim kicherte, auch wenn selbst ihr freudiges Gemüt merklich gefasster wirkte. „Das habe ich vor, letztens hatte es einen ganzen Tag gedauert sie zu finden.“
„Wenn du uns entschuldigst.“
Sein Vater schob Mathan weiter, sodass sie wieder zurück in der Eingangshalle kamen.
„Hättest du vielleicht die Güte mir zu erklären, was los ist? Was sollte der merkwürdige Austausch vorhin?“, platzte es aus Mathan hervor, seine Schritte verlangsamend.
Amarin machte kurz halt. „Ich hole das Schwert und den Schild. Du... suchst nach jenen, denen du vertrauen kannst.“
Mathan blinzelte verwirrt. „Vertrauen? Warum? Es ist doch noch keine Belagerung-...“
Sein Vater packte ihm grob am Schulterpanzer und zog ihn dicht an sich. „Verstehst du denn nicht?! Etwas wandert in dieser Stadt... und die Saat der Verrats wurde ausgebracht.“ Sein Blick hastete unstet durch die Halle, die glücklicherweise für diesen kurzen Augenblick leer war, „Vertraue niemanden, dem du nicht durchs Blut verbunden bist... und sei selbst dann wachsam."
Mit dem Worten ließ sein Vater Mathan in der Halle stehen. Etwas verdattert blieb er noch eine Weile dort. War Amarin wieder in eine seiner geistigen Umnachtungen zurückgefallen? Ivyn schien aber das ausgelöst zu haben, so als sie beide es erwartet hatten. Vielleicht hatte sie durch den Schleier gesehen? Er kaute auf seiner Unterlippe. Eigentlich würde er Halarîn um Rat fragen, aber sie wollte er jetzt nicht damit belasten, nicht in ihrem Zustand. Kerry hatte ihren Kopf voll mit allerlei Gefühlskram, wie er so gehört hatte – sie war außerdem nicht so gefestigt, dass er ihr das zumuten konnte. Wen könnte er verrtauen?

„Du siehst aus, als ob du einen zweiten Kopf gebrauchen könntest...“
„...oder jemanden, der dir das Denken abnimmt, so wie das raucht.“

Mathan blickte auf und vor ihm standen die zwei Elbendamen, mit denen er am wenigsten gerechnet hatte. Beide grinsten schelmisch, wenn auch deutlich reifer wirkend als zuvor.
„Wir sind hoffentlich nicht zu spät?“ Yutée musterte ihn mit einem vielsagendem Blick.
Sabaia – die ihre dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte zwinkerte ihm zu: „Irgendwie haben wir uns immer verpasst.“

Die drei umarmten sich, wenn auch nur kurz. Er spürte, dass sie ihre ganz eigenen Abenteuer erlebt hatten. Er bemerkte die Kette, die sie jeweils um den Hals trugen. Den Stahl gab es nur an einem Ort der Welt, an dem er vor einiger Zeit nach beschwerlicher Reise verweilt war. Sie trugen identische, weite Kapuzenmäntel, einzig an ihren Frisuren konnte man sie unterscheiden.

„Wir haben viel zu bereden“, stimmte er schließlich zu, „Und ihr seid genau zu rechten Zeit gekommen. Verdächtig genau.“ Mathan war froh sie zu sehen, erleichtert ebenfalls, aber das ungute Gefühl im Magen wollte einfach nicht weichen. Irgendwas übersah er, oder schaute zur falschen Stelle.

Beide hoben eine Braue. „Mutter schickte uns hier her.“
Yutée strich sich eine Strähne ihres offenen Haars aus dem Gesicht. „Sie hat auch nicht mehr gesagt, nur, dass wir zu dieser Stunde hier sein sollten.“
Sabaia runzelte besorgt die Stirn als sie ihn genauer musterte. „So schaust du nur aus, wenn irgendwas gefährliches in der Luft liegt... und die Anspannung in der Stadt. Zeitdruck? Offensichtlich. Geschwisterbesprechung, jetzt sofort.“
Ihr Zwilling hakte sich bei ihm unter, woraufhin sie es ihr gleichtat. „In der Schnellfassung.“
Er nickte nur und führte beide in eine unbenutzten Kammer im Ostflügel.

