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Autor Thema: Draganhrod  (Gelesen 6505 mal)

Curanthor

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Draganhrod
« am: 4. Jun 2021, 19:30 »
Beschreibung: Draganhrod ist die Hauptstadt des Fürstentums Govedalend im östlichen Teil von Rhûn. Sie ist Sitz des Fürsten Govedalends, Vakrim Castav.

Die Stadt besitzt eine gut ausgebaute Stadtmauer mit mehreren Toren. Durch die Hauptstraße, die mitten hindurch direkt zum Fürstenpalast im Zentrum Draganhrods verläuft, wird sie in zwei Teile geteilt: Im Westen das reiche Kaufmannsviertel, in dem Händler und der niedere Adel hauptsächlich wohnen und handeln, hier befinden sich auch die meisten Brunnen. Im Osten befindet sich die ärmlichere Bevölkerung, eine der zwei Kasernen und ein alter Tempel.

Abgesehen von der großen Hauptstraße gibt es ein wahres Labyrinth an Gassen und kleinen Sträßchen. Die meisten Häußer sind aus Holz gebaut und haben ein steinernes Fundament. Bis auf einige Wachtürme, dem Fürstenpalast, den alten Tempel und den Turmgarnisonen der Stadtwache gibt es keine hohen Gebäude in der Stadt.





Dragan mit Kenshin, Tiana, Nerassa und Ukko aus Gortharia

 „Aufgewacht, die Sonne lacht… naja hier unten wohl eher nicht.“ Metall rasselte. Das leise Klacken, von Holz, das auf Steinboden gestellt wurde, ertönte knapp vor seinem Gesicht. „Die tägliche Portion. Essen würde ich das nicht nennen.“ Ein hämisches Lachen ertönte, dann fiel eine schwere Tür laut polternd ins Schloss. Ein Riegel wurde davor gelegt. Das Rasseln entfernte sich. Ein unappetitlicher Duft stieg ihm unter die Nase. Es war warm, anders als der kühle, steinerne Boden, auf dem er die meiste Zeit des Tages verbrachte. Mühsam zog er die Beine an. Leise rasselte dabei die Kette über den Boden. Er öffnete mühsam die Augen und erkannte die übliche Holzschale mit dem unaussprechlichen Eintopf darin. Angewidert rümpfte er die Nase, doch der Hunger siegte. Im Licht des fahlen Sonnenaufgangs, das durch ein fingergroßes Loch in die Zelle fiel, tastete er nach dem Löffel. Mit angehaltener Luft begann er sich den Eintopf reinzuschaufeln. Als das überstanden war, lehnte Dragan sich wieder an die Wand und begann an den Eisenring zu rütteln, der in der steinernen Wand eingelassen war. Er vermisste das leckere Essen, dass er in der Taverne von Tiana gegessen hatte.
Seine Gedanken kreisten dabei wieder zurück in die Vergangenheit. Irgendwo war ihnen ein Fehler unterlaufen. Eigentlich war alles anfangs nach Plan gelaufen. Sie hatten Gortharia ohne Probleme mit der großen Karawane nach Govedalend verlassen. Nerassa hatte sogar mit den Wachen am Tor gescherzt, dass sie Waffen schmuggelten. Dragan war klar geworden, warum sie als Fuchs bezeichnet wurde, auch wenn sie es eigentlich nicht mochte. Sie konnte einem offen ins Gesicht lügen und gleichzeitig dabei die Wahrheit sagen. Eine gefährliche Frau. Und erstaunlich geschwätzig. Auf der Reise, hatten sie viel miteinander geredet. Nera - wie er sie später genannt hatte – schwelgte gerne in glückliche Erinnerungen über ihre gemeinsame Heimat. Dabei war es ihm immer wieder wunderlich vorgekommen, wie so eine eigentlich liebenswürdige Frau zu den Waffen greifen konnte. Egal wie oft er unauffällig das Gespräch in die Richtung ihrer Vergangenheit gelenkt hatte, machte sie Ausflüchte, oder suchte direkt das Weite. Am dritten Tag ihrer Reise hatte Ukko, der – wie sich später rausstellte - eigentlich ein Rüstungsschmied gewesen war, sich zu ihm gesellt und gefragt hatte, ob er Interesse an dem Fuchs hätte. Das Lachen und das anschließende Männergespräch hatte sie kurz das gefährliche Ziel ihrer Reise vergessen lassen. Aber eben nur kurz. Dragan und seine Gefährten hatten sich am Mittag des fünften Tages bereits in Govedalend befunden, als ein großer Trupp Soldaten ihnen entgegenkam. In dem Moment hatte er bereits gewusst, dass es vorbei war. Tiana und Kenshin bestanden aber darauf, dass ihre Tarnung fehlerfrei war. Das war sie, aber offenbar gab es irgendwo eine undichte Stelle. Deswegen saß er nun hier fest. Kenshin hatte sich wie ein Wilder auf die Wachen gestürzt, doch die Übermacht konnte auch ihn niederringen. Dragan schwor sich den Krieger als Erstes zu befreien, der sich noch selbst in Fesseln mit den Soldaten geprügelt hatte. Wütend riss Dragan an dem Ring aus Eisen, der sich einen Fingerbreit bewegte. Er knurrte zufrieden und gönnte sich eine Pause, in der er einige Liegestütze machte. So ging es wahrscheinlich schon seit einigen Tagen. Nach den Kraftübungen begab er sich wieder an den Eisenring und begann daran zu rütteln, in der Hoffnung, er würde sich irgendwann aus dem Mauerwerk lockern.

Der Lichtspeer fiel nun in voller Stärke durch das Loch. Wahrscheinlich hatte er den halben Tag an dem Eisen gearbeitet. Ein Rasseln ließ ihn die Ohren spitzen. Er schätzte, dass es Mittag war. Um die Zeit hatte man noch nie die Zelle geöffnet. Hastig schob er die kleinen Steinchen, die sich um den Ring herum gelöst hatten hinter sich. Dumpfe Schritte, begleitet von dem typischen Rasseln von Schlüsseln ertönten. Sie verstummten vor der Zellentür. Der Riegel wurde zurückgeschoben, der Schein von einer Fackel erleuchtete die Zelle. Dragan kniff die Augen etwas zusammen und stierte durch das Gitter.  Vor der Zelle stand der fette Zellenmeister, dessen schweineähnliches Gesicht diesmal nicht hämisch grinste. An seinem Gürtel baumelte der große Ring mit den Schlüsseln. Dragan erkannte einen vermummten Kerl, der die schwere Rüstung der rhûnischen Soldaten trug. Der Krieger gab dem Zellenmeister einen auffordernden Schubs. Hastig schloss dieser die Gittertür auf und kniete sich vor Dragan nieder. Aufmerksam beobachtete er, welcher Schlüssel in den wurstigen Fingern lag. Es war einer mit gezackten Bart und einer Kerbe an der Spitze. Mit einem Klicken öffnete sich das schwere Schloss an der Fußfessel.
„Der Fürst will dich sehen, Verräter!“, bellte der Soldat, „Solltest du dich weigern, sterben deine Mitverschwörer. Du sagst nur etwas, wenn du dazu aufgefordert wirst.“ Er wandte sich an den dicken Zellenmeister, „Auf die Füße mit ihm!“
Der dicke Kerl griff Dragan grob unter die Arme und boxte ihm dabei unauffällig gegen die Rippen. Er schwor sich dieser fetten Kröte eigenhändig den Hals umzudrehen. Leise knurrte Dragan den Zellenmeister an, der sich neben die Tür stellte und auf ihn wartete. Der Soldat hatte die Zelle schon mit einem ungeduldigen Schnauben verlassen. Dragan folgte ihm und trat den Zellenmeister im Vorbeigehen mit dem Stiefelabsatz auf die Zehen. Der Dicke keuchte und schubste ihn von sich. Der Soldat, der das wohl aus dem Augenwinkel gesehen hatte, drängte zur Eile und unterband eine Schlägerei. Dragan funkelte den Dicken seinerseits hämisch an und trat in den Gang. Rechts und links von ihm lagen noch mehr Zellen. Er fragte sich, ob Tiana, Nera und Ukko ebenfalls in einer von ihnen gefangen waren, ohne Licht und nur das absolute Minimum an Wasser und Nahrung. Wütend ballte er die Fäuste und folgte dem Soldaten, der ihn schließlich die Treppe nach oben schubste. Dragan überlegte kurz die Flucht anzutreten, aber dann würden seine Gefährten den Preis dafür zahlen. Er straffte sich und trat in die Wachstube. Er kniff kurz die Augen zusammen um sich an das Licht zu gewöhnen. Vier Wachmänner blickten ihn mit einer Mischung aus Neugierde, Feindseligkeit und Verachtung an. „Los weiter“, brummte der Soldat hinter ihm und gab ihm einen relativ harmlosen Stoß in den Rücken. Dragan stolperte durch die offene  Tür ins Freie. Die Sonne blendete ihn, sodass er eine Hand hob um seinen Blick gegen die Strahlen abzuschirmen. Er befand sich in einem Innenhof einer Kaserne, auf dem ein Trupp Soldaten mit ihren Lanzen Formationen übten. Die Gebäude kamen ihm vage bekannt vor. Sie befanden sich in einer der zwei Kasernen von Draganhrod. Er konnte aber nicht sagen wo genau, zu lange war er nicht mehr hier gewesen und in den fünf Jahren hatte die Stadt sich gewandelt. Rasch warf er einen Blick zurück auf das Gefängnis, das wohl einer der neuesten Gebäude war. Ein unscheinbarer, strohbedeckter Bau, kaum größer als ein Bauernhaus. Es war so unscheinbar, dass man normalerweise keine Kerker darunter vermuten würde. Der Soldat schubste ihn ungeduldig weiter. Am großen Tor zur Kaserne warteten drei weitere Soldaten, die sich ihnen wortlos anschlossen. Dragan wurde von ihnen in die Mitte genommen, sodass jeder Fluchtweg versperrt war. Sorgsam prägte er sich den Weg durch die verwinkelten Gassen ein, die sie nahmen. Ihm fiel der jämmerliche Zustand der Stadt auf. Viele Fenster und Türen waren zugenagelt, dutzende Häuser standen leer. Einige von ihnen waren wohl niedergebrannt worden. Ein hölzernes Schild, auf dem ein rotes Auge gemalt wurde, lag meistens in oder an der verkohlten Ruine. Sie kamen an einem Waisenhaus für Mädchen vorbei, dem er einst einige Goldstücke gespendet hatte, doch auch dieses schien verlassen. Auch hier war ein Holzschild mit rotem Auge achtlos auf die schwere Eichentür genagelt worden. Er ballte unmerklich die Fäuste. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie dutzende Blicke hinter vernagelten Fenstern ihnen folgten.

Schließlich kamen sie in das ehemalige Brunnenviertel. Es war das Älteste von Draganhrod und hier befand sich auch der Fürstensitz, der den Brunnenplatz beherrschte. Wenn man Wasser wollte, musste man dies immer unter den Augen des Herrschers tun, zumindest bis einer der Vorgänger seines Vaters neue Brunnen hatte graben lassen. Dragan erkannte die Straßen wieder und wollte langsamer werden, als sie auf den Platz traten. Viel hatte sich nicht verändert, doch der Westflügel verfügte nun über eine große Empore, von der man den ganzen Platz beobachten konnte. Eine steile Treppe, die hinaufführte wurde von sechs Wächtern scharf bewacht. Einige Bewohner eilten über den Platz, manche holten Wasser, doch die meisten hielten den Blick gesenkt und wagten es nicht zum Fürstenpalast zu blicken. Dragan ballte erneut wütend die Fäuste, als sie schließlich die breite Treppe zum Haupttor hinaufstiegen. Er hasste es. Er haste den Gedanken, dass die Menschen, die er langsam seine Freunde nennen konnte gefangen waren. Er hasste es, dass sie gegen ihn als Druckmittel genutzt werden, doch am meisten hasste er einen einzigen Mann. Der, der dafür verantwortlich war. Nach einer schweigsamen Marsch durch sein altes Elternhaus wurde die doppelflügelige Tür zum Thronsaal aufgestoßen. Grob wurde er nach vorn geschubst. Dragan hielt den Blick gesenkt und trat in den Saal. Etwa in der Mitte wurde ihm der Schaft einer Lanze gegen die Beine geschlagen. Dragan nahm all seine Kraft zusammen und blieb stehen. Mit mörderischer Wut hob Dragan langsam den Blick. Auf einer neu gebauten Empore saß der Mann, den er fast genauso sehr hasste wie seinen eigenen Vater.
Vakrim Castav saß auf demselben vergoldeten Stuhl und blickte mit einer Mischung aus Verachtung und Häme auf ihn hinab. „Sieh da“, sagte der (falsche) Fürst höhnisch, „Der verlorene Sohn kehrt zurück… aber mein unfähiger Vorgänger ist nicht mehr da. Hmmm… was machen wir nur mit dir?“
Dragan musste an sich halten, um den gut gebauten Mann nicht an die Kehle zu springen. Vakrim wirkte jedoch absolut gelassen. Er hatte aristokratische Gesichtszüge, war glatt rasiert und wirkte äußerst gepflegt, seine blutunterlaufenen Augen funkelten jedoch bösartig. „Ah“, machte der Fürst überspitzt und winkte zur Seite, „Fragen wir doch jemanden, der sich damit auskennt.“
Er verstand erst nicht, bis hinter dem Thron eine bekannte Gestalt die Empore betrat. Vakrim grinste überheblich und ließ die schlanke Frau auf seinem Bein Platz nehmen. „Was meinst Ihr, werte Dame?“ Er spielte mit einer von Tianas brünetten Strähnen im Gesicht und strich ihr demonstrativ über den Schenkel.
Irgendwas setzte in seinem Kopf aus. Dragans Hand war so schnell, dass keine der Wachen reagieren konnte. Der Dolch flog so schnell aus der Gürtelscheide des Soldaten wie ein Vogel im Sturzflug. Mit einem Pochen nagelte die Klinge Vakrims Kragen an die Lehne des Throns. Ein dünner Blutfaden sickerte aus einem leichten Schnitt am Hals in den blütenweißen Stoff. Die Soldaten traten Dragan sofort in die Kniekehlen und verdrehten ihm grob die Arme auf den Rücken. Einer der dreckigen Sandalen eines der Wächter trat ihm in den Nacken und damit sein Gesicht flach auf den Boden .Es war still, dann ertönte ein schallendes Lachen. Der Druck auf seinem Kopf verschwand, als die Soldaten ihn überraschend losließen. Dragan hob den Blick. Vakrim grinste breit und klatschte laut in die Hände. „Bravo! Wirklich ausgezeichnet!“ Dann wurde er wieder ernst, ein gefährliches Lächeln legte sich auf seine schmalen Lippen, „Und das war deine einzige Chance, mich umzubringen. Ich muss sagen, dieses kleine Spielchen war doch ganz lustig. Niemand kommt sonst an mich heran, wenn ich es nicht will. Du nicht, sie nicht...“ Er blickte zu Tiana, die auffällig Dragans und Vakrims Blicke mied, „Oder irgendeine dieser Witzfiguren von diesen Kreiseln, Zirkeln, Dreiecken oder was auch immer.“ Der Fürst lachte erneut schallend und ließ seine Hand von ihrem Knie ihren Schenkel hinaufwandern, „Als ob ich meine Feinde nicht beobachte, vor allem den Spross meines Vorgängers. So blöd kann man doch nicht sein, aber das hat sich ja nun erledigt. Damit ist meine Herrschaft ab heute unangefochten.“
Dragan schwieg. Ihm war das Geschwätz dieses Trottels egal, auch wenn ihm bewusst wurde, dass Vakrim durchaus ein erfahrener Krieger war, so wie die meisten des Hochadels. Sein Blick galt Tiana, die ihm einen verstohlenen Blick zuwarf. Ihre Augen schimmerten feucht, dann wandte diese sich wieder an Vakrim, der sich gerade mit einer weißen Serviette den Schnitt betupfte. „Warum sich weiter noch mit ihm befassen? Lass uns etwas essen gehen“, bat sie mit einer samtig-säuselnden Stimme, ohne jede Spur von Furcht oder Abneigung. Würde er sie nicht kennen, hätte er es ihr glatt als Ergebenheit abgekauft. 
Der Fürst überlegte kurz, grinste aber dann und leckte sich begierig über die Lippen. „Wenn du heute nach dem Abendessen bei mir bleibst, vielleicht.“ Etwas Unheilvolles blitzte in den Augen des Fürstens auf, eine Art dunkle Begierde.
Dragan konnte sehen, wie auch Tiana es verspürte und einen Augenblick zu lange zögerte. Offenbar war sie nicht freiwillig dort… oder sie spielte ein gefährlich perfides Spiel. Schließlich verlor Vakrim das Interesse und entließ sie mit einem gelangweilten Handwedeln. „Eines Tages wirst du mir erliegen und meine Kinder austragen. Und dir wird es wie eine Ehre vorkommen meine Linie zu sichern. Immerhin bin ich dein Fürst. Dein Herr und Meister. Jeder in Govedalend hat mir zu gehorchen. “
Ekel überkam Dragan bei den Worten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie einer der Soldaten kaum merklich unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Ihm wurde bewusst, dass er mit einer Abneigung nicht alleine war. Vielleicht ließe sich das nutzen.
„Das ist nicht korrekt, Fürst Castav“, mischte sich eine neuerliche, gebrechliche Stimme ein. Ein Mann in einer schwarz-roten Robe trat aus einem der Schatten und stütze sich schwer auf eine großen, reich mit Gold verzierten schwarzen Eschenstab, „Der einzige dem jeder gehorchen muss ist unser Herr und Meister, Sauron der Große, Herr der Erde und Gott über allem Leben.“
Vakrim verzog kurz das Gesicht – offenbar genervt durch die Störung -, nur für den Bruchteil eines Augenblicks, dann lächelte er ergeben. „Aber natürlich! Ihm haben wir all das hier zu verdanken. Niemals würde ich es wagen unseren Gott in Frage zu stellen.“
„In der Tat. Das wäre äußerst unklug“, erwiderte der Alte und schlug die Kapuze zurück. Dragan erkannte einen Greis mit weißem Bart, eingefallen Wangen und tiefen Falten im Gesicht, der sich ein flammendes, liedloses Auge auf die Stirn tätowiert hatte, „Der Herr und Meister sieht alles.“
Dragan unterdrückte den Drang dem Greis dessen Stab in den Rachen zu schieben. Sauronisten waren eine Plage. Sein Vater hatte viele Jahre damit zu kämpfen gehabt ihren Einfluss zu mindern, doch der Kult um den Dunklen Herrscher war wie Unkraut. Er selbst war zum Glück nicht mit diesem Glauben aufgewachsen, was er wohl seiner Mutter zu verdanken hatte. Ivailo hatte den Kult nur aus machtpolitischem Interesse in die Ecke gedrängt, da die Kultisten mehr und mehr an dem Machtgefüge im Fürstentum zu rütteln begonnen hatten. Dragan musterte den Greis mit Abscheu. Offenbar war dies einer der Hohepriester oder so etwas. Menschenfresser, wurden sie von den „Ungläubigen“ genannt, da sie Menschenopfer verlangten und sehr oft dafür junge Frauen auswählten. Was genau mit ihnen geschah, war ein gut gehütetes Geheimnis, doch sie tauchten nie wieder auf. Ein weiterer Grund, warum Ivailo sie verdrängt hatte, da er das sinnlose Blutvergießen als Stratege und Pragmatiker nicht nachvollziehen konnte. Beim einfachen Volk war der Kult Saurons jedoch schon immer Teil des Alltags gewesen, bis sich der Krieg immer weiter in die Länge zog und mehr Blut forderte.
„Nun“, riss ihn Vakrim wieder aus dem Gedanken. Er sprach gedehnt und nahm einen großen Schluck aus einem Weinpokal, „Der Tempel wird eine großzügige Spende erhalten.“ Es blieb offen, was für eine Art von Spende gemeint war.
Der Alte wirkte dennoch zufrieden und wollte noch etwas sagen, doch die Ankunft eines Boten unterbrach sie. Vakrim winkte ihm gönnerhaft zu sich. Der junge Bursche eilte mit käsigem Gesicht die vier Stufen hinauf und beugte sich mit gebührendem Abstand zu dem Fürsten hinab und flüsterte etwas in sein Ohr. Dragan konnte leider kein Wort verstehen, egal wie sehr er seine Ohren spitzte. Vakrim wirkte nun weniger gelassen, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Nach einem kurzen Moment des Überlegens nickte er, wobei sein Blick auf Dragan fiel.
Mit einem Handwedeln schickte er ihn fort und sagte wieder hämisch: „Wenn es mir irgendwann passt, werde ich Euch in eine angenehmere Unterkunft bringen. Das hängt ganz davon ab, was Eure Begleiter tun werden und einem anderen Umstand…" Er wirkte einen Moment nachdenklich, so als ob er gerade eine teuflich gute Idee hatte, "Vielleicht kann ich ja doch noch etwas mir Euch anfangen… wir werden sehen.“
Ihm war aufgefallen, dass Vakrim wieder formale Töne anschlug und weniger selbstsicher wirkte. Einer der Soldaten packte Dragan an Arm und führte ihn aus dem Saal hinaus. Der Grund für den Verhaltenswandel des Fürsten begegnete ihm sogleich im Flur, denn eine hochgewachsene Gestalt mit zwei vermummten Begleitern versperrte ihnen den Weg. Sie überragte Dragan um mehr als einen Kopf. Vor ihm stand eine schwer gerüstete Frau, deren silberweißes Haar in langen Strähnen auf ihrem dunkelgrauen Mantel fiel. Ihr Oberkörper steckte in einem fein gearbeiteten, stählernen Brustpanzer, ihre Schultern in kunstvollen Schulterpanzer und Arme wurden von schweren Schützern umhüllt. Zwei stahlgraue Augen starrten ihn mit einer Mischung aus Kälte und Abscheu herablassend an, als ob sie gerade ein Insekt in ihrer Suppe entdeckt hatte. Der Blickkontakt hielt nur kurz, doch Dragan beschloss sofort mit ihr keinen Ärger zu suchen. Eine der Wachen riss ihn grob am Arm aus dem Weg. Er erhaschte einen Blick auf das Langschwert, dass die fremde Kriegerin lässig in der rechten Hand trug. Es steckte in einer ledernen Scheide, der Griff hatte ein metallisch-bläulichen Schimmer. Der Knauf erregte jedoch am meisten seine Neugierde. Für einen winzigen Augenblick funkelte dort die Reflektion des Fackelscheins in einem türkis-blauen Saphir. Dragan bemerkte, dass auch die Soldaten der Kriegerin mit einer seltsamen Mischung aus Angst, Ehrfurcht und Abneigung begegneten. Es war das erste Mal, dass Dragan eine Elbenkriegerin begegnete. Anders als in den Geschichten, wirkte diese so gar nicht lieblich, sondern auf eine unbeschreibliche Art und Weise grausam-schön. Ihr Blick war mit einer Finsternis erfüllt gewesen, die ihm sofort klar gemacht hatte, dass sie keine Skrupel hatte, jedem, der ihr in die Quere kam den Kopf abzuschlagen.
Sie beobachteten noch, wie einer der vermummten Begleiter der Elbenkriegerin laut klopfte. Ein kurzer Moment verging. Die Anführerin hatte offensichtlich andere Pläne als zu warten und verschaffte sich mit einem krachenden Fußtritt Zutritt. Dragan blickte verdutzt zu den Soldaten, die ebenfalls perplex wirkten.
„Ah, Frau Rámalin“, ertönte Vakrims Stimme laut in einem schmeichelnden Tonfall, „Verzeiht meinen Dienern…“ Das Geräusch von Stahl, der aus einer Schwertscheide fuhr ertönte und ließ den Fürsten verstummen. Es folgte das dumpfe Poltern von einem Körper, der auf die polierten Holzdielen aufschlug. Dragan wechselte einen raschen Blick mit einem der Soldaten, der seine Lanze so fest umklammerte, dass seine Köchel weiß wurden. Doch niemand rührte sich.
Dann erklang die Stimme der Elbenfrau, die melodisch, aber scharf sagte: „Nutzlose Untergebene und elende Versager sind mir zuwider. Entschuldigt die Sauerei, Fürst von Govedalend, mein Temperament ging mit mir durch.“ Sie sprach ruhig, so als ob sie gerade eine Tasse Tee verschüttet hatte und gar nicht, als ob ihr irgendetwas leid tat, „In Eurem Schreiben habt Ihr von einem lohnenden Geschäft gesprochen.“
Die Antwort von Vakrim bekamen sie nicht mehr mit, da die ramponierte Doppeltür geräuschvoll ins Schloss fiel. Damit erwachten auch die Soldaten aus der Starre und schoben ihn etwas sanfter als zuvor in den Flur, wieder in Richtung Ausgang und brachten ihn diesmal auf direktem Wege zurück in seine Zelle.

« Letzte Änderung: 4. Jun 2021, 23:22 von Curanthor »

Curanthor

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Wiedersehen mit Marek
« Antwort #1 am: 30. Nov 2021, 22:22 »
Die Tage flossen zäh wie Honig dahin, abgesehen von einem dauerhaften Kratzen und den gelegentlichen Mahlzeiten blieb die Zellentür verschlossen. Dragan verlor nach einer Zeit das Zeitgefühl, aber er wusste, dass die Wachen ihm etwa alle zwei Tage eine Schüssel Broteintopf vor das Gitter setzten. Anfangs war es kaum herunterzubekommen, aber sein Hunger hatte schließlich gesiegt und auch sein Tagesablauf hatte er erst anpassen um nicht verrückt zu werden. Wenn Dragan wach wurde, stählte er seinen Körper mit Liegestütze, Kniebeugen und anderen Übungen, bis zur Erschöpfung, dann legte er sich flach auf den Boden und lauschte. Wenn sein pochendes Herz sich wieder beruhigte und er sich konzentrierte, konnte von oben das Stimmgemurmel der Wachen in der Baracke hören. Dragan konnte nie genau verstehen, was sie sagten, aber er konnte nach geschätzt einer Woche an den Schritten erkennen, wenn sich jemand die enge Treppe hinunter in die Kerker schleppte. Es waren immer drei Wachen, die sich abwechselten. Zwei hatten schlurfende, unmotivierte Schritte, der dritte Wächter hingegen hatte es immer eilig. Er war es auch, der die Schüssel mit einem Stock durch die Klappe in der Türe bis an das Gitter heranschob, sodass Dragan ohne sich zu strecken und zu recken an sie herankam. Und er war es auch, der immer darauf achtete, dass Dragan immer den hölzernen Löffel wieder mit in die Schüssel legte. Einmal hatte er bei einer der anderen Wachen versucht den Löffel zu behalten, aber die eiligen Schritte von oben hatten ihm verraten, dass sein Plan missglückt war. Die Wächter hatten sich Tücher vor dem Mund geschlungen und Kieselsteine in dicke Leintücher eingewickelt. Die Schmerzen von der Prügelorgie hatten ihn noch mehrere gefühlte Tage begleitet. Dragan stemmte sich wieder vom Boden auf, seine Muskeln an den Oberarmen traten hervor und begannen zu zittern. Ausatmen. Dann wiederholen. In seinen Gedanken sprach er immer mit sich selbst. Dann war es wieder da, das Kratzen. Stellenweise ging es gefühlte Stunden. Wenn er aß, selbst wenn er schlief kratzte es ununterbrochen. Vielleicht waren es die Wachen – auf Befehl Vakrims, um ihn zu foltern? Er presste sein Ohr auf dem Boden. Das Kratzen übertönte die Schritte von oben. Dragan fluchte und hieb mit der Faust gegen die steinerne Wand. Putz und kleine Steinchen rieselten auf den Boden. Das Kratzen verstummte. Dragan horchte auf. Erneut schlug er gegen die Wand. Zwei Kratzer hintereinander antworteten ihm. Sein Herz klopfte vor Aufregung. Das Kratzen kam aus der Zelle rechts neben ihm! Anfangs hatte er an Ratten gedacht, oder anderen Nagetieren. Seine Ohren spitzten sich unwillkürlich, als er Schritte vernahm, sie kamen von oben, gingen über seinen Kopf, an das Ende der Zelle. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Sollten sie nur kommen, dachte er sich kämpferisch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Schritte verstummten kurz, das taten sie immer, wenn der Wächter die Treppe hinabschritt. Dragan hörte die schweren Stiefel vor seiner Zellentür, dann das Rasseln der Schüssel. Seine Knöchel wurden weiß, so fest ballte er die Fäuste, doch die Schritte gingen weiter. Zu der Zelle rechts neben ihm. Der Riegel wurde zurückgeschoben. Metall quietschte, dann hörte er plötzlich die gedämpfte Stimme einer Frau. Einen kurzen Moment lauschte er gebannt mit klopfenden Herzen. Sie kam ihm unbekannt vor. Dragan atmete erleichtert aus, spitze aber seine Ohren und legte seinen Kopf an die Wand, in der Hoffnung etwas zu erlauschen. Die Wand der Zelle war unsäglich kalt und unfreundlich, und doch hatte die Stimme der Frau aus der anderen Zelle eine warme Färbung, die ihn das vergessen ließ. Sie erinnerte ihn an Cheydan. Er spürte, wie seine Augen etwas feucht wurden. Die Diskussion in der Nachbarzelle wurde etwas lauter – aber war dennoch undeutlich. Die Frau stritt sich mit dem Wächter! Dann schrie sie auf, wieder und wieder. Dragans Körper bebte vor Zorn. Er biss sich auf die Lippen, lief im Kreis und fragte sich was er tun sollte. Gleichzeitig hatte er Angst davor wieder von den Wachen verprügelt zu werden. Dann steigerten sich die Klagerufe der Frau zu einem einzigen, hohen Kreischen. In seinem Kopf platzte etwas.
Dragan brüllte laut auf und tat gegen das Gitter. „Kommt hier her, ihr Schweine!“. Erneut trat er gegen das Zellengitter. Staub prasselte aus Löchern, in denen die metallenen Verstrebungen in der Decke verschwanden. „Seid ihr nicht Manns genug? Müsst ihr euch an Frauen vergreifen!?“ Seine Tritte hallten laut wieder. „He! Ihr da drüben! Kommt her, und ich reiß dir den Kopf ab!“ Sein Kopf dröhnte wie eine Kriegstrommel, doch es zeigte Wirkung. Das Kreischen seiner Zellennachbarin verstummte. Laute Schritte erklangen von oben. Es waren mehr als zwei. Das Fußgetrappel verstummte kurz, dann waren sie die Treppe heruntergekommen. Er verharrte am Ende der Zelle, die schützende Wand im Rücken.