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Vor dem Sprung
« Antwort #58 am: 21. Okt 2024, 23:16 »
Es war ein merkwürdiges Gefühl wieder mit seinen Schwestern zu sprechen. Ihm war es, als sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, dabei waren es erst einige Wochen, vielleicht Monate. Er musterte sie genauer, als sie sich in der fast leeren Kammer auf einige Fässer setzten. Sie kamen deutlich nach Mutter, die wachsamen Augen waren aber die ihres Vaters. Ihre Haare hatten mittlerweile die ursprüngliche weiße Färbung verloren und nun einen dunkelblonden Ton angenommen. Um ihre Mundwinkel hatte sich ein harter Zug gebildet, am linken Handgelenk trugen sie beide jeweils einen schmalen, eleganten Armreif mit verschlungen Mustern und drei kleinen Edelsteinen. Seine Schwestern musterten auch ihn einen langen Moment, bis sie ihn darum baten seine Reise bis hier hin zu erläutern.
Mathan umriss grob die Fahrt mit der Avalosse, den Kampf um Tharbad und den Weg nach Eregion, die Kämpfe in der Schmiede, die Ankunft der übrigen Elben und dann die Reise nach Norden. Auch wenn er sich so kurz wie möglich fasste, dauerte die Erzählung länger als ihn lieb war. Glücklicherweise kannten seine Schwestern bereits einen Teil, da sie ebenfalls in den Norden gereist waren, einige Zeit nach ihm. Er blinzelte und sein Blick huschte erneut zu den Schmuck, den sie trugen. „Also... wisst ihr über Mutter Bescheid?“
Sabaia zögerte schuldbewusst, doch Yutée nickte entschlossen. „Wie haben eine Zeit lang bei ihr gelebt, zusammen mit anderen. Noch bevor wir uns in Lindon trafen.“
Mathan wurde klar, dass er nie gefragt hatte, was sie so trieben, oder wo sie lebten, als sie sich vor einiger Zeit getroffen hatten. Er fühlte sich schuldig, sich so wenig für das Leben seiner Schwestern zu interessieren. Ein wenig nagte es auch an ihm, dass seine Mutter ihm nichts davon erzählt hatte.
Sabaia bemerkte seinen Gesichtsausdruck und schob hastig nach: „Sie wollte nicht, dass wir jemanden davon erzählen. Wir waren ihre Augen und Ohren. Außerdem beobachteten wir die Schmiede, bewachten sie ohne einzugreifen... sie verbat uns hinunterzugehen...“
„...Und daran hielten wir uns.“ Yutée strich ihm sanft über die Schulter, „Wir wussten auch nicht, dass Vater dort unten lebt, sonst hätten wir es dir gleich gesagt, egal was Mutter sagt.“
Mathan atmete tief durch und nickte knapp. Er konnte ihnen nicht böse sein, immerhin war er auch kaum für sie da gewesen. Er setzte seine Erzählung fort und kam rasch an der aktuellen Lage an.
„Hmm“, machten seine Schwestern nur und schauten sich nachdenklich an, „Wir könnten dieses wandelnde Etwas suchen gehen. Und vertrauen kannst du uns sowieso.“
Er sah keinen Grund ihre Hilfe abzulehnen und stimmte zu. „Habt ihr irgendwelche Pläne bei dem aufkommenden Kampf mitzuwirken?“
Die beiden sahen sich an. Er kannte diesen Blick, dass sie irgendwas wussten, aber erst später preisgeben würden. „Vorerst nicht. Wir sind recht begabt darin unerkannt zu bleiben, wenn du verstehst...“, begann Sabaia langsam und Yutée beendete den Satz: „Zumal uns niemand in der Stadt wirklich kennt.“
Mathan runzelte die Stirn. Die Zwillinge waren schon immer etwas geheimniskrämerisch, aber diesmal war er sich sicher, dass sie etwas Größeres zurückhielten. Gleichwohl kannte er sie gut genug zu wissen, dass sie ihn nie schaden würden.
„Also gut“, brummte Mathan, „Falls euch jemand fragen stellt, verweist auf mich. Streng geheime Mission des Feldherrn.“ Die beiden nickten ernst und machten sie auf den Weg. Er wartete einige Momente, bis sie weit genug weg waren und verließ die Kammer.





Valena saß am Brunnenplatz auf dem Rand des Sockels und beobachtete wie geordnete Kolonnen an gerüsteten Elben in Reih und Glied durch die Straßen marschierten, die meisten im Laufschritt. Nur vereinzelt wurden Befehle gebellt. Scheinbar wussten sie was zu tun war, denn die meisten hatten den nördlichen Stadtteil als Zeil. Eine weitere Kolonne aus einhundert Soldaten mit purpurroten Mänteln und auf Hochglanz polierte, schwere Rüstungen marschierte gerade auf dem Platz auf. Sie wirkten deutlich abgehärteter, die Haltung stramm und bis an die Zähne bewaffnet. Hier bellte niemand Befehle, jede Bewegung wirkte so, als sie im Schlaf ausgeführt werden konnte. Einige Umstehenden murmelten, dass dies die königliche Leibgarde sei.
„Rück mal 'n Stück, Menschenmädchen“, brummte eine männliche Stimme mit einem seltsamen Akzent. Der Duft von Tannenzapfen und kaltem Metall drang ihr in die Nase. Jemand setzt sich unangenehm nah an sie heran, sodass sich ihre Beine berührten. Valenas Seitenblick war missbilligend, doch der Elbenkrieger trug eine schwere, vom Kampf gezeichnete Rüstung und starrte nach vorn. Sein leicht eingedellter Helm auf den Kopf sprach von dutzenden abgefangenen Hieben, dennoch glänzte der Stahl in der trüben Sonne. Dunkelbraune, fast schwarze Haare ergossen sich vom Unterrand des Helms auf seinem bemantelten Rücken.
„Neu hier?“, fragte er Mann nach eine Weile der Stille.
Valena brummte zustimmend, wenig Lust verspürend den aufdringlichen Kerl zu unterhalten.
„Bin schon eine Weile hier und du...?“
„Valena vom Raureiftal“, stellte sie sich kühl vor und blieb weiterhin stur sitzen.
Der Elbenkrieger lachte rau und schlang einen Arm um ihre Schulter. „Calûnor, aber du kannst mich Calún oder Cal rufen.“ Sie wand sich unter dem starken Arm, die aufkommende Panik herunter kämpfend.“Vielleicht werde ich den kommenden Krieg nicht überleben. Mein Platz ist in der vordersten Reihe. Ich wurde mit dem Schwert in der Hand geboren und werde durch ein Schwert sterben, das hat man mir weisgesagt.“ Valena hielt dabei inne, ihn von sich abzuschütteln. „Einmal wollte ich mir vorstellen wie es ist, einfach nicht in den Kampf zu ziehen... ein warmes Feuer zu Hause, einen gemütlichen Sessel mit einem Buch... aber irgendwie kann ich es nicht.“
„Warum?, fragte sie nach einem kurzen Moment, den schweren Arm auf ihren Schultern ignorierend, „Es zwingt dich doch keiner?“
Calûnor lachte erneut, jedoch weniger herzlich, „Das nicht, aber es liegt in meiner Natur. Die Kinn-Lai sind nicht dafür bekannt zimperlich zu sein“ Er zog seinen Arm zurück und legte die gepanzerte Hand auf ihr Knie, woraufhin sie merklich zusammenzuckte. „Wenn wir etwas wollen, dann machen wir das klar. Und ich sehe nicht, was du willst.“
Sie blinzelte verwirrte, noch immer unangenehm berührt durch die schwere Hand des Mannes, doch das pochende Herzen in ihrer Brust beruhigte sich stetig. Etwas überrascht davon, dass es plötzlich um sie ging, räusperte sie sich. „Was meinst du?“
„Das wüsste ich auch gerne...“ Er nahm seine Hand von ihr. „Vergiss es. Nur die Launen eines Kriegers, der sein Volk wohl in den Krieg führen muss. Die wilden und ungezähmten Gedanken vor einer Schlacht.“
Velanas Knie wirkte leichter als zuvor. Irgendwie hatte die Berührung ihr weniger ausgemacht als gedacht. Sie schaute ihn an, doch Calûnor hatte sich vorgebeugt und stützte seinen Kopf auf der Handfläche, den Ellenbogen wiederum auf seinem Bein.
„Vielleicht wollte ich auch einfach nur die Stimme einer Frau hören, die nicht ständig nörgelt, über wichtige Dinge schwadroniert oder aufbrausend ist“, murmelte der Elbenkrieger.
Valena rutschte etwas peinlich berührt auf einer Stelle herum. „Ich bin eigentlich nichts von dem. Vielleicht zu ruhig in manchen Dingen?“ Sie überlegte kurz. „Und etwas zu kämpferisch, habe ich öfters gehört.“
„Hmm, kämpferisch klingt gut, das mag ich. Aber ich denke, du magst mich nicht. Das ist auch in Ordnung.“ Calûnor richtete sich auf, „Wie gesagt, mein Volk ist nicht bekannt für seine zarte Seite.“
Er machte Anstalten zu gehen, doch Valenas Hand hielt ihn am tiefblauen Umhang fest. Überrascht schaute er zu ihr hinab. Seine bernsteinfarbenen Augen musterten sie das erste Mal im Gesicht. Der Blick des Mannes war kalt wie Stahl. Langsam ließ er sich wieder nieder. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihn hierbehalten wollte. Ihr Blick ging zu dem wuchtigen Zweihänder, den der Elbenkrieger neben sich gelegt hatte. Vielleicht ein Anflug von Bewunderung? Sie wusste es selbst nicht. Irgendwas in ihr sehnte sich vielleicht nach Stärke? Herr Mathan war die Führung, die sie brauchte. Vielleicht hatte sie nun diese Stärke gefunden. Sie war selbst von sich überrascht und schluckte den Brocken in ihrem Hals hinunter, unsicher ob sie nervös sein sollte, oder ein klein wenig Gefühl der Sicherheit zulassen sollte.
„Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich dich nicht mag“, murmelte sie schließlich. Sie griff selbstbewusster nach seiner Hand und platzierte sie auf ihrem Knie,  „Dafür brauche ich mehr Zeit.“
Calûnor ließ sie gewähren und wirkte kein Stück wie die unnahbaren Gestalten aus den Geschichten. „Ich weiß auch nicht, was ich hier mache.“, sagte er nach einem Moment und verharrte neben ihr regungslos. „Vielleicht hilft das hier mir dabei.“ Seine schwere Hand wirkte auf Valena wie ein schützendes Zelt in einer fremden Stadt. „Was auch immer gerade geschieht.“