„Was soll dieser Lärm!“, donnerte eine unbekannte, tiefe Stimme im Zellenkorridor mit einem autoritären Tonfall „Ruhe verdammt!“

Dragan atmete flach. Er könnte hören, wie auch aus den anderen Zellen ein Tumult zu hören war. Der Wächter brüllte mehrfach, drohte Peitschenschläge an und Kürzungen der Essensrationen. Letzteres zeigte Wirkung, das Dröhnen, Rufen und Protestieren der Gefangenen verstummte langsam.
Dragan konnte das Gespräch vor seiner Zellentüre belauschen, als die tiefe Stimme wutentbrannt die benachbarte Zellentür aufriss und donnerte: „Was zum Himmel denkst du, was du da tust?!“
Dragan konnte die Erwiderung nicht verstehen, doch die polternde Antwort des vermeintlichen Anführers der Wachen: „Schwachsinn! Sie ist eine persönliche Gefangene des Fürsten, die Tochter eines einflussreichen Bojaren des Fürstentums, du Idiot! Raus da, sofort!
Dragan atmete erleichtert aus. Scheinbar war der Anführer der Wachen ein fairer Mann.
„Abführen. Und schneidet das da durch. Werft ihn in den trockenen Brunnen, das wird ihm eine Lehre sein.“ Dragan nahm seinen ersten Eindruck zurück, der Kerl war skrupellos.
„Nein!“, flehte der Wächter, „Ich habe doch nur… bitte, nein!“ Ein dumpfer Schlag war zu hören.
„Weg mit diesem Abschaum!“, keifte der Wachführer, dann war seine Stimme plötzlich näher an Dragans Zellentür, „Also er war das, ja?“ Eine unverständliche Bestätigung ertönte. „Gut, aufmachen.“ Eine ebenfalls unverständliche Erwiderung war zu hören. „Wie war das? Willst du dem da draußen etwa Gesellschaft leisten? Nein? Gut, jetzt schwing' deinen Arsch hier her und mach auf.“ Dragan fluchte leise und rückte in die Ecke der Zelle. Der Schlüssel zu seiner Zellentür wurde ins Schloss gesteckt, dann war sie auch schon offen. Blendender Fackelschein leuchtete ihm ins Gesicht. Dragan kniff die Augen zusammen. Im Durchgang stand eine massige Gestalt.
„Ugh, wann habt ihr das letzte Mal die Zelle sauber gemacht?“, wandte sich der Anführer an seine Untergebenen, ohne eine Antwort abzuwarten „Unglaublich, unfähiges Pack. He, du. Steh‘ gefälligst auf, wenn du Besuch hast.“
Dragan drückte sich an der Zellenwand in die Höhe. Ihm kam die Stimme entfernt bekannt vor. Der Mann trat nun vor, nah an das Zellengitter heran. „Du siehst scheiße aus“, befand der Anführer, ein zahnlückiges Grinsen blitzte auf. Dragan blinzelte, bis sich seine Augen endlich an das helle Licht gewöhnt hatten. Das Erkennen durchzuckte ihn wie einen Blitz. Cheydans graue Augen blickten ihn an.
„Du?!“, keuchte Dragan ungläubig und umfasste die Gitterstäbe mit beiden Händen, „Bist du’s Marek?“
Kapitan Marek für dich jetzt“, antwortete er mit einem bellenden Lachen und wandte sich an die übrigen Wachen, „Verzieht euch.“  Eilig machten sich die übrigen Wächter davon. Dragan musterte seinen alten Freund. Sein Gesicht sah aus, als ob er gegen einen Stier gekämpft hatte. Seine Nase mehrfach gebrochen, so krumm war sie. Sein Mund hatte einen fast tödlichen Hieb abbekommen, die Lippen gespalten und durch das Grinsen konnte man sehen, dass er nur durch Glück nur ein paar Zähne verloren hatte. Viel hätte nicht mehr gefehlt um ihn den Kopf zu spalten.
„Du siehst auch nicht besser aus“,  befand Dragan und nickte zu seinem Gesicht.
Marek lachte noch einmal, wirkte aber dabei etwas düsterer. „Der verfluchte Feldzug gegen den Erebor. Dadurch bin ich jetzt dort, wo ich jetzt bin.“ Er deutete zu seinem Gesicht, „Das da ist ein Andenken aus Thal, die haben wirklich interessante Hellebarden.“
„Und wie kommt es, dass du jetzt meinen Kerkermeister spielst?“, fragte er skeptisch und rüttelte ein wenig am Gitter, „Mach‘ das Ding auf, und wir können reden.“
Marek verzog das Gesicht, durch seine Narben wirkte es besonders grotesk. Etwas leiser sagte er: „Ich würde ja gern, aber noch nicht. Wir sind noch nicht so weit.“
Dragan horchte auf und trat näher an seinen alten Freund heran: „Wir?“
„Der Widerstand. Vorher müssen aber noch ein paar Handlanger verschwinden“, wisperte Marek und schaute sich rasch um, „Mein ehemaliger Kapitan - Hauptmann der Stadtwache, Velibor. Der, der dabei war, als du damals fortgingst. Der Kerl ist jetzt Heerführer des Fürstentums - hat viele von uns verraten, um befördert zu werden. Dann der Stadtvogt Bogna. Steuereintreiber und Richter, entscheidet immer für Sauronanbeter und lässt sich bestechen. Von den hohen Abgaben gar nicht angefangen. Dann noch ein paar im Bojarenrat und andere Amtsträger.“
„Du hast es ihnen nicht vergeben oder?“, stellte Dragan unnötig fest.
Mareks Augen flammten vor Zorn auf, „Niemals. Meine Schwester… sie alle haben sie verkauft und verschachert wie billiges Viech. Sie alle werden dafür bluten.“ Seine gepanzerte Hand bebte, „Allem voran Vakrim Castav, dieses elende Schwein. Doch der versteckt sich hinter einer…“ Marek wurde eine Spur blasser und schaute noch einmal über seine Schulter und wisperte, „Eine Schwarzelbe.“
Dragan blinzelte verwirrt. „Und das soll mir jetzt was genau sagen?“
Marek wirkte unsicher und flüsterte weiter: „Nicht so laut! Sie sind skrupellos und grausam. Genau das Gegenteil von Elben. Sie sind böse, ihre Herzen schwarz wie die Nacht. Wenn du einen von ihnen begegnest, sieh‘ zu Boden und rede nicht mit ihnen.“ Von oben ertönten Schritte und Marek wirkte plötzlich getrieben. „Ich kann dich nicht hier rausholen, noch nicht, aber das Leben einfacher machen. Ein paar Stunden im Palast arbeiten und-“
Dragan schnaubt und ließ die Zellengitter los, „Du erwartest ernsthaft, dass ich mir für dieses elende Schwein die Finger schmutzig mache?!“
Marek packte ihm erstaunlich schnell durch die Gitterstäbe hindurch am Kragen und rammte ihn gegen das Gitter. Dragan keuchte, ihm blieb kurz die Luft weg. „Hör‘ mir jetzt ganz genau zu, du kleiner Scheißer“, zischte Marek, „Du bist der einzige, der meine Schwester finden kann. Ich bin in der Armee, ich kann nicht weg. Gefangene können sich ihre Strafe abarbeiten. Doch du bist eine Ausnahme, Vakrim wird dich niemals freilassen, aber er kann sich nicht gegen den Bojarenrat stellen – noch nicht. Sie verlangen, dass jeder Gefangene sich seine Haft mit Arbeit erleichtern kann. Auch du.“ Marek funkelte ihn einen Moment noch wütend an, dann ließ er ihn endlich los, „Also hör‘ auf mit deinem Unfug und tu‘ endlich was für deine Mitmenschen. So wie du es für die nebenan gemacht hast… was ungewöhnlich großmütig von dir war.“
Dragan rieb sich den Hals und spuckte aus. „Sie hat mich nur an Cheydan erinnert…“, murmelte er leise.
„Du bist viel zu besessen von ihr. Lässt dich mit Geheimbünden ein und was weiß ich.“ Marek schüttelte den Kopf, doch seine Mundwinkel wanderten nach oben. „Ich kann dafür sorgen, dass sie gleichzeitig mit dir Schicht hat.“
Dragan hob eine Braue, doch sein Freund lachte und sagte, dass ihm etwas Ablenkung nicht schaden wird. Ihm war der Gedanke, sich auf andere Frauen einzulassen fremd, aber gleichzeitig sehnte sich ein Teil ihn ihm nach Nähe – auch körperliche Nähe. Es war ein zerreißendes Gefühl.
„Hm, wenn du es einrichtest, kann ich sowieso nichts dran ändern…“, brummte er gleichgültig, „Wie kommt es eigentlich, dass du jetzt erst hier bist?“
Marek schien seinen Gedanken zu erraten, denn er ging nicht auf seine Frage ein: „Ihr wart nicht verheiratet und ich denke, sie wird es dulden, wenn du noch eine hast. Sie hat mir mal im Vertrauen erzählt, dass sie dein Herz nicht an sich ketten will.“
Dragan blickte überrascht auf. „Das hat Cheydan erzählt? Wann?“
Sein Freund zuckte mit den Schultern und antwortete nur ausweichend, dass es irgendwann war, bevor sie geholt wurde. Auf Dragans Bemerkung, dass es eine etwas ungesunde Einstellung für eine Frau war, erwiderte Marek, dass es in anderen Ländern normal war, mehrere Frauen zu haben. „Auch ich habe zwei, wobei eine meine Frau ist, die andere nur eine Liebhaberin.“
„Und beide wissen davon?“, hakte Dragan skeptisch nach, „Mutig.“
Marek lachte laut auf, „Sie sind aus Minzhu, das ist da in manchen Provinzen normal. Es war ihre Idee, nicht meine, aber unser Gesetz erlaubt nur eine Frau… glaube ich. Hat mich nie groß gekümmert.“ Ein lautes Klirren von oben erregte seine Aufmerksamkeit, sodass Dragans Freund sich umwandte. „Morgen fängst du an die Böden im Palast zu schrubben, mit ihr.“, Marek deutete mit den Daumen zur Nachbarzelle, „Und keine Sorge, die Gesichter der Gefangenen sind bedeckt. Niemand wird dich oder sie erkennen während ihr arbeitet – und ihr werdet euch auch nicht erkennen, solltet ihr hier rauskommt.“ Er wandte sich ab, hielt aber noch einmal inne: „Oh, und die Wächter stehen bis auf einen unter Vakrims Kontrolle, also sei vorsichtig.“
Dragan hielt ihn noch zurück und fragte, warum er nicht mehr tun konnte, doch Marek winkte hastig ab und sagte, dass er bei dem Fürsten erwartet wurde. Dabei zog er eine Grimasse und versprach ihm, dass es sich bald ändern würde. „Du hast mein Word, alter Freund.“ Marek lächelte entschuldigend, dann schloss er mit zusammengekniffen Lippen  die Kerkertür. Dragan atmete tief aus und ließ sich an der kalten, rauen Wand zu Boden gleiten. Er hätte nie gedacht, noch einen Menschen aus seinem alten Leben zu treffen. Marek war ihm immer nur flüchtig im Palast als Wache begegnet, aber sie hatten schon oft zusammen mit Cheydan in einem Brauhaus gegessen und getrunken. Und vor allem getrunken. Marek hatte Bier saufen können wie ein Pferd. Cheydan hatte sich oft pikiert zurückgezogen, nur um sich dann etwas Wein zu holen. Dragan lächelte versonnen. Sie hatte immer unschuldig getan, dabei hatte sie ordentlich Feuer gehabt. Er blickte auf seine Zehenspitzen und fragte sich, ob Marek tatsächlich Wort halten würde. Ein Kratzen unterbrach seinen Gedanken. Nun störte es nicht mehr. Er musste lächeln, zufrieden durch seine Tat und suchte etwas, mit dem er ebenfalls an der Wand kratzen konnte. Seine Augen flogen über den dunklen Boden. Ein dünnes, längliches Stück nahe am Gitter fiel ihm sofort auf. Er tastete danach und zog es schließlich in die Zelle. Es war der Dorn einer Gürtelschnalle. Dragan grinste in sich hinein. Marek, du alter Gauner, dachte er sich und kratzte mit dem Metallstift ebenfalls an der Wand.

Dragan wachte durch das bekannte Klirren von einem Schlüsselbund auf. Hastig drückte er den Gürteldorn in das kleine Loch, das er in die Wand gekratzt hatte und stellte den Eimer, in dem er sonst seine Notdurft verrichtete davor (während er sich die Nase dabei zu hielt). Keinen Moment zu spät, denn die Tür öffnete sich und die Wachen traten ein. Dragan richtete sich ohne Aufforderung auf und suchte mit dem Blick nach Marek, doch sein Freund war nicht dabei. Es waren drei Wachen, alle mit harten Gesichtern. Einer von ihnen trat an das Zellengitter und schloss es auf. Hinter ihm trat ein anderer vor und hob ein braunes Leintuch. Dragan erinnerte sich an die Worte seines Freundes und trat vor. Er hob die Hände, für Handfesseln, doch die Wachen schüttelten nur den Kopf. Jemand wickelte etwas grob das Tuch vor Dragans Gesicht, sodass nur seine Augen frei waren. Ein anderer stülpte ihn einen schäbigen, abgewetzten Lederhut auf den Kopf und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Nur Geduld“, wisperte der Mann hinter Dragan, der das Leintuch ordentlich verband. Dann gab er ihm einen leichten Stoß in den Rücken. Zwei der Wachen führten ihn hinaus auf den Korridor. Rechts auf dem Gang erblickte er das erste Mal die Frau in der anderen Zelle. Sie trug ein weites, schmutziges Kleid aus grauen Leinen. Sie war zierlich gebaut, doch waren ihre nackten Beine und Arme von dünnen Narben übersäht, sichtbare Muskeln schlangen sich um ihren Körper, sodass sie wie eine durchtrainierte Kriegerin aussah. Ihre Haare wurden von einem Ledertuch zusammengehalten, sodass man nicht sehen konnte, welche Farbe sie waren. Ebenso wie bei seinem Gesicht, hatte man ihr ein dunkelbraunes Leintuch umgebunden, um ihre Züge zu verbergen. Ihre strahlend blauen Augen musterten ihn jedoch eindringlich. Zwei Wachen waren auch bei ihr und schubsten sie in seine Richtung. Mit einer Aufforderung wurde auch Dragan nach vorn geschubst, ihr Blickkontakt riss ab. „Denkt dran“, sagte einer der Wachmänner laut, „Spricht mit niemanden da draußen. Benutzt nicht eure Namen. Manche Bürger mögen es nicht, wenn Gefangene für den Fürsten arbeiten.“ Jemand stach Dragan in den Rücken. „Du bist jetzt Oleg.“ Der Wächter wandte sich an die Frau: „Und du Boleg.“ Die übrigen Wächter lachten schallend. Dragan wechselte einen Blick mit der Gefangenen, die wütend die Fäuste ballte. Auch der Wortführer bemerkte es. „Was? Gefällt er dir nicht?“ Sie schüttelte den Kopf, woraufhin einer der Wächter einen hölzernen Prügel zückte. Unbeeindruckt stierte sie den Mann an. Der Wortführer zögerte,  zischte aber dann wütend „Verdammt.“ Er bedeutete den Mann mit dem Prügel die Waffe zu senken, „Dann eben Danica. Ihr könnt froh sein, dass Kněz Kapitan Marek noch in der Stadt ist. Bewegung jetzt!“
Dragan beschwerte sich besser nicht über seinen Namen und folgte den Wächtern mit Danica hoch in die Baracke der Wachen. Kurz darauf standen sie in dem Gemeinschaftsbad. Dragan tauschte einen überraschten Blick mit Danica. „Los, ausziehen und waschen. Passt auf eure Kopfbedeckungen auf.“, forderte einer der Wachen barsch.
Dragan gehorchte, da er sich seit Wochen schon nach einem Bad sehnte. Er ging in die Mitte des Bads, wo ein steinernes Becken mit Wasser, vielleicht zwei Mal drei Schritte maß. Er wandte Danica den Rücken zu, die es ihm ebenfalls gleichtat. Rasch wuschen sie sich, ohne sich anzusehen, sehr zu Belustigung der Wachen – die aber erstaunlicherweise so viel anstatt hatten, nur Dragan zu nerven. Danica schien tatsächlich eine wichtige Gefangene zu sein, denn erst, als sie in ein Tuch eingewickelt aus dem Becken stieg, wandten sich die übrigen Wachen ihr zu und führten sie hinaus. Dragan war überrascht, dass sie so schnell fertig war, auch wenn ihm klar war, dass man als Frau wohl äußerst ungern mit einer Horde Männern im Bad sich Zeit ließ.

Nach seinem Bad wurde er in einen angrenzenden Raum geführt, in dem einfache Arbeitskleidung auf schäbigen Bänken lag. Es war ein enger Raum, die Wachen warteten vor der Tür, als sie ihn feixend hineinschubsten. Danica blickte kurz auf und hielt sich ihre Hand vor die Brust. Ihre blauen Augen funkelten bösartig. Dragan murmelte eine Entschuldigung und bedeckte seine Augen, während sie sich rasch eine Hose anzog. Den Anblick würde er trotzdem nicht so schnell vergessen. Mit größter Mühe unterdrückte er ein Grinsen und den Kommentar, dass selbst ihr Hinterteil durchtrainiert war. Damit wollte er eigentlich seine Bewunderung ausdrücken, dass eine Frau so viel trainiert hatte, dass so mancher Mann neidisch werden konnte. Er hörte leise Schritte, dann tippte sie ihm auf die Schulter. Dragan wartete, bis die Tür ins Schloss fiel. Draußen hörte man das anzügliche Gelächter der Wachen. Jemand pochte heftig gegen die Tür und rief, er solle sich beeilen, sonst würden sie ihn nackt durch die Stadt laufen lassen. Dragan fluchte und packte die Bundhose, das Wams und die schäbigen Lederstiefel. Eilig zog er alles an und trat hinaus. Die Wachen lachten und machten Witze darüber, dass er wohl Angst hatte. Danica vermied es ihm in die Augen zu sehen.

Auf dem Weg durch die Stadt wurde nicht gesprochen. Die Wachen achteten darauf, dass immer zwei ihrer Männer zwischen Danica und Dragan waren. Sie ermahnten beide noch einmal, mit niemanden im Palast zu sprechen, den Blick stets gesenkt zu lassen und niemals ihr Gesicht zu zeigen. „Und wenn einer der adligen oder der Fürst selbst euch etwas befiehlt, tut ihr es ohne es zu hinterfragen. Klar?“
Sie nickten so knapp wie nur möglich. Jemand trat ihm schmerzhaft gegen das Schienbein, Danica kassierte einen schallenden Schlag auf den Po der sie zusammenzucken ließ. „Was? Ich habe nichts gehört. Macht mal die Zähne auseinander, sonst schlag‘ ich sie euch aus.“ Dragan konnte sehen, wie sie die Fäuste ballte und sagte für sie beide etwas lauter: „Verstanden.“
Danica brachte kein Ton über die Lippen, doch schien Dragans Antwort den Wachen zu genügen. Sie führten sie beide aus der kleinen Nebengasse, über den Brunnenplatz hinauf zum Palast. Das alte Holzgebäude weckte viele Erinnerung in Dragan, die er absolut nicht gebrauchen konnte. Die dunklen Tore des Fürstensitzes öffneten sich. Überrascht blieb der Tross kurz vor der Treppe und dem Mann, der hervorgetreten war stehen. Er trug einen breitkrempigen Lederhut, an dem eine grüne Feder steckte, ansonsten trug er eine bronzefarbene Rüstung und braunem Wappenrock.
Kapitan“, sagte einer der Wachen offensichtlich überrascht und nervös. Die Wächter machten einen unbeholfenen Knicks oder eine Verneigung.
„Sind das die Zwei für heute?“, fragte Marek gebieterisch und würdigte sowohl Danica als auch Dragan keines Blickes.
„Jawohl, Kněz, sie sind für den Thronsaal und die Gästezimmer eingeteilt“, antwortete eine der Wachen pflichtbewusst.
Mareks Blick huschte über Danica und blieb für einen winzigen Augenblick an Dragan hängen. Ein Augenlied seines Freundes zuckte unmerklich. „Ich weiß. Sie sollen zuerst im Gästezimmer anfangen, der Boden hat es dort nötiger. Im Thronsaal hält der Fürst gerade Hof mit Würdenträgern und dem Bojarenrat.“
Die Wachen blickten sich unsicher an, nickten aber dann. „Wie Ihr befiehlt, Hauptmann.“
Sie schoben sich eilig an Marek vorbei, der die beiden Gefangenen dabei eindringlich musterte. Dragan musste an sich halten, nicht einen Dank zu murmeln, den sowohl Danica, als auch die Wachen gehört hätten. Wäre sein Freund nicht gekommen, würde er noch immer Wochen in diesem Kerker verbringen. Nun hatte er die Chance direkt unter der Nase Vakrims herumzuschnüffeln. Sein Blick wanderte zu Danica. Ob sie wohl heimlich für ihn arbeitete – so wie Tiana? Tat sie dies freiwillig? War das alles nur ein Trick? Dragan wusste es nicht, doch er vertraute ihr erstmal nicht. Selbst Marek war nicht einfach so zu trauen. Zu viel Zeit war vergangen. Dennoch hätte dieser die Tatsache, dass Vakrim gerade mit Würdenträgern und den Bojaren Hof hielt nicht erwähnen müssen – was ein wenig Hoffnung schafft. Er schmunzelte unter seinem Mundtuch und nahm sich vor, so schnell wie möglich mit den Gästezimmern fertig zu werden.



Kapitan dt.= Hauptmann
Kněz  Anrede dt. = Herr
Bojaren = Großgrundbesitzer | Niederer Adel

Curanthor

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Ein verwüstetes Gästezimmer
« Antwort #2 am: 4. Dez 2021, 05:26 »
Als Dragan mit Danica von den Wachen in eines der Gästezimmer geschoben wurde, bot sich ihnen ein Anblick eines Schlachtfelds. Die Einrichtung war bis auf das Bett in Trümmern, Holz- und Glassplitter lagen auf dem Boden verstreut. Doch am meisten fielen ihnen die zahlreichen Blutspritzer auf den dunklen Holzdielen auf. Von der großen, halb getrockneten Blutlache vor dem Bett gar nicht zu reden. Hier hatte offenbar ein heftiger Kampf stattgefunden, den jemand offensichtlich haushoch verloren hatte – eine lange Schleifspur aus der Blutlache heraus zur Tür deutete darauf hin. Eine vermummte Gestalt tauchte hinter Dragan und Danica auf. Die Wachen kontrollieren kurz die beiden Eimer, die Lappen und das Mundtuch der anderen Bediensteten. Sie hielt den Blick gesenkt, während Danica und Dragan sich einen fragenden Blick zuwarfen. Die Wachen bedeuteten ihnen die Sachen entgegenzunehmen und schlossen danach die Tür. Dragan blickte in den Eimer in seiner Hand. Es war ein kristallines, weiß-hellrotes Zeug, das er schon einmal gesehen hatte. 
„Salz“, murmelte Danica leise und hielt eine Kartoffel in der Hand, „Als Frau weiß man, wie Blut zu beseitigen ist.“
Ohne viel Federlesens nahm sie einen lädiert aussehenden Leinenlappen in die Hand und begann das frische Blut damit aufzuwischen. Dragan wunderte sich, dass sie gar keine Abscheu zeigte. Er vermutete, dass sie nicht zum ersten Mal menschliches Blut sah. Normale Menschen hätten schon beim ersten Anblick wieder kehrt gemacht, doch Danica schien sich nicht daran zu stören. Sie stopfte den blutigen Lappen in den Eimer Wasser und versuchte ihn so gut es ging zu säubern, dann wrang sie ihn aus und machte sich daran, mehr von der Blutlache zu entfernen. Dragan bemerkte, dass sie ihm hin und wieder missmutige Blicke zuwarf, woraufhin er sich in Bewegung setzte. Den Eimer mit Salz stellte er an die Seite und begann damit, die Scherben, Splitter, Holzstücke und andere Kleinteile, die unter seiner Sohle knirschten zusammenzufegen. Der Reisigbesen dafür hatte schon in einer Ecke gestanden. Er vermied es darüber nachzudenken, was in dem Raum geschehen sein könnte. Er kannte die Gemächer noch aus der Zeit, wo er in dem Fürstensitz gelebt hatte. Dies waren eigentlich die Gemächer der Bediensteten gewesen, genauer gesagt, die Zimmer der Küchenmägde. Einen Ort, den er eher selten besucht hatte, anders als sein Vater. Seine Hand umklammerte den Besen fester. Jemand tippte ihn auf die Schulter. Dragan fuhr herum. Danica stand genau vor ihm, ihre eisblauen Augen starrten ihn ungeduldig ab.
„Oleg“, sagte sie noch einmal und ihre Stimme schien kurz zu wanken. Verkniff sie da gerade ein Lachen? „Um das Blut kümmere ich mich. Stapel du die zerschlagenen Möbel in eine Ecke, jemand anderes wird sie fortschaffen, wenn wir hier fertig sind. Und lasse das Bett wie es ist…“ Dragan stutzte und wollte einen Schritt darauf zu gehen, doch ihre Hand schnellte vor und packte ihn wie einen Schraubstock am Unterarm. „Lass‘ es“, zischte sie plötzlich ernst.
Dragans Hand wurde taub, bis er schließlich nickte und sie ihn frei gab. Mit einem leisen Fluchen rieb er sich den Arm. „Du packst zu wie ein…“ Sie warf ihm einen giftigen Blick zu, woraufhin er sich rasch räusperte, „Hrm, ich meine, du hast einen festen Griff. Beeindruckend.“
Danica warf ihm einen weiteren, abfälligen Blick zu und klatschte den nassen Lappen auf die blutigen Dielen. „Abstoßend. Sag‘ es doch gleich. Das denken alle Männer von mir, wenn sie mich sehen. Das macht mir nichts aus.“
Dragan, der gerade verstohlen das zerwühlte Bett musterte spürte, dass es ihr eben nicht ‚nichts ausmachte‘. Er kannte sie aber nicht gut genug, um es sicher zu wissen und zog es vor zu schweigen. Sie war ihm was Körperkraft betraf überlegen und das genügte ihm, um vorsichtig zu sein. Außerdem wusste er auch nicht, wo ihre Loyalität lag. Gleichzeitig musste er sich stark an sich halten, um sie nicht irgendwie zu veralbern oder irgendwelche Witze zu reißen. Es war anstrengend. Dragan atmete seufzend aus, als er einen zerschlagenen Stuhl zusammensuchte. Ein zerborstenes Holzbein erregte seine Aufmerksamkeit, das er halb unter dem Bett hervorfischte. Es war zersplitterte, als ob ein Riese es als Zahnstocher benutzt hatte.
„Passiert das hier öfters?“, fragte er seine Mitleidende und schwenkte das zerborstene Stuhlbein vielsagend umher.
Danica atmete entnervt auf, erhob sich und kam rasch auf ihn zu. Grob rupfte sie ihm das Holzbein aus der Hand und warf es auf den kleinen Haufen, den er bereits aufgeschichtet hatte. „Du stellst zu viele Fragen, Oleg.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich wieder ab und schrubbte mit einer Bürste und dem Salz das eingetrocknete Blut von den Dielen.
„Bitte, dann eben nicht, Frau Gorilla“, brummte Dragan. Etwas kam in seinem Augenwinkel angeflogen. Seine Hand schnappte das Geschoss aus der Luft, das ihn sonst am Kopf getroffen hätte. „Aber, aber, wer wird denn gleich gewalttätig“, tadelte er, mit der gefangene Bürste in der Hand wedelnd.
Danica erhob sich, ihr Blick schien ihn zu erdolchen. Ihre blasse Haut hatte eine rötliche Färbung angenommen, die Dragan dazu riet nicht zu weit zu gehen. Sein Blick wanderte zu ihren narbenüberzogenen, geballten Fäusten. Die Knöchel waren beinahe weiß. Er schluckte unmerklich. Danica kam gemächlichen Schrittes zu ihm herüber und erst jetzt hatte Dragan Gelegenheit sie genauer zu betrachten, denn das breite Kreuz und die trainierten Schultern waren nun bedrohlich angespannt. Sie stoppte zwei Schritt vor ihm und reckte herrisch eine Hand. Die andere blieb trotzdem geballt. Dragan verstand erst nicht, beeilte sich aber dann, ihr die Bürste zu reichen. Sie packte seine Hand zusammen mit dem Holzstück und drückte zu. Überrascht von dem plötzlichen Schmerz keuchte er leise, während Danica zischte: „Ich bin nicht zu solcher Art Scherze aufgelegt. Ist das klar?“
Dragan nickte und antwortete rasch: „Verstanden. Verzeiht, mein Fehler… auch wenn das eher davon kam, dass ich den Namen Oleg nicht sonderlich mag – und ich generell gerne Scherze.“
Danica ließ los und schien besänftig, denn ihre Haltung wurde wieder lockerer. Sie drehte ihm den Rücken zu und machte sich wieder an den blutigen Boden. Etwas verdutzt von dem plötzlichen Gesinnungswandel blinzelte Dragan mehrmals und schaute ihr einen Moment bei ihrer Arbeit zu. Sein Blick wanderte dabei unwillkürlich zu dem Bett. Seine Neugierde ließ nicht locker, doch er wollte nicht noch einmal mit ihr aneinander geraten. Es wäre wohl klüger, erst einmal die Arbeit hier soweit zu erledigen, dachte er sich und ließ dem Gedanken auch Taten folgen. Ohne weitere Zwischenfälle räumte er weiter das Zimmer auf, fegte Bruchstücke zusammen und schob unter Danicas scharfen Blick das Bett an seinem Platz. Sie hatte inzwischen den Boden soweit von dem meisten Blut befreit, auch wenn noch eine dunklere Färbung des Holzes darauf hindeutete, was hier geschehen war. Während ihrer Arbeit tauchten die Wachen in unregelmäßigen Abständen auf und kontrollierten, ob sie auch fleißig waren. Dragan vermutete, dass einer von ihnen durchgehend vor der Tür stand. Mehrmals hörten sie kurze Gespräche durch das Holz, die meist sehr knapp gehalten waren. Auf einmal hörte man sehr deutlich die Stiefelabsätze von jemand, der auf den Gang vor der Tür entlangschritt. Dragans geübtes Gehör erkannte es als eine Frau, die einen recht langen Schritt hatte, also wohl ziemlich lange Beine besaß. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Danica in der Bewegung erstarrte. Die dumpfen, regelmäßigen Schritte auf dem Dielenboden wurden langsamer, je näher sie der Türe kamen. Dragan blickte abwechselnd auf das Schloss und auf Danica. Offenbar wusste sie, wer dort auf dem Flur war, denn sie war zur Salzsäule erstarrt. Es war das erste Mal, dass Danica eine Schwäche zeigte. Furcht. Dragan schluckte unmerklich und blickte wieder hastig zur Tür. Die Schritte verstummten. Direkt vor dem Holz. Ein unangenehmes Kribbeln kroch ihm über den Rücken. Plötzlich kam ihm die Eichentüre so vor, wie dünnes Papier. Selten hatte er so etwas gespürt. Nur zu einer Zeit, in der er in der Welt der Schatten gelebt hatte. Ein Moment war er dennoch froh, dass dieses dünne Stück Holz zwischen ihm und dem, was auch immer auf dem Flur zwischen ihnen war. Dann ertönten wieder die Schritte auf dem Holz. Sie entfernten sich zügig. Dragan schüttelte sich, um das Kribbeln loszuwerden und atmete unmerklich aus. Danica gab ebenfalls ein hörbares Keuchen von sich.
Noch einmal blickte er zu Tür – um sicher zu gehen, dass die Person weitergegangen war, dann ging er zur Danica und fragte leise: „Du weißt, wer das war?“
Die Kriegerin blicke auf, dann zur geschlossenen Türe und schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß nicht was es ist, aber ich bin dem Ding nur knapp entkommen.“ Sie schaute sich noch einmal um, so als ob noch wer im Raum sein könnte, „Als ich hier herkam, reiste ich mit einer Karawane. Wir machten Rast auf einer Seebrücke. Diese Schritte, der durchdringende Geruch von Blut und die Schreie der Sterbenden in der Nacht. Das werde ich nie vergessen…“ Danica schüttelte sich und blickte wieder zur Tür, „Es waren genau die gleichen Schritte. Da bin ich mir absolut sicher.“ Sie atmete tief aus, um sich zu beruhigen. „Vielleicht ist es ein Nachtmahr.“
Dragan runzelte die Stirn. „Heißt es nicht, dass ein Nachtmahr die Gestalt wechseln könnte?“
Danica zuckte mit den Schultern und wollte etwas darauf erwidern, doch Stimmen vor der Tür ließen sie beide aufspringen. Dann würde die Eichentür aufgezogen und ein untergesetzter Mann trat herein, auch wenn seine stämmige Statur eher von seinem hohen Gewicht kam. Er hatte kleine, wässrige Augen, unter denen dunkle Ränder lagen. Er trug einen schmutzigen rostbraunen Bart und fettige, schulterlange Haare. Dragan kam ihn vor wie ein fetter, scheinheiliger Schmierendarsteller.
„Sind sie das?“, fragte der fremde Mann, dessen Körper in einem zu kleinem Wamst steckte. Ein Gürtel unter gehöriger Spannung hielt die weite Hose oben. Dessen Stimme war irgendwie zu hoch und quakte misstönend.  Eine Wache stand ebenfalls in der Tür – das kantige Gesicht zu einer stählerneren Grimasse verzerrt. Irgendwo zwischen der Beherrschung nicht amüsiert zu wirken und Abscheu.  Der Wachmann bestätigte knapp und nannte den Kerl „Herrn Branko“. Diesem gefiel das ganz und gar nicht, denn er wandte sich der Wache zu und forderte diese auf, ihn bei seinem Bojaren-Titel zu nennen.  Dragan blickte flüchtig zu Danica, die den dicken Bojaren mit offenem Hass entgegenstarrte. Er rückte etwas näher an sie heran, den Bojaren immer noch im Blick. Dragan musste sich hüten, nicht angewidert den Kopf zu schütteln. Zu den Zeiten seines Vaters hätte es niemals so fette und offensichtlich arbeitsunwillige Bojaren gegeben. Offenbar verschenkte Vakrim nun Adelstitel, um sich beim Volk beliebter zu machen, mutmaßte Dragan im Gedanken und verfolgte die Diskussion, die sich plötzlich um sie beide drehte, als Bojar Brankos wurstige Finger auf Danica deutete. Angestachelt von Mareks Worten – endlich nicht nur an sich selbst zu denken, wollte er einen Schritt vor die Kriegerin machen, doch sie hielt ihn zurück. Er schnaubte kaum hörbar und zischte: „Also gut, selber schuld.“
„Ich kann auf mich selbst aufpassen“, giftete sie wispernd zurück.
„Die da“, verkündete Branko nun laut und gebieterisch, „Nehme ich jetzt mit in mein Gemach.“
„Der Hauptmann - “, wollte die Wache entgegnen, doch Branko unterbrach ihn rasch: „Siehst du ihn hier irgendwo? Soweit ich weiß, ist Hauptmann Marek nach Velgorod unterwegs und wird erst in zwei Tagen zurückkehren.“ Der Bojar leckte sich anzüglich über die Lippen, „Und was er nicht weiß…“
„Sie wird Ihnen vorher die Nase brechen“, hielt die Wache dagegen und sprach beim aufkommenden Prostest des Bojaren lauter, aber deutlich unwillig weiter, „Es hat fast fünf Männer gebraucht sie zu fangen. Zwei können noch immer nicht richtig laufen.“
Doch Branko schien das nur noch weiter zu reizen, denn er blickte Danica fasziniert in einem neuen Licht an und murmelte: „Vielleicht kann ich dafür meinen Gefallen bei Fürst Vakrim einfordern…“
Ehe einer von ihnen etwas sagen konnte, ertönte ein Ruf aus dem Flur. Etwas von einer Versammlung. Der Bojar fluchte laut und trat gegen den Türrahmen, nur um leicht humpelnd davonzustürmen. Der Wachmann atmete hörbar auf und murmelte: „Verdammter Idiot, ich hoffe er erstickt bei seinem nächsten Mahl.“ Er blickte sie beide noch einmal an abschätzend an und sagte dann: „Geht hier nach euch was in der Küche zu essen holen. Da dürfte noch etwas vom Mittagsmahl über sein. Kommt danach zum Gästezimmer nebenan. Ihr habt eine Stunde, nicht mehr.“
Die Tür fiel ins Schloss. Dragan sah aus dem Augenwinkel, wie Danica ein spitz zulaufendes Stück Holz sinken ließ. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie da ran gekommen war. Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu und warf das Stück auf den Haufen zerbrochener Möbel, während sie zu dem Eimer mit dem Salz ging. Im Vorbeigesehen sagte sie ihm leise, dass sie schon Erfahrung mit solchen Situationen hatte und keine Hilfe nötig hätte. Sie verteilte das Salz auf den Dielen, den Blutspuren entlang. „Trotzdem danke“, murmelte sie fast kaum hörbar nach einigen Augenblicken. Es ging fast unter dem Scharren des Eimers auf dem Holz unter, sodass Dragan fast nachgefragt hätte. Er brummte nur zustimmend und kratzte sich verlegen am Kinn. Warum er ihr hatte helfen wollen, war ihm selber noch nicht ganz klar. Ihn störte es einfach, wenn Frauen so behandelt wurden, redete er sich selbst ein. Damit konnte er fürs Erste ganz gut leben. Sie räumten die letzten Reste zusammen, wischten das restliche Blut auf, dabei redeten sie wie zuvor kein Wort. Dennoch fiel Dragan auf, dass Danica ihn ab und an beobachtete, wenn sie glaubte, dass er nicht hinsah. Nach einigen hin und her ging ihm auf, dass er ebenfalls hinsah, wenn sie nicht schaute. Er schüttelte den Kopf und packte den schweren Schrank, der an der Wand neben der Tür zur Seite gekippt war. Mit aller Kraft stemmte er den schweren Eichenschrank wieder aufrecht, doch war das Teil verflucht schwer. Plötzlich ging es leichter und der Schrank landete polternd an seinem Platz. Danica stand ihm gegenüber und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eine blonde Strähne rutschte unter dem Ledertuch hervor, das ihre Haare bedeckte. Ihre hellblauen Augen musterten ihn, dann schob sie eilig die Strähne wieder unter das Tuch.  „Sowas macht man besser zusammen“, murmelte sie kaum hörbar und nickte zum Schrank, „Sonst verhebt man sich leicht.“
„Du hast Recht, ich wollte nur fertig werden“, stimmte er ihr zu und änderte rasch das Thema, „Mein Magen knurrt schon.“
Danica antwortete nicht, sondern starrte ihm unvermindert in die Augen. Etwas unangenehm berührt räusperte sich Dragan. Sie blinzelte und machte eine entschuldigende Geste, während sie etwas auf Abstand ging. „Oh, ich … es ist nichts.“
„Ah“, machte Dragan, „Meine Augen“, stellte er fest. Ein leidliches Thema, auf das er schon oft angesprochen wurde. Sonderling, hatte man ihn genannt, manchmal auch Bastard oder Hexer, natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. Danica nickte ziemlich verzögert - offenbar tief im Gedanken und schien nicht recht zu wissen, ob sie sich entschuldigen oder ihre Neugierde stillen sollte. Dragan nahm ihr die Entscheidung ab und drängte darauf, endlich etwas zu essen. Das schien Danica aus ihrer Starre zu wecken und sie stimmte mit hörbarer Motivation zu. In Begleitung mit einer Wache, die vor der Küche warteten würde, begaben sie sich in den Teil des Fürstensitz, der von den Bediensteten bewohnt wurde.
 