Adrienne stiefelte unwirsch durch die enge Gassen. Irgendwas war hier, aber es entzog sich ihren Blicken. Immer wieder hatte sie das Gefühl den oder die fremde gleich um eine Ecke flitzen zu sehen, fand aber entweder leere Gassen und Gänge, oder gelegentlich ein Spitzohr. Das Geflüster, das sie stets begleitete, war zu einem dumpfen Rauschen abgeklungen. Ihr Auge schmerzte gelegentlich, vor allem wenn sie in die Sonne blickte, aber ansonsten ging es ihr besser, je mehr sie sich bewegte. Ihr kam alles so dumm und peinlich vor. Sie hatte sich gehen lassen, alles falsch verstanden und dem dunklen Gedanken nachgegeben. Der frisch verkrustete, flache Schnitt auf der Höhe ihres Herzens war das deutlichste Zeichen davon. Ein Mal ihrer eigenen Dummheit.
Nach ihrer Begegnung und der daraus folgenden Verwundung waren ihr wieder Dinge eingefallen, die sie anfangs nicht zuordnen konnte. Fetzen aus Unterhaltungen. Grausame Bilder, zerhackte Körper, Blut und Eingeweide. Dinge, die sie nie jemanden erzählen würde; darunter ihr eigenes hohles, kaltes Lachen. Dunkle Gelüste und verwirrende Erinnerungen. Alles schwirrte in ihrem Kopf umher und alles aus ihrem eigenen Blickwinkel. So als ob sie es war, die die schrecklichen Taten verübt hatte.
Sie hatte Angst, so sehr, dass ihr Magen jeden Bissen Nahrung verweigerte. Angst um sich selbst, was mit ihr geschah und auch um ihre Freunde. Sie hatte schreckliche Furcht vor dem, was kommen würde. Die Gewissheit, dass sie dem selbst kein Ende bereiten konnte war ein furchtbares Gefühl, als ob ein klaffendes Loch sie zu verschlingen drohte. Sie hatte bereits in diesen Abgrund gestarrt und hatte alle um sich herum von sich gestoßen. Hatte sich auf alle Stimmen in ihrem Kopf eingelassen.
Keuchend lehnte sich Adrienne an eine Hauswand, noch immer den ausweichenden Wesen folgend. Vielleicht war es nur ein Hirngespinst, aber es half ihr nicht daran zu denken, wie töricht sie war. Kerry hatte sie noch immer wie eine Freundin behandelt, ganz gleich wie entstellt sie war. Oder, dass sie sie ungefragt geküsst hatte. Eines der dunkleren Gelüste, ausgelöst durch übermäßigen Alkohol und den wispernden Stimmen. Und dennoch... sie wollte niemanden in der Nähe haben, nicht wenn sie ständig Gefahr verspürte. Meistens von sich selbst ausgehend. Und dennoch behandelten sie alle Adrienne wie eine Freundin. Niemand wusste, dass sie das nicht verdient hatte. Vor allem da sie immer klarer sah, was sie einst getan hatte. Es waren noch immer Fetzen, aber grausam genug es auf der Stelle zu beenden – oder es zumindest zu versuchen. Sie wollte niemanden da hineinziehen, aber die Stimmen in ihren Kopf wisperten ihr zu, dass es dafür schon längst zu spät war. Ihre Freunde würden sich sicherlich von ihr abwenden, wenn sie herausfanden was sie war. Nicht jeder war so naiv wie Kerry.
Adrienne schloss kurz die Augen. Ein Gefühl von Dringlichkeit machte sich in ihr breit. Sie stieß sich von der Wand ab und beschleunigte ihre Schritte. Ihre Hand legte sich auf dem kühlen Griff ihres Elbenschwerts. Eine besonders eindringliche Stimme erhob sich in ihrem Kopf über den allgemeinen Rauschen hinweg. Sie klang ruhig, gütig und sehr weise. Die Stimme warnte sie in einem vertrauensvollem Ton. Es drohte Gefahr, aber nicht für sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Mit einem leisen sirren fuhr der blanke Stahl aus der Scheide. Das Wispern bestärkte sie. Adrienne hatte nicht viel Zeit. Sie konnte sich vielleicht nicht selbst beschützen, das machte keinen Sinn, ganz gleich was sie Kerry sagen würde, aber sie konnte alle Kraft aufbieten andere zu beschützen – selbst diese unbekannte, ungezügelte Macht, die sich in ihr erneut regte. Selbst wenn sie daran zerbrechen würde. Es war der letzte Akt, den sie vollziehen konnte, solange sie so klar war wie jetzt.