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Aus dem Kerker und mehr Fragen
« Antwort #3 am: 5. Dez 2021, 22:54 »
Die Küche war verlassen, als Dragan mit Danica die doppelflügelige Tür öffnete. Ein Wachmann räusperte sich und drängte sich ungehalten an ihnen vorbei. Er setzte sich an den langen Tisch links von der Tür, zog ein Stück Holz und begann daran mit einem kleinen Messer zu schnitzen. Der Duft von einem kräftigen Eintopf lag in der warmen, rauchigen Luft. Auf der Anrichte stand ein großer Topf, aus dem es noch dampfte. Über den Feuerstellen, wo es noch glühte, hingen mehrere kleinere Töpfe. Eine Köchin kam aus einem der angrenzenden Räume, einer der Gesellschaftsräume, wie Dragan aus seiner Erinnerung wusste. Die etwas stämmige Frau warf ihnen nur einen flüchtigen Blick zu. Die Küche maß dreißig mal vierzig Schritt und bot genug Platz, um die Mahlzeiten sämtlicher Bewohner der Fürstensitz zuzubereiten. Zwei Mägde eilten der Köchin hinterher und stockten kurz, als sie die zwei vermummten Arbeiter in Gesellschaft einer Wache sahen. Die stämmige Köchin fauchte eine leise Aufforderung und die drei Frauen begaben sich gemeinsam an die Feuerstellen. Dragan nahm sich etwas Eintopf, Danica musterte den Inhalt des Topfes erst misstrauisch, füllte sich aber dann auch ihre hölzerne Schale. Sie setzten sich am anderen Ende der Tafel, sodass sie außer Hörweite der Wache war, die ihnen hin und wieder gelangweilte Kontrollblicke zuwarf. Eine Magd legte ihnen Löffel auf den Tisch, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Dragan musterte sie flüchtig, doch er erkannte sie nicht. Sein Blick blieb an Danica hängen, die neben ihm saß und halb ihm halb den Rücken zugedreht hatte. Sie aß gekonnt mit dem Tuch im Gesicht, doch hatte sie sich genauso postiert, dass er keinen Blick auf ihr Kinn oder Wangen erhaschen konnte. Etwas enttäuscht wandte er sich seiner eigenen Schüssel zu. Es war schwieriger als gedacht mit dem blöden Leintuch im Gesicht. Zweimal hatte er den Löffel in die Schüssel fallen lassen müssen, um zu verhindern, dass seine Mahlzeit zur Hälfte in dem Tuch landete. Wenigstens war der Kartoffeleintopf mit ausgelassenem Speck genießbar. Im Gegensatz zu der abscheulichen Brotsuppe war dies ein Festmahl.
Als sie beide fertig gegessen hatten, sammelte eine der Mägde die Schüsseln und Löffel ein. Es war die andere der beiden, doch auch sie würdigte sie keines Blickes. Dragan fragte sich indessen, warum Danica neben ihm saß, wo doch der zweite Tisch auf der anderen Seite der Küche leer war.
„Warum seid Ihr eigentlich hier?“, ertönte ihre Stimme, die sie zum einem Flüstern gesenkt hatte.
Dragan schaute sich kurz um, die Mägde kochten an der Feuerstelle, der Wachmann schnitzte gähnend an einem Stück Holz. Er lehnte sich etwas zu ihr herüber: „Ich denke, das wisst Ihr schon.“
Danica schwang ihr Bein über die Bank und wandte sich ihm zu: „Was soll das bedeuten?“ Ihre eisblauen Augen funkelten gereizt.
„Nun, dass Vakrim sicherlich Spaß hat, wenn er Euch in meiner Nähe platziert und Ihr mir vorgaukelt, wir hätten etwas gemeinsam. Aber ich bin kein Narr. Keine Sorge, so langsam bin ich es gewöhnt, verraten zu werden – es wird nicht überraschend kommen.“ Er ballte unwillkürlich eine Hand zur Faust. Sein Vater hatte ihn damals verraten – in mehrfacher Hinsicht. Die Sache mit Cheydan würde er ihm niemals vergeben. Dann erst kürzlich mit Tiana und dem Zirkel, oder was auch immer das für ein Schauspiel gewesen war.
Ihre Augen verengten sich indessen, ein leises Schnauben war zu hören. „Das glaubt Ihr also?“
Dragan schnaubte ebenfalls. „Etwas schwach, als Rechtfertigung zu dem Vorwurf mich verraten zu wollen.“
„Ihr seid paranoid“, befand Danica kopfschüttelnd und blickte kurz zur Wache, „Und dumm.“
Er beugte sich etwas vor und näherte sich ihrem vermummten Gesicht. „Ach? Bin ich das? Und was ist mit Euch? Ihr seid ebenfalls hier gefangen und schuftet für Eure Kerkermeister für etwas Komfort, genau wie ich. Also wärt Ihr mindestens genauso dumm.“
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, dann zischte sie, dass er keine Ahnung von ihr, oder was sie durchgemacht hatte. „Also maßt Euch nicht an über mich zu urteilen.“
Dragan lachte leise abfällig und ging wieder auf Abstand, da die Wache ihnen aufmerksame Blicke zuwarf. „Ist das jetzt ein Wettbewerb, wer es schwerer hatte? Was kümmert mich es, was Ihr alles erlebt habt? Einen Dreck.“ Er zog rasch eine Hand an seinen Körper, nach der Danica gerade schlug. „Jeder hat seine Last zu tragen, egal wie sehr sie nach der Scheiße stinkt, die man erlebt hat“, sagte er dabei und schüttelte den Kopf, „Ihr wisst doch genauso wenig über mich. Und als Tochter eines Bojaren hat man auch als Gefangene nicht viel zu befürchten – anders als bei mir.“
Danica zog ihre ausgetreckte, flache Hand zurück und stieß zischend die Luft zwischen den Zähnen aus. „Eure Wortwahl ist genauso mangelhaft wie Euer Umgang mit Frauen.“ Sie schien kurz eine Grimasse zu ziehen und sagte dann verträglicher: „Trotz der fäkalen Metapher, habt Ihr Recht. Ich weiß genauso wenig über Euch, wie Ihr über mich und jeder hat seine eigene Last zu stemmen.“
Überrascht von dem plötzlichen Wechsel ihrer Wortwahl und Art zu sprechen blickte er sie eine Weile an. Man könnte es sogar als versteckte Entschuldigung verstehen, aber dafür kannte er Danica nicht gut genug.
Sie schauten schweigend den Mägden bei der Arbeit zu, dann fragte sie leise: „ Wie habt Ihr das gemeint, dass ich als Bojarentochter nicht viel zu befürchten habe?“
Dragan wandte ihr halb den Kopf wieder zu, doch sie schaute weiterhin den Mägden bei der Arbeit zu. „Nun, die Bojaren haben in Govedalend schon immer viel Einfluss gehabt. Da sie am meisten Land besitzen, stellen sie einen Großteil der Soldaten und deren Verpflegung. Und man verscherzt es nicht mit einem Bojaren, der sonst vielleicht nur die Hälfte an Regimentern schickt, oder mal vergisst die Handelswege in andere Provinzen zu sichern. Oder er verweigert die Kornlieferungen in die Städte vor dem Winter.“ Er stoppte und atmete tief durch. Eigentlich hatte er das Wissen nicht mehr gebrauchen wollen, das ihm sein Vater eingebläut und dutzende Lehrer ihm in stundenlangen Vorträgen vorgekaut hatte. Dragan wollte weitersprechen, stockte aber dann, als ihm auffiel, dass Danica durchgehend neugierig genickt hatte. „Warum habe ich den Eindruck, dass das etwas Neues für Euch ist?“
Sie zögerte und gab dann ein kurzes, abwertendes Lachen von sich. „Was? Nein, das wusste ich schon. Ich meinte nur, dass Ihr ja gehört habt, was die eine Wache in der Zelle versucht hatte.“
Dragan hob skeptisch eine Braue und murmelte, dass das nicht gerade half Vertrauen aufzubauen. „Und ich bin mir mittlerweile nicht sicher, ob Ihr überhaupt Hilfe nötig hattet, so wie Ihr gebaut seid.“ Danica wollte offenbar empört etwas erwidern, doch Dragan war schneller und sagte rasch, dass er es gut fand. „Ihr könntet Euch verteidigen, da bin ich mir sicher. Ihr zeigt keine Angst oder Einschüchterung gegenüber den Wachen und das was ich von Euch sehen konnte, war beeindruckend muskulös.“ Dragan hatte das eher nur gesagt, um sie aus der Fassung zu bringen, was auch funktionierte.
Danicas Gesicht, das nicht von dem Tuch verdeckt wurde, nahm eine leicht rötliche Färbung an. Sie tippte grob mit einem Finger gegen seine Brust. „Wenn ich auch nur ein weiteres Wort darüber jemals aus deinem, oder irgendeinen anderen Mund höre, dann Gnade dir wer auch immer. Dann mach‘ ich dich fertig.“ Sie funkelte ihn noch einige Augenblicke nachdrücklich an, ließ dann aber von ihm ab. Dragan rieb sich seinen schmerzenden Brustkorb. Ihr Finger war fast wie ein Nagel gewesen, doch das war es wert gewesen. Danica hatte ihren govedalischen Akszent der Allgemeinsprache bei ihrer Drohung abgelegt und somit seinen Verdacht bestätigt.
„Ihr seid nicht von hier, oder?“, konfrontierte er sie damit. Die Reaktion war, dass sie verblüfft ihre Augen aufriss, ihre Hände ruckten hoch zu seinem Hals, bereit ihm den Kehlkopf zu zerquetschen. Sie beherrschte sich im letzten Moment mit Blick auf den Wachmann und beschränkte sich damit, ihm heftig gegen die Schulter zu boxen.
„Mein Unwissen über die Bojaren hat mich verraten oder?“, fragte sie leise und gab einen ziemlich vulgären Fluch von sich, „Und ich hatte mir vorgenommen gehabt, nicht darüber zu reden, um sowas zu vermeiden… verflucht!“
Dragan konnte ein triumphierendes Grinsen nicht unterdrücken, das sie aber zum Glück nicht sehen konnte. Sonst hätte er sich eine Tracht Prügel eingefangen, da war er sich ziemlich sicher. Er räusperte sich leise und antwortete wahrheitsgemäß: „Ihr habt Euch zu gewählt ausgedrückt. Metapher? Im niederen Adel?“ Er schüttelte den Kopf, „Solche Wörter benutzen nur Gelehrte.“
Sie nickte langsam und verstand. „Und das hat Euer Misstrauen geweckt. Deswegen habt ihr mich gereizt und darauf gesetzt, dass ich dabei unvorsichtig werde und einen Fehler mache.“
„Der govedalische Akzent ist schwer aufrechtzuerhalten, wenn man nicht mit ihm aufgewachsen ist – vor allem wenn man emotional wird“, nickte Dragan, „Und Ihr betont die Kehllaute manchmal nicht ausreichend genug, aber das ist mir am Anfang auch nicht aufgefallen.“
Danica wirkte mit dem letzten Satz etwas besänftigter, auch wenn nach wie vor die Fäuste geballt waren. Dragan versicherte ihr, dass er darüber schweigen würde. „Wenn Ihr mir verratet, woher Ihr kommt.“
Sie vermied seinen Blick und schien zu überlegen. Schließlich seufzte Danica tief, dann sie sagte leise, dass sie eigentlich jeden tötete, der ihre Deckung durchschaute. Sie blickte ihm in die Augen. Ihr Blick war hart wie Stahl und Dragan war sich sicher, dass sie schon Leben genommen hatte. „Dann verratet Ihr mir, warum Ihr eingesperrt wurdet“, bot sie einen Handel an.
Dragan war sich nicht sicher, ob sie ihr Wort hielt, nickte aber dann und sagte knapp: „Durch Verrat. Vakrim hat ein besonderes Interesse an mir.“
Danica legte fragend den Kopf schief und beschwerte sich, dass das keine richtige Antwort war und mehr Fragen aufwarf. Auf sein Achselzucken hin, sagte sie knapp, dass sie aus dem Osten kam, jenseits der Weite. Fast war er sich sicher, dass sie dabei ein gemeines Grinsen im Gesicht trug und beließ es dabei. Offenbar vertrauten sie sich beide noch nicht genug für mehr.
„Genug mit Euren Getändel! Da wird einem ja schlecht“, unterbrach die tiefe Stimme des Wachmannes die kurze Stille zwischen ihnen, „Die Stunde ist rum. Marsch in den Thronsaal. Der Fürst will euch beide sehen.“
Danica warf Dragan einen alarmierten Blick zu. Ihre Augen huschten über die mit hauchdünnen Holzstreifen bedeckte Rüstung der Wache und blieb an seinem Waffengürtel hängen, am dem Schwert und Dolch befestigt waren. Dragan schüttelte unmerklich den Kopf. Die Wache bemerkte ihren Blick und fragte blaffend, was es da zu glotzen gab. Sie erwiderte gelassen, dass er sich vielleicht abklopfen wollte, bevor er sie zum Fürsten brachte. Der Mann zischte leise und scheuchte sie von der Bank und hinaus aus der Küche. Dragans Schulterblick verriet ihm, dass die Wache sich hastig die Reste seiner Schnitzarbeit von seiner Kleidung klopfte. Vor den Türen tauschte er einen vielsagenden Blick mit Danica. Sie kamen stumm darüber ein, dass niemand etwas unnötiges über den anderen sagte. In ihm brannte die Frage, wie sie sich als Bojarentochter ausgeben konnte und es nicht aufflog, doch musste er sich gedulden. Es gab noch viele ungeklärte Dinge, doch der Weg zu Vakrims Saal war gepflastert von bösartigen Blicken von Bediensteten, dass er sich immer wieder wunderte, warum man sie so behandelte. Er hoffte, dass es die Unzufriedenen waren, die den momentanen Fürsten und Leute, die für ihn arbeiteten verabscheuten.

Nach einigen Momenten waren sie vor der inzwischen reparierten Tor des Thronsaals des Fürsten. Die Wache klopfte, wartete bis eine Bestätigung ertönte und öffnete. Dragan und Danica wurden wie gehabt vor die Stufen des Throns geführt. Vakrim saß weiter hinten auf der Empore an einem Tisch und blätterte durch einige Pergamente. Ein gefülltes Glas Wein und eine große Kristallkaraffe standen ebenfalls darauf. Dragan versteifte sich. Zu Vakrims Rechten saß Tiana! Sie las ihm gerade eine Auflistung der eingezogenen Soldaten aus einer Provinz vor. Der Wachmann trat vor und räusperte sich laut, obwohl es offensichtlich war, dass man sie bereits bemerkt hatte. Vakrim trank einen Schluck aus seinem Weinglas und hob die Hand. Tianas Stimme verstummte. Sie bickte auf und musterte die Neuankömmlinge. Ihr Blick glitt teilnahmslos über Dragan, der hoffte eine Spur von Reue, Erkennen oder zumindest Abscheu darin zu erkennen. Doch da war gar nichts. Er musste an sich halten. Sein Herz raste, das Blut rauschte in seinen Ohren.
„Sind das die Neuen?“, fragte Vakrim schließlich gelangweilt und  stützte seinen Kopf mit einem Arm auf den Tisch, „Verfluchte Bojaren… Immer fordern und fordern, aber durchsetzen muss ich es.“
„Mein Herr“, sagte Tiana leise – fast schon in einem mahnenden Tonfall und wandte sich lauter an den Wachmann: „Wie kommt es, dass Ihr alleine seid? Wo sind die anderen Wachen?“
Der Mann erwiderte knapp, dass die Gefangenen keine Anstalten gemacht hatten zu fliehen und deswegen nur einer zur Beobachtung dabei sein musste, wenn sie draußen waren. Das schein Tiana zu genügen, denn sie wechselten das Thema: „Also, wie war die erste Schicht bisher?“
„Ausgezeichnet“, antwortete die Wache zu ihrer beider Überraschung, „Oleg und Danica haben gewissenhaft gearbeitet und das Gästezimmer ohne Beanstandung wieder hergerichtet.“
Vakrim gab ein unterdrücktes Prusten von sich und senkte sein Weinglas. Tiana reagierte sofort und tupfte ihm den Wein vom Kinn. Feixend musterte der Fürst die beiden Gefangenen. „Interessante Namen. Nun, selbst ich weiß nicht, wer sich hinter der Maskerade versteckt.“ Er zuckte mit den Schultern, „Wenn es nach mir ginge, ist das unnötig aber es hält die Bojaren still. Sie sind der Meinung, dass man seine Strafe abarbeiten muss. So viele Kerker haben wir nicht.“ Er schnaubte, „Unfähige Idioten. Dann baut man eben Neue… aber ich schweife ab. Wo war ich?“ Tiana wisperte ihm etwas in das Ohr.
„Starr‘ sie nicht so mörderisch an“, zischte Danica leise neben Dragan hastig, „Bleib ruhig.“
Er atmete tief durch. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er seinen ganzen Körper angespannt hatte und bereit war die Stufen hinaufzustürmen, die Karaffe in Vakrims Gesicht zu werfen und ihm mit den Splittern den Hals durchzuschneiden. Dann würde er Tiana ihrer gerechten Strafe zukommen lassen. Lange und blutig. Dragan atmete mehrfach aus, während seine ehemalige Weggefährtin unvermindert in das Ohr Vakrims flüsterte.
Schließlich räusperte sich der Fürst großspurig und verkündete aufgeplustert: „In Anerkennung für eure harte Arbeit, werdet ihr nicht mehr in die Kerkerzellen zurückkehren müssen. Ich, Vakrims Castav wandle Kraft meines Amtes als Herrscher von Govedalend unter seiner Gnaden König Goran, eure Kerkerstrafe in strengen Hausarrest im Dienste der Fürstenkrone um.“
Dragan brauchte einen Moment um die Worte Vakrims zu verdauen – sie waren viel zu umständlich und hochtrabend formuliert. Ein Mundwinkel des Fürsten zuckte. Bevor einer von ihnen etwas sagen, oder zu lange darüber nachdenken konnte, setzte Vakrim nach: „Ich hoffe, ihr werdet Gefallen an dem Zimmer finden. Tiana, zeige es ihnen und erkläre die Regeln.“
Die Verräterin erhob sich sogleich aus ihrem bequemen Stuhl und verneigte sich. „Natürlich, wie Ihr wünscht.“ Sie strich sich ihre Haarsträhne aus dem Gesicht und stieg von dem Podest hinab, „Folgt mir.“ Erneut würdigte sie Dragan keines Blickes. Wie auch, ging es ihm plötzlich auf, selbst Vakrim erkannte ihn nicht. Auf dem Weg erklärte Tiana ihnen die Regeln. Sie mussten sich angeblich ein Zimmer teilen, weil die Bojaren und anderen Würdenträger noch am Fürstenhof weilten. Dragan vermutete eher, dass Vakrim diese Art von Scherzen amüsant fand. Sie schwadronierte weiter und  widerholte in etwa die Regeln, die sie schon kannten, allerdings mit der Erweiterung, auch wenn sie unter sich waren die Gesichter zu verbergen. Danica warf säuerlich an, dass man das nicht kontrollieren konnte. Tiana gab ein falsches Lachen von sich und sagte, dass die Wachen, die ihre Gesichter schon kannten das kontrollieren würden und in den Knoten ein Band einknoteten. Wenn man den Knoten öffnete, konnten nur die Wachen ihn wieder knoten. „Es klingt simpel und einfach zu umgehen, das ist es aber nicht, „mahnte die Verräterin streng, „Die Wachen kennen als einige diese Art zu knoten. Öffnet man ohne Erlaubnis diesen, muss man dann einen Helm tragen, der von einem Schmied verschlossen wird. Nur so können wir die Gesichter unserer Gefangenen schützen.“
Dragan hatte selten Helme getragen, doch wusste er, dass die Dinger verflucht schwer sein konnten. Tag und Nacht gegen seinen Willen so ein Ding zu tragen, konnte schon als Folter verstanden werden. Danica hatte inzwischen die Frage gestellt, warum man so einen Aufwand betrieb die Gesichter zu verbergen.
Tiana stoppte kurz im Korridor und schaute sich um. „Es gibt viele Verschwörungen am Hof“, sagte sie leise und Dragan war sich fast sicher, dass sie schauspielerte, „Und besonders Fehlgeleitete, die Herrn Vakrims Anspruch auf die Fürstenkrone nicht anerkennen. Sie hassen jeden, der in seinen Dienst steht. Besonders Gefangene, die für ihn arbeiten – da sie vermuten, dass sie sie verraten haben, oder es tun werden.“
So wie du mich verraten hast, schrie Dragan im Gedanken. Danicas Stimme brachte ihn wieder zu Gesinnung: „Schöne Geschichte. Sagt doch einfach, dass Ihr die Gefangenen versucht auf Eure Seite zu ziehen, mit Zuckerbrot und Peitsche.“
Tianas bisher gleichgültige Züge nahmen einen düsteren, fast schon niedergeschlagenen Ausdruck an. Es war das erste Mal, dass sie eine so starke Gefühlsregung zeigte. „Führt sie zu ihrem Zimmer“, befahl sie der Wache knapp und wandte sich abrupt auf den Hacken ab.
„Na großartig“, murmelte Dragan und wusste jetzt gar nicht mehr, was er von ihr halten sollte. Hatte sie ihn wirklich verraten? Hatte sie den gesamten Zirkel auffliegen lassen? Wofür? Was sollte das Gesicht gerade? Was war mit Ukko, Nerassa und vor allem Kenshin? Fragen über Fragen, auf die er sich keinen Reim machen konnte. Sein Blick huschte zu Danica, die ebenfalls ein Mysterium war. Was wollte sie hier? Woher kam sie? Ihr Blick traf den seinen. Rasch schaute sie nach vorn. Dragan schnaubte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Sein Gefühl riet ihm aber, dass sich die drängendsten Fragen sehr bald beantworten würden. Sie stoppten vor einer unscheinbaren Eichentüre.
„Wir sind da“, sagte der Wachmann und zog ein Stück Kordel aus einem Beutel an seinem Gürtel, „Oleg, du kommst kurz mit. Danica, du wartest hier. Eine deiner Wachen kommt gleich.“ Der Mann zog einen großen Ring mit Schlüsseln hervor und fand nach einigen Versuchen den Richtigen. Er schloss auf und schob Dragan durch die Tür. Es war ein relativ geräumiges Zimmer ohne Fenster. Eine kleine Feuerstelle mit Rauchabzug war in einer Ecke gebaut. Rechts und links von der Tür stand jeweils ein simples Bett. Eine weitere Tür an der gegenüberliegenden Wand erregte seine Aufmerksamkeit.
„Wohin geht’s da?“, fragte Dragan, während der Mann sein Mundtuch neu verknotete.
„Ein Waschraum, da gibt es eine Waschschüssel und sogar einen Holzbottich. Das Wasser müsst ihr euch aber selber holen. Oh, und natürlich eine Ecke als Abort, den ihr ebenfalls selbst sauber machen müsst.“
Dragan brummte, dass er verstanden hatte. Der Wachmann klopfte ihm auf die Schulter und sagte, dass er fertig war. „Kapitan Marek lässt ausrichten, dass er einen Verbündeten holt. Einen Markis. Solltet Ihr eines der Ziele vorher finden – ihr wisst welche, dann zögert nicht.“
Er fuhr herum, doch der Wachmann war bereits vor die Tür getreten. Danica stand vor ihm und blickte sich aufmerksam in dem Zimmer um. Sie ging an ihm vorüber und schaute in den angrenzenden Waschraum. Dragan konnte sehen, dass auch sie bereits eine Kordel in ihrem Knoten im Mundtuch hatte. Der Knoten sah tatsächlich ziemlich kompliziert aus, doch es kümmerte ihn nicht großartig. Er muss nicht ihr Gesicht sehen, so neugierig war er auch wieder nicht. Es besteht noch immer die Möglichkeit, dass sie ein falsches Spiel spielt, dachte er sich, während Danica das Bett von der Tür aus rechts in Beschlag nahm. Dragan hatte das erwartet, so musste er in dem Bett schlafen, auf das man direkt blickte, wenn man das Zimmer betrat. Danica wirkte zufrieden und verkündete, dass sie etwas Wasser holen ging, um sich zu waschen. „Das solltet Ihr auch mal versuchen, wenn Ihr nicht im Waschraum schlafen wollt“, verkündete sie, als sie mit einem großen Eimer in der Hand an ihm vorbeiging, „Und dass Ihr Eure Finger bei Euch lasst liegt auf der Hand, sonst breche ich sie.“
Ohne dass Dragan etwas antworten konnte, fiel die Tür geräuschvoll ins Schloss. Er schüttelte nur den Kopf und machte sich daran ein kleines Feuer in der Feuerstelle zu entzünden. Immerhin war er nun im Fürstensitz. Die Anlage war zwar riesig, aber es war besser als in einer Zelle zu sitzen, selbst wenn er hin und wieder die Visage von Vakrim ertragen musste. Und er konnte wirksamer herumschnüffeln - genau im Herzen der Schlangengrube und unter der Nase sämtlicher Würdenträger. Nach und nach hatte er sich selbst überzeugt, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, dennoch vertraute er noch niemanden, den er bisher getroffen hatte.


Markis russisch,wörtl: Markgraf. Hoch angesehener Titel, direkt unterhalb des Fürsten angesiedelt.
« Letzte Änderung: 5. Dez 2021, 23:04 von Curanthor »

Curanthor

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Über Vertrauen, einem Plan und Geister
« Antwort #4 am: 8. Dez 2021, 00:51 »

Der restliche Tag verlief ereignislos. Dragan langweilte sich in dem Zimmer, dass er sich mit Danica teilte, während er hörte, wie sie sich in dem Bottich ausgiebig wusch. Er hatte sich nach etwa einer Stunde auf das Bett gelegt, dessen Füllung nur aus Stroh bestand – so lange hat es fast gedauert, bis sie genug Wasser herangetragen hatte. Es war hart und unbequem, aber viel besser, als der nackte Boden der Kerkerzelle. Hier und da pickte ihn ein Strohhalm, doch das kam nur davon, dass es noch frisch war. Sein Blick suchte den Raum ab, auf der Suche nach irgendeiner Waffe. Ihm stand nicht der Sinn danach, noch Monate lang für Vakrim zu schuften und dafür wollte er bereit sein. Schon vorher hatte er sich gefragt, wo sie wohl seine Waffen und die gesamte Ausrüstung von ihm und seinen Gefährten lagerten. Sein Blick blieb unbewusst an der verschlossenen Tür hängen, hinter der Danica gerade ein Bad nahm. Er konnte sie schlecht einschätzen, aber ihre Geschichte über den Nachtmahr und die Angst, die sie zuvor gezeigt hatte, war ziemlich überzeugend gewesen. Ein lauteres Plätschern ließ ihn aufhorchen, rasch schaute er nach oben an die Decke. Die Türe öffnete sich und Danica trat eingewickelt in ein großes Tuch in den schmalen Raum. Mit knappen Worten sagte sie ihm, dass er jetzt baden könnte. Erst wollte er irgendwas antworten, doch kein Wort kam ihn über die Lippen. Die Aussicht auf ein Bad schnürte ihm den Hals zu, doch Danica verstand sein Zögern falsch. Sie war offensichtlich nicht mehrere Wochen ohne die Möglichkeit sich zu waschen eingesperrt gewesen.
„Keine Sorge, es ist nicht mein Monat“, fauchte sie und trat gegen den Bettpfosten, „Beweg‘ dich, du Bauer. Du hast es nötig, sonst kriege ich von dem Stechen in der Nase kein Auge zu.“
Dragan gab ein amüsiertes Prusten von sich und sprang vom Bett auf. Danica schüttelte den Kopf und wartete, bis er in dem Waschraum gegangen war und die Tür hinter sich zugezogen hatte. Neben dem großen Bottich entdeckte er einen polierten Topf. Neugierig nahm er ihn und erst als er sein Spiegelbild vage erkannte, wusste er, warum er hier lag. Rasch entkleidete er sich und musterte seinen Körper. Er hatte etwas Gewicht verloren, die Muskeln traten deutlicher hervor. Seine Hand tastete über die breite, lange Narbe an seinem Hals, vom Ohr, bis zum Schlüsselbein.  Den brennenden Schmerz der glühenden Klinge würde er nie vergessen. Und den Gestank von verbranntem Fleisch. Dragan schüttelte sich und die aufkommenden dunklen Erinnerungen von sich, dann stieg er endlich in das erstaunlich lauwarme Wasser.

Das Bad war wohltuend und Dragan schrubbte sich ausführlich, bis seine Haut einen feuerroten Ton angenommen hatte. Als er fertig war, entleerte er den Bottich und zog sich widerwillig seine alten Kleider an. Gähnend warf er sich auf das harte Bett. Danica saß mit geschlossenen Augen und im Schneidersitz ebenfalls auf ihrem Bett. Dragan fragte, ob sie schon schlief, da es gerade erst Nachmittag. Sie zischte ungehalten und funkelte ihn kopfschüttelnd an. Einige Momente vergingen und Dragan wurde klar, dass es sinnlos war mit ihr zu sprechen. Stattdessen beobachtete er sie aufmerksam. Eine Tatsache, die sie offenbar spürte. Nach einigen Momenten atmete sie genervt aus und gab ihre Haltung auf. Danica lehnte sich an die Wand und nickte ihm zu: „Also, was willst du?“
Er lächelte und nickte zurück: „Das wollte ich dich fragen. Vielleicht kann ich dir helfen.“
Sie schnaubte und verschränkte ihre muskulösen, narbenbedeckten Arme: „Du? Sicher. Als Gefangener.“ Sie verdrehte die Augen, „Was soll‘s. Ich suche jemanden. Zufrieden?“
Dragan runzelte die Stirn und fragte, warum der plötzliche Gesinnungswechsel. Sie zuckte mit den Schultern und sagte, dass Vakrim irgendwas im Schilde führte und es besser wäre eine Absicherung zu haben, sollte sie sein Ziel sein.
Sie nickte zu seinem Gesicht: „Du solltest vorsichtiger sein mit deinen Augen. Sowas ist sehr selten und einfach wiederzuerkennen. Ich selbst kenne nur drei Menschen damit und ich bin sehr viel herumgekommen.“
Dragan verzog das Gesicht, so wie immer, wenn jemand seine Augen ansprach. „Keine Sorge, ich bin mir dessen sehr wohl bewusst. Deswegen lasse ich niemanden nahe an mich heran, halte mich im Schatten auf so oft es geht und vermeide Blickkontakte, falls es dir nicht aufgefallen ist.“
„Klingt wie ein Attentäter, aber ja, das habe ich gemerkt“, warf sie mit einem amüsierten Tonfall ein.
Eine kurze Stille trat ein, in der Dragan mit sich haderte. Niemand hatte bisher so direkt das Thema angesprochen. Es war eine schmerzhafte Angelegenheit. Danica spürte, dass sie einen Nerv getroffen hatte. In ihren Augen funkelte brennende Neugierde, doch sie schwieg vorsichtshalber. Dragan hatte Mühe seine widerkehrenden, mörderischen Impulse zu unterdrücken. Seine Hände hatten sich unbewusst an die Bettkante gekrallt, die er erst mühsam lösen musste.
Er atmete stattdessen aus und fragte eher plump: „Und wie kommt Ihr darauf, dass Vakrim etwas im Schilde führt?“
Danica bemerkte den Wechsel zur höflicheren Anrede und antwortete im gehobenen, govedalischen Akzent: „Ich war erst einige Tage im Kerker, aber kaum macht Ihr etwas Radau, setzt sich eine Kette von Ereignissen in Bewegung. Meint Ihr nicht, dass das etwas… unnatürlich wirkt?“
Er überlegte und musste zugeben, dass das plötzliche Auftauchen von Marek tatsächlich etwas merkwürdig erschien. Dragan musste seinen alten Freund wohl oder übel zur Rede stellen.  Wenn, dann war es ein sehr großer Zufall, dass er genau dann, wenn sich eine der Wachen an Danica vergreifen wollte in der Nähe war. Und wenn das alles kein Zufall war, hatten sie beide ein gewaltiges Problem. Dragan behielt den Gedanken für sich und kaute nachdenklich auf der Lippe. Ein kurzer Blick zu der Kriegerin verriet ihm, dass sie aber einen ähnlichen Gedanken hatte.
„Vielleicht sollten wir ihnen einen Strich durch die Rechnung machen“, sagte sie plötzlich und wollte von ihrem Bett aufstehen.
Dragan hielt sie eilig mit einer Geste zurück und setzte sich auf. „Wovon redet Ihr?“
Sie schaute kurz zur Tür und sagte, dass sie den Hauptmann – also Marek – noch nie gesehen hatte. „Ich bin mir sicher, dass Vakrim oder einer der Adligen irgendwas eingefädelt hat…“ Sie ballte die Fäuste, „Und ich lasse mich nicht gern als Werkzeug benutzen.“ Ihre blauen Augen fingen seinen Blick ein. „Vielleicht sollten wir tatsächlich einander helfen. Entweder machen wir damit genau das, was sie von uns wollen, oder etwas vollkommen Unerwartetes.“
Dragan hob skeptisch eine Braue und fragte, wie sie ihm helfen konnte. Sie wusste doch gar nicht, was er vorhatte, oder warum er hier überhaupt eingesperrt war.
„Ich habe Euren Blick gesehen“, erinnerte sie ihn, „Als Ihr diese Hu-…“ Danica räusperte sich hastig, „Dieses Weib an Vakrims Seite gesehen habt.“ Da er nicht antwortete, sprach sie es aus: „Sie hat Euch verraten.“
Dragan blickte sofort auf. Er wollte widersprechen, doch sein Mund öffnete sich und schloss sich. „Ich weiß es nicht“, murmelte er nach einer Weile. „Ihr habt Tiana gesehen, als Ihr gesagt habt, dass man die Gefangenen auf ihre Seite zieht. Vielleicht haben sie das Gleiche mit ihr gemacht?“
Danica schnaubte jedoch nur. „Ihr glaubt das, was ihr glauben wollt. Vielleicht hat sie Euch verraten und es tut ihr Leid, aber es ändert nichts an der Tatsache. Verrat bleibt Verrat. Verräter kann man nie wieder vertrauen. Niemals.“ Sie ballte ihre Fäuste und legte den Kopf in den Nacken.
Er spürte, dass sie aus leidlicher Erfahrung sprach, doch er konnte, oder wollte er Tiana nicht so einfach aufgeben: „Und wenn sie gezwungen wurde?“
„Bei den Göttern“, fluchte Danica und hieb gegen die hölzerne Wand, „Sagt was Ihr wollt! Redet es Euch ein! Aber seht es ein: Sie hat Euch verraten! Menschen könnten sterben wegen ihr – oder sind es schon! Ihr werdet ebenfalls sterben, solltet Ihr Euren Zweck erfüllt haben. Nur wegen ihr.“ Sie massierte sich ihre Hand, „Es gibt nur sehr wenig, das so etwas rechtfertigt.“
„Ihr habt Recht“, stimmte Dragan leise zu, „Meine Gefährten. Ich weiß nicht was mit ihnen ist und…“
„Gut“, unterbrach Danica ihn und klatschte in die Hände, „Endlich etwas, bei dem ich helfen kann.“
Er blinzelte verwirrt, woraufhin sie sagte, dass es vorhin ihr ernst war. „Und Ihr scheint Euch auszukennen. So wie Ihr Euch bewegt, kennt ihr diesen Fürstensitz wie Eure Rückhand.“
Ertappt senkte Dragan denk Blick. Sie hatte eine verflucht gute Beobachtungsgabe. „Also, wo müsst Ihr hin?“, hakte er nach, in der Hoffnung, endlich mehr aus ihr herauszubekommen.
Sie kratzte sich etwas verlegen an der Stirn und gab zu, dass sie in die geheimen Archive des Fürsten musste. Dort würde etwas sein, mit dem sie ihre Suche endlich ernsthaft beginnen konnte.
Dragan brach unvermittelt in schallendes Gelächter aus, sodass Danica erschrocken zusammenzuckte. Mit einem breiten Grinsen neigte er sich nach vorn. „Das ist verrückt! Und es klingt toll!“, er lachte noch einmal, „Etwas aus dem Archiv direkt unter Vakrims Arsch zu klauen klingt ganz nach meinem Geschmack.“ Er wurde wieder ernst. „Aber besagtes Archiv lagert in einer geheimen Schatzkammer irgendwo in dieser Stadt. Um da hinein zu kommen benötigen wir fünf Schlüssel, die der Fürst unter seinen loyalsten Getreuen verteilt hat – den sechsten trägt er stets bei sich. Immer noch Interesse?“
Danica lehnte sich ebenfalls nach vorn sagte in einem kämpferischen Tonfall, „Ich habe keine Furcht. Allerdings würden wir Hilfe benötigen, um besagte Getreuen aus dem Weg zu räumen.“
„Hmm, das würde das Fürstentum wahrscheinlich ziemlich destabilisieren“, überlegte er laut und fügte rasch hinzu, „Natürlich nur, wen wir Hilfe hätten. Und ich wüsste da schon ein paar – falls wir den Verräter unter ihnen finden.“
Danica erhob sich von ihrem Bett und streckte eine Hand aus. Dragan tat es ihr gleich und schlug ein. Sie hatte einen bärenstarken Griff und er konnte die dünnen Narben auf ihrer sonst weichen Haut spüren. Doch es hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn.
„Ich vertraue Euch dennoch nicht komplett“, sagte er und ihre blauen Augen blitzten dabei.
„Gleichfalls“, entgegnete Danica knapp. Ihre Hände lösten sich voneinander. „Also, wie gehen wir es an?“
Dragan setzte sich wieder auf seine Bettkante, sie tat es ihm gleich, sodass sie sich gegenüber saßen. Er schlug vor, zuerst in Erfahrung zu bringen, was mit seinen Gefährten geschehen ist. Nebenbei fragte er, ob sie ebenfalls in Begleitung gekommen war, was sie rasch verneinte. Dragan nickte knapp und erzählte ihr von dem einen Wachmann, mit dem er sprechen könnte. Die Kriegerin schien kurz zu überlegen und schlug vor, ihn gemeinsam zu überwältigen und zu verhören. Auf seinen abweisenden Blick hin fügte sie hinzu, dass sie nicht wissen konnten, ob gerade dieser eine Wachmann nicht ein Spion war, der ihre Pläne direkt weitergab. Den Einwand konnte Dragan schwerlich entkräften, auch wenn ihm nicht wohl dabei war. Immerhin zweifelte er damit direkt an Mareks Wort, der in zwei Tagen zurückkehrte. Trotzdem könnte sich sein Freund in den letzten Jahren verändert haben – vor allem der Krieg veränderte Leute. Einen Fakt, den auch Danica zu seiner Überraschung bestätige, als er laut überlegte.
„Ihr habt in einem Krieg gekämpft?“, fragte er überrascht.
„Mehr als ich an einer Hand abzählen kann“, bestätigte sie knapp und machte deutlich, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte.
Dragan wechselte rasch das Thema und beschrieb grob seine Gefährten, die sie retten mussten. Ukko und Nerassa sagten ihr gar nichts, bei Kenshin blickte sie interessiert auf, winkte dann aber ab. Schließlich beschrieb er ihr Weiß – den mysteriösen weißen Krieger, der sich ihnen in Tianas Taverne kurz vor Aufbruch angeschlossen hatte. Danicas Augen weiteten sich vor Staunen und Dragan verstummte.
„Unglaublich“, murmelte sie, „Du hast einen der Weißen Geister getroffen?“, fragte Danica interessiert und setzte sich kerzengerade auf, „Wie? Wann? Was wollte er?“
„Weiße Geister?“, widerholte Dragan verwirrt 
Danica schnalzte ungeduldig mit der Zunge. So aufgeregt hatte er sie noch nie erlebt. „Die mythischen Begründer der Ishantar. In Kushan bedeutet ish Sonne. Es heißt, sie beschützen eine heilige Flamme der Sonne, doch eines Tages verschwanden sie. Sie hatten sieben sterbliche Getreue als Zöglinge aufgenommen, jeder für einen der Weißen Geister“, erzählte sie hastig und machte eine kurze Pause, um seine Reaktion abzuwarten. Tatsächlich regte sich bei der Nennung der Ishantar etwas in seinem Gedächtnis. Und die zerstreuten Stücke, die er über den Zirkel erfahren hatte, ergaben endlich einen Sinn. Dragan schluckte unmerklich und bedeutete ihr weiterzusprechen.
Etwas enttäuscht von seiner milden Reaktion fuhr sie wieder ruhig und bedacht fort: „Als eines Tages die sieben Geister verschwanden, ging auch das Wissen um den Standort der heiligen Flamme verloren. Die Getreuen erinnerten sich aber an die Lehren, stets dem Wohl der Menschen zu dienen und ihnen ein Licht in der Dunkelheit zu sein. So gründeten sie Geheimbünde, um stets für das größere Wohl der Menschen zu kämpfen – suchten aber überall wo sie konnten nach Spuren ihrer verehrten Meister.“
Dragan verstand endlich, was die sieben Zirkel der Hoffnung für einen Hintergrund hatten. Also war Niwa Kenshin einer der Nachfahren der ersten sieben Getreuen der Geister. Nun war ihm auch klar, warum sein Vater ständig mit dem Zirkel zu tun haben wollte. Es ging ihm schon immer um Macht. Er ballte eine Faust und schnaubte leise. Das passte zu Ivailo, andere an der Nase herumführen und sich Einfluss zu verschaffen, wo er nur konnte. Da er nicht mehr Fürst war, wollte er sich offenbar mit dem Zirkel seine alte Position zurückholen. Natürlich nur zum Wohle des Volkes. Dragan hieb wütend mit der Faust auf sein Bett. Schon wieder benutzt und verraten worden vom eigenen Vater. Er hatte sie wie seine Schachfiguren herumgeschoben. Vielleicht hatte er auch den Falken auf sie gehetzt, um die Sache zu beschleunigen und sie aus Gortharia zu treiben. Dragans Gedanken begannen zu rasen.
„Ich bring‘ ihn um“, knurrte er wutentbrannt und mahlte mit den Zähnen, „Ich schwöre es, wenn ich ihn nochmal sehe, schneide ich ihm die Kehle durch.“
Danica blickte ihn überrascht an und fragte, wen er meinte. Dragan beruhigte sich mit Mühe und atmete langsam tief aus. Wahrscheinlich konnte er ihn sowieso nicht töten, wenn er die Möglichkeit dazu hätte und schüttelte nur den Kopf.
„Nicht so wichtig.“ Er wechselte rasch das Thema: „Mich wundert es eher, woher Ihr das wisst?“
Danica nahm eine abweisende Haltung an und sagte nur knapp, dass sie viel herumgereist war. „Im Osten habe ich gute Kontakte“ Auf seinen fragenden Blick hin seufzte sie, „Die Geschichte – dort eher ein mythenbehaftetes Märchen, ist jenseits der Weite gut bekannt. Also in den Mondlanden, Minzhu und selbst Kushan. Falls das Euch etwas sagt. “ Danica blickte sich in dem Zimmer um, „Hier hört man eher Geschichten von… Sauron und seiner göttlichen Macht und das bedenklich oft.“
 Dragan verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die Danica wohl nicht sehen konnte, also schüttelte er nur den Kopf. Erleichtert stimmte zu, dass sie auch nichts davon hielt. Das Gespräch verlief sich und sie versanken in Schweigen. Dragans Gedanken schweiften um die sieben Zirkel, den Weißen Geistern und was sein Vater mit alldem zu tun hatte. Danica beschwerte sich indessen, dass sie wieder Hunger hatte. Eine Bemerkung, die er zustimmen musste. Früher hätte er sich einfach sein Essen zusammengestohlen, aber im Moment ging das ja nicht, wie er frustriert feststellte. Er hasste es, keine Kontrolle über sein Leben zu haben. Sein Blick wanderte zu Danica, die wieder im Schneidersitz dasaß und die Augen geschlossen hatte. Er seufzte und streckte sich auf seinem Bett aus.

Nach ein paar Stunden klopfte es und man brachte sie ohne viele Worte zum Abendessen. Es gab Brot, Käse, Schinken, leichtes Bier und für jeden eine Hälfte Räucherwurst. Die Wache, die Dragan als Mareks Verbündeten vermutete, war nicht dabei, also vertagten Danica und er ihren Plan ihn zu überwältigen. Stattdessen wurde ihnen der Tagesablauf für morgen kurz und knapp vorgetragen, während man ihre Knoten kontrollierte. Dragan bemerkte, dass heute eine Ausnahme gewesen war. Morgen würden sie den ganzen Tag von morgens bis abends auf den Beinen sein. Es stand eine Grundreinigung des Thronsaals und den anliegenden Empfangsgemächern an. Auf den Weg zurück in ihr Zimmer, bemerkten sowohl Dragan als auch Danica, dass die Bediensteten, Wachen und Würdenträgern im Fürstensitz ziemlich aufgeregt wirkten. Oft sahen sie kleine Grüppchen von Menschen, die miteinander tuschelten. Im Vorbeigehen schnappten sie auf, dass es Gerüchte gab, dass einer der beiden Markgrafen bald nach Draganhrod kommen würde. Und es war nicht irgendeiner.
Dragan verlangsamte seine Schritte, als er eine der Hofdamen, die eilig aus den Weg gingen flüsterte: „Ganz sicher, es ist Drazan von Remedà. Mein Schwäger, dessen Vetter ist bei der Wache und einer von seinen Kameraden schwört darauf Stein und Bein.“
„Etwa der Drazan Blutfinger? Der Streiter der Ostmark?“
„Von Remedà, ja. Vojaměsta ist sein Sitz.“
Die umstehenden Damen gaben sowohl bewundernde, als auch ehrfürchtige Laute von sich und Dinge wie „Nein“ und „Ist nicht wahr.“ 
„Ich habe gehört, er ist schon im Greisenalter, aber so stark und jung wie ein Hengst“, wisperte eine blonde Dame hinter vorgehaltener Hand und kicherte, „Und er sei Witwer, also könnte eine von uns…“
Eine der Wache schubste Dragan weiter, der fast stehen geblieben war. Zum Glück konnte gerade niemand sehen, wie ihm das Blut aus dem Gesicht gewichen war. Die Hofdamen bemerkten, dass Zwangsarbeiter langsamer wurden und verzogen vor Ekel das Gesicht, ehe sie eilig davonstolzierten. Drazan war ein Name, den Dragan gehofft hatte, nie wieder zu hören. Geistesabwesend wurde er und Danica in ihr Zimmer geführt. Sie fragte einmal, ob alles in Ordnung war, doch er winkte ab und ging früh zu Bett. Sie respektierte seinen Wunsch und legte einen einzelnen Scheid ins Feuer, damit es nicht über die Nacht ausging. Kurz verschwand sie im Waschraum und kehrte in einem langen Nachthemd wieder. Sie warf ihm nochmal einen Blick zu, doch Dragan wandte ihr den Rücken zu und sein Gesicht zur Wand. Ihm standen nicht der Sinn nach Unterhaltungen, oder anzüglichen Witzen. Wenn es einen Mann gab, der schlimmer war als der Falke und Ivailo zusammen, dann Drazan von Remedà, der heldenhafte Streiter der Ostmark, der die großen Vorstöße der wilden Völker und Plünderer aus der Weite gegen das Königreich Rhûn schon seit fast einem Jahrhundert aufhielt. Der Mann, der nur mit seinen bloßen Fingern seine Feinde töten konnte. Dragan fluchte noch einmal leise darüber, dass man sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen konnte. Und falls dies Mareks Werk war, hatte Danica Recht gehabt und alles, was bisher geschehen war, einem perfidem Plan gefolgt, in dem er wie ein dummer Trottel perfekt mitgespielt hatte. Dragan blickte über die Schulter zu Danica, die inzwischen fest schlief. Ihre Silhouette erinnerte entfernt an Cheydan, auch wenn sich ihr Körperbau grundlegend von Danica unterschied. Letztere war drahtig aber kräftig und hatte etwas von einer Katze, eine grimmige, durchtrainierte Katze. Cheydan hingegen war sanft und eher zurückhaltend, selten fordernd, aber willensstark gewesen. Dragan wälzte sich wieder um, und blickte an die Decke, wo die kleinen Flammen aus der Feuerstelle unstete Schatten zeichneten. Noch immer hoffte er, dass seine Flamme noch irgendwo in dieser verfluchten Stadt war. Mit dem Gedanken schlief er endlich ein.
« Letzte Änderung: 8. Dez 2021, 19:28 von Curanthor »

Curanthor

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Spiel im Schatten und dessen Folgen
« Antwort #5 am: 10. Dez 2021, 23:35 »
Dragan blinzelte. Die Nachtruhe war kurz gewesen, seine Augen schmerzten. Unscharf sah er in der steinernen Feuerecke ein kaum sichtbares Glühen. Irgendwas hatte ihn geweckt. Er spitzte die Ohren und lauschte, ohne sich zu bewegen. Von dem Bett nebenan hörte er die tiefen, regelmäßigen Züge von seiner Mitgefangenen, die Danica genannt wurde. Seine Instinkte klingelten, der Kopf schmerzte. Dann nahm er endlich das Geräusch wahr, dass ihn aufgeweckt hatte: Ein Kratzen an der Tür. Genauer gesagt, an dem Schlüsselloch. Rasch wandte er den Kopf zu Danica und zischte etwas lauter. Sie rührte sich nicht. Dragan fluchte im Gedanken und wollte sich erheben, doch sein Körper wollte ihm nicht gehorchen. Seine Arme waren bleiern. Je wacher er wurde, umso dröhnender wurden die Kopfschmerzen. Er fluchte leise. Das Bier! Irgendjemand hatte ihnen etwas in das Bier gemischt. Ehe er sich darüber ärgern konnte, oder weiter darüber nachdenken, gab mit einem leisen Klick das Schloss dem Eindringling nach. Dragan schloss rasch die Augen und tat so, als ob er schlief. Ein Kribbeln lief ihm den Rücken hinab. Dann begannen seine Finger zu kribbeln. Langsam aber stetig kehrte wieder Gefühl zurück. Das leise Knarzen der Scharniere an der Tür ertönte. Ganz vorsichtig linste Dragan durch ein Auge. Es war fast stockdunkel, nur die fast verbrannte Glut zeichnete schwer zu erkennende Schemen in die finstere Nacht. Die Eindringlinge kamen ohne Fackel oder Laterne. Ein Stiefel auf Holz ertönte. Eine dunkle Gestalt schälte sich aus dem gähnenden Schwarz des Flurs. Leder knirschte. Dann machte der Eindringling einen weiteren Schritt, direkt zwischen Danica und Dragans Bett. Eine zweite Gestalt, deutlich gewandter, perlte sich lautlos aus dem Schatten des Flures. Das erste Mal vernahm Dragan eine geflüsterte Stimme, eindeutig weiblich. Sie fragte, ob der Schlafmohn wirkte. Die zweite Stimme, ein Mann brummte zustimmend. Es war der erste Eindringling. Die Frau stand hinter ihm. Dragan achtete auf seine Atmung und versuchte so locker wie möglich zu wirken. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die schwarze Gestalt der Frau sich über das Bett von Danica beugte. Nur einige Momente, dann legte sie ihren Kumpanen eine Hand auf die Schulter. Das Kribbeln in Dragans Händen arbeitete sich zu seinen Armen vor, bis zu seinen Schultern hinauf. Er musste an sich halten, den aufkommenden Juckreiz zu unterdrücken. Seine Sicht verschwamm hin und wieder. Dragan fluchte im Gedanken. Schlafmohn wurde zur Betäubung von Schmerzen und als Schlafmittel eingesetzt. Er selbst hatte ihn in seiner Zeit bei den Schatten beinahe wöchentlich verwendet. Schlafende Opfer waren einfacher auszuschalten.
Sein Blick raste wieder zu Danica, die gerade von dem in offenbar schwarzen Roben gehüllten Mann auf den Rücken gedreht wurde. Dragans Hände ballten sich unter seiner Decke. Seine Gedanken waren schon davongaloppiert. Er ahnte, was man mit ihr vorhatte. Das, was viele Frauen in Gefangenschaft erwartete. Verdammt, fluchte er im Gedanken. Erneut blinzelte er. Kann ich mich noch als Mann sehen, wenn ich bei etwas einfach zuschaue? Die Antwort war nein, als er sah, wie die Frau ein Messer zückte und offenbar Danicas Nachthemd bis zum Bauch aufschnitt. Der Stoff knirschte leicht. Dragan brummte hörbar und wälzte sich auf die Seite. Die beiden Eindringlinge zuckten erschrocken zusammen. Die Schleicherin fluchte, während ihr Kumpan aus Reflex gegen Dragans Bettpfosten trat.
„Sicher, dass das Zeug wirkt?“, zischte seine tiefe Stimme, „Was ‘n los?“
„Hab‘ sie geschnitten“, fluchte die Frau und entfernte sich von Danica. 
Der Mann riss die Tür ganz auf. „Das wird dem Bojaren nicht gefallen.“
„Das weiß ich selbst“, fauchte die Frau, „Hol‘ ihn, solange das Zeug wirkt.“
Dragan schoss rasch die Augen, als der Eindringling sich an der Frau vorbeizwängte, ganz nah an seinem Bett vorbei. Er hätte nur seine Hand ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Noch immer hatte er kein Gefühl in den Beinen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Ein langer Dolch blitzte in dem schummrigen Licht der Glut auf. Beide waren offenbar bewaffnet. Glücklicherweise verklangen die Stiefelschritte des Eindringlings rasch im finsteren Flur.
„Ich habe kein Mitleid mit dir“, murmelte die Fremde und hob erneut ihren Dolch, „Also werde ich nicht um Verzeihung bitten.“
Der restliche Stoff des Nachthemds knirschte zerreißend. Dragan musste an sich halten, um nicht aus dem Bett zu kriechen und sie mit bloßen Zähnen zu zerfleischen. Wie konnte eine Frau einer anderen so etwas antun?! Er hasste es! Er hasste die Ungerechtigkeit, die sich gerade vor seinen benommen Augen in den unsteten Schatten der fast verlöschten Glut abspielte. Es war ein Spiel der Schatten. Und er wollte mitspielen – aber bewaffnet, selbst wenn es nur seine Zähne waren. Sein Körper spannte sich an. Dragan war sich fast sicher, dass sein Mund schäumte, doch auch er war noch schwer und trocken wie ein Stein. Schritte auf dem Flur ertönten und er erstarrte. Seine Gedanken stoppten abrupt. Es waren mehr als zwei Stiefel. Vier. War das der Bojar? Die schwarz gekleidete Frau trat indessen von Danicas Bett zurück und stellte sich an Dragans Fußende. Er konnte förmlich ihren Blick auf sich spüren. Rasch schloss er das Auge, mit dem er gelinst hatte, obwohl er nur einen Haarbreit sehen konnte.
Nur ein paar Herzschläge später, drang ihm der Geruch von saurem Wein in die Nase. Und das angestrengte Keuchen eines Mannes in die Ohren. Abscheu wallte in ihm auf. Und brennender Hass. Eine hohe Stimme erkundigte sich in einem gierigen Tonfall, ob wirklich alles geklappt hatte. Der Saum eines Mantels strich Dragan über das Gesicht. Dann waren die beiden in ihrem Zimmer. Jemand schloss die Tür. Das gequälte Schloss klickte leise. Dragan hörte wie eine Gürtelschnalle geöffnet wurde. Scheiß drauf. Er linste mit seinem linken Auge. Eine massige Gestalt beugte sich über Danica. Rechts von ihm, direkt vor Dragans Stirn stand der männliche Schleicher. Sein Gürtelbeutel war fast auf Augenhöhe. Ein Band Kordel baumelte daraus hervor und strich über sein Haar. Ein abwehrendes, hohes Keuchen ertönte. Es war ein laut, der durch Mark und Bein ging. Und er kam von Danica. Dragans Beherrschung zerriss wie sein Geduldsfaden. Unvermittelt fuhr seine Hand hoch, packte das Stück Kordel und ruckte es aus dem Beutel. Ein Poltern ertönte von Danicas Bett. Die Schleicherin fluchte, während Bojar Branko ein schmerzerfülltes Heulen von sich gab. Sie eilte zu Danicas Bett. Dragan stemmte sich mit purer Willenskraft in die Höhe. Seine Beine wackelten wie morsche Stelzen. Er biss die Zähne zusammen. Rasch wickelte er das Stück Kordel um beide Hände. Der Mann wollte sich umdrehen, doch es war zu spät. Dragan knurrte hasserfüllt und legte die Kordel um seine Kehle. Der Schleicher japste. Dann zog Dragan zu, drehte sich mit dem Rücken zu ihm. Das Japsen wurde zu einem abgeschnittenen, erstickten Laut. Er spürte das Gewicht des Mannes, der panisch um sich schlug auf seinem Rücken. Den Hals überstreckt und die Luftröhre zerquetscht. Das Zappeln steigerte sich. Dragan knurrte weiterhin, bis seine Kehle wund wurde. Dann war es vorbei. Er löste die Kordel. Der Schleicher sackte zur Seite, doch Dragan fing ihn geistesabwesend. Sein Blick raste zu Danica. Sie war wach! Sie wehrte sich wie eine Löwin und rang mit der anderen Schleicherin, die ihre Arme festhielt. Branko hockte zwischen Danicas Beinen und versuchte sie auseinander zu zwängen. Es war zu dunkel um etwas zu erkennen, doch offenbar war es noch nicht zu spät! In dem Moment registrierte die Schleicherin, was geschehen war. Der kurze Moment genügte Danica. Ihr Ellbogen krachte der schwarz gehüllten Frau mitten ins Gesicht. Sie taumelte vom Bett. Dragans Beine gaben nach und er fiel ihr entgegen. Fluchend packte er die Schleicherin. Gemeinsam rangen sie um Gleichgewicht. Ihre Hände krallten nach seinem Hals. Dragan war geschwächt und konnte nicht verhindern, dass sie seinen Kehlkopf quetschte. Im verschwimmenden Hintergrund sah er, wie Danica Branko die Faust ins Gericht rammte. Sie rief etwas. Seine Sinne schwanden rasch. Alles wurde merkwürdig dumpf und kam ihm weit entfernt vor. Dann war der Druck plötzlich weg. Die Schleicherin polterte laut gegen die Tür. Dragan wurde auf sein Bett geschubst. Benommen sah er Danicas schlanke, trainierte Figur, die einen perfekt ausgeführten Drehtritt mit der Hacke gegen den Kopf der Schleicherin ausführte. Es klang, als ob ein Knüppel gegen eine Holzplanke krachte. Laut und scharf. Er konnte den Aufprall förmlich spüren. Die Schleicherin landete dumpf der Länge nach auf den Planken. Damit war es vorbei. Der Raum war erfüllt von angestrengtem Keuchen und dem Jammern von Branko. Dragans Sinne kehrten langsam wieder. Danica beugte sich zu ihm hinab. Ihr Haartuch verrutschte. Ein Wasserfall an vielen, vielen dunkelblonden Strähnen ergoss sich. Sie waren lang, fiel ihm als erstes auf. Sehr lang. Dann klatschte etwas gegen seine Wange. Er blinzelte. Sie hatte ihm eine Backpfeife verpasst.
„Gut, bleib wach“, befahl Danica, „Und sieh‘ zu“. Ihre Stimme klang rau und zitterte noch immer leicht.
Dragan wollte etwas erwidern, doch sie wandte sich ab. Es war so dunkel, dass er nichts erkennen konnte, nur ihre Silhouette. Sie trat zu ihrem Bett.
Branko hielt in seinen Lamentieren inne und bellte: Ihr.. ihr könnt mir nichts tun! Ich bin ein Bojar!“
„Oh, und wie ich es tun werde“, erwiderte Danica kalt, „Das, was du versucht hast, verdient nur eines...“ Sie zückte ein zerbrochenenes der Messer der Schleicher. „Einen qualvollen Tod.“
Dragan wollte aufspringen und sie davon abhalten. Doch nur ein Krächzen kam zwischen seinen Lippen hervor, seine halb betäubten Beine zuckten. Einen Bojaren zu töten war ein schweres Verbrechen. Er wollte sie vor diesem Fehler bewahren. Nicht um ihretwillen, sondern weil er sonst ebenfalls bestraft werden würde. Er zischte laut, doch das ging in einem gellenden Schrei des fetten Bojaren unter. Dragan konnte nicht sehen, was sie mit ihm machte. Es war zu dunkel und ein Teil von ihm war froh drum. Brankos zweiter Schrei war sehr gedämpft. Offenbar wurde ihm das Maul gestopft. Die gedämpften Laute ertönten mehrmals. Es roch nach Pisse und Schweiß, als der Bojar die sämtliche Kraft verloren hatte um zu jammern, betteln oder zu schreien. Dragan hatte inzwischen aber genug Kraft gesammelt, um sich an der Wand in eine sitzende Position empor zu drücken. Danica hielt in ihrem blutigen Werk inne. Sie hatte sich ihre Decke unterhalb der Achseln um ihren Oberkörper gewickelt. Ihr stummer Blick forderte sie zum Sprechen auf. Zumindest vermutete er das, da er sie nur als Schatten in der Dunkelheit sehen konnte.
„Du…“, keuchte er, „Solltest ihn nicht töten.“
Sie brummte zustimmend, „Sonst wäre er schon tot“, In der Dunkelheit konnte er sehen, wie sie das Messer sinken ließ, „Um deinetwillen.“ Klappernd landete die Waffe auf den Dielen.
Er atmete seufzend aus. Das Schlimmste war abgewendet, auch wenn die Strafe für das, was hier geschehen war, nicht gering ausfallen würde. Danica erhob sich von ihrem Bett. Unvermittelt rammte sie Branko die Faust gegen das Kinn. Der Bojar sackte bewusstlos zusammen. Auf Dragans verwunderte Frage, was sie da tat, antwortete sie nur: „Den Unrat aus unserem Zimmer schmeißen.“

Und das tat sie ebenfalls alleine. Sie packte die Bewusstlosen nacheinander und zerrte sie ruppig an den Stiefeln, oder Armen aus dem Raum, raus auf den Flur. Branko schaffte sie als letzten vor die Tür. Als Dragan auf ihn deutete, murmelte sie nur, dass sie nur ein paar Schnitzübungen gemacht habe, er würde nicht verbluten. Mit dem Fuß schloss Danica die Tür und zögerte, dann nahm sie ihr Kopfkissen und warf es Dragan an den Kopf. Ungefragt setzt sie sich neben ihm auf sein Bett und krabbelte an ihm vorbei. Sie packte ihr Kopfkissen und legte sich an die Wand, den Rücken daran pressend. Wortlos ließ er sie gewähren. Es würde sich sowieso nicht lohnen.



Dragan sollte Recht behalten. Mit dem Ruf des Hahns, hatte man sie aus dem Zimmer gezerrt. Sie leisteten keinen Widerstand – auch wenn Danica erst aufgab, nachdem sie sich angekleidet hatte. Zehn Wachen umringten sie und brachten sie zum Thronsaal. Auf dem Weg dahin standen dutzende Bewohner in ihren Türen, meist noch in Nachthemden und tuschelten aufgeregt. Selbst einige der Soldaten der Armee folgten ihnen. Im Thronsaal angekommen, hatte sich eine große Meute hinter ihnen gebildet. Leises Getuschel erfüllte den Raum. Man erzählte sich, dass zwei Zwangsarbeiter zwei Wachen und einen Bojaren überfallen hatten. Dragan konnte sehen, dass eine Ader an Danicas Schläfe pulsierte. Natürlich wurde die Geschichte rumgedreht. In der Mitte des Saals, weit vor den Stufen des Throns zwang sie man auf die Knie.

Fürst Vakrim saß offenbar leicht angetrunken auf dem Fürstenthron und schaute tadelnd auf sie hinab, „Kaum gibt man euch etwas Freiheiten, nutzt ihr das schamlos aus, was? Wie enttäuschend“, er strich sich über sein rasiertes Kinn, „Wie überaus enttäuschend…“, plötzlich trat rasender Zorn in seine Züge. Sein Gesicht nahm eine purpurrote Farbe an. „Was glaubt ihr eigentlich, wer ich bin?!“, donnerte er und erhob sich halb aus seinem Thron, „Vielleicht haltet ihr alle mich für einen Witz, aber Haus Castav ist es nicht!“, seine wutentbrannte Stimme hallte laut durch den Saal. Dutzende Augenpaare wanderten zu Boden, einige sanken sogar das Knie. Das Getuschel verstummte schlagartig. Betretendes und furchterfülltes Schweigen trat ein.
„Wenn ich wollte“, fuhr Vakrim mit seiner Triade fort, „Könnte ich allen Gefangenen sofort die Kehlen durchschneiden lassen!“ Nun blickten alle Zwangsarbeiter zu Boden oder fielen auf die Knie. Speichel flog umher, als er weiterschrie: „Und wenn einer meiner Männer eine Gefangene flachlegen will, so ist das sein verdammtes Recht!“, er stierte in die Menge, die aus Bediensteten, Adligen, Wachen, anderen Zwangsarbeitern bestand, „Ein Recht, dass ich ihm verliehen habe! Ich, Vakrim aus dem Hause Castav!“ Einen Moment blickte er heischend durch die Menge, darauf lauernd, dass irgendeiner auch nur falsch atmete oder eine unangebrachte Regung zeigte. So plötzlich, wie sein Zorn gekommen war, so schnell verflog er. Vakrim ließ sich wieder auf seinem Thron nieder und räusperte sich. Er schnippte mit einem Finger und eine Magd eilte mit einem Krug Wein heran. Sie verneigte sich tief, während sie ihm das Getränk darbot. Vakrim grabschte es und entließ sie mit einem ärgerlichen Handwedel, als ob er eine lästige Stubenfliege verscheuchen wollte.
In einem Zug leerte der Fürst den Krug und warf ihn achtlos über der Schulter.
„Vogt von Draganhrod!“, bellte er plötzlich, „Schwingt Euren Arsch hier her, aber sofort!“
Die Menge teilte sich, als ein sehniger, abgehalfterter Mann in seinen Vierzigern seine Hand hob. Er trug eine dunkelblaue Robe, die mit einigen roten Stickereien. Darunter vielen Augen. Der Vogt hatte eine Glatze und einen mächtigen, hellbraunen Schnäuzer und Backenbart. Er trat mit den Rücken vor Dragan und Danica und ging vor Vakrim auf ein Knie. Seine etwas heißere Stimme verkündete, dass er ihm zu Verfügung stand.
„Ihr richtet über die Sache hier“, befahl der Fürst und hakte nach, „Wenn Ihr im Bilde seid.“
Der Vogt, von dem Dragan wusste, dass er Bogna hieß, blickte kurz auf und antwortete: „Aber mein Herr, dies geschah in Eurem Heim also-„
„Wie war das?“, knurrte Vakrim leise und kniff die Augen zusammen.
„Aber nein, verzeiht mein hoher Herr“, beeilte sich Bogna zu sagen, „Natürlich würde ich mich geehrt fühlen und mit Freuden mich dieser wichtigen Aufgabe widmen und-“
„Dann tut das und schwafelt nicht so viel“, schnitt der Fürst ihm das Wort ab, sein Blick glitt durch den Raum, als er lauter sagte: „Heute zur Mittagsstunde. Auf dem Brunnenplatz. Alle die kommen können, sollen dabei sein.“
Einer der Berater, die sich hinter Vakrims Thron fast gekauert hatten, wagte es hervorzutreten. Seine leise Stimme war kaum zu hören als er fragte: „A-Alle, mein Herr? Aber das sind tausende-“
„Habe ich um euren Rat gefragt?“, blaffte Vakrim, halb den Kopf gedreht, „Natürlich nicht alle", er blickte wieder nach vorn, „Verkündet, dass eine Gerichtsverhandlung für den Angriff auf einen Bojaren stattfinden wird. Die, die kommen werden, erhalten jeweils zwei zusätzliche Rationen Korn. Stellt genug für ein großes Publikum bereit.“
Die Augen des Fürsten wanderten zu Dragan. Der Berater verneigte sich indessen tief und trat eilig wieder in den Hintergrund.  Einen kurzen Moment musterte er ihn nachdenklich, doch Vakrim schaute dann zu Danica. Mit ruhiger Stimme wollte er wissen, wer den Bojaren so zugerichtet hatte. Dabei blickte er wieder zu Dragan. Hatte er ihn erkannt?
„Ich war das“, ertönte Danicas melodische Stimme selbstbewusst zu seiner Überraschung und unterbrach seine Gedanken.
Lautes Gemurmel ertönte hinter ihnen. Einzelne, wütende Rufe erfüllten den Saal, „Hure“ und „Mörderin“ waren noch die freundlichsten Bezeichnungen.
„Und den Wachmann?“, hakte Vakrim nach, die Augen abwartend auf ihn lauernd.
„Ich“, sagte Danica erneut, diesmal so schnell wie eine Pfeilsehne schnappte. Dragan unterdrückte einen bösen Seitenblick. Was trieb sie da? Doch Vakrim lachte kurz laut auf und schüttelte den Kopf.
„Kein Grund zur Lüge, meine Liebe. Euch fehlen die Male an den Händen von dem Faden“, offenbarte der Fürst mit einem wissendem Grinsen und seine stechenden Augen lagen auf Dragan, „Euer Freund war das… oder Liebhaber?“ Er lachte noch einmal kurz und murmelte leise kopfschüttelnd: „Nur mit einem Faden meine Wache töten…“, Bewunderung lag in seiner Stimme. Getuschelt verbreitete sich in der versammelten Menge.
„Unsinn“, blaffte Danica gleich und nickte zu Dragan, „Er ist ein Schwächling. Was soll ich mit dem?“
Vakrim hob den Kopf, die raubtierartigen Augen blitzten auf. „So? Dann steht ihr zusammen vor dem gleichen Gericht. Beide Vergehen wiegen gleich schwer“, er winkte mit der Hand, offensichtlich des Themas überdrüssig, „Abführen.“
Stärke Hände packten und zwangen sie auf die Beine. Unter verhaltenen Beifall wurden sie aus dem Saal geführt. Vakrims Stimme hallte noch hinter ihnen: „Und gebt ihnen ein neues Zimmer für die Gnadenfrist. Wir wollen ja gütig sein.“
Dragan blickte finster zu Danica. Sie erwiderte ihren Blick stumm. In ihren blauen Augen lag Trotz. Er selbst würde einen Weg finden zu fliehen, egal ob sie dabei war oder nicht. Sobald er diesen Fürstensitz verließ, würde er sich endlich befreien. Sollte sie sich doch ohne den ‚Schwächling‘ selber befreien. Vorsichtig schob er mit der Zunge die abgebrochene Klinge der Schleicherin in seinem Mund zwischen eine Zahnreihe und hielt sie mit einem leichten Biss dort. Dragan stierte zu Boden und ließ sich teilnahmslos in ein neues Zimmer führen.