Nivim hatte sich schließlich Hilfe geholt. Elestora war einfach zu gut in dem Spiel geworden. Sie lächelte geschlagen, als der leicht gerüstete Spähtrupp eilig vor ihr an den Treppen zum Kronsitz zum Stehen kam. Es waren neun Elben, plus den Anführer, der sich knapp verneigte. „Randar, zu Euren Diensten, ehrenwerte Dame Nivim.“
Erstaunt stellte sie fest, dass es Hwenti waren. Nivim nickte und befasste ein Tuch, mit dem sich den Schweiß zuvor von der Stirn getupft hatte. „Ich weiß, dass es fast schon lächerlich klingt, aber könntet Ihr und Eure Mannen bitte helfen meine Tochter zu finden? Die Kleine ist zu geschickt im Versteckspiel geworden.“
Der Anführer blinzelte einen Moment. „Die kleine Prinzessin Elestora?“ Seine Stimme war ernster als sie erwartet hatte.
Nivim nickte zögerlich, verunsichert von der Professionalität des Mannes. „Ich weiß, in so einer Situation habt Ihr sicherlich andere...“
Sie verstummte, da Randar die Hand hob. „Verzeiht, Dame Nivim, aber macht euch keine Sorgen. Unser Volk hält Kinder für den größten Schatz des Lebens. Macht Euch keine Vorwürfe, wir helfen gerne.“ Die Männer Randars nickten bekräftigend und versicherten ihr, dass sie sie finden würden.
Sie atmete erleichtert auf, auch wenn es ihr noch immer übertrieben vorkam. Nivim trat näher an den Trupp heran, sodass nur sie sie hören konnte. „Bitte behandelt den... Auftrag diskret.“ Sie lächelte unsicher.
Randar erlaubte sich ein Schmunzeln. „Natürlich, unsere Lippen sind versiegelt.“
Sie erklärte den Männern wo sie ihre Tochter das letzte Mal gefunden hatte, ihre beliebten und unbeliebten Orte, woraufhin sie wie Schwarm Vögel auseinander stoben.





Amante maß das schwere Schwert mit einem missbilligenden Blick, das Amarin aus dem geheimen Versteck gezogen hatte. Es war ein massiger Zweihänder, der vermutlich mehr Metall als so mancher Plattenpanzer aufwies. Der Stahl war schwarz, durchzogen von blauen Adern und schimmerte im Licht. Sie wusste relativ wenig über die Schmiedekunst, vermutlich war er leichter als er aussah, aber vor allem wertvoll. Sternenstahl erkannte sie immer problemlos.
„Ein Andenken aus Gondolin, oder inspiriert davon?“, fragte sie feixend.
Amarin hielt inne und das Steinfach einen Moment offen, ließ es aber dann mit einem Rumpeln zufallen. „Das hatte ich schon vorher auslagern lassen.“ Er trat an die schwere Klinge, „Eigentlich war es für einen der Hohen Herren der Stadt bestimmt. Mein alter Lehrmeister gestattet es mir nur für diesen Zweck mit nach Mittelerde zu bringen. Nun, wie auch immer, es kam anders .“
Sie hielt sich kurz den Kopf, doch der Schleier war heute dichter als je zuvor. Es war nichts zu sehen, nur trübe Dunkelheit. „Also beginnt das, was Cúwen einst sah.“
Ihr alter Freund grunzte nur zustimmend und schnappte sich ein Ledertuch, mit dem er die Klinge entlangfuhr. „So sieht es aus.“
„Und das sorgt dich nicht?“ Sie musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Ob er schon soweit bei klarem Verstand war?
Amarin hielt inne. „Natürlich sorgt es mich.“ Seine Stimme war schneidend, sodass sie innerlich zusammenzuckte. Da war sie wieder, die Schärfe der letzten Jahrhunderte, die ihn verändert hatten. „Meine Nachfahren werden durch Blut waten. Tragödien werden uns befallen. Natürlich...“ Er verstummte, da seine Stimme sich immer weiter hochschaukelte. Er hielt sich kurz den Kopf. Dann sagte er sanfter: „Wer würde das nicht, es sind meine Nachfahren und alten Freunde, um die es geht.“
Amante spürte sich unwillkürlich lächeln. „Alte Freunde, ja.“, wiederholte sie versonnen, „Damals schien vieles leichter, mit klaren Grenzen. Ich frage mich, was die anderen heute so tun...“
Er warf ihr einen unergründlichen Blick zu und polierte das Schwert. „Cúwen war da nicht so deutlich, ob wir uns alle überhaupt noch einmal wiedersehen... und ich erinnere mich nicht, wo ich den Schild versteckt habe.“
Sie erlaubte sich ein schelmisches Grinsen. „Dann ist es scheinbar noch nicht so dringend.“ Amante nickte in die Richtung der Schmiedefeuer, die in den geheimen Gang hinein flackerten. „Das Feuer wird es dir offenbaren, der Große Schmied wird dich sicherlich nicht vergessen haben.“
Er verharrte in der Bewegung. „Da bin ich mir nicht so sicher.“
„Wenn ich eins weiß, dann, dass es nie zu spät ist für einen Versuch.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Versuche es. Ohne den Schild... nun, du weißt ja... Wir sehen uns oben.“
„Sehr aufmunternd.“, brummte er.