Fine

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Re: Draganhrod
« Antwort #6 am: 22. Dez 2021, 15:20 »
Aus der Sicht des Fuches Neras Vanaras

Mit einem tiefen, langgezogenen Grunzen sackte der Bojar spürbar in sich zusammen und regte sich für einen langen Augenblick nicht mehr. Endlich rollte er sich zur Seite und gab Vanara frei - ihr war es beinahe wie eine Ewigkeit vorgekommen. Der untersetzte, beleibte Adelige hatte nicht sehr lange durchgehalten bis ihm die Puste ausgegangen war, genau wie sie erwartet hatte. Mehr tot als lebendig lag er auf der weichen Matte, und wenn sie nicht seinen schnaufenden Atem gehört hätte, hätte Vanara ihn wohl für tot gehalten.
Es war unangenehm gewesen, und doch notwenig, um ihr Ziel zu erreichen. Der Bojar traute ihr nun zumindest so weit, dass er sie ohne Wachen in seine privaten Gemächer ließ. Schon bald würde sie hier ein- und ausgehen können soviel sie wollte. Dann würde es nicht mehr lange dauern, bis ihr alle Türen - und somit ein Weg aus dem schwer bewachten Bojarenanwesen hinaus - offen standen.

Sie hatte aufgehört die Tage zu zählen, die sie mit mühseliger Überzeugungsarbeit verbracht hatte. Nach ihrer Gefangennahme am Stadttor von Draganhrod war sie vom Rest der Reisegruppe des Zirkels getrennt und prompt auf dem nächsten Sklavenmarkt verkauft worden. Der Bojar, der den Zuschlag erhalten hatte, hatte sie ursprünglich als gewöhnliche Dienerin erworben, die hier und da etwaigen hochrangingen Gästen des Anwesens zur Verfügung stehen sollte. Vanara war es allerdings gelungen, ihren neuen Herrn nach und nach davon zu überzeugen, sie näher bei sich selbst zu behalten. Ein tiefer Blick hier, ein errötetes Lächeln dort, und die richtigen Worte zur richtigen Zeit hatten sie schließlich bis in sein privates Schlafgemacht gebracht. Es wäre ein Leichtes, sich seiner Schlüssel zu bemächtigen, das wusste sie. Der Bojar war mittlerweile entweder eingeschlafen oder in Ohnmacht gefallen, ganz sicher war sie sich da nicht. Aber ihr war klar, dass die Schlüssel sie nicht zur Freiheit führen würden. Die Wachen kannten sie und würden sie nicht passieren lassen, selbst wenn sie bis zum Tor kam. Es wurde Tag und Nacht pausenlos bewacht. Und selbst wenn sie tatsächlich aus dem Anwesen entkommen könnte, würde sie dennoch nicht weit kommen. Der Bojar war ein jähzorniger, rachsüchtiger Mann, der niemals aufhören würde, sie zu jagen - oder jagen zu lassen, verbesserte sie sich. Seine Reichtümer schienen unermesslich zu sein, nach allem was Vanara bisher gesehen hatte. Sie fragte sich, ob das an seinen Verbindungen zum Sauronskult lag.

Vanara hatte schon früh herausgefunden, dass der Bojar entweder selbst ein hochrangiges Mitglied des Kultes war oder zumindest enge Verbindungen zu dessen Führungsebene besaß. Immer wieder wurden Sklaven als offensichtliche Opfer inmitten der Nacht zum sogenannten Badehaus geschickt, welches eine sonderbare Mischung aus Freudenhaus und Sauronstempel darzustellen schien. Jedesmal wenn Vanara daran dachte, ballten sich ihre Hände zu Fäusten. In Gortharia und Umgebung war es Tiana und ihr gelungen, den Einfluss des Kultes in der Abwesenheit Khamûls so weit zurückzudrängen, dass er nur noch eine mindere Rolle einnahm. Aber hier in Govedalend war die Lage eine andere. Unter Fürst Vakrim hatte sich der Kult des Auges ungehindert ausbreiten können. Soweit Vanara wusste, waren viele der Wachen des Anwesens nicht nur selbst Kultisten, sondern besaßen auch frische Kampferfahrung vom Feldzug gegen den Erebor, wo sie unter dem Ringgeist persönlich gedient hatten. Mit denen wollte sie sich keinesfalls anlegen - jedenfalls nicht ohne eine gute Klinge in der Hand. Sämtliche Waffen waren ihr bei der Gefangennahme abgenommen worden, und einige Tage später hatte Vanara erfahren, dass man ihre Gefährten aufgrund von Hochverrat hingerichtet hatte.

Noch immer fiel es ihr sehr schwer, sich damit abzufinden dass Dragan, Tiana und die anderen tot waren. Vanara hatte sich auf die Reise nach Draganhrod gefreut - es war unglaublich befreiend für sie gewesen, aus Gortharia heraus zu kommen. Weg von der Gilde der Messer, fort von Iltas Einfluss. Sie hätte die Zeit in der sie verloren gewesen war einfach hinter sich lassen können, und in Tianas Gesellschaft wieder aufleben können. Doch nun war Tiana fort, ermordet durch Fürst Vakrims Befehl. Alles was Vanara nun tat - ihr Plan, aus den Klauen des Bojaren und aus dessen Anwesen zu entkommen - diente nur noch einem Zweck. Der Rache. Vakrim würde einen grausamen Tod erleiden, koste es was es wolle, das hatte Vanara sich geschworen. Was danach geschehen würde war ihr egal.

Vanara glitt lautlos vom Bett herunter. Der Vollmond schien durch die dünnen Vorhänge vor dem Fenster herein und tauchte das Zimmer in ein blasses Zwielicht. Sie hatte das starke Bedürfnis nach einem Bad. Zu ihrem Glück besaß das Privatgemach des Bojaren ein eigenes beheiztes Becken, das sich gleich nebenan befand. Wie so oft fühlte sich ihre Hand seltsam leer an. Es war zu lange her, dass sie eine Klinge gehalten hatte, geschweige denn Blut vergossen hatte. Ein Teil von ihr hasste sich dafür, dass sie sich im Dienst der Gilde selbst vergessen hatte. Ilta war es gelungen, Vanara ihre Loyalität zum Zirkel vergessen zu lassen, indem sie ihre Angst schürte. Angst vor Khamûl und vor dessen Meister. Vanara zwang sich, jeglichen Gedanken daran zu unterdrücken. Sie war nun weit fort von all dem. Langsam ließ sie sich in das wohlig warme Wasser gleiten und wusch sich gründlich ab. Sie widerstand der Versuchung, zu lange im Becken zu verweilen und beendete das Bad bereits nach einer Viertelstunde, um dann ins Bojarengemach zurückzukehren. Sie wusste, dass sie an seiner Seite bleiben musste, bis er aufwachte. Dennoch gestattete sie es sich, für's Erste in halbwegs erholsamen Schlaf zu sinken.

Der folgende Tag war zunächst einer wie jeder andere zuvor. Vanara erfüllte ihre Pflichten so gut sie konnte. Mit jedem Handgriff war sie bestrebt, das Vertrauen des Bojaren in sie zu vergrößern. Sie würde sich für ihn unentbehrlich machen, bis er sie nahe genug an Fürst Vakrim heran bringen konnte. Weiter reichte ihr Plan nicht. Bis auf Vakrims Tod zählte für sie nichts anderes. Sie würde Tiana rächen. Danach würde sie weitersehen - wenn es für sie danach überhaupt noch weitergehen würde.
Der Bojar war ein Mann, der Schönheit und Ästhetik sehr zu schätzen wusste. Vanara vermutete, dass das vor allem an seiner eigenen Unansehnlichkeit lag. Ihr Herr konnte das Äußerliche von Menschen (und insbesondere von Frauen) bei seinen Schwärmereien sehr genau beschreiben und besaß ein Auge für's Detail. Es war gegen Mittag, als der Bojar von einem Besuch im Fürstenpalast in sein Anwesen zurückgekehrt war und sein Mittagsmahl einnahm. Wie so oft wünschte er dabei Vanaras Gesellschaft, und wie so oft erging er sich in einem langen Monolog über das Aussehen einer hübschen Frau, die er im Palast gesehen hatte.
Vanara hörte aufmerksam zu. Ihre Zeit beim Zirkel und bei der Gilde hatte sie gelehrt, dass ein offenes Ohr immer nützlich sein konnte, selbst wenn der Großteil der aufgeschnappten Informationen nutzlos sein würde konnte es immer sein, dass sich darunter doch noch etwas Entscheidendes finden ließ. Vor ihrem inneren Auge formte sich nun, während sie den Worten des Bojaren lauschte, das Portrait einer braunhaarigen Dame mit wallendem Haar und schlankem Körperbau, nicht allzu groß gewachsen. Rosige Wangen und volle Lippen, eine leicht gebogene Nase, dunkelbraune Augen. Die Brauen dünn wie zwei Federkiele, die Fingernägel kunstvoll bemalt. Vanara stutzte. Das klang exakt nach Tiana - aber hatte man ihr nicht ausrichten lassen, dass alle ihre Gefährten hingerichtet worden waren? Sie war so überrascht, dass selbst der Bojar es ihr anmerkte. Vanara beschloss, ihr erworbenes Vertrauen auf die Probe zu stellen.
"Herr?" fragte sie mit gut einstudierter Stimmlage: Oberflächlich unterwürfig, aber unterschwellig verführerisch.
"Mh? Ja, was ist denn? Du bist heute etwas sonderbar, mein Rehlein." Vanara hasste diese Spitznamen, aber sie hatte schon schlimmere erdulden müssen.
"Die Frau von der Ihr sprecht. Konntet Ihr ihren Namen in Erfahrung bringen?"
"Namen interessieren mich nicht. Außerdem ist sie die Geliebte des Fürsten Castav."
"Nun, aber..."
Der Bojar besah sie mit einem Blick, der zunächst aufkeimende Neugier bezeugte, doch unter dessen Oberfläche sich eine schwelende Wut verbarg, die jederzeit in Brand geraten konnte. Venara wusste, wie schnell ihr Meister explodieren konnte. Sie musste ihre Worte mit Bedacht wählen, denn viele würde er ihr nicht mehr gewähren, ehe seine Geduld am Ende sein würde. "Was, aber?" äffte er sie nach, als sie ihren Satz nicht beendete und sein Blick verhärtete sich.
Jetzt oder nie. "Würde es Eurem Eindruck von ihr nicht vervollkommnen, wenn Ihr den Namen der Dame kennen würdet? Kunst lebt von Titeln, nicht wahr? Jedes Gemälde hat eine Bezeichnung, jede Statue einen Namen..."
Sie schwieg. Sie hatte ihre Karten ausgespielt, und nun würde es sich zeigen, was Vanaras Hand wert sein würde. Der Bojar sah sie durchdringend an, und Vanara war sich beinahe sicher, seine Gedanken arbeiten zu hören, wie Zahnräder, die sich ineinander verkeilt drehten. Langsam drehten.
"Ein... Titel, eh?" wiederholte er schließlich, schwerfällig. Da wusste Vanara, dass sie gewonnen hatte. "Hmm. So habe ich das noch gar nicht betrachtet... vielleicht hast du Recht. Aber... wie kommst du auf so einen gescheiten Einfall? Das passt nicht zu dir. Oh! Aber natürlich: Du musst es von mir haben. Ich habe gewiß im Schlaf geredet. So war es doch, Rehlein, nicht wahr?"
Vanara nickte. Mehr war gar nicht notwendig. Zufrieden klatschte der Bojar in die Hände. "Ich werde sogleich den Namen der Dame in Erfahrung bringen lassen!"

Am folgenden späten Abend saß Vanara auf der Bettkante im Gemach ihres Meisters, die Hände unters Kinn und die Ellbogen auf die Knie gestützt. Ihr Herr schnarchte neben ihr. Zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie hatte nun Gewissheit: Tiana war am Leben und lief frei wie ein Vogel im Palast des Fürsten umher, als dessen Gespielin. Alles deutete darauf hin, dass sie den Zirkel - und Vanara - verraten hatte...
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Curanthor

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Die Verhandlung auf dem Brunnenplatz I
« Antwort #7 am: 23. Dez 2021, 01:56 »

Das Zimmer, in das man sie für die Dauer der Gnadenfrist gesteckt hatte, war kleiner als ihr vorheriges. Nur ein klappriges Holzgestell ohne eine Art Matratze oder Unterlage stand in einer Ecke. Erst auf dem zweiten Blick hatte man erkennen können, dass es mal ein Bett gewesen war. Auch hier gab es kein Fenster, oder irgendeine Löchlein nach draußen. Danica hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt und auch Dragan hatte geschwiegen. Er stand an der Tür, setzte sich davor auf dem Boden oder ging die zwei Schritte, die das Zimmer an Platz bot auf und ab. Niemand sagte ein Wort. Hin und wieder warf er Danica finstere Blicke zu. Was auch immer sie vorhin da versucht hatte, es war auf seine Kosten gegangen. Und sie hatte ihn als Schwächling dargestellt. Dachte sie wirklich so von ihm? Offenbar schon, denn sie vermied angestrengt seinen Blick. Sie verloren das Zeitgefühl, zumindest dachte Dragan, dass es ihr auch so ging.

Ein Schlüssel wurde in das Schloss gesteckt und der Riegel entfernt. Es war nur eine Wache. Dragan erkannte ihn sofort und machte einen kurzen Schritt zurück. Es war der Wachmann, den Marek erwähnt hatte. Der Mann hatte einen stoppeligen Dreitagebart und ein kantiges Gesicht. Dragan hörte, wie Danica rasch von der Bettkante sprang. Er musterte den Wachmann rasch genauer und suchte nach Waffen. Etwas Weißes an dem Gürtel des Mannes erregte seine Aufmerksamkeit. Dragan hob beschwichtigend den Arm, um Danica zurückzuhalten, die sich gerade auf die Wache stürzen wollte. Er erkannte das, was an dem Gürtel des Mannes hing. Eine weiße Lederscheide, in der ein Dolch steckte. Verschlungene Muster waren in das Leder geprägt. So eine Arbeit hatte er nur ein einziges Mal gesehen. Bei dem geheimnisvollen Krieger, Weiß. Der Mann blickte rasch zu Danica, die Hand schwebte in der Nähe seines Gürtels, dann schaute er zu Dragan und nicht kaum merklich. Dieser atmete erleichtert aus. Sie entspannten sich etwas.
„Es ist so weit“, informierte der Wachmann sie knapp und senkte die Stimme, „Zwei der Ziele werden anwesend sein. Etwa vierhundert Schaulustige. Wartet auf das Signal. Kümmert Euch nicht um die Folgen, tut es einfach.“
Ehe einer der beiden etwas antworten konnte, blickte der Wachmann nach rechts und hob eine Hand. Zwei weitere Wachen traten in das Zimmer und trugen Handfesseln aus Leder. Man legte sie um ihre Handgelenke und zog fest zu, dann wurde es verknotet. Dragans Finger kribbelten ein wenig. Er dehnte den Knoten, doch das Leder gab kaum etwas nach.  Er nickte nur knapp und biss etwas fester auf die abgebrochene Klingenspitze in seinem Mund. Einmal hatte er sich damit schon leicht in die Wange geritzt. Ihm fehlte die Übung, früher wäre das nicht passiert, stellte er frustriert fest. Man führte Dragan und Danica schließlich aus dem Zimmer, hinaus auf den Flur.
„Warum macht man das? Man weiß sowieso nicht, wer wir sind. Es hat keinen Effekt“, sagte Danica, an deren Stimme man hören konnte, dass es sie mehr nervte, als besorgte.
Eine der Wachen antwortete barsch, dass Gefangene keine eigenen Namen hatten und kein eigenes Gesicht. Die Verhandlung diente dazu, um die anderen daran zu erinnern, wo ihr Platz war. „Und das Volk braucht etwas Ablenkung“, fügte Mareks Vertrauter knapp hinzu, wobei seine Stimme dazu aufforderte, still zu sein.

Dragan und Danica schwiegen, während man sie durch den Fürstensitz führte. Erst in der Eingangshalle kamen ihnen andere Menschen entgegen. Durch die offenen Tore, konnte man sehen, dass auf dem Platz Bänke aufgestellt waren, die gut besetzt waren. Am Ende des Platzes, gegenüber dem Fürstensitz war eine kleine Bühne zusammengezimmert worden, sodass man sie von überall her sehen konnte. Ein Rednerpult stand in der Mitte der Bühne, davor eine Feuerschale, in der einige Flammen züngelten. Vier vermummte Männer, die eher an Henker erinnerten, standen weiter hinten, hinter dem leeren Rednerstand. Ihre breiten, vor Muskeln strotzenden Oberkörper waren nackt. Ein breiter Gürtel hielt eine schwarze Lederhose.
 Lautes Gemurmel und Gesprächsgewirr empfingen sie. Die Geräuschkulisse schwoll an, als sie die Treppen heruntergeführt wurden. Dragan blickte sich rasch um. Viele Stadtwachen waren anwesend und sicherten den Platz und jeden Zugang. Sie trugen meist leichte Rüstungen und ein Schwert an der Seite. Soldaten der Armee hingegen sah er nur zwei, doch sie waren voll gerüstet, bewaffnet mit Hellebarde und Schwert. Man führte sie durch die breite Lücke zwischen den Sitzbänken. Hunderte Augen folgten ihnen. Die Gespräche verstummten nur kurz, wenn sie die Schaulustigen passierten. Dragan merkte, dass viele von ihnen direkte Blickkontakte mieden. Offenbar waren sie nur wegen dem Korn gekommen.
 Etwa auf der Hälfte des Weges kamen sie offenbar an den Speichelleckern Vakrims vorbei, denn sie spuckten ihnen vor die Füße, oder riefen wüste Beschimpfungen. Einer versuchte sogar Danica zu erreichen, doch eine ihrer Wachen hatte ein Schwert gezogen und dem Kerl den Knauf ins Gesicht gerammt. Der aufkommende Tumult verstummte daraufhin. Dragans Blick wanderte zur leicht erhöhten Bühne. Was für ein Schauspiel.
 Gerade plusterte sich der Vogt von Draganhrod vor dem Rednerpult auf und deutete auf sie: „Da kommen die Beschuldigten. Sobald sie die Bühne betreten, verlange ich absolute Ruhe“, verlangte er gebieterisch und konnte einen befriedigenden Gesichtsausdruck nicht vermeiden, als es bereits leiser wurde.
Dragan fragte sich, wie Bognas Gesicht aussehen würde, wenn er einen Dolch in der Kehle stecken hatte. Insgeheim musste er aber zugeben, dass Vakrim und Bogna es verstanden, den einfachen Leuten ein Schauspiel zu bieten. Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie die zwei hölzernen Stufen. Der Platz war inzwischen bis auf gelegentliches Husten und Geflüster still. Dragan blickte sich rasch um, dann trat er auf die Bühne. Danica folgte ihm sogleich. Ihre Wachen trennten sie aber, Danica links vom Rednerstand, er wurde rechts daneben gestellt. Mareks Vertrauter stand zu Dragans Linken.
 Vogt Bogna eröffnete die Verhandlung mit eine Räuspern und einer theatralischen Geste, indem er beide Arme streckte und auf sie deutete: „Diese Gefangenen haben es gewagt, ihre Herren anzugreifen, eine Wache und einen der edlen Bojaren.“ Gemurmel wurde laut,  „Freilich wissen alle, dass die Verhüllten nicht ihr Gesicht entblößen dürfen – das wird auch dieses Gericht respektieren.“
Kurzer Prostest von Vakrims Speichellecker ertönte, doch Bogna hob herrisch eine Hand. Ein Trupp Stadtwachen rückte drohend näher an die Sitzreihe heran und sie verstummten.
 Der Vogt deutete auf Dragan und rief: „Diesem Mann wird vorgeworfen, hinterhältig und hinterrücks mit einem Stück Kordel einen Wachmann von Bojar Branko erdrosselt zu haben. Da er diese Tat gemeinsam mit seiner Mitgefangenen begangen haben soll, werden wir es als eine Gemeinschaftstat werten.“
Zustimmende Rufe ertönte. Dragan warf Danica einen kurzen Seitenblick zu, an Bogna vorbei, der nun auf sie deutete: „Diese Frau…“, eine Mischung aus Erstaunen und Hohn ging durch die Reihen. Dinge wie, dass sie gar keine richtige Frau sei, ein Mannsweib und dergleichen wurde gerufen. Bogna kläffte laut um Ruhe, was erst einige Momente später Wirkung zeigte. Dragan wusste, dass das einen wunden Punkt der Kriegerin berührte, doch sie zeigte keine Regung. „Ihr wird vorgeworfen, den ehrenwerten Bojar Branko mit ihrem Komplizen überfallen zu haben. Sie hat die beste Wache ausgeschaltet, während ihr Komplize den anderen Mann erdrosselte. Die niedergeschlagene Wache ist wieder bei Bewusstsein und hat bereits eine Aussage gemacht.“ Der Vogt macht eine bedeutende Pause, bei dem ihm sein Publikum gespannt an die Lippen hin. Er genoss den Augenblick, aber fuhr im richtigen Moment weiter fort: „Eine der besten Wachen der Hvalamark wurde nur mit einem Fußtritt ausgeschaltet – ganz ohne Waffen“, rief Bogna laut und ließ erneut seine Worte wirken. Die Reaktionen waren noch gemischter als vorher, denn viel Empörung war zu hören, doch auch genauso viel Bewunderung.
 Offenbar passte das dem Vogt nicht, denn er sprach rasch weiter: „Und als die beiden Wachen ausgeschaltet waren, nahm sich diese Frau ein Messer und fügte dem ehrenwerten Bojar Branko über vierzig Schnitte mit einem Messer zu.“ Jetzt überwogen die wütenden Rufe, sodass Bogna wieder für Ruhe sorgen musste. Er verkündete, dass beide Verbrechen gleich gewertet wurden und er in dieser Sache freie Hand durch Fürst Vakrim hatte. Er blickte zum großen Holzpalast und verneigte sich tief, dann trat er hinter seinen Rednerstand.
 „Im Namen des Fürsten von Govedalend, Fürst Vakrim Castav, unter seiner Gnaden König Goran von Gortharia, eröffne ich hiermit dieses Gericht.“ Er schaute sich rasch um. „Gibt es irgendjemanden, der für die Beschuldigten sprechen möchte?“ Eine drückende Stille trat ein. Wahrscheinlich blickte gerade jeder auf dem Platz umher, dabei war es nur eine Frage für die Protokollschreiber. Auch Dragan suchte mit seinen Augen den Platz hab – doch es war sinnlos. Eine Bewegung ganz am Rande des Platzes, ließ ihm kurz den Atem stocken. Aufgeregtes Geredete und überraschte Laute ging wie eine Springflut durch die Menge. Einer der Soldaten der Armee hatte die Hand gehoben. Ein Seitenblick verriet Dragan, dass das nicht geplant war. Bogna starrte fassungslos auf den einsamen Soldaten, der seine Hellebarde schulterte und den langen Weg zwischen die Sitzbänke nahm. Bis der unerwartete Fürsprecher die Bühne erreichte, hatte sich der Vogt aber wieder gefangen.
Er räusperte sich und fragte laut: „Wie ist Euer Name?“
Der Soldat drehte den Kopf der Hellebarde zu Boden. „Tar“, kam knapp die Antwort. Die Stimme war unmöglich zu unterscheiden, ob es ein Mann, oder eine Frau war, da er den Helm der Soldaten Rhûns trug und sich einen weinroten Schal vom Hals bis über die Nase gewickelt hatte. Dennoch war sie etwas tief, für eine Frau.
„Nur… Tar?“, hakte Bogna verwirrt nach, räusperte sich aber rasch und sagte: „Ihr wisst, Tar, dass ich zuerst eine Strafe anordnen werde, bevor Ihr zu Wort kommt. Die sofort ausgeführt wird, denn den Verhüllten ist es streng untersagt, solch einen Aufruhr auszulösen. Erst danach wird über das eigentliche Vergehen verhandelt.“
Der Soldat nickte knapp. Für Dragan klang es eher nach einer simplen Machtdemonstration. Er musterte den Soldaten, der mit dem Rücken zu ihm stand, während der Vogt die vier kräftigen Männer auf die Bühne winkte. „Für das Vergehen, öffentlichen Ärger ausgelöst und die Regeln der Verhüllten gebrochen zu haben, ordnete ich zehn Peitschenschläge an.“
 Jubel ertönte unter den Schaulustigen. Danica zeigte das erste Mal eine Regung und schnaubte hörbar: „Das nennt sich Gerechtigkeit, Bastard? Ihr erfindet einfach irgendwelche Regeln. Ihr seid nichts anderes als feiger und widerwärtiger Haufen Scheiße.“
Dragan blinzelte erstaunt. Er hätte nicht gedacht, dass sie den Vogt reizen würde. Bogna schlich sich ein schmieriges Grinsen auf die Lippen. „Nun, da Ihr nicht nur kämpft wie ein Mann und auch so redet, sollt Ihr wie einer bestraft werden.“ Er winkte drei Männer heran, „Zehn Hiebe mit der Holzplanke!“, rief er laut, „Auf Bauch und Rücken!“ Die Menge tobte vor Häme und Sensationsgier, vor allem die Männer. Zwei der Muskelprotze traten vor und packten Danica an den Armen. Mit roher Gewalt zogen sie sie auseinander, sodass sie rechts und links von ihr standen. Ein Dritter trat heran und zerriss mit einem Ruck ihr Oberteil vom Kragen bis zum Saum. Anstelle von lechzenden Rufen über die entblößte Brust, hörte man nur Getuschel – abgesehen von einigen anzügliche Pfiffen. Dragan wagte einen raschen Blick und verstand: Danicas Körper war bedeckt von Narben, manche fein und verblasst, andere leicht gerötet und wulstig. Sein geübtes Auge erkannte mindestens dreißig Schnitte und Stiche am Bauch und Rücken; mehr als zehn Pfeilwunden, davon drei auf ihrer linken Brust, knapp am Herzen. Ein sternförmiger Krater klaffte unter dem linken Rippenbogen, der offenbar ausgebrannt wurde. Er erinnerte sich, dass sie in mehr als fünf Kriegen gekämpft hatte und es schien wahr zu sein. Die meisten der Narben schienen jedoch nicht willkürlich beigebracht – dafür waren sie zu präzise neben- und untereinander beigebracht worden. Er vermutete ein unmenschliches Training. War sie bei den Barbaren im Osten untergekommen? Stammt sie von ihnen ab? Fragen über Fragen türmten sich in seinen Gedanken. Er konnte spüren, dass viele Menschen unten auf den Sitzbänken ähnliches dachten. Sie rätselten, was Danica alles durchgestanden hatte. Dragan ahnte, dass er nur einen kleinen Teil ihrer Geschichte kannte.
„Worauf wartet ihr?“, bellte Bogna die zögernden Handlanger an, „beginnt.“
Die muskulösen Männer reagierten nun gefasst und einer nahm Danicas Arme. Zur allgemeinen Überraschung schüttelte sie ihn ab und breitete selbstständig die Arme aus. Die anderen zwei hatten indessen lange, glatt geschliffene, handbreite Bretter in der Hand. Danica spannte sämtliche Muskeln in ihrem Leib an, denn man konnte sehen, dass die Muskulatur am Bauch deutlich hervortrat. Selbst die Muskeln in der Leiste waren zu sehen. Dragan hörte leises Geflüster, dass sie ein Monster sei. Dann schlugen die Handlanger zu. Es war ein dumpfer Ton, als das Holz auf offenbar harten Widerstand stieß. Danica gab kein Ton von sich und nickte knapp. Die Männer schlugen erneut zu, ohne Bognas Aufforderung. Dem Vogt stand indessen der Mund leicht offen. Er hatte wohl nicht erwartet, dass die Bestrafung so anders verlief. Bogna konnte sie auch nicht einfach unterbrechen, das wusste er offenbar auch selbst. Als noch vier Schläge übrig waren, hatte er sich wieder unter Kontrolle. Rote Streifen hatten sich an Danicas Körpermitte gebildet, wo das Holz sie getroffen hatte, doch sie gab noch immer keine Schmerzenslaute von sich. Dragan gab sich unbeeindruckt, auch wenn er sich fragte, durch was für eine Hölle sie gegangen sein musste, dass ihr die Schläge nichts ausmachten. Er bemerkte, wie Bogna ihm indessen vermehrt Seitenblicke zuwarf. Dragan vermutete, dass der Vogt überlegte, die Strafe auch bei ihm durchzuziehen oder nicht – immerhin konnte er es sich nicht leisten, nach Danicas tapferer Standhaftigkeit noch einmal die Kontrolle über die Verhandlung zu verlieren.
Es waren noch zwei Schläge übrig, bis Vogt Bogna schließlich knapp die Hand hob und sagte, dass es genügte. Die Menge gab ein Raunen von sich. Einige Männer pfiffen und johlten, als Danica ihren Arm vor ihre Brust legte, andere protestierten, dass sie mehr sehen wollten.
 „Ruhe!“, bellte Bogna und breitete die Arme aus, „Tapferkeit soll belohnt werden, selbst für Verbrecher. Wir sind schließlich keine unzivilisierten Wilden, wie sie es jenseits der Weite sind.“ Zustimmendes Gelächter ertönte, was der Vogt rasch nutzte, um die restliche Strafe zu erlassen. Nur vereinzelt wurde dagegen gemurt, doch brannten die meisten für die Hauptverhandlung, die Bogna nun einleitete.
„Ich berufe einen Diener unseres Gottes als meinen Beistand, auf das ich stets nach der Wahrheit suchen werde, und die Gerechtigkeit am Ende obsiegt.“ Es war kaum an Theatralik zu überbieten. Dragan musste gar nicht hinsehen, um zu wissen, dass ein Hohepriester die Bühne betrat. Ein Mann, gekleidet in schwarz-roten Roben trat vor den Rednerpult. Eine spitze Kapuze verbarg sein Gesicht. Saum und Borte der Robe waren mit goldenen Flammen bestickt – wahrscheinlich Goldgarn. Der Hohepriester verneigte sich tief vor der Flammenschale, dann erhob er sich. Er trug eine bronzene Gesichtsmaske, die vage ein menschliches Gesicht darstellte. Die Augen waren jedoch geschlossen und der Träger blickte nur durch zwei schmale Schlitze. Ein stilisiertes, drittes Auge prangte in der Mitte der Stirn. Die behandschuhten Finger steckten in weißen Leder und umklammerten einen reich verzierten goldenen Stab. Auf dem Platz herrschte Grabesstille. Niemand wagte es lauter zu atmen als nötig. Ehrfurcht und Angst lagen in der Luft. Dragan wusste, dass ein Hohepriester niemals ohne Eskorte seinen Tempel verließ. Und die Tempelgarde des flammenden Auges war das Schreckgespenst des gesamten Landes. Niemand kehrte lebendig zurück, wenn sie einen holten. Niemand sprach über sie, wenn es nicht nötig war. Er wusste auch, wer hinter ihnen stand und in Wahrheit die Fäden zog. Ein Geheimnis, das ihn sicherlich noch einholen würde. Dragan war plötzlich heilfroh um das etwas muffig riechende Tuch vor seinem Gesicht und vermied jeden Blickkontakt.
 Der Hohepriester wandte sich indessen zu Bogna um. Seine Stimme klang blechern, als er begleitet von einem knappen Nicken sich für die Einladung bedankte.
 „Nicht doch, Kněz Mórval“, erwiderte der Vogt ergeben, „Es ist eine Ehre, dass Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beglückt.“
„Eine Ehre, die der Gebieter erst ermöglicht“, sagte Mórval streng und trat zur Feuerschale, in der kleine Flammen loderten, „Seht her, ihr Zweifler!“ Die kalte Stimme Mórvals durchdrang jeden Anwesenden und ging durch Mark und Bein. Einige der Schaulustigen schüttelten sich unangenehm berührt. Selbst Dragan lief es kalt den Rücken hinab. Danica warf ihm einen warnenden Seitenblick zu. „ Die Macht des Herrn der Erde ist unter euch!“ Daraufhin half einer von Bognas Schläger dem Hohepriester einen Handschuh auszuziehen. Dragan schob das Klingenstück in seinem Mund nach vorn. Zwei der Ziele standen in direkter Reichweite. Seine Augen suchten eilig den Platz ab, doch kein Signal war zu sehen, oder etwas ähnliches. Seine Augen verharrten auf den Soldaten Rhûns, der anfangs vorgetreten. Tar rührte sich jedoch kein Stück. Indessen kamen aufgeregte Laute, erschrockenes Gemurmel und vereinzelte Rufe aus dem Publikum. Dragan blickte rasch zu Mórval, der seine marmorbleiche Hand mitten in die Flammen der Feuerschale hielt. Ein schmaler Eisenring ohne Fassung an seinen Daumen begann nach einer Weile rötlich zu glühen, doch Mórval gab keinen Ton von sich. Dragan sah genauer hin, als der Hohepriester seine Hand aus dem Feuer zog. Er hatte fest damit gerechnet, verbranntes Fleisch zu riechen und geschmolzene Haut zu sehen, doch nichts war geschehen. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab. Ein leises Stimmchen aus dem dunkelsten Teil seines Gedächtnisses flüsterte eine eindringliche Warnung, die Dragan bewusst ignorierte. Es war unmöglich, beruhigte er sich, niemand auf dem Brunnenplatz wusste, wer er wirklich gewesen war. Das waren nur die Geister der Vergangenheit, die seinen Verstand nicht zur Ruhe kommen ließen und ihn Dinge sehen ließen.
Mórval hob seine unverletzte Hand und rief: „Mit dem Segen und der göttlichen Macht des Chernubogs, dem Herrn der Erde, wohne ich diesem Gericht bei und sorge für Gerechtigkeit!“ Er wandte sich plötzlich um, und stellte sich zwischen Rednerpult und Dragan. Kaum hörbar flüsterte Mórval: „Nicht wahr, Jener, der in den Schatten wandelt?“. Er zog sich gelassen seinen weißen Handschuh wieder an. „Nun, besser gesagt ehemaliger Nachtwandler.“ Die Menge jubelte indessen laut auf, manche aus blanker Furcht, andere aus tiefster Ergebenheit. Einige gingen sogar auf die Knie und beteten. Mórval hob lässig seine Hand, deren totenbleiche Haut wieder von dem weißen Handschuh bedeckt wurde. Sofort kehrte Stille ein. „Diesmal sind keine der Weißen Streiter da, die Euch retten werden.“ Der Schatten hinter der Maske lachte leise.  „Nicht erneut. Und nie wieder.“ Der Hohepriester streckte die Brust heraus, verschränkte die Arme hinter den Rücken. Seinen Stab stellte er mit einem Pochen auf die Holzplanken. „Genießt das Schauspiel, falls Ihr dem etwas abgewinnen vermögt. Ich werde jeden einzelnen Augenblick davon voll auskosten, wie eine unberührte Jungfer auf dem Altar, Gurgof.“

Dragan ballte seine bisher entspannten Hände zu Fäusten. Er hatte es ja heraufbeschwören müssen. Die Fehler der Vergangenheit holten einen immer ein, dachte Dragan sich, während Bogna einen verfälschten Ablauf des Kampfes herunterleierte. Sein Blick ging zu Danica, die ihn mit einer Mischung aus Unbehagen und Wut anblickte. Es war der Blick eines Menschen, in dem ein heftiger Kampf zwischen Fluchtinstinkt und hasserfüllten Blutdurst tobte. Ihre Blicke galten aber nicht ihm, oder Mórval, sondern Bogna. Dragan erinnerte sich leise, dass sie aus dem Osten kam. Und der Vogt hatte sich erst kürzlich über sie und alles jenseits der Weite amüsiert. Offenbar fehlte nicht mehr viel und Danica würde vor Zorn platzen. Von dem was er bisher von ihr gesehen und beobachtet hatte, würde die Verhandlung in einem Blutbad enden, sollte es dazu kommen. War dies etwa das Signal? Wenn Danica ausrastete? Sein Blick ging zu Tar, der verdächtig nahe an der grob gezimmerten Bühne stand. Würde der Soldat Rhûns ihr dann sein Schwert zuwerfen? Die im Schatten des Helmes liegenden Augen waren nicht zu sehen. Tar wirkte tiefenentspannt, die Hellebarde unverändert gen Boden gerichtet. Dragan biss sich auf die Lippen. Es war zu vage und er klammerte sich an Dinge, die nicht waren – nur sein könnten. Sein Blick huschte nach links, wo Mareks Vertrauter wachsam in das Publikum stierte. Der Mann gab jedoch keine Regung von sich, auch wenn er sicherlich Dragans Blick bemerkt hatte. Er fluchte innerlich und wandte sich wieder Vogt Bogna zu, der endlich mit seiner Schilderung des Vorfalls endete, bei dem die Menschen je nach Intensität der Erzählung erschrockene, schockierte oder aufgeregte Laute von sich gegeben hatten. Natürlich war es nur ein stinkender Haufen Mist aus Lügen und verdrehter Wahrheit gewesen. Jetzt ging es endlich daran, die Aussagen gegeneinander aufzuwiegen. Und Tar rührte sich endlich, um seine erwählte Pflicht als Fürsprecher nachzukommen. Dragan schaute sich noch einmal rasch um, den Blick auf die umliegenden hölzernen Dächer konzentriert, doch kam kein Signal. Sein Blick blieb an Mórval hängen. Jede Faser in Dragans Körper schrie danach, den Hohepriester zu töten. Seine Hände wurden taub, als er sich gegen das Leder seiner Fesseln stemmte. Niemand durfte wissen, was er getan hatte, ganz gleich wer. Koste es, was es wolle. Zu tief war die Wut auf sich selbst, die das auslösen würde. Er hatte zu hart gekämpft, um jetzt von den Schatten seiner Schuld wieder eingeholt zu werden.
« Letzte Änderung: 23. Dez 2021, 02:01 von Curanthor »

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Die Verhandlung auf dem Brunnenplatz II
« Antwort #8 am: 25. Dez 2021, 06:46 »

Dragan atmete tief aus und versuchte seine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bringen. So wie er es einst gelernt hatte. Danica wurde neben ihm geschubst. Mareks Vertrauter  wechselte einen kurzen Blick mit ihnen. Ganz langsam schüttelte er den Kopf. So unmerklich, dass es Dragan fast gar nicht aufgefallen war. Er entspannte sich und schob das Stück Metall in seinem Mund wieder etwas zurück. Mórval war indessen vor den Rednerpult getreten und musterte Tar scharf, der inzwischen ebenfalls auf die Bühne  getreten war. Der Soldat blieb nur kurz stehen, marschierte dann aber zu Dragan und Danica, nur um sie beide mit dem Schaft seiner Hellebarde etwas in den Hintergrund zu schieben. Makres Vertrauter wich ihnen nicht von der Seite. Dragan meinte kurz ein Flüstern zu hören, dass sie ruhig bleiben und Geduld haben sollten. Vogt Bogna, der die Anklage vertrat, blieb an dem Rednerpult und schaute indessen über seinen Rücken, wo hinter der Tribüne die Protokollschreiber saßen. Es waren sechs, jeder für einen der Anwesenden. Ihre Federkiele kratzten unablässig über das kostbare Pergament. Hohepriester Mórval diente als Gerichtsleiter und versuchte sich wohl neutral zu geben. Der Soldat Tar baute sich inzwischen schützend vor Danica und Dragan auf. Die beiden wechselten einen Blick, doch selbst Dragan kannte diese Art Verhandlung nicht. Das war eine Neuerung, die erst eingetreten war, nachdem er seine Heimat vor Jahren verlassen hatte. Und nun brachte seine damals begonnene Suche nach seiner Liebe wieder zurück, dorthin wo alles begonnen hatte. Das Schicksal hatte Geschmack für Ironie - oder einer der Strippenzieher.
„Die Vorwürfe haben wir vernommen“, begann Mórvals blecherne Stimme sanft und machte eine einladende Geste zu Tar, „Hören wir, was der Fürsprecher zu der Verteidigung der Beschuldigten zu sagen hat.“
Bestimmt nicht viel, dachte sich Dragan. Sie hatten keine Möglichkeit gehabt mit dem Soldaten zu sprechen. Noch nicht einmal mit den Männern, die sie aus dem verwüsteten Zimmer gezerrt hatten. Niemand kannte die wahre Geschichte.
Tar pochte mit seiner Hellebarde laut auf das Holz, um das aufgekommene Gemurmel zu unterbinden. „Wir danken dem Gericht, dass es die Identität der Verhüllten bewahrt“, begann der Soldat freundlich und neigte sich leicht zu Bogna. Erstauntes Getuschel war zu hören. Der Soldat war wortgewandt, stellte Dragan überflüssig erstaunt fest und erlaubte sich etwas mehr Zuversicht. „Sonst wäre die Integrität dieser Verhandlung untergraben. Dennoch muss ich anmerken, dass die übereilte Bestrafung der Gefangenen einen Verstoß gegen den Erlass der Bojaren darstellt.“ Empörte, aber auch zustimmende Rufe wurden laut. Mórval hob eine Hand und es kehrte Ruhe ein, während Bogna eine Spur rot vor Zorn wurde. Tar sprach unablässig weiter und zitierte: „Niemand sollte für etwas bestraft werden, wenn die Schuld nicht bezeugt wurde.“
„Anerkannt“, sagte der Hohepriester knapp.
 Das Getuschel erstarb augenblicklich. Bogna wirkte etwas perplex. Dragan grinste verstehend hinter seinem Tuch. Sie waren gut! Mórval machte den Eindruck fair zu sein und zog das Volk auf seine Seite. Bognas Stellung war geschwächt, aber auch ihre eigene. Es gab keine Zeugen, nur eine Wächterin Brankos, die mit einem Fußtritt Danicas fast getötet wurde.
Tar war jedoch nicht fertig und wandte sich an den Vogt: „Ich vermute, es gibt Zeugen?“
 Bogna antwortete erwartungsgemäß, dass die damals bewusstlos geschlagene Wächterin der Hvalamark eine Zeugin war.
Der Soldat Rhûns schnalzte mit der Zunge. „Bewusstlos?“, wiederholte er laut und deutlich und deutete auf Dragan und Danica, „Und die Beschuldigten werden nicht befragt? Aber man nimmt das Wort einer Bewusstlosen für bare Münze? Die was genau gesehen hat? Bewusstlos, wohlgemerkt.“
 Zustimmendes Gemurmel war auf dem Platz zu hören. Vogt Bogna  blickte eindringlich zu dem Hohepriester, der fürchtete, dass ihm die Kontrolle entglitt. Ihm schien erst jetzt aufzugehen, wie dünn das Eis war, auf dem er sich bewegte. Vakrim Castav war schlau – zu schlau, um sich mit solch einem Desaster nicht zu befassen.
Wie erwartet sprang Hohepriester Mórval dem Vogt zur Hilfe und erinnerte Bogna, das die Wächterin bereits von den Heilern seines Tempels versorgt worden war. Wenn nötig, könnte sie ihre Aussage vor Gericht wiederholen. Er wandte sich nun an Tar und sagte, dass sein Tempel einige erfahrene Heiler hatte, die alle bezeugen konnten, das eine Bewusstlosigkeit durch einen Schlag nie länger als einige Momente dauerte.
 Der Soldat nickte und antwortete ruhig: „In der Tat. Ich selbst habe in mehreren Schlachten gekämpft und wurde auch ab und an mal bewusstlos geschlagen.“ Dragan verzog das Gesicht, dass sein Fürsprecher ihren Gegnern zustimmte. „Dennoch stellt sich dann die Frage, warum die Wache dann auf dem Zimmerboden liegen blieb. Und ihren Herrn auf dem Bette Danicas der Klinge ihrer Feindin schutzlos auslieferte.“ Er machte eine kurze, bedeutungsschwangere Pause. „Ist es nicht ihre oberste Pflicht gewesen, das unter allen Umständen zu verhindern? Schaden von ihrem Herrn abwenden?“
 Lauter Protest und Zustimmung breitete sich durch die Sitzreihen aus. Tar hatte ganz nebenbei der Version von Bogna widersprochen. Der Vogt hatte nämlich behauptet, Dragan und Danica hätten den Bojar in ihr Zimmer gelockt und die Wachen vor der Tür überwältigt – und sie eben nicht das Zimmer betreten hatten.
Mórval hob seine Hand und sofort kehrte Ruhe ein. „Ein berechtigter Punkt, der Zweifel aufkommen lässt“, stimmte der Hohepriester überraschend zu, „ Dennoch dürfen sich die Verhüllten eventuellen Annäherungen nicht widersetzen.“
 „Der ehrenwerte Bojar Branko wollte in der Tat eine private Unterhaltung mit der Verhüllten führen“, räumte Vogt Bogna schließlich ein, der damit wieder alle Karten in der Hand hielt, „Doch es wäre unschicklich gewesen, das offen zuzugeben. Schließlich wird kein Manne von gewissen Stande einfach verkünden, er gehe in ein Badehaus.“
 Die Reaktionen waren erwartet heftig. Die Menge begann sofort brodeln und rief aufgeregt durcheinander. Man konnte merken, wer sich vehement dagegen aussprach und diese Art der Zwangsarbeit als absolut unwürdig und als ohne Ehre empfand. Dragan wusste, dass Govedalender die eigene Ehre und die der Familie sehr wertschätzten. Eine Eigenschaft, die vor allem die neueren Adligen überhaupt nicht verstanden, oder als hinderlich erachteten – Vakrim Castav allen voran. Auf der anderen Seite waren jene, die ihre Privilegien verteidigten, oder die, die sich an jedes bisschen Überlegenheit klammerten, die sie in ihrem erbärmlichen Leben hatten. Ein einfacher Bauer war mehr wert als ein Verhüllter. Und das führte zu einer tiefen Spaltung. Die Stimmung heizte sich merklich auf und auch Vogt Bogna hatte Mühe die Menge unter Kontrolle zu halten. Erst als die Stadtwachen zwischen die Sitzreihen rückten und die Hände an die Schwertgriffe legte, wurde es langsam stiller. Hohepriester Mórval griff die ganze Zeit über nicht ein, offenbar genoss er das Chaos. So wie alle seiner Art, dachte sich Dragan und war erleichtert darüber, dass es offenbar doch viele aus dem Volk gab, die unzufrieden waren, wie dieses Land geführt wurde.

 „Also kann ein Adliger mit einem Verhüllten tun und lassen, was er will“, fasste Tar schließlich zusammen, als die Menge sich nach einer Weile beruhigt hatte.
Vogt Bognar bestätigte dies und setzte rasch nach: „Darauf baut dieses Land auf.“ Er breitete die Arme aus, als ob der den Brunnenplatz umfassen wollte. „Der Adel führt das Land. Wir wissen, wo man Brunnen anlegen kann, wo gutes Land ist und wem es gehört.“ Dann klopfte er sich auf die Brust. „Wir verwalten es und erledigen alle Arbeiten, die komplizierte Berechnungen benötigen, Diplomatie benötigen, interne Absprachen und Angelegenheiten innerhalb des Königreiches betreffen. Nichts, was ein einfacher Bauer verstehen, gar erledigen könnte! Noch weniger ein Sträfling, der unsere Gesetze bricht!“ Der Vogt deutete auf sie beide, „Und wenn man unsere Gesetze bricht, wird man nicht von ihnen geschützt, so einfach ist das.“
 Eingelullt von den Worten Bognas schwang die Stimmung wieder zu seinen Gunsten, doch der Soldat Tar hatte offenbar damit gerechnet. Er lachte leise und spielte wohl seine entscheidende Karte.
„So einfach ist das“, wiederholte Tar, woraufhin Mórval aus seiner Starre erwachte und um Klarheit bat. Offenbar spürte der Hohepriester, dass Tar etwas zur Sprache bringen wird, das die gesamte Anklage zusammenfallen lassen würde. Er konnte die Verhandlung aber nicht einfach abwürgen, ohne seinen Tempel an Gesicht verlieren zu lassen.
 „Natürlich, Mórval“, entgegnete der Soldat höflich und zuvorkommend, dann wandte er sich wieder zu Vogt Bogna, „Dann stellt sich die Frage, warum die beiden überhaupt zu Verhüllten wurden.“ Dragan blinzelte überrascht. Tar drehte sich zu ihnen um, „Sind es nicht jene Verbrechen, die dem Volk, dem Adel und den Beschuldigten selbst schaden? Warum waren sie überhaupt in dieser Situation?“
 Nun lachte Vogt Bogna leise und grinste selbstsicher. „Wie bereits gesagt, wird das Gericht die Identität der Verhüllten bewahren.“ Das Grinsen währte nur kurz und er wurde todernst. „Und das ist nicht verhandelbar.“
 Dragan blickte durch den Schlagabtausch zwischen dem redegewandten Soldaten und den sich windenden Vogt hin und her. Tar wirkte selbstsicher wie ein Fels in der Brandung – nichts schien ihn erschüttern zu können, Bogna hingegen mehr und mehr wie ein zappelnder Aal. Eine Tatsache, die nicht nur Dragan auffiel. Mórval wirkte deutlich rastloser. Seine Finger schlossen und öffneten sich, fast unmerklich, um seinen goldenen Priesterstab. Mehr erlaubte er sich nicht. Dragan fiel aber auch auf, dass Bogna unter allem Umständen geheim halten wollte, wer sie wirklich waren. Vielleicht wusste er, dass hier der eigentliche Erbe der Fürstenkrone stand? Sein Blick wanderte zu Danica. Oder war sie jemand, vom hohen Stand? Jemand, mit dem man es sich besser nicht verscherzte? Es war selten, dass ein Hohepriester des Tempels ungeduldig wurde… oder war dies aufkommende Nervosität?
 „Ha!“, machte Tar plötzlich und Bogna zuckte kurz zusammen, selbst das Publikum war erstaunt von dem plötzlichen Ausruf des sonst so ruhigen Soldaten, „Tatsächlich weiß ich, wer sich unter diesem Tuch verbirgt.“

 Dragans Herz klopfte wild in seiner Brust. Seine Ohren wurden heiß, die Wangen warm. Würden nun alle erfahren, dass der verlorene Sohn des Wolfes nach Hause gekommen war? Dass die alte Blutlinie der Herrscher Govedalends ihr altes Recht einfordern würde? War er bereit dafür? Er begann unter den Achseln zu schwitzen. Nein, bereit war er nicht. Dragan atmete tief aus, aber er würde sich dem stellen. Dann blickte er auf den ausgestreckten, gepanzerten Finger Tars. Und er deutete auf Danica. Dragan schluckte einen großen Brocken Aufregung und Erleichterung herunter. Neugierde ersetzte ihn, während sich ein bitterer Geschmack der Enttäuschung dazu mischte. 
 Der Soldat senkte seine Stimme, sodass man ihn nur auf dem Podium hörte: „Seid Ihr sicher, dass Ihr dem Jadethron erklären wollt, wie es hier zu kommen konnte? Selbst König Goran und all seinen Beratern wird das schwer fallen.“ Seine Stimme floss ihnen  wie Honig um die Ohren, umschmeichelte sie und brauchte erst einige Herzschläge, um zu ihnen durchzudringen.
 Ein Dutzend Dinge geschahen auf einmal: Vogt Bogna wurde kreidebleich und machte einen Schritt vom Rednerpult zurück – sehr zum allgemeinen Missfallen. Das Publikum begehrte laut auf und verlangte eine Erklärung oder ein schnelles Urteil. Hohepriester Mórval wandte sich Tar zu und hob mit einem Zischen drohend seinen Stab. Dragan blickte verwirrt umher zu Danica, die sich gerade mit aller Macht gegen ihre Lederfesseln stemmte. Ihr entblößter Oberkörper war ihr vollkommen egal. In ihren Augen loderte blinde Wut. Sein Körper kribbelte vor Instinkt. Er machte unwillkürlich einen Schritt von ihr zurück. Eine Hand packte Dragan an der Schulter und zog ihn grob zurück. Es war Mareks Vertrauter. Ein leises Zischen, ein Lufthauch an seiner Wange, dann folgte ein allgemeiner Aufschrei auf dem gesamten Brunnenplatz. Wachen brüllten los, Schwerter wurden gezogen. Ein rascher Blick verriet ihm, dass Bogna nach hinten taumelte, einen weißen Pfeil mitten in der Brust. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Ein scharfes Schnappen und sein Blick raste zu Danica. Sie hatte ihre Fesseln gesprengt. Wie ein wild gewordenes Tier sprang sie vor und einen der kräftigen Schläger Bognas  an, die auf die Empore stürmten. Ihre Finger gruben sich unter einem markerschütternden Schrei in dessen Augen. Der Wachmann drehte Dragan grob um, dann kribbelten seine Finger, als das Gefühl in die Hände zurückkehrte. Der Druck auf seine Handgelenke war fort. Er blickte den Mann nur an, der nur knapp nickte. Dann schloss er sich den übrigen Stadtwachen an, die die Hälfte der Menschenmenge daran hinderte, die Bühne zu stürmen. Dragan erfasste die Situation rasch. Tar und Mórval belauerten sich, Stab und Hellebarde aufeinander gerichtet. Bogna wurde von seinen drei übrigen Schlägern beschützt, während einige der Protokollschreiber versuchten die Blutung zu stoppen. Danica saß inzwischen auf dem Nacken des Schlägers, ihre blutigen Finger in seinem Gesicht, den Arm um dessen Kopf gegriffen. Mit einem Ruck und scharfen Knacken brach das Genick. Leblos fiel der schwere Körper auf die Planken, das Holz erzitterte unter dem massigen Gewicht. Elegant rollte sie sich ab. Ihre Augen rasten zu Dragan. Es war eine Aufforderung: Komm‘ mir nicht in die Quere. Blonde Strähnen hatten sich gelöst und hingen ihr wild vor den Augen, ihren irren Blick fast verdeckend. Mit einem Schrei wich sie einem Speerstich aus, packte den Schaft und zerbrach ihn mit ihrem Knie. Sie drehte sich an dem Schläger vorbei und rammte ihm mit einer fließenden Bewegung den abgebrochenen Schaft in die Kniekehle. Der zweite Schläger schwang inzwischen eine schwere Henkersaxt nach ihr. Sie duckte sich darunter und rollte sich ab, außerhalb seiner Reichweite. Der verwundete Schläger wollte zur Seite humpeln, doch war das verwundete Bein erlahmte. Zu langsam. Die Axt seines Kumpanen grub sich knirschend in den Brustkorb. Der Hüne schrie kehlig auf. Danica kam flink auf die Beine.
 Dragan erwachte aus seiner Starre, als plötzlich eine bronzene Maske, umgeben von rot-schwarzem Stoff vor ihm in die Höhe wuchs. „Stirb, Verräter“, zischte eine Stimme krächzend. Dragans schlummernder Instinkt erwachte. Wie eine Bestie, die unsanft aus dem Winterschlaf geweckt wurde, hob er den Kopf. Eine Hand Dragans packte die feindliche Hand mit dem zustechenden Dolch, die Klinge genau zwischen seinen Fingern. Die andere fing die ausgespuckte Klingenspitze der Schleicherin. Dass sie dabei seine Lippen schnitt, merkte er nicht. Das gebrochene Stück Metall beschrieb einen blitzenden Bogen. Warme Tropfen sprühten ihm über die Finger. Ein ersticktes Gurgeln unter der Maske war zu hören. Der Tempelknecht sackte zuckend zur Seite, die Hände verzweifelt auf die Kehle gepresst. Dragan trat ihn mit einem Fuß von der Tribüne. Sein Blick erhaschte am anderen Ende des Brunnenplatzes einen großen Tumult, der den Großteil der Stadtwachen beschäftigte. Banner waren zu sehen, die auf den Platz drängten. Ein schwarz-weißer Turm auf rotem Grund, gekreuzter Hammer und Stielaxt in Gold darunter. Ein wütender Schrei rief ihn wieder zurück auf das Podest. Dragan machte einen Schritt zurück. Seine Hand fuhr zu seinem Gürtel, wo normalerweise ein Dutzend Messer und Wurfdarts waren. Doch er war unbewaffnet. Die Tempelgarde stürmte  indessen die Treppen zum Podest und schob grob die Menschen zur Seite. Sie trugen schwere Bronzerüstungen, wallende rote Mäntel und eher zeremonielle Waffen, die dennoch tödlich waren. Ihre Helme besaßen Vollvisiere. Er fluchte leise. Veteranen, das erkannte er daran, wie sie sich gegenseitig mit ihren breiten Schilden in alle Richtungen Deckung gaben. Plötzlich erschien Danica neben ihm, ein blutiges Kurzschwert in der Hand, ihre blonden Haare getränkt vom Blut, ebenso wie ihr entblößter, vernarbter Oberkörper. Sie schien jedoch unverletzt. Die Tempelgarde des flammenden Auges stoppte kurz, als sie auf dem Podest angekommen waren. Mareks Vertrauter erschien hinter ihnen. Ein zweiter Pfeil sauste heran. Er war so schnell, Dragan hätte ihn fast nicht gesehen. Sein Blick flog mit ihm. Zu Mórvals Rücken, der gerade einen Stich der Hellebarde Tars abwehrte. Ein helles Pling ertönte. Der Hohepriester hatte den Pfeil mit seinem goldenen Stab pariert. Das weiße Geschoss landete klappernd auf dem Holzboden. Die Tempelgarde senkte die Waffen und setzte zum Sturm an.
„Genug!“, rief Mórval und parierte erneut die zustoßende Hellebarde. Tar machte daraufhin einen Schritt zurück. „Stopp!“, brüllte der Hohepriester nun mit unmenschlicher Lautstärke. Das Chaos, die Panik und das Lärmen auf dem Brunnenplatz verebbten langsam. Nur das Stöhnen der Verwundeten und das Keuchen der Umstehenden waren noch zu hören. Ein seltsamer Moment der Ruhe kehrte ein. Sie alle blickten sich rasch um. Dragan bemerkte einige leblose Körper auf dem Weg zur Tribüne. Der Kleidung nach waren es einfache Bürger, stellte er bitter fest. Auf dem Podest selbst lagen die drei übrigen Schläger Bognas ebenfalls tot auf den Planken. Einer hatte alle viere von sich gestreckt, ein zerbrochenes, blutiges Holzstück ragte über seinem Schlüsselbein aus seiner Brust. Ein anderer lag gekrümmt am Rednerpult, den Schädel mit einer Henkersaxt gespalten. Der Letzte hatte sein Ende durch einen Stich in die Halsschlagader gefunden. Bogna lag weiter hinten, umringt von vier Protokollschreibern, alle jeweils mit einem weißen Pfeil in der Brust. Der Vogt starrte erstaunt und angsterfüllt in den Himmel – für immer, eine Hand an eine Manteltasche gekrallt.
 Die Pause währte nur kurz. Ein Tross schwer bewaffneter Krieger drängte sich entschlossen durch den chaotischen Platz. Die kurz verebbte Panik flammte wieder auf. Menschen drängten in alle verschiedene Richtungen.
„Macht Platz!“, wurde laut gerufen, „Macht Platz für den Markgraf von Remedà!“
Einige hielten Inne. Die Tempelgarde machte prompt kehrt, wieder hinab auf den Brunnenplatz. Auch Mórval wirkte verärgert. Er schaute zwischen Tar, Danica und dem großen Tross hin und her, dann wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Die Krieger aus Remedà drängten samt Banner die Treppe zum Podest hinauf und gerieten mit der Tempelgarde aneinander. Es waren wild aussehende Krieger, alle gekleidet in Bronzerüstungen und Wildleder, bewaffnete mit großen Äxten, schweren Hämmern und exotischeren Waffen. Es wurde geschoben, geflucht und geschubst. Ein Tumult auf dem Podest brach aus, zu seinem Glück jedoch ohne, dass sich jemand um Dragan kümmerte, wie er feststellte. Rasch sah er sich nach einem Fluchtweg um. Eine Hand auf seiner Schulter machte den Gedanken zunichte.
 „Kommt, rasch“, flüsterte Tars Stimme und zog ihn nach hinten, „Ihr auch“, zischte der Soldat an die widerwillige Danica. Die beiden wechselten einen raschen Blick. Mareks Vertrauter tauchte in ihren Blickfeld auf. Er hatte die weiße Dolchscheide in der Hand und ließ sie spielerisch durch seine Finger wandern. Der Blickkontakt hielt nur kurz, dann räusperte der Wachmann sich und deutete scheinbar aufgeregt auf ein Dach am anderen Ende des Platzes. Zwei Dutzend Stadtwachen stürmten los, alle Blicke wendeten sich in die gedeutete Richtung. Dragan und Danica hechteten kurzentschlossen hinter Tar her, der an dem toten Bogna vorbei von der Bühne sprang. Die zwei überlebenden Schreiber kauerten sich ängstlich unter ihren blutbesprenkelten Tischen. Aus einer der dunklen Gassen kam eine Stadtwache. Tar schmetterte ihr im Vorbeilaufen den Schaft der Hellebarde gegen die Stirn. Danica fing den Mann im Fallen auf und Dragan packte ihn rasch an den Stiefel. Eilig verschwanden sie hinter einem Stapel Fässer und warfen die bewusstlose Stadtwache in den übelriechenden Matsch der Gosse. Erst jetzt erlaubte sich Dragan tief auszuatmen und beugte sich nach vorn, die Hände auf die Knie gestützt. Was bei den Sternen war da gerade geschehen? Ihm schwirrte der Kopf. Ein leises Sirren von Stahl alarmierte ihn. Als Dragan aufblickte, sah er, wie Danica ihr Schwert auf Tars Hals gerichtet hatte. Ihre blauen Augen funkelten hinter ihrem blutig-blonden Vorhang aus Haaren vor Zorn.
„Wenn Ihr keine Zeit verschwenden wollt, solltet Ihr von unten durch den Mund in den Kopf stechen“, empfahl der Soldat ruhig, „Oder ich führe uns an einen ruhigen Ort.“ Er blickte auf den Gasseneingang zum Brunnenplatz, von dem noch immer lauter Tumult zu hören war. „Entscheidet Euch rasch, wir haben nur ein sehr, sehr kurzes Zeitfenster für einen Plan, der euch beiden helfen wird.“
Dragan wusste nicht ganz, ob er etwas sagen sollte, sie erschien ihm Momentan unberechenbar. Die Wahl war jedoch offensichtlich. Danica sah mehrmals so aus, als ob sie jeden Augenblick zustechen würde. Schließlich entschärfte Tar die Situation und packte die Klinge mit zwei spitzen Fingern. Die Kriegerin ließ schließlich die Waffe sinken. Der Soldat nickte knapp und bedeutete ihnen zu folgen. Im Gehen rupfte er einen Überwurf von einer Wäscheleine und warf ihn nach hinten. Danica fing ihn auf und bedeckte sich. Schweigend eilten sie die enge Gasse entlang, begleitet von dem lautstarken Stimmengewirr des Brunnenplatzes. 