Morlas putzte einige Gläser, seine starken Arme wie üblich entblößt. Eine junge Elbendame warf ihm hin und wieder Blicke zu und bestellte wahrscheinlich ihren sechsten Wein. Nein, er wusste genau, dass es ihr sechstes Glas war. Nityel erschien wie aus dem Nichts neben ihm, das Weinfässchen unterm Arm. Ihr scharfer Blick wanderte durch den leeren Schankraum. Bis auf einige wenige Elben und die drei Zwerge war es leer. Morlas erwartete ein Kniff in die Seite, da die Elbenmaid ihm deutliche Zeichen gab, doch seine Frau runzelte stattdessen die Stirn. Er stellte besorgt das Glas ab und trocknete seine Hände an der Schürze. Normalerweise hätte sie ihm die Ohren lang gezogen, stattdessen ließ sie fast das Fass fallen, sodass er es ihr abnehmen musste.
„Es ist so ruhig...“, sagte Nityel schließlich und es klang ominös. Sie blickte ihn an, ihre dunklen Augen leicht geweitet. Morlas ging ein Schauer über den Rücken. So aufgebracht hatte er sie noch nie erlebt. Selbst bei den Überfällen auf der Reise hier nach Westen nicht. „Meister Peregrin hatte davon gesprochen...“
Er legte ihr eine Hand um die Hüfte, die sie ergriff. Ihre Finger waren kalt und klammerten sich um die seine. „Was meinst du?“
„Das große Luftholen vor dem Sprung.“
Morlas' Magengrube krampfte sich zusammen, als er an Pippins Worte dachte, die der Halbling auch ihm erzählt hatte. Wortlos nahm er sie in den Arm und die starke Kinn-Lai vergrub ihren Kopf an seinen Schultern.





Elestora war mit ihren ganz eigenen Abenteuer beschäftigt. Sie lief einer streunenden Katze nach, die sie in die alten Viertel führten, weiter südlich. Hier waren die Gassen eng und mehr Ruinen als Zelte zu sehen. Sie mochte die Gassen nicht, aber Fari würde sich sicher freuen, wenn sie eine neue Freundin hatte. Oder Nammano. Der Mann aus Stahl, der Mutter und Großmutter immer beschützte. Nammano mochte Tiere. Sie lächelte breit, vielleicht würde er dann öfters mit ihr spielen. Und Nammano war gar nicht so garstig wie er immer tat. Er spielte nur mit ihr, wenn es keiner sah und sie musste Nammano immer versprechen es keinem zu sagen. Und sie war ein gutes Mädchen, sie hielt immer ihre Versprechen. Eilig hastete sie der Katze weiter hinterher in eine besonders enge und dunkle Gasse.
Ein schwarzer Schemen in einem Schatten ließ sie kurz zögern. Die weiß-blond getigerte Katze nutzt die Chance und quetschte sich mit einem maunzen zwischen zwei engen Steinwänden hindurch. Elestora ließ die Schultern hängen. Blöder Schemen! Sie lief darauf zu und es bewegte sich. Neugierig geworden folgte sie ihm. Mutter spielte ihr wohl wieder einen Streich - oder es war vielleicht ein anderes Tier. Sie folgte ihm tiefer in die immer unheimlich wirkendere Gasse und sie stockte. „Amil?“ Sie stolperte rückwärts, als der Schemen urplötzlich anhielt. Zu spät bemerkte sie, dass das kein Schemen war und er sich aufrichtete. Etwas packte sie. Kaltes Leder über ihren Mund verhinderte ihren gellenden Schrei, dann wurde sie von den Füßen gerissen.




Adrienne erstarrte mitten in der Bewegung, ein stechender Schmerz im Auge. Klirrend fiel ihr Schwert zu Boden. Stöhnend beugte sie sich nach vorn, eine Hand am Kopf, die andere gegen eine alte Steinwand gelehnt. Eine weiß-blond getigerte Katze strich ihr schnurrend um die Beine.
« Letzte Änderung: 21. Okt 2024, 23:26 von Curanthor »

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  • Ich hab da ein ganz mieses Gefühl bei der Sache...
Unterwegs in der wartenden Stadt
« Antwort #59 am: 24. Okt 2024, 10:31 »
Nachdem Kerry die drei ihr zugeteilten Gardisten zu Genüge kennengelernt hatte, beschloss sie, sich die Beine zu vertreten. Im Palast war es ihr zu eng geworden, wie sie Tárdur anvertraute als dieser sie die großen Stufen vor dem Eingangsportal der königlichen Residenz hinab geleitete. Aufgrund der angespannten Lage in der Stadt wurden weiterhin viele der Bewohner dort in Sicherheit gebracht, weil der Königspalast der am besten gesicherte Ort in Ost-in-Edhil war. Allerdings bedeutete das ebenfalls, dass sämtliche Gänge und Hallen voller Leute waren und ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Dasselbe galt auch für die Straßen in unmittelbarer Nähe zum Palast. Die angespannte Atmosphäre, die von beinahe allen Stadtbewohner auszugehen schien, ließ Kerry immer wieder ungewollt den Atem anhalten und erinnerte sie nur allzu deutlich daran, dass sie sich nun erneut in einer Situation befand, die sie schon einmal erlebt hatte: das Warten auf einen lang erwarteten Krieg, der nur darauf wartete, wie eine schwarze Woge über sie hereinzubrechen.