Curanthor

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Verhandlungspause auf dem Hinterhof in der Gasse
« Antwort #9 am: 29. Dez 2021, 03:25 »
Weit entfernten sie sich nicht von dem Platz. Sie bogen in einen schäbigen Hinterhof ein, der nur durch einen verrotteten Zaun von der schmutzigen Gasse getrennt wurde. Das laute Stimmengewirr vom Brunnenplatz wurde von dem Wind in einem unablässigen Gemurmel zu ihnen getragen. Der Hinterhof war zur Hälfte mit staub verkrusteten Fässern und Kisten vollgestellt. Ein löchriges, morsches Tuch diente als Dach. Tar blieb vor dem Zaun stehen und winkte Dragan und Danica hinein. Sie blickten ihn misstrauisch an, dann ging Danica vor, das blutgetränkte Schwert wachsam erhoben. Dragan folgte ihr und stieß fast mit ihr zusammen. Zwei Gestalten in langen Kapuzenmänteln warteten im Schatten in einer Ecke des Innenhofes, hinter einem Stapel Fässer. Offenbar hatte man sie erwartet, denn die beiden erhoben sich langsam. Tars Stimme hinter ihnen ertönte, dass alles in Ordnung war. Dragan machte einen Schritt zur Seite, um Danicas möglichen Rückzug nicht zu blockieren.
 „Keine Sorge“, sagte die Kleinere der beiden Fremden, die hohe Stimme ließ eindeutig auf eine Frau schließen, „Wir sind Verbündete.“ Dann schlug sie die Kapuze zurück. Ein wunderschönes, ebenmäßiges Gesicht blickte sie an. Die Haut so glatt und makellos als ob einer kunstvollen Marmorbüsten in der Sammlung seines Vaters lebendig geworden war. Die langen, dunkelblonden, fast schon hellbraunen Haare kompliziert geflochten. Drei dünne Zöpfe hingen ihr von der rechten Schläfe herab und lagen ihr auf der Brust. Einige Eisenklammern hielten sie aus ihrem Gesicht.
Dragan erstarrte. Er kannte die Stimme. Danica wirkte erstaunt und schien nicht so recht zu wissen, was sie tun sollte. Das Erste, was er tat war, sich knapp zu verneigen und Danica zu bedeuten das Schwert zu senken. Sie zischte ihn daraufhin an, was er vorhatte.
 „Bitte, wir wollen euch helfen“, sagte die Elbe mit einem bezaubernden Lächeln, das kurz verschwand, als sie an ihnen vorbeischaute. Dann rief sie etwas lauter in einer melodisch klingenden Sprache. Dragan verstand nur den Namen, Tár. Die Elbe lächelte ihnen dann wieder zu und schien auf etwas zu warten. Ein leises Poltern vom Stapel der Fässer war zu hören. Danica riss das Schwert hob, Dragan drückte die Klinge jedoch mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck herunter. Das erste Mal bei seiner Ankunft in Draganhrod fühlte er sich erleichtert. Von ganzem Herzen. Danica erkannte sofort ihren Fehler und ging hastig auf ein Knie, den Matsch auf dem Boden ignorierend.
 „Verzeiht, Weiße Geister“, murmelte sie und senkte den Kopf, „Ich habe nie gedacht Euch zu treffen.“
Weiß sprang leichtfüßig von dem Stapel Fässer und verstaute in einer Kiste seinen Bogen aus hellem Holz. Der Krieger war unverändert, fiel es Dragan auf, als er seinen Köcher mit weißen Pfeilen ebenfalls in die Kiste legte. Fast vollständig in weiß gekleidet, ein Tuch vor dem Gesicht, nur die Augen glitten unablässig umher. „Wir haben nicht viel Zeit“, murmelte Weiß nur rasch und drängte sich zwischen ihnen vorbei. Er tauschte mit Tar und hockte sich an den Zaun, die Gasse hinab zum Brunnenplatz spähend. Der Soldat stellte sich neben die Elbe, und strich ihr kurz über die Schulter.
 „Ihr gehört zu ihnen“, stellte Danica erstaunt fest und schien auf einmal deutlich unwohl. Dragan hatte noch die Szene in Kopf, wie sie dessen Kehle mit dem Schwert bedrohte.
Ehe sie sich dafür entschuldigen konnte, hob der Soldat eine Hand. Der Dritte der Weißen Streiter kletterte geschwind auf die Fässer und verschwand und blieb somit vollkommen unerkannt. Dragan blickte ihn kurz hinterher, als der Saum des grauen Umhangs über eines der Dächer strich, dann war er fort.
 „Nun“, begann Tár und schaute kurz zu der Elbe, dann zu Dragan und Danica, „Mich düngt, ihr beide habt viele Fragen.“ Sie nickten nur knapp, woraufhin er noch einmal betonte, dass sie keine Zeit hatten für Erklärungen. „Wir haben schon lange mit Sorge beobachtet, was sich im Schatten dieses Landes bewegt.“ Der Blick Társ lag auf Dragan, „Und erlaubten es uns, gelegentlich eingegriffen.“
 „Ihr wart das“, traute sich Dragan endlich zu flüstern und starrte die bildhübsche Elbe an. Ihre grauen Augen funkelten erfreut. „Ihr habt mich aus diesem Albtraum befreit… ich…“ Er verstummte, als sie nur sacht den Kopf schüttelte und dann zu Tar nickte. „Verzeihung.“
 „Eine Entschuldigung ist unnötig, ebenso Euer Dank“, erwiderte Tar freundlich, „Ihr müsst um Euren Platz kämpfen, doch diesmal im Licht. Das ist der Preis für Eure Rettung, damals und heute.“ Dragan erinnerte sich noch gut und wollte noch mehr sagen, doch die namenlose Elbe hatte eine Hand gehoben und bedeutete Danica näher zu treten.
„Kommt“, forderte sie die Kriegerin mit sanfter Stimme auf, „Ihr werdet Hilfe brauchen, wenn ihr diese Schlüssel finden wollt. Befreien die Hilfe.“
 Dragan blickte sie überrascht an. „Woher-“ Er stockte. Es gab wichtigeres. „Ihr meint… meine Freunde?“
Sie lächelte und nickte. „Ja, deine Freunde. Wir beide werden zwei von ihnen befreien.“ Die Elbe wandte sich an Danica, „Den Schlüssel, bitte.“
Alle Blicke lagen auf Danica. Ihr Körper war erstarrt, ihre Hand umklammerte das  gesenkte Schwert fest. Offenbar rang sie mit sich, ob sie den Fremden trauen sollte, oder nicht. Auch Dragan fragte sich kurz, warum die Weißen Streiter den Schlüssel brauchten. Was hatten sie vor?
„Selbst eine kleine Geste kann den Unterschied machen, und genauso fordernd sein, wie eine Schlacht“, sprach Tár nun bedächtig und wandte sich an die Elbe, „Anel, wir sollten ihr Zeit geben, um Vertrauen zu fassen.“
Danica erwachte aus ihrer Starre und zog einen blutigen Schlüssel aus ihrem Hosenbund. Es war einer der Sechs. Dragan spürte, dass dies ein wichtiger Schritt für sie war. Auch die Elbe schien es zu spüren, denn sie wartete geduldig, bis das Metall in ihrer Handfläche lag und erst dann verneigte sie sich mit einem dankbaren Lächeln. Dragan wusste, dass der Schlüssel aus Bognas Manteltasche stammte. Er war sich aber nicht sicher, ob Mórval auch einen besaß. Die Elbe führte Danica etwas weiter fort und nickte ihm unmerklich zu – wohl um ihn zu beruhigen. Dragan tat es nur mit einem Achselzucken ab und wandte den Kopf. Tár öffnete derweil eines der Fässer und zog eine rot-schwarze Robe hervor. Dragan macht einen Schritt zurück. Er erkannte die aufgestickten, goldenen Flammen sofort.
„Um Euren rechtmäßigen Platz einzunehmen“, begann Tár und legte die Robe über ein kleineres Fass, „müsst Ihr hinter die Kulissen dieser Stadt blicken – nein, in die Schatten dieses Fürstentums.“ Mit spitzen Fingern zog er eine silberne Maske aus dem Fass. Sie war fast identisch mit jener, die Mórval trug. „Und am besten tut man dies, indem man in die Höhle des Löwen geht.“ Der wahrscheinlich falsche Soldat fischte als letztes ein kunstvoll verziertes, gebogenes Schwert mit goldenem Griff in einer edlen Lederscheide aus dem Fass. „Doch Ihr werdet dem Biest direkt in den Schlund starren. Vergesst niemals, wer Ihr seid, Dragan vom alten Blut.“
Ihm war mittlerweile klar, dass Tár schon lange wusste, wer er war. Die Weißen Streiter, oder die weißen Geister, ein und dasselbe. Und sie wussten alles, was sie wissen mussten. Niemand sonst hätte ihn aus dem Turm des Wahnsinns befreien können. Er blickte zu der Elbe, die mit dem Rücken zu ihm stand und gerade mit Danica sprach. Doch sie haben es getan. Warum? Eine Frage, die er auch laut aussprach, während er sich hastig saubere Unterkleidung in hoher Qualität aus Leinen anzog – ebenfalls ein Geschenk der Streiter. Tár antwortete wie erwartet ausweichend, dass es nicht sein Schicksal war dort zu enden und drängte zur Eile. Dragan hielt die Robe zögernd zwischen den Fingern. Das schwarze Außenleder war makellos und angenehm weich, die rote Seite der Innenseite zart wie Schmetterlingsflügel. Eigentlich war es ein wundervolles Stück Kleidung, doch haftete es ein blutiges Stigma an. Unwillig warf er sie sich über, zog die goldgelbe Kordel über seinen weißen Kragen fest und schloss damit die weite Robe. Tár half ihm das Schwert umzugürten. Dabei erklärte er ihm endlich den Plan. Dragan sollte sich als eine der Leibwachen Mórvals ausgeben. Der Hohepriester hatte nämlich nach dem Vorfall mit Bojar Branko dem Fürst versprochen, einige seiner Wachen im Fürstensitz zu postieren. Wahrscheinlich, um die übrigen Bojaren still zu halten. Dragan hakte ein, ob man ihn nicht erkennen würde, doch Tár beruhigte ihn damit, dass die Leibwachen ein Schweigegelübde abgelegt hatten. Nur wenn sie beteten, brachen sie es. Der falsche Soldat schärfte ihm ein, ständig in der Nähe Vakrims zu sein.
  „Und was ist mit der Schattenelbe?“, fragte Dragan, nachdem Danica  verstohlen zu ihm herübergeblickt hatte. Offenbar wollte sie nachsehen, was er tat. Einen Moment war er froh, dass er noch immer das schmutzige Tuch vor dem Gesicht hatte.
Tár wirkte plötzlich bedrohlicher, seine Haltung war angespannt. „Bist du dir sicher?“
Verunsichert durch die Schärfe in der Frage, nickte Dragan nur knapp. Der Soldat zeigte keine Regung, sondern reichte ihm die Maske. „Lege sie niemals ab. Wir haben Doppelgänger, die eure Rolle als Verhüllte übernehmen.“
Die Innenseite der Maske näherte sich sein Gesicht. „Ist das Mareks Idee gewesen? Mit dem doppelten Spiel?“, fragte er noch rasch.
Tár brummte zustimmend, offenbar war es nicht sein Plan gewesen und er machte nur mit, weil es keine bessere Alternative war. Ohne zu fragen wechselte er ihm flugs Tuch gegen Maske. Es war so schnell, dass Dragan nur kurz blinzelte, dann spürte er, wie die beiden Lederriemen an seinem Hinterkopf etwas enger gezogen wurden und der Stoff der spitzen Kapuze seine Haare berührte.
„Und was ist mit Dragan?“, fragte er schließlich, seine eigene Stimme hallte in der Maske etwas wider. Die Sicht war etwas beengt, aber erstaunlich großzügig. Nur das Atmen durch die engen Nasenlöcher der Maske war gewöhnungsbedürftig.
Die Stimme der Elbenfrau ertönte lauter: „Der Sitzt im Kerker. Genau wie Danica.“
Anel“, zischte Tár ermahnend, nur um dann auf elbisch etwas eindringlich zu sagen, was er nicht verstand. Dragan schielte zu Danica, die interessiert zwischen den beiden Weißen Streitern hin und her blickte. Offenbar hatte sie seinen Namen nicht verstanden, denn sie mied Dragans Blick. Dabei fiel ihm plötzlich ein, dass er wieder einen neuen Namen brauchte. Sogleich stellte er die Frage, wen er denn verkörperte.
Ástrebor“, antwortete Tár knapp und beruhigte ihn mit einer Geste, „Sie sind nicht die Gleichen. Aber hüte dich vor Kavor, er hasst Ástrebor und den Tempel.“
„Den Raben?“, wiederholte Dragan, „Von wem redet…“
Tár hob eine Hand und Dragan verstummte. Er drehte sich um, zu der Gasse aus der Weiß gerade kam. Der Krieger ignorierte Dragan und flüsterte dem Soldaten etwas ins Ohr. Tár nickte knapp und Weiß eilte zu der Elbe. Sie zog daraufhin rasch ihre Kapuze auf. „Es scheint, als ob unser Zeitfenster sich schließt. Danica wird mit meiner Anel gehen und zwei deiner Freunde befreien.“
Dragan wollte fragen wen und wo sie waren, doch er unterbrach seinen Gedanken selbst, als ihm plötzlich aufging, dass „Anel“ kein Name war. Offenbar standen die beiden sich nah und es war eine Bezeichnung. Er blickte zwischen der Elbe und Tár hin und her. War der Soldat ebenfalls ein Erstgeborener? 
„Ihr kommt mit“, bestimmte Tár und schob ihn vor sich her. Es war merkwürdig ganz getrennt zu werden, nachdem sie so viele Stunden so nah nebeneinander gelebt haben. Es kam ihm zumindest vor wie Wochen, dabei war es nur wenige Tage gewesen. Dragan blickte zu Danica zurück, die im Hinterhof verblieb. Auch sie wurde von der Elbe schließlich fortgeschoben, die Gasse hinab, in die andere Richtung. Ihre Blicke trafen sich und einen winzigen Moment las er in ihren blauen Augen Bedauern. Dann trat die Elbe dazwischen und schirmte Danica mit ihren Körper vor neugierigen Blicken ab. Weiß schloss sich den beiden Frauen an. Tár gab ihm indessen einen Stoß mit der Hellebarde und ermahnte ihn, seine Rolle zu spielen. „Denkt einfach an das, für das Ihr die ganze Zeit gekämpft habt.“ Ohne hinzusehen spürte der Soldat die ungestellte Frage. „Wir sind nicht allwissend. Was auch immer Ihr sucht, es ist ein schicksalhafter Pfad. Und er ist ganz allein für Euch bestimmt. Niemand kann Euch dabei helfen“ Etwas leiser setzte er nach: „Denn auch ich suche etwas.“
Dragan blickte zu dem vermummten Gesicht. Es war das erste Mal, dass Tár etwas von sich selbst preisgab. Behutsam hakte er nach, was er suchte. Der Soldat antwortete nicht, sondern blickte offenbar wachsam die Gasse hinab zum Brunnenplatz. Sechs Stadtwachen eilten ihnen entgegen, die Schwerter bereit zum Angriff.
„Meine kleine Flamme. Und ein schwerer Fehler“, sagte Tár plötzlich leise und wirbelte die Hellebarde umher, „Den ich wieder gut machen werde, ganz gleich was es mich kostet.“ Er wurde etwas langsamer. „Sie soll nicht für meine Fehler in die Schatten stürzen.“ Der Kopf des Soldaten ruckte zu ihm, „Wir alle kämpfen mit unseren Schatten. Manchmal greifen sie nach jenen, die uns nahe stehen. Beherzige das, Sohn des alten Blutes“, forderte Tár bitter und ruckte wieder mit dem Kopf nach vorn.
Dragan nickte kaum merklich. Nie hätte er gedacht, dass einer der Weißen Streiter mit so viel Schmerz in der Stimme zu ihm sprechen würde. Die Stadtwachen waren inzwischen in Rufweite und riefen ihnen zu sich erkennen zu geben. Tár schulterte die Hellebarde und wurde langsamer. Dragan verstand und machte einen Schritt vor. Die Stadtwachen erkannten seine Kleidung und die silberne Maske. Sie wurde langsamer und ließen ihre Schwerter sinken.
 „Verzeihung, Kněz“, sagte einer von ihnen lauter und verneigte sich knapp, „Woher kommt Ihr?“
 „Dies ist Ástrebor, der Schild Mórvals und Schwert des Tempels“, antwortete Tár gebieterisch, seine Stimme war plötzlich tief und sonor, ganz anders als zuvor, „Gebt den Weg frei.“
 Fünf der Männer machten Platz, nur der Anführer blieb in der Mitte der Gasse stehen. „Habt ihr zwei flüchtige Verhüllte gesehen?“, fragte der Mann, während Dragan und Tár sich der Gruppe soweit genähert hatten, das man dessen Augen sehen konnte. Er kniff sie zusammen und blickte zur Tár. „Es heißt, der Soldat, der für sie sprach hat ihnen zur Flucht verholfen.“
 Dragan sprang sofort darauf an und zog sein Schwert, während Tár sich darüber empörte, mit einem Verräter verwechselt zu werden. „Der ehrenwerte Ástrebor ist im Namen des Hohepriesters unterwegs. Wollt Ihr uns noch weiter aufhalten?“
 Der Anführer des Wachtrupps biss sich auf die Lippen, schließlich senkte er widerwillig das Schwert und trat minimal zur Seite. Erneut war Dragan erstaunt darüber, wie viel Einfluss der Tempels des flammenden Auges inzwischen hatte. In Gortharia hatte er gar nichts davon spüren können, doch in seiner Heimat sah das ganz anders aus. Sie passierten die Stadtwachen. Dragan bemerkte, wie der Anführer ihn mit feindseligen Blicken spickte.


 Vor ihnen öffnete sich schließlich der Brunnenplatz. Die Tribüne war umringt von den Kriegern aus Remedà, das Banner des schwarz-weißen Turms auf rotem Grund hing neben einer blutroten Wimpel, auf der ein goldener Kriegshammer eine Streitaxt kreuzte. Dragan erkannte die Wimpel als das persönliche Zeichen des Markgrafen Drazan. Tár schritt auf die Krieger zu, die vor der Treppe standen. Sie waren groß und kräftig gebaut, die sonnengebräunte Haut spannte sich über Muskel. Sie hatten alle ein markantes Kinn und Wangenknochen. Dragan folgte dem Soldaten. Die Remedàner musterten sie abschätzig, dann trat einer von ihnen zur Seite. Nacheinander stiegen sie die Treppe empor. Oben bot sich ein ganz anderer Anblick als vor einigen Minuten. Die Leichen waren fortgeschafft, nur halbgeronnene Blutpfützen auf dem Holz ließen erahnen, was geschehen war. Mórval stand einem Bild von einem Mann gegenüber. Der Hohepriester wurde um mehr als einen Kopf überragt – zumindest vermutete Dragan, dass er es war. Dessen goldener Stab lugte zwischen den Füßen der beiden hervor. Von der Tempelgarde fehlte jede Spur. Dragans Blick erfasste endlich Markgraf Drazan komplett. Er war ein Bär in Menschengestalt. Das breite Kreuz war ihnen zugewandt, der Stiernacken strotzte vor Muskeln. Er trug das Fell eines Berglöwen über den Schultern, der restliche Oberkörper nur von einer hellen Lederweste bedeckt. Seine tiefe, dröhnende Stimme ertönte. Drazan lachte, doch es erinnerte eher an aneinander reibende Steine.
 „Ihr habt also wirklich gedacht, dass so ein lächerliches Gericht irgendetwas ändern würde?“ Der Markgraf spuckte auf die Planken der Tribüne, genau vor die Füße Mórvals. „Ihr Fanatiker seid doch alle gleich.“ Drazan hatte messerscharfe Sinne, denn er wandte halb den Kopf, als sie näher traten, obwohl sie genau in seinem toten Winkel gestanden hatten. „Ah, noch mehr Speichellecker.“
 „Ástrebor“, begrüßte ihn Mórval und klang dabei sogar ein ganz klein wenig erleichtert. Kein Wunder, dachte sich Dragan als Drazan sich ebenfalls zu ihnen wandte. Dragan und selbst Tár mussten zu ihm emporblicken. Der Markgraf hatte ein erstaunlich edles Gesicht für seine bullige Erscheinung. Seine Nase wohlgeformt, die wachen Augen blickte aus tief sitzenden Höhlen auf sie spöttisch hinab. Eine tiefe Narbe zog sich über sein rechtes Auge, das dadurch zerstört war und trüb in eine Richtung starrte. Eine zweite Narbe zeichnete seine linke Wange und einen Teil seines Nasenrückens. Ein dichter Bart sprießte um seinen aristokratischen Mund, in dem mehr graue als dunkelblonde Haare zu sehen waren. Beim genaueren Hinsehen, konnte man schon erste, tiefere Falten im Gesicht, besonders unter den Augen erkennen.
„Du weißt um deinen Auftrag?“, fragte Mórval schließlich noch einmal, da Dragan den Markgraf unaufhörlich anstarrte. Er wandte den Blick ab und nickte knapp. „Gut. Warte noch, bis die Verhandlung beendet ist.“
„Was?“, donnerte Drazan, „Ihr wollt diese Scharade weiterführen? Der Vogt ist tot, die Beschuldigten entkommen und Ihr bis auf die Knochen blamiert. Macht es nicht noch peinlicher – ich will endlich meinen Enkel kennenlernen.“
Mórval wirkte ruhig, trotz der erdrückenden Präsenz des Markgrafen. Im Gegenteil, es schien, dass der Hohepriester sich mit Dragans (Ástrebors) Erscheinen wieder im Griff hatte.
„Aber, aber“, sagte Mórval verträglich und strich unmerklich über seinen Handschuh, „Ich weiß, dass Eure Ankunft heute, genau zu dieser Stunde kein Zufall war.“
 Drazan antwortete nicht, sondern kniff die Augen bedrohlich zusammen. „So, so“, machte er nur und beugte sich ein klein wenig vor. Es war, als ob sich eine hundertjährigere Eiche neigte. „Nun, wie es aussieht, ist aber diese kleine Information bei Euch noch nicht angekommen.“ Drazan schenkte Mórval ein kurzes, zahnlückiges Lächeln und richtete sich wieder auf. „Marek!“, bellte er, „Angetreten!“
 Dragans Blick huschte zu der Treppe, die hinab zum Platz führte. War das der Plan? Warum gerade einen so unberechenbaren Kerl wie Drazan? Er war gemeingefährlich. Hatte Marek sie verraten? Ein vertrautes, leicht entstelltes Gesicht erschien auf der Treppe. Es war tatsächlich Marek. Er hatte ein langes Seil in der Hand. Mórval gab einen zufriedenen Laut von sich und klopfte Dragan – Ástrebor in seinen Augen, auf die Schulter. Hinter dem Hauptmann stolperten zwei Verhüllte her. Offenbar ein Mann und eine Frau. Drazan schien zu spüren, dass Mórval glaubte, sein Gesicht wahren zu können.
  „Danke, dass Ihr Euch für meinen Fang freut, Hohepriester“, sagte der Markgraf unvermittelt und ein gehässiges Grinsen blitzte auf, „Habt Ihr wirklich gedacht, dass ich Euch meine Gefangenen überlasse?“
  Mórval umklammerte wütenden seinen goldenen Priesterstab. Dragan spürte, wie seine Hand von der Schulter verschwand. „Schön“, zischte er schließlich hasserfüllt, „Ihr urteilt über Danica und Oleg, Markis.“
 Drazan grinste triumphierend. „Das werde ich.“ Mit den Worten ließ er den Hohepriester stehen und wandte sich Marek zu. „Alter Narr“, zischte Mórval leise, sodass nur Dragan es hören konnte, „Zu schade, dass sämtliche Attentate in all den Jahren gescheitert sind.“
 Dragan war auch klar, warum sie gescheitert waren. Drazan war nicht nur bärenstark – selbst im hohen Alter, sondern auch unglaublich gerissen. Man sagte sich, er hatte die Fürstenkrone an Ivailo nur weiteregegeben, da er sich in Draganhrod langweilte. Sein Vater hatte ihm aber einst erzählt, dass er sich als einfacher Mann bei seinem Vater beweisen musste, um die Fürstenkrone zu erlangen. Daher auch sein Name, Ivailo, der Bauer, der die Krone trug. Drazan hatte aber seinen Sohn überlistet, da Ivailo nie Fürst werden wollte, aber sehr ehrgeizig war, wenn man ihn herausforderte. Dragan schauderte es. Er mochte die Anwesenheit seines Großvaters nicht. Sie versprach große Gefahr. Drazan breitete indessen die Arme aus und übernahm lautstark die Verhandlung.
« Letzte Änderung: 30. Dez 2021, 23:47 von Curanthor »

Curanthor

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Die Verhandlung auf dem Brunnenplatz III
« Antwort #10 am: 31. Dez 2021, 03:17 »
Markgraf Drazan Blutfinger war einer der einflussreichsten Männer des Fürstentums, vielleicht sogar des Königreichs. Vielleicht besaß er nicht die vielen verschiedenen Kontakte, Beziehungen und Druckmittel wie ein Haus Castav, aber das musste er auch nicht. Der Streiter der Ostmark war ungeschlagen im Kampf, seit fast einem Jahrhundert verteidigte er die östlichen Grenzgebiete und hatte mehr Attentate überstanden, als sonst irgendjemand. Jene, die ihn kannten, erzählten aber nicht von seiner Erscheinung, Kampfkraft oder Grausamkeit, das war der Pöbel. Dragan wusste von den wenigen Erzählungen seines Vaters, dass Drazan einer der seltenen ‚goldenen Mischungen‘ war. Ein Krieger sowohl im Geiste, als auch im Körper. Beides zusammen machte ihm zu einem der gefährlichsten Männer des Königreiches. Dragan stellte sich neben Hoheprister Mórval, rechts von Drazan, der gerade eigenhändig den Rednerstand von der Bühne warf. Von den vierhundert Zuschauern war noch etwa die Hälfte übrig, die Krieger Remedàs ausgenommen. Dragan blickte zum Fürstensitz, ob Vakrims Castav herauskommen würde, um Drazan zu begrüßen, doch die Tore blieben verschlossen. Auf der leicht erhöhten Terrasse konnte man allerdings ein Dutzend Würdenträger sehen, die das Spektakel verfolgten. Sein Großvater beugte sich zu einem seiner Krieger herunter, der ihm einige lange Augenblicke etwas ins Ohr flüsterte. Dragan vermutete, dass Drazan gerade der bisherige Verlauf der Verhandlung erzählt wurde. Der Markgraf nickte nur knapp und wedelte kurz mit der Hand. Der Krieger – ein kräftiger, vollbärtiger Kerl mit einer geschulterten Axt stieg die Treppe der Bühne hinab und verschwand vom Platz. Gemurmel wurde laut. Das Publikum war ungeduldig. Nach der bisherigen Unruhe wollten sie endlich ihre Sensationsgier befriedigt haben. Der Markgraf war kein Mann großer Worte, wie Dragan feststellte. Sein Großvater übernahm mit knappen Worten die Verhandlung und ließ die beiden Verhüllten – die ihn als Oleg und Danica mimten, auf die Knie gehen. Dragan fragte sich, welcher Narr solch eine Aufgabe übernehmen würde. Seine Gedanken wanderten kurz in der Zeit zurück. Zu gern hätte er den Namen der Elbe erfahren, die ihn aus diesem Turm befreit hatte. Und was die Weißen Streiter mit ihm, Danica und den Schlüsseln planten. Im Moment blieb ihm aber keine große Wahl. Unmerklich ballte Dragan die Fäuste. Erneut war ihm die Kontrolle über seine Entscheidungen entglitten. Der winzige Moment, als er die Lederfesseln losgeworden war, und endlich frei seine eigenen Entscheidungen treffen konnte. Er war so süß gewesen. Freiheit. Etwas, dass er in seinem Leben zu lieben und schätzen gelernt hatte. Sein Blick ging wieder zu den beiden Verhüllten. Entweder würde sie ihre Freiheit, oder gar ihr Leben verlieren. Der Gedanke war ihm unwohl.

 „Ástrebor“, erklang Mórvals Stimme leise neben ihm. „Ich muss Euch tatsächlich in Fürst Vakrims Nähe postieren, meinen Vorbgehalten zum Trotz.“ Der Markgraf wiederholte indessen noch einmal zusammenfassend den bisherigen Ablauf und die Für- und Gegensprache. Mórval bedeutete ihm an den Rand der Holztribüne zu treten, wo man sie nicht belauschen konnte. „Ástrebor“, sagte er noch einmal eindringlich, „Beobachtet ganz genau, was der Fürst tut und mit wem er spricht. Wir sind nicht die einzigen, die Einfluss auf ihn nehmen wollen. Schreibt alles nieder und platziert es in dem Versteck.“ Seine Stimme senkte sich, sodass Dragan Probleme hatte, ihn zu verstehen. „Neben unseren Tempel gibt es einige wenige, die ebenfalls den Fürst beeinflussen, oder gar ersetzen wollen.“ Mórval schwenkte kurz vielsagend den Kopf zu Markgraf Drazan, der gerade Bognas Art zu Verhandeln lächerlich mahcte. „Dann die Söldner aus der Weite, mit dieser spitzohrigen Dämonin an der Spitze. Findet heraus, was sie im Schilde führen. Behaltet Blutfinger im Auge, er hat sich bis vor ein paar Jahren aus der Politik zurückgezogen. Außerdem flammen immer wieder Gerüchte über die Kinder Ivailos auf, geht dem nach. Wir können uns es nicht leisten, wenn die Erben über die Blutlinie rechtmäßigen Anspruch erheben.“
Dragan wollte schon überrascht Fragen, welche Kinder gemeint sind, legte aber dann aber nur überrascht den Kopf schief. Mórval wirkte etwas erstaunt. Dragan biss sich auf die Lippen. War das eine ungewöhnliche Regung? Wie hatte sich Ástrebor normalerweise verhalten? Der Hohepriester durfte auf keinen Fall misstrauisch werden. Dragans Hand wanderte etwas tiefer, zur seinem Schwertgurt.
„Ihr wisst doch von den vielen Bastarden des Wolfes“, tadelte Mórval und schnaubte, „Es ist hauptsächlich wertloses Geschwätz des Pöbels, aber es stimmt, dass Ivailo nicht nur eine Frau hatte. Wir müssen einen Erbfolgekrieg in Govedalend verhindern.“ Der Hohepriester drehte sich leicht zu Drazan, der jetzt seine mächtige Stimme erhoben hatte und verkündete, den wahren Ablauf herauszufinden. Dragan unterdrückte nur mit größter Willenskraft die Welle aus Hass auf seinen Vater, die in ihm aufwallte. „Seht ihn Euch an, wie er sich aufplustert. Und Hauptmann Marek neben ihm. Unsere Spione haben mir zugeflüstert, dass der Kapitan auf der Seite einer der wahren Erben steht – wir wissen aber nicht wen. Euch muss ich nicht sagen, wie prekär das wäre. Ein echtes Bündnis zwischen den beiden Fraktionen muss verhindern werden… aber das ist meine Aufgabe, Ihr kümmert Euch um den Fürst, wie besprochen. Habt auch ein Auge auf Marek.“
Dragan verneigte sich knapp, behielt aber im Kopf, dass der Tempel nicht für Vakrim Castavs volle Sicherheit garantierte – noch nicht, und vielleicht nie, wenn er seine Rolle gut genug spielte. Mórval streckte indessen zufrieden die Brust heraus und sagte in einem selbstgefälligen Tonfall, dass sie gerade erst angefangen hatten.
 Markgraf Drazan lenkte Dragans volle Aufmerksamkeit auf sich, als er mit einer herrischen Geste für Ruhe sorgte. Die wild aussehenden Wachen, sein Ruf und Charisma sorgten dafür, dass das durchgehende Geflüster auf dem Brunnenplatz sofort verstummte – ganz anders als bei Vogt Bogna. Alle Blicke lagen auf ihn. Selbst Dragan konnte sich nicht davor wehren, Respekt für seinen Großvater zu empfinden.
„Die falsche Schlange Bogna hat euch alle belogen!“, rief Drazan laut und spuckte in die Feuerschale. „Ein Kriecher der Priester, die ständig Gift in seine Ohren träufelten. Und durch seinen Mund hat er dieses Gift ausgespien.“ Die Menschen murrten unzufrieden. Niemand hörte es gerne, dass man belogen wurde. Mórvals Hand an seinem Stab zuckte kurz „Er behauptete, dass Bojar Brankos Wachen nicht das Zimmer der Verhüllten betreten hatten.“ Marek zückte unmerklich einen schwarzen Dolch und versteckte ihn hinter seinen Rücken. Dragan fuhr sich unbewusst mit der Zunge über den Schnitt in seiner Wange. Er war sich sicher, dass die Klingenspitze abgebrochen war. Drazan wandte rasch den Kopf, als ein mutiger Mann der Stadtwache rief, dass Verhüllte keine Rechte hatten. Der Markgraf grinste kurz. „Wie gut, dass ich dieses schwachsinnige Gesetz bei mir nie einführt habe.“ Drazan stieß die Fäuste wütend aneinander und brüllte: „Was ist ein Land wert, das seine Bewohner nicht ernähren kann?“
„Nichts“, antworteten seine Krieger wie aus einem Munde. Die rauen Stimmen donnerten geradezu über den Platz.
„Und was ist ein Gesetz wert, das seine Untertanen nicht schützt?“, fragte Drazan sanfter, doch seine Männer schwiegen. Die Menschen konnten sich die Frage selber beantworten. Dragan grinste hinter seiner silbernen Maske. Sein Großvater war in der Tat gerissen. Nicht jeder konnte den Fürsten bloßstellen, ohne Namen zu nennen. Die Menge murmelte unablässig, doch niemand wagte es dem zu widersprechen. Bestechende Logik war meist die größere Waffe als rohe Gewalt, wenn es um Überzeugungen und Argumente ging. Drazan winkte indessen einen seiner Männer auf das Podest. Lautes Gerede brandete unter den Bewohnern der Stadt auf. Dragan blickte sich rasch um und konnte dutzende Schaulustige in den Fenstern der angrenzenden Häuser entdecken. Selbst in den Gassen und Straßen tummelten sich Menschen. Offenbar hatte sich die Ankunft des Markgrafen herumgesprochen. Der Krieger Remedàs nahm die letzte Stufe. Jetzt sah Dragan den Grund für die Aufregung der Menge. Es war die Schleicherin, die der bärtige Mann auf seinen Armen trug. Sie war noch immer in ihrer schwarzen Kleidung gehüllt. Man hatte ihr Hände und Füße gefesselt, einen Knebel in den Mund gesteckt. Ihre dunkelbraunen Augen verschossen Dolche. Drazan nickte seinem Untergebenen knapp zu. Der Krieger ließ die Gefangene einfach auf die Holzplanken fallen. Sie fing sich gerade noch mit ihrer Schulter ab. Der Aufprall war trotzdem hörbar hart. Marek trat vor und zückte endlich den schwarzen Dolch. Tatsächlich fehlte etwa eine daumenbreite der Klingenspitze.
„Diese Waffe wurde in ihrem Zimmer gefunden“, rief der Hauptmann und wickelte das schwarze Leder um den Griff langsam ab. „Was beweist, dass die Wachen hineingegangen waren. Es gibt dazu eine Zeugin, die auf ihr Leben schwört, dass eine der Mägde der Küche irgendwas in das Bier der beiden geschüttet hatte.“ Die Menschen riefen daraufhin wild durcheinander. Viele forderten die Zeugin zu sehen, andere vertraten vehement den Punkt, das Verhüllte keine Rechte hatten.
„Ruhe!“, donnerte Markgraf Drazan und deutete auf eine kleine, recht stämmige Gestalt, die hinter einer der Krieger Remedàs hervortrat. Dragan erkannte sie als die Köchin im Fürstenhof, womit Drazan sie ebenfalls vorstellte. Der Tumult verstummte, während die Köchin mit fester Stimme bestätigte, dass eine ihrer beiden Mägde eine unbekannte Phiole in das Bier der beiden geleert hatte. „Das schwöre ich, bei meinem Leben.“
Daraufhin wurde es erst einmal wieder ziemlich still. Drazan beugte sich zu der gefangenen Schleicherin hinab und schien etwas zu sagen. Was auch immer es war, blanke Angst stand in ihren Augen. Dann richtete Marek sie auf und rupfte ihr die Kapuze vom Kopf. An ihrer rechten Schläfe prangte eine hässlich angeschwollene, rot-blaue Platzwunde. Drei Soldaten Rhûns drängten sich durch die remedànischen Krieger. Sie sprachen kurz mit Marek, dann stellten sie sich neben Dragan. Er warf ihnen einen flüchtigen Blick zu. Sie alle trugen wie üblich Helme und einen Mundschutz. Nur die Augen waren zu erkennen, doch die Soldaten verfolgten gebannt, wie Drazan die enttarnte Schleicherin an den langen braunen Haare packte und mit einer Hand in die Höhe zog. Eine simple, aber eindrucksvolle Machtdemonstration. Die Füße der Frau verließen die Planken und traten hilflos nach Halt suchen umher. Tränen rannen ihr die Wangen hinab.
 Marek hielt erneut gut sichtbar den Dolch in die Höhe und entfernte die lederne Umwicklung des Griffs nun ganz. Die Gefangene bat winselnd um Gnade, doch der Markgraf schlug ihr prompt mit der freien Faust ins Gesicht. Ihre Nase knackte leise. Sie heulte laut auf, während ihr Blut über das Gesicht strömte. Marek warf das nutzlose Leder ins Feuer und zeigte den Griff. Darin war ein verschlungenes Symbol geschnitzt, das jeder in Govedalend kannte und hasste. Eine Axt, um deren Griff sich eine Schlange windete. Die Menge begann zu brodeln. „Verräter!“, schrien die Ersten, doch es war gar nichts, gegen das, was folgte, als Marek zu der Schleicherin trat und mit der zerbrochenen Klinge den Rücken aufschlitzte. Die Gefangene schrie vor Schmerz laut auf. Marek schob die blutigen Kleider auseinander und drehte sie baumelnd um. Eine große Axt wurde ihr unter die Haut auf den Rücken gestochen. Eine Schlange wand sich um den Griff. Ein wahrer Sturm der Wut fegte über den Brunnenplatz. Dragan musste an sich halten, um nicht sein Schwert zu ziehen und die Frau sofort zu töten. Ihre Nachbarn im Norden standen eigentlich neutral zu ihnen, aber in der Vergangenheit hatte es schon mehrere Versuche gegeben, Govedalend zu erobern und umgekehrt – meist erfolglos. Es war über die Jahre in einem gemeinsamen Königreich in eine tief verwurzelte Rivalität übergegangen, die auf gegenseitigen Respekt beruhte. Nicht alle waren der Meinung, dass es so bleiben sollte. Die Schlangenaxt stand für eine Gruppe von Adligen, Kriegerfamilien, Händler und Kaufleute beider Länder, die nach einem vereinten Land strebten und dafür über Leichen gingen. Schon oft hatten sie versucht, beide Länder zu destabilisieren, um es nach ihren Vorstellungen zu vereinen.
Inzwischen sorgten die Krieger von Remedà wieder für Ordnung, auch wenn die Wut der Bewohner nur schwer zu zügeln war. Schon oft waren Waren- und Kornlieferung überfallen, oder einfach ausgesetzt worden mit absurden Forderungen, wie die Absetzung des Fürstens oder einer Vereinigung der Fürstentümer. Es war immer das einfache Volk, das darunter gelitten hatte. Doch die echten Drahtzieher der Schlangenaxt waren nie zu fassen und es war verdammt schwer ihre Handlanger zu fangen, da sie meist auf der Stelle getötet wurden. Oder sich selbst töteten, wenn man sie erwischte, wie Dragan schon mehrfach in seiner Jugend frustriert feststellen musste. Mórval zischte neben Dragan unzufrieden. Marek verkündete indessen, dass Bojar Branko wohl ebenfalls zu den Verschwörern gehörte, da er die beiden Schlangen bei sich aufgenommen hatte. Markgraf Drazan hob eine Hand und es kehrte wieder Ruhe ein. Sein Großvater wandte nur kurz den Kopf zu Hohepriester Mórval und ihn. In seinem Blick lag etwas, dass ihm ein Schauer den Rücken hinabjagte. „Nun, das ging daneben“, murmelte Mórval nur leise.
„Kraft meine Amtes ordne ich die Ergreifung des Bojaren Branko an – möge der Fürst über ihn urteilen“, donnerte Drazan unvermittelt und hob die Gefangene hoch in die Höhe, wie sein muskelbepackter Arm es zuließ, „Doch diese feige Giftmischerin soll der Tod ereilen. Für Hochverrat an der Fürstenkrone, versuchte Flucht, versuchte Täuschung des Volkes und Teilnahme an einem Komplett gegen Govedalend.“ Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck warf er sie wie einen nassen Sack auf die Holzplanken. Sie krümmte sich vor Schmerzen. Drazan wandte sich an die vier Soldaten, obwohl sich Tár nicht rührte. „Ihr seid doch die Beschützer des Reiches. Es hat die Integrität des gesamten Reiches gefährdet. Führt diesem Insekt seine gerechte Strafe zu, sonst tue ich es.“
„Mein Herr, “, begann einer der drei Männer respektvoll, „Wir sind nur hier, um für das Königreich zu kämpfen, nicht innere Angelegenheiten der Fürstentümer zu regeln.“ Bevor einer reagieren konnte, war der kleinere der drei Soldaten vorgetreten und hatte sein Schwert gezogen. Der Sprecher wollte seinen Kameraden zurückhalten, doch der dritte Soldat hielt ihn davon ab. „Was tut ihr da?“, verlangte er zu wissen, doch er antwortete nicht. Dragan blickte hastig zwischen den Soldaten her. Der Kleinere mit dem Schwert näherte sich der Schleicherin und schien kurz etwas zu sagen. Man konnte sehen, wie sie erstaunt die verquollenen Augen aufriss. „Ihr?!“ keuchte sie. Dann zuckte das Schwert vor und stach ihr in die Kehle. Sie röchelte und spuckte sofort Blut.
Markgraf Drazan fluchte und packte sich eine schwere Axt seiner Männer. Der Soldat neben der Sterbenden hechtete sofort zur Seite. Das schwere Blatt der Axt fuhr hinab und verfehlte ihn nur haarscharf. Holz splitterte. Der Kopf der Verurteilten rollte kurz danach über den Holzboden der Tribüne. Auf dem Platz herrschte Totenstille. Dragan vermied es die Tote anzublicken. Drazan gab die blutige Axt dem Krieger zurück. „Nur Weichlinge lassen jemanden elend verbluten“, grunzte der Markgraf und wischte seine blutigen Hände an seiner Fellhose ab, „Und es dauert zu lange.“ 
Oder jemand, die eine Rechnung zu begleichen und sie leiden sehen wollte, dachte sich Dragan und fing den Blick des Soldaten mit dem blutigen Schwert auf. Die blauen Augen, die ihn einen befriedigten Blick zuwarfen, bestätigten seinen Verdacht. Ausgestreckte Finger und lautes Geredete lenkten ihn jedoch ab. Dragans Kopf flog herum, dass er sich fast den Nacken verspannte und er blickte zum Fürstensitz. Die hölzernen Eichentore standen offen. Fürst Vakrim Castav persönlich war erschienen. Er wurde von einer dreißig Mann starken Leibgarde begleitet, zwei Dutzend Beratern und eine Hand voll Speichelleckern. Dragan konnte auch einige Bojaren erkennen. Zwei alte Freunde seines Vaters waren darunter, doch mehr als die Hälfte war ihm unbekannt. 
„Ástrebor“, sagte Mórval unvermittelt. Dragan musste sich ein Zucken verkneifen, da er die kalte Stimme des Hohepriesters eine Weile lang nicht gehört hatte. Und sie unangenehme Erinnerungen weckte. Bilder von kalten, grauen Steinwänden und Folterwerkzeugen schwirrten durch seinen Geist. „Bleibt konzentriert. Ich weiß, Ihr mögt keine Menschenmengen.“
 Dragan atmete innerlich aus und verneigte sich knapp, als Zeichen von (geheuchelter) dankbarer Ergebenheit.
„Gut. Diese Verhandlung scheint beendet zu sein. Der Fürst wird nicht mehr viel zu tun haben, als den Bojaren seinem Titel zu entziehen und die Verhüllten zu entlasten – die dann verschwinden werden.“
Er legte fragend den Kopf schief. Nur ganz leicht, dass Mórval nicht misstrauisch wurde.
Und es klappte, denn der Hohepriester schien amüsiert. „Ja, Ástrebor, die Frau wird in einem unserer ganz besonderen Badehäuser untergebracht, wenn das alles vorbei ist. Mit dem anderen Gefangenen haben wir allerdings noch ganz besondere Pläne, falls er wirklich der ist, für den ich ihn halte.“
Dragan rann ein Schauer über den Rücken, als der Hohepriester ein kaltes, kratziges Lachen von sich gab, das ganz untypisch für einen der Hunde vom Tempel war. Offenbar hatte Mórval ihn tatsächlich erkannt oder von Anfang an gewusst, wer er war. Dragans Blick huschte zu Vakrim. Hatte auch er gewusst, wer er war? Und warum war Danica immer bei ihm gewesen? Er erinnerte sich an Társ Worte, vor der kurzen Unterbrechung und dem Kleiderwechsel. Der Jadethron. Was war das? Wie passte all das zusammen? Er war schon vorher misstrauisch gewesen, dass Dragan in den Kerker wanderte und als Oleg wieder herauskam und niemand wusste, wer er vorher war. Vielleicht war das alles ein Trick gewesen. Dragan blickte zu seinem Großvater Drazan, der keine Anstalten machte Fürst Vakrim in irgendeine Art Respekt zu zollen. Er stand ruhig mit seinen massigen, verschränkten Armen da und blickte dem Tross des Fürsten entgegen. Marek hatte wohl dafür gesorgt, dass der Markgraf einen Tag früher aus Velgorod anreiste und damit erst die Ablenkung erschaffen, mit denen Dragan entkommen war. Wenn auch nur kurz. Er unterdrückte den Impuls sich an den Kopf zu fassen. Er war sich aber sehr sicher, dass (fast) alles nach Drazans Eintreffen nicht mehr Vakrims oder Mórvals Plänen entsprach. Dafür war sein Großvater einfach zu unberechenbar – von den Weißen Streitern gar nicht angefangen. Dragan blickte kurz verstohlen zu Tár, der kaum merklich nickte und dann zu den übrigen drei Soldaten Rhûns trat. Offenbar trennten sie sich hier voneinander.
„Erfülle deine Aufgabe“, sagte Mórval erneut unvermittelt und tippte ihm mit dem goldenen Stab auf Stirnhöhe gegen die Maske, „Möge der Segen des allsehenden Auges mit dir sein.“
Behalte deinen Fluch, du widerwärtige, schwarzherzige Bestie in Menschengestalt, dachte sich Dragan, verneigte sich aber ergeben und folgte dem Hohepriester, der vorausgegangen war, um dem Fürsten die Ehre zu erweisen. Sein Gefühl sagte ihm, dass er ab diesem Zeitpunkt mehr herausfinden würde, was hier vor sich ging als bisher. 