Plötzlich war sie in ihrer Erinnerung wieder in Fornost, kurz bevor die Horden Angmars die Stadt einschlossen. Sie sah die wenigen Dúnedain des Sternenbundes, die sich verzweifelt abmühten, die letzten Vorbereitungen so weit es ging abzuschließen. Ardóneth rannte an ihr vorbei, einen großen Stapel Pfeile im Arm. Er schien Kerry nicht zu bemerken. Gandalf, der Zauberer, schritt würdevoll auf sie zu, den ernsten Blick in die Ferne gerichtet und den weißen Stab fest in der Hand. Auch er nahm Kerry nicht wahr. An einer Straßenecke entdeckte sie Mathan, der mehrere Menschen in den Grundlagen des Schwertkampfes unterwies. Adrienne stand neben ihm, und wandte den Kopf, als Kerry sich näherte. Doch Adriennes Blick durchbohrte Kerry, als wäre sie gar nicht da. Zuletzt stieg sie die breiten Stufen zum Torhaus Fornosts hinauf, wo eine Frau im langen grauen Kapuzenumhang auf sie zu warten schien. Erst glaubte Kerry, es handele sich um Haleth, doch dann streifte die Waldläuferin vor ihr die Kapuze ab und die goldblonden Haare Mírlinns leuchteten Kerry entgegen. Mírlinn, die in der Schlacht um Fornost gefallen war. Sie streckte die Hand nach Kerry aus und legte sie ihr auf die Schulter, doch als Kerry spürte, wie der Griff etwas fester wurde und sie sanft schüttelte, verschwamm das Bild vor ihren Augen und Mírlinns trauriges, ernstes Gesicht verwandelte sich in das halb von schwarzem Stoff verborgene Antlitz ihres Gardisten, Tárdur.
"Dies ist nicht die Zeit für Tagträumereien," sagte er ohne Spott oder Vorwurf in der Stimme. Kerry sah sich um und stellte fest, dass sie in der Nähe der Straße standen, in der das Lorbeerblatt lag. Kurzerhand entschied sie, Morlas und Nityel einen Besuch abzustatten.

In der Gaststube war wenig los, wie Kerry mit einem raschen Blick feststellte. Die Ankunft ihrer drei bewaffneten Begleiter ließ die anwesenden Elben alarmiert aufblicken, doch Tárdur machte eine beruhigende Geste mit der Hand, und alle wandten sich wieder ihren Gesprächen und Getränken zu. Tárdur, Ramatar und Ristallë lehnten ihre Speere gegen eines der Fenster und folgten Kerry zu einem der Tische.
"Setzt euch," sagte sie, ohne selbst Platz zu nehmen. "Ich bringe euch etwas. Immerhin bin ich hier Schankmaid, zur Aushilfe."
Tárdur schien Kerry mittlerweile gut genug zu kennen dass er nicht versuchte, ihr diese Idee auszureden, so unangemessen sie für eine - zumindest adoptierte - hochrangige Dame auch sein mochten. Ramatar und Ristallë tauschten einen raschen Blick mit Tárdur, dann setzten sie sich gehorsam.
"Was hättet ihr gerne?" fragte Kerry.
"Etwas Tee," sagten Ramatar und Ristallë wie aus einem Mund, was Tárdur zum Schmunzeln brachte. Alle drei Gardisten hatten die Halstücher, die sonst immer ihre Münder verdeckten, herabgezogen, was Kerry gut gefiel.
"Ich denke, ich werde etwas zu Essen nehmen," sagte Tárdur und lehnte sich ein wenig in seinem Stuhl zurück. "Die exakte Auswahl der Speisen überlasse ich dir, hírilya."

Kerry ging und ließ die drei Gardisten an ihrem Tisch alleine. Morlas, der ungewohnt ernst wirkte, war einigermaßen überrascht, sie zu sehen. "Solltest du nicht im Palast sein, mit den anderen hochwohlgeborenen Persönlichkeiten?" fragte er, und legte damit doch wieder sein typisches, zwangloses Verhalten an, auch wenn es auf Kerry etwas aufgesetzt wirkte.
"Mittlerweile solltest du doch verstanden haben, dass ich wenig Wert auf meine Stellung lege," entgegnete Kerry und begab sich hinter die Theke, um Tee und Speisen für ihre Gäste zu beschaffen.
Morlas, der ihr gefolgt war, nickte im Gehen. "Natürlich, aber selbst du müsstest doch bemerkt haben, was in der Stadt vor sich geht."
"Alle warten darauf, dass es los geht," antwortete Kerry. "Und niemand weiß genau, wann es losgeht. Mit den Kämpfen, meine ich."
"So ist es..." meinte der Schankwirt. "Ein äußerst unschönes Gefühl. Wir sind gezwungen auf einen Schrecken zu warten, dem wir nicht entgehen können."
Kerry befüllte eine Teekanne mit heißem Wasser und hängte einen kleinen hölzernen Sieb hinein, den sie mit Teekräutern gefüllt hatte. "Ich versuche nicht so viel daran zu denken," sagte sie. "Die letzte Belagerung, die ich miterlebt habe, war..." Sie schüttelt den Kopf, um unangenehme Erinnerungen zu vertreiben, während sie für Tárdur mehrere Scheiben warmen Zwiebelbrots abschnitt. "Ich war damals viel zu nahe an den Kämpfen dran," fuhr sie fort. "Kannst du dir das vorstellen? Ich weiß nicht, was mich damals geritten hat, mich auf den Mauern herumzutreiben. Natürlich war Gandalf bei mir, und ich habe ihm ein wenig geholfen, aber..." Kerry atmete einmal tief durch und legte etwas Obst auf Tárdurs Teller. "...ich glaube, ich hätte damals nicht dort oben sein sollen."
"Wäre es dir lieber gewesen, an einem besser geschützten Ort zu kauern und auf den Ausgang der Schlacht zu warten?" fragte Morlas nachdenklich. "Jenen von uns, die nicht kämpfen können oder wollen, bleibt nur das Abwarten... auf den Mauern zu stehen würde zumindest dabei helfen, die Ungewissheit zu vetreiben."
Kerry hielt einen Augenblick in ihren Bewegungen inne, während sie über die Frage des Schankwirts nachdachte. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. "Nein, ich werde mich von dort fern halten," erklärte sie und setzte sich wieder in Gang. "Meine drei Begleiter dort," sie zeigte auf die Gardisten, die am Tisch auf sie warteten, "würden mich ohnehin niemals auf die Mauern steigen lassen, selbst jetzt sind sie schon nicht sonderlich davon begeistert, dass ich den Palast verlassen habe."
Morlas gab ein knappes Prusten von sich. "Ich wette, die drei sind sehr gut in dem, was sie tun." Kerry beschloss, dass er das als Kompliment gemeint hatte und nickte, ehe sie ihr gut gefülltes Tablett zum Tisch zurück brachte.