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Die Verhandlung auf dem Brunnenplatz IV
« Antwort #11 am: 10. Jan 2022, 21:54 »
Dragan ermahnte sich stumm, seine Rolle als Ástrebor weiter zu spielen, als Vakrim Castav mit langen Schritten die gezimmerte Tribüne erstieg. Der Fürst trug einen wallenden roten Mantel, teure Kleidung aus farbenfroher Seide, die seine erstaunlich kräftige Statur kaschierte. Auf seinem Haupt ruhte die silberne Fürstenkrone. Es war Sitte, für jeden Fürsten eine neue Krone zu schmieden und sie mit persönlichen Zeichen zu verzieren, sein Vater hatte einst nur einen simplen Haarreif gehabt. Vakrim trug eine recht schmale Krone, in die perlgroße Edelsteine eingelassen waren. Der Fürst blieb in gewissen Abstand vor Markgraf Drazan stehen. Die Fürstengarde rückte nach, die Krieger Remedàs postierten sich ihnen gegenüber. Die beiden Männer maßen sich mit Blicken. Auf dem Platz war es still. Es war bekannt, dass Drazan nicht viel von dem Fürsten hielt. Das beruhte aber auf Gegenseitigkeit. Für Vakrim war der Streiter der Ostmark ein politischer Gegner, den er nicht ohne große Verluste in die Ecke drängen konnte. Dragan spürte, wie die jeweiligen Leibwachen unruhig wurden. Es wurde kein Wort gesagt. Dann verneigte sich Drazan so knapp, dass es schon fast beleidigend war – aber nur fast. Fürst Vakrim nickte, ein kaum sichtbares triumphierendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, dann wandte er sich nach rechts und Hohepriester Mórval zu. Sie begrüßten sich mit gebotenem Respekt, Dragan kniff die Lippen zusammen, als er sich ebenfalls verneigen musste.
 „Ist dies Euer Vertrauter?“, fragte Vakrim beiläufig, als er Dragan bemerkte. Der Fürst musterte ihn abschätzig, kurz blieb der Blick an den schmalen Sehschlitzen hängen. Mórval bestätigte die Vermutung, konnte aber nicht mehr sagen, da Vakrim jene Verhüllten gewahr wurde, die Dragans und Danicas Platz eingenommen hatten.
Er lachte laut auf. „Nun, selbst Ihr könnt Eurem Schicksal nicht entkommen… Oleg, ja?“ Der Verhüllte, der Dragans drahtiger Körperstatur sogar ähnelte, nickte widerwillig. Er spielte ihn erstaunlich gut, befand der echte Dragan. Unbeeindruckt schloss er zu Mórval auf, der sich neugierig neben Vakrim stellte, der indessen die falsche Danica verhöhnte. Der Hohepriester beugte sich zu dem Verhüllten hinab. Dragan umrundete ihn und stellte sich in dessen Rücken, dabei schob er einen Remedàner zur Seite und eine Leibwache Castavs. Eigentlich tat er das nur, damit er besser lauschen konnte, doch Mórval bedankte sich knapp. Offenbar hätte der echte Ástrebor ebenso gehandelt, stellte Dragan erleichtert fest. Vakrim machte sich weiter über die kämpfende Frau lustig, während Drazan gelangweilt die Augen verdrehte und die blutige Steitaxt seines Untergebenen zu säubern begann. 
 „Nun, Sohn des Wolfes“, wisperte Mórval kühl. Dragans Blick raste zu ihm, doch der Hohepriester hatte sich zum Ohr des Verhüllten gebeugt. Er unterdrückte ein erleichtertes Ausatmen und spitzte die Ohren, während Mórval weitersprach: „Ihr dachtet wohl, dass ich nicht herausbekomme, wenn ihr Hauptstadt verlasst. Nun, Ihr habt Euch dort Feinde gemacht. Oder besser gesagt: sie wiedergetroffen.“ Der Verhüllte hob den Kopf nur ein Stück, jedoch nicht weit genug, dass man ihm in die Augen sehen konnte. „Feinde, die Euch noch aus Eurer Zeit im Turm kennen“, wisperte Mórval weiter und lachte leise. Ein Schauer rann Dragan den Rücken hinab. „Ja, ganz recht. Ich weiß von dem Turm des Wahnsinns und was es mit ihm auf sich hat. Wisst Ihr, dass Ihr der Einzige seid, der jemals aus ihm entkam? Das hat dem Hohen Ankläger ganz und gar nicht gefallen.“ Der Hohepriester machte einen tadelnden Laut, „Aber ich muss Euch danken, nun kann ich mich mit  Eurem Tod rühmen. Wenigstens seid Ihr so seinen Ketten entkommen und als Zeichen meines Dankes, wird es schnell gehen.“
„Mórval!“, rief Vakrim plötzlich gut gelaunt und unterbrach die Unterredung. Der Fürst klopfte dem Hohepriester kameradschaftlich auf die Schulter und zog ihn zur Seite, „Welchen Eurer Recken stellt Ihr mir zur Seite? Ich habe schon viel von den Schwertern des Tempels gehört...“
 Dragan erlaubte sich tief auszuatmen, während die beiden etwas Abstand nahmen. Er blickte auf seine zitternden Hände und steckte sie rasch in die weiten Ärmel seiner Robe. Der schwarze Ankläger – oft einfach nur Schwarz genannt, oder Ankläger. Dragan schüttelte sich unmerklich. Eine bösartige Kreatur, die keinen Zug Menschlichkeit an sich hatte. Ein Jäger, Vollstrecker und Foltermeister, der nur einem geheimnisvollen Vertrauten Saurons persönlich Rechenschaft ablegte. Er war darauf aus, den Geist und die Persönlichkeit seiner Opfer zu zerstören. Es brauchte fast all seine Willenskraft die aufkommenden Erinnerungen zurückzudrängen. Die kurzen Bildfetzen von kargen, kalten Wänden, dem Rasseln von Ketten und lebendig gewordenen Schatten bestärkten Dragan aber, auf den Plan der Weißen Streiter zu vertrauen. Nur dank ihnen hatte er dem endlosen Albtraum entkommen können.
 Ein bekanntes Gesicht in Dragans Augenwinkel holte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit. Es war der feuerrote Bart eines alten Freundes, den er sofort erkannte. Er trug teure Gewänder, doch der lächerliche Schlapphut aus abgewetztem Hirschleder war unverändert und Dragan war sich sicher. Es war tatsächlich der Graf von den Sonnenhügeln, einer Grafschaft, die normalerweise direkt dem Fürsten untergeordnet war. Und es war sein Kindheitsfreund Ulf Gunnarson, der das Wappen der drei grünen Hügel auf gelben Grund auf der Brust aufgestickt trug. Das kantige Gesicht seines alten Freundes nahm kurz Notiz von ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, dann drängten die übrigen Edelleute nach und er verlor ihn in der Menge. Das Holz der provisorischen Empore knarrte bedenklich.
 Vakrim tauchte plötzlich neben Dragan auf und klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter – dennoch etwas zurückhaltender als bei Mórval zuvor, „Nun, ich vermute, dass wir eine Zeit lang auskommen werden.“ Dragan wandte ihm kurz den Kopf zu, hob wortlos die Hand und zog mit zwei Fingern das dicke Handgelenk des Fürsten von seiner Schulter. „Ah, ja ich sehe, wir verstehen uns gut“, überging Vakrim seine eisige – um nicht zu sagen, respektlose Reaktion. Offenbar war Ástrebor tatsächlich so taktlos wie alle diese Fanatiker. „Keine Sorge, Ihr müsst Euer Gelübde nicht brechen.“ Der Fürst klang nun verständnisvoll und nickte zu den beiden Verhüllten, die man durch ein paar Dutzend Beine hindurch erkennen kann. „Ich bin froh, dass sie gefunden wurden“, sagte er leise und schüttelte den Kopf. „Sonst wären meine Pläne in Gefahr. Ihr helft mir doch, meine Ziele zu erreichen?“
Dragan wollte den Kopf schütteln, ließ sich aber dann doch mit der Antwort Zeit. Kurz wandte er den Kopf zu Mórval, der gerade mit einigen Edelmännern sprach. Dann blickte er wieder zu Vakrim, der offenbar verstand und ihm versicherte, dass das eine Abmachung mit dem Hohepriester war. Schließlich nickte Dragan so knapp, dass es kaum vernehmbar war. Fürst Vakrim strahlte kurz erleichtert, wurde dann aber wieder ernst, als er mit einem Finger schnippte. Ein Verhüllter eilte herbei und ging auf alle viere. Eine Zofe trat vor und ergriff eine Hand des Fürstens, der auf den Rücken des Verhüllten stieg. Wortreich übernahm Fürst Vakrim Castav die restliche Verhandlung und balancierte weiterhin auf dem Rücken des Verhüllten. Das durchdringende Gemurmel auf dem Brunnenplatz verstummte sofort. Dragan hörte nur mit einem Ohr zu. Es war nur das, was er bereits erwartet hatte. Die beiden Verhüllten, die er und Danica darstellten wurden freigesprochen, Bojar Branko seine Titel und Ländereien entzogen und ein Gesandter in die Hvalamark geschickt. Letzteres kam überraschend. Er sollte herausfinden, was die Schlangenaxt geplant hatte und die Spuren der Angreiferin und ihre Mitverschwörer aufdecken. Dragans Blick huschte zu Mórval, dessen Worte in seinen Ohren lagen. Offenbar wusste Vakrim nicht, dass die Schlangenaxt mit dem Hohepriester zusammenarbeitete. Als die Schleicherin enttarnt wurde hatte dieser kommentiert, dass ‚dies in die Hose ging‘. Offenbar hatte Mórval den Angriff eingefädelt, um Dragan aus der Reserve zu locken. Also hatte er von Anfang an gewusst, wer Oleg wirklich gewesen war. Dragan dankte noch einmal den Weißen Streitern im Gedanken. Jetzt war es ziemlich sicher, dass die Tarnung als Ástrebor undurchschaubar war, wenn er es nicht vermasselte. Sein Blick ging  zu seinem Doppelgänger, der gerade auf die Beine gezogen wurde. Die beiden Verhüllten wurden von ein paar Männern der Stadtwache zurück in den Fürstensitz gebracht.
 „Und da geht er hin, der Sohn des Wolfes“, ertönte Mórvals Stimme plötzlich neben ihm selbstzufrieden, „Es ist immer schön, wenn seine Pläne aufgehen.“ Der Hohepriester wirkte schon fast glücklich und strich sich über seinen Daumen. „Wenn sich die Pforten schließen, werden die beiden für immer verschwinden.“
 Eine große Hand packte den Hohepriester und riss ihn grob herum. Waffen wurden gezogen. Ein Schatten fiel auf sie. Ein vernarbtes Gesicht schob sich in ihr Blickfeld, die Augen sprühten vor Zorn, die Zähne gefletscht. Drazan von Remedà ragte wie ein steigendes Pferd vor ihnen auf. Dragans Großvater war kurz davor den Priester mit bloßen Händen in zwei blutige Hälften zu reißen. „Was sagtet Ihr da?!“
 „Aber, aber“, ging Vakrim Castav sofort dazwischen, der gerade an einem Becher Wein nippte, „Ich bin mir sicher, dass das ein Missverständnis war.“
 „Es gibt nur einen Wolf in Govedalend!“, bellte Drazan und wollte die andere Hand an die freie Schulter Mórvals legen, „Und ich bin mir sicher, dass dieser Kerl sagte, dass dieser Verhüllte“ Er spuckte das Wort aus, „Der Wolf sei und nun verschwinden würde.“
 „Ihr solltet besser zuhören, wenn ihr schon Gespräche belauscht“, entgegnete Mórval ruhig und störte sich nicht an der tiefroten Ader, die gefährlich heftig an der Schläfe des Markgrafen pulsierte, „Ich sagte, dass es nur ein wertloser Bastard des Wolfes war. Und dass es nicht schaden würde, wenn er verschwinden würde.“ Er schien kurz zu grinsen, denn er klang amüsiert, als er nachsetzte, dass der Wolf für seine vielen Bastarde berüchtigt war.
 Dragan war von der Silberzunge Mórvals beeindruckt, doch Drazan war nicht leicht zu täuschen. Seine Krieger hielten indessen die Stadtwache in Schach, als er sich herabbeugte und gefährlich leise ihm damit drohte, dass, wenn es kein wertloser Bastard war, er ihn persönlich alle Gliedmaße brechen und ihn auf ein Rad flechten würde. Die beiden Männer funkelten sich gegenseitig feindselig an, bis Vakrim Castav einschritt: „Genug mit diesem Unfug! Es war nur ein Bastard, nichts was diese Farce rechtfertigt. Schluss jetzt.“ Seine Stimme hatte einen gefährlichen, eisigen Unterton angenommen. Er würde keine weiteren Auseinandersetzungen dulden. Das spürten auch die beiden Streithähne und Drazan ließ von dem Hohepriester ab. „Wir sollten wie ehrenvoller Männer drinnen weitersprechen. Einen internen Konflikt kann sich keiner von uns jetzt leisten.“
 „Wir Ihr wünscht“, lenkte Mórval mit einer knappen Verneigung ein und winkte Dragan zu sich. Drazan Blutfinger gab nur ein Grunzen von sich, dann bellte er Befehle. Seine Männer zogen sich zurück und verließen in einem ungeordneten Haufen den Brunnenplatz. Offenbar war die Verhandlung nun beendet. Die Standartenträger hoben die Banner auf und folgten ihren Herren zum Fürstensitz. Dragan musterte die Menschenmengen auf dem Platz, auf den Straßen und in den Gassen. Es waren hunderte, weit mehr als zu Beginn der Verhandlung, vielleicht sogar schon um die eintausend. Er spürte viele hasserfüllte Blicke auf sich, als sich die Menge vor ihnen teilte. Kurz fragte er sich, was Ástrebor eigentlich bisher so verbrochen hatte. Er schloss kurz die Augen und vertrieb den Gedanken. Er sollte sich besser darauf konzentrieren an die Schlüssel zu gelangen und nahe bei Vakrim Castav zu bleiben. Nicht nur weil Mórval es von ihm verlangte, sondern auch aus eigenem Interesse. Auch ohne die Mission des Hohepriesters hätte er jeden Schritt des Fürsten beschattet und mit wem er sprach oder verhandelte. Dann die Menschen im Umfeld, die Fürst Vakrim beeinflussen wollten, wie Drazan Blutfinger, diese Schattenelbe und selbstverständlich Mórval. Es gab nach Dragans Verständnis bisher drei große Fraktionen, die um die Kontrolle um Govedalend rangen: einmal der Tempel des Flammenden Auges zu dem Mórval zählte, der überall seine Ränkenspielchen und Verschwörungsnetze schmiedete und spann; dann die opportunistischen Adligen, mit Drazan Blutfinger ganz vorne dabei, die eher simpler vorgingen, aber zumindest durch Marek indirekt von den Weißen Streiter gelenkt wurden; natürlich steuerte Vakrim Castav mit aller Macht dagegen, teilweise gestützt vom Tempel, aber hauptsächlich mit dem Einfluss seines Hauses und dem Fakt, dass er von Khamûl selbst eingesetzt wurde.
 Dragan wollte sich aber noch nicht festlegen, da er Marek noch nicht voll vertraute. Die spitzohrige Dämonin war hingegen eine unbekannte Gefahr, die eher Danica einschätzen könnte, doch sie war nicht bei ihm. Er biss sich auf die Lippen. Der Gedanke an sie löste in ihm wieder eine innere Unruhe aus. Es war ein zerreißendes Gefühl zwischen gefährlicher Sympathie und einem Teil seines Instinkst, der ihn eindringlich vor sie warnte.
„Ástrebor“, erklang die kühle Stimme Mórvals schneidend und Dragan zuckte kurz zusammen, als es bei ihm durchsickerte, wer gemeint war. Erblickte sich um. Sie standen in einem Flur in einem der westlichen Flügel. Sie waren nur zu zweit. Er hatte gar nicht realisiert, dass sie in den Fürstensitz gegangen waren, oder wie sie sich von dem übrigen Tross getrennt hatten. Eine Tatsache, die Mórval offensichtlich nicht entgangen war. „Ich weiß, dass du Menschenmengen verabscheust“, begann er erstaunlich verständnisvoll und legte ihm sogar seine behandschuhte rechte Hand auf die Schulter, „Bisher hat es immer geklappt… bekomme das wieder in den Griff, noch einmal werde ich es nicht dulden, selbst bei dir nicht.“
Dragan senkte ganz kurz den Kopf, dann nickte er. Der Hohepriester klopfte ihm auf die Schulter und nahm seine Hand fort. Seine Linke trug seinen Priesterstab, mit dem er die Tür aufstieß, vor der sie gestanden hatten. Mórval erklärte ihm mit knappen Worten, dass dies sein (Ástrebors) Gemach und er absolut ungestört war. Dragan verstand, dass er dort seine Maske ablegen konnte. „Mein Zimmer liegt diesen Gang hinab“, sagte Mórval und deutete mit seinem Stab in einen Korridor nach Norden, „Morgen früh beginnst du deinen Auftrag an Castavs Seite. Er ist manchmal ein Narr, aber unterschätze ihn niemals. Da ist ein Yalçın Tevet ein noch größerer, gierigerer Trottel...“ Der Hohepriester wandte sich ab und sagte, dass ihn noch ein wichtiges Gespräch erwartete. „In deinem Zimmer hängt ein Seil von der Decke am Bett, damit kannst du einen Diener rufen.“ Mórval war fast um die Ecke gebogen, dann drehte er sich noch einmal mit blitzender, goldener Maske um: „Oh, und achte darauf, was für ein Bier du trinkst. Ich werde hier nur Wein genießen.“ Mit einem kalten, bellenden Lachen bog der Hohepriester mit wallender Robe um die Ecke. Dragan schob zähneknirschend sein gezogenes Schwert wieder in die reich verzierte Scheide. Fast hätte er es geworfen. So rasch wie die Wut gekommen war, schwand sie auch. Er hatte Glück gehabt, dass Mórval nicht umgekehrt war. Er atmete tief aus und betrat sein Gemacht. Mit dem Fuß ließ er die Tür ins Schloss fallen. Erschöpft ließ er sich auf sein Bett fallen.


« Letzte Änderung: 11. Jan 2022, 00:03 von Curanthor »

Fine

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Re: Draganhrod
« Antwort #12 am: 11. Jan 2022, 16:59 »
Aus der Sicht des Fuches Neras Vanaras

Vanara hatte drei Tage damit verbracht, sich einen Grund dafür auszudenken, weshalb ihr Herr sie mit in den Palast nehmen sollte. Mittlerweile ging der Bojar dort ein und aus, um Fürst Vakrims Speichel zu lecken und seinen Stand am Hofe zu erhöhen. Und obwohl der Bojar in Vanaras Augen ein einfältiger Narr war, schienen dessen Intrigen aufzugehen. Er war zum Mundschenk ernannt worden - ein effektiv wirkungsloser Titel, da der Fürst von Govedalend seine Mahlzeiten von entbehrlichen Sklaven vorkosten ließ. Dennoch bedeutete die Ernennung, dass Vanaras Meister einen festen Platz bei Hofe erhielt - sowie ein eigenes Gemach. Vanara erkannte, dass sie sich ihre Mühen hätte sparen können. Früher oder später würde der Bojar sie in den Palast mitnehmen. Sie glaubte, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde. Sie wurde mittlerweile beinahe jeden Abend zu ihrem Herrn gerufen. Wenn sie so weitermachte, würde sie bald unentbehrlich für ihn sein. Eines Tages würde er gar nicht mehr ohne ihre... Hilfe einschlafen können. Spätestens dann stünde ihr der Weg in den Palast offen... der Weg zu Tiana.

Tiana! Vanara konnte noch immer nicht glauben, dass die Frau, zu der sie aufblickte, sie verraten hatte. Der Zirkel war ihr dabei sogar recht egal, Vanara empfand den Verrat hauptsächlich als Affront gegen sich selbst und gegen die Beziehungen, die sie zu Tiana gepflegt hatte. War alles nur eine Lüge gewesen? Die Befreiung aus den Sklavenpferchen? Die gemeinsame Zeit beim Zirkel? Der Fakt, dass es Tiana gewesen war, die ihr die Augen geöffnet und sie von den Lügen der Messergilde befreit hatte?
Vanara hatte viele Fragen und kaum Antworten. Sie wusste, dass sie bald mit Tiana sprechen... oder sie zur Rede stellen musste. Sie konnte so nicht lange weitermachen. Vanara befürchtete, dass man ihr eines Tages die innerliche Zerissenheit ansehen würde, dass selbst der langsam arbeitende Verstand des Bojaren Verdacht schöpfen würde. Noch konnte sie recht mühelos die gehorsame Konkubine spielen, oder die vielen Rollen einnehmen, die ihr Herr zu seiner Unterhaltung und Erregung von ihr verlangte. In dieser Hinsicht war er erstaunlich einfallsreich. Mal gab sie die würdevolle Hochelbin aus dem fernen Westen, mal war sie eine wilde Sklavin aus den Gruben. Vanara musste zugeben, dass ein Teil von ihr froh darüber war, dass ihr - zumindest in dieser Hinsicht - nicht langweilig wurde.

Es gab allerdings eine Gefahr, die Vanara mehr und mehr bewusst wurde. Der Bojar war verheiratet - wie die meisten niederen Adeligen bereits seit jungen Jahren. Seine Gemahlin hatte sich klugerweise einen Landsitz errichten lassen und hatte Draganrhod seit Jahren nicht mehr betreten. Das Paar war kinderlos, und Vanaras Meister hatte die besten Jahre hinter sich. Er kam mittlerweile in ein Alter, in dem über seine Nachfolge getuschelt wurde, wenn das Gesinde sich unbeobachtet fühlte. Natürlich kam der Bojar aus einer weit verzweigten Familie und irgend ein entfernter Vetter oder Onkel würde vermutlich das Erbe antreten, aber solche Erbfolgen boten immer die Möglichkeit für Streitigkeiten und Konflikt, wenn sich jemand übergangen fühlte. Solche Konflikte wurden oft auf dem Rücken der Dienerschaft ausgetragen. So kam es, dass viele unter den Bediensteten des Bojaren hofften, dass es ihrem Herrn doch noch gelingen würde, einen Erben in die Welt zu setzen.
Das Problem daran war jedoch die Abwesenheit der Gemahlin. Die Ehe war politischer Natur gewesen und es herrschte keinerlei Liebe zwischen dem Bojaren und seiner Gattin. Und hier kam Vanara ins Spiel. Vielen Dienern waren die engen Bande aufgefallen, die sie mit dem Herrn verbanden. Sollte Vanara schwanger werden, wäre die Erbfolge von viel weniger Risiken geprägt. Selbst ein Bastard konnte legitimiert werden, das Recht dazu besaßen die fünf Fürsten Rhûns bereits seit Jahrzehnten. Vanara war allerdings auch zu Ohren gekommen, dass einige der Höflinge des Bojaren sogar noch einen Schritt weiter zu gehen planten. Schon hatten sie damit begonnen, ihrem Meister ihre Idee schmackhaft zu machen: Er sollte seine Ehefrau verstoßen, sich scheiden lassen und seine Lieblingskonkubine zu ihrem Ersatz machen. Damit würde er sich von dem Stigma befreien, bei offiziellen Auftritten ohne eine Frau an seiner Seite erscheinen zu müssen. Eine attraktive und kooperative Ehefrau präsentieren zu können, würde eine enormen Zuwachs an Prestige für den Bojaren bedeuten.

Vanara wollte natürlich weder schwanger noch Bojarenfrau werden. Beides würde sie viel zu sehr an diesen Ort binden, dem sie am liebsten schon vor Wochen entflohen wäre. Ihr wurde klar, dass die Zeit gegen sie arbeite. Schon bald würden die Höflinge ihren Willen bekommen und der Bojar würde Vanara zwingen, ihn zu heiraten. Dann wären ihr endgültig die Hände gebunden. Natürlich könnte sie sich seiner entledigen, aber der Mordverdacht würde automatisch sofort auf Vanara fallen - eine Sklavin, die sich den Reichtum ihres Herrn und dessen Einfluss sichern wollte, so musste es ohne Zweifel nach außen hin aussehen. Und falls sie wirklich schwanger werden würde... wäre sie in keinerlei Verfassung, lange Reisen zu unternehmen, das wusste sie. Nein - sie konnte es sich nicht erlauben, es so weit kommen zu lassen. Vanara musste Tiana zur Rede stellen und dann aus Draganhrod verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Sie besaß mittlerweile ein eigenes kleines Zimmer, unweit der Räumlichkeiten ihres Meisters. Dort saß Vanara, kämmte sich die zerzausten Haare glatt und starrte nachdenklich auf die Dächer der Stadt hinaus, die sich außerhalb ihres Fensters im fahlen Sonnenlicht spiegelten. Auf den Straßen war viel los, dem Getöse nach. Bald schon fand Vanara den Grund dafür heraus, als einer der Anwesenswächter - wie immer unangekündigt - in ihr Gemach platzte.
"Der Herr erwartet dich," stellte der Krieger barsch klar.
Vanara wusste genau, dass sie den Bojaren nicht warten lassen durfte. Seine Wutanfälle waren ihr nur allzu gut bekannt. Sie ließ die Bürste beinahe fallen und warf sich einen purpurnen Umhang um, den ihr Meister ihr geschenkt hatte. Einige kurze Augenblicke später stand sie vor der Türschwelle des Hausherren, der ungeduldig auf dem Gang auf und ab ging, wie ein fettleibiger Tiger, der auf die nächste Mahlzeit wartet.
"Da bist du ja," herrschte er sie an. "Wo hast du so lange gesteckt?"
"Verzeiht, Herr," sagte sie mit gespielter Unterwürfigkeit. Sie war klug genug, keine Ausrede vorzubringen, er würde ohnehin keine gelten lassen. "Wäre der Wachmann schneller zu mir gekommen, hätte ich früher hier sein können," fügte sie hinzu.
Der Bojar knurrte, dann ließ er den Atem rasselnd aus der Lunge ziehen. "Wir müssen los," sagte er und packte Vanara am Oberarm. "Ich darf die Verhandlung nicht verpassen!"

Wenige Moment später saßen sie zu zweit in der großen Sänfte des Bojaren, getragen von zwölf kräftigen Sklaven und eskortiert von einem bis an die Zähne bewaffneten Trupp Soldaten, die ihnen den Weg durch die vollgestopften Straßen frei machten. Die dicken Vorhänge der Sänfte sorgten dafür, dass es warm in dem schaukelnden Gefährt war, hinderten Vanara allerdings auch daran, viel von den Vorgängen draußen beobachten