"Eine exzellente Wahl, hírilya," lobte Tárdur, der sich das Zwiebelbrot schmecken ließ.
"Der Tee schmeckt gut," merkte Ristallë an, Kerry kannte sie allerdings nicht gut genug um herauszuhören, ob die Gardistin es ernst meinte oder nur höflich war.
Ramatar gab ebenfalls einen zufriedenen Laut von sich, während er die Tasse in schnellen Zügen leerte, um dann wieder mit wachsamem Blick aus dem Fenster zu schauen. Er schien sich auf die Bewegungen auf der Straße zu konzentrieren, während Ristallë mehr das Innere des Lorbeerblatts im Auge behielt. In der Schankstube gab es nicht viel zu sehen. Die drei Zwerge, die bei Kerrys Eintreffen in einer Ecke geschmaust hatten, hatten mittlerweile ihre Mahlzeit beendet und schickten sich gerade an, die Gaststube zu verlassen.
"Das freut mich," sagte Kerry und nahm Platz. Sie hatte für sich selbst nur etwas Wasser mitgebracht, nach mehr stand ihr der Sinn gerade nicht.
"Der Gastwirt scheint ein guter Freund deinerseits zu sein," meinte Tárdur mit einem knappen Fingerzeig auf Morlas, der den Blick mit einem leicht spöttischen Grinsen erwiderte, eher er sich wieder daran machte, seinen Tresen zu reinigen.
Kerry nickte. "Er ist ein guter Arbeitgeber. Viel besser als diejenigen, die ich früher hatte."
Auf Tárdurs interresierten Blick hin erzählte Kerry in wenigen Worten von dem unerfreulichen Jahr, das sie nach ihrer Flucht aus Dunland in Bree verbracht hatte, wo Rilmir sie damals abgesetzt hatte, ehe er endlich zurückgekehrt und Kerry aus ihrem Elend gerettet hatte. Dabei musste Kerry an Haleth denken, die sich noch immer gemeinsam mit Elea in Farelyës Haus aufhalten musste. Haleth hatte ihr damals nicht erzählt, wo Rilmir abgeblieben war, nachdem sie gemeinsam mit Oronêl in den Tiefen Morias gelandet war. Nachdenklich geworden beschloss Kerry, die Dúnadan bald danach zu fragen.
"Ich sehe, dass es noch viele Geschichten gibt, die du uns aus deinem kurzen Leben erzählen kannst," sagte Tárdur und holte Kerry damit in die Realität zurück. Sie nickte und legte den Kopf um eine Winzigkeit schief.
"Mir kommt es schon vor, als wäre eine Ewigkeit seither vergangen," murmelte sie und strich sich dann eine lose Strähne von der Stirn. "So viel ist in den letzten beiden Jahren passiert dass ich das Gefühl habe, ein ganzes Leben auf einige kurze Momente gepresst erlegt zu haben."
"So erscheint es uns oft, wenn wir mit den jüngeren Völkern sprechen," sagte Ramatar bedächtig. "Monate und Jahre verstreichen rasch für die Älteren Kinder, für manche sind sie kaum mehr als ein Herzschlag."
"Und doch wissen wir die Zeit, die uns gegeben ist, zu schätzen," stellte Tárdur klar. "Insbesondere jetzt, wo es jeden Augenblick geschehen kann, dass unsere Zeit abläuft..."

Mit diesem etwas unheilvollem Satz noch in ihren Gedanken blickte Kerry zum Fenster hinaus, wo gerade ein Trupp Soldaten hin Richtung des nahe gelegenen Tores hastete. Sie fragte sich, ob dort wohl gerade etwas Wichiges geschehen würde...
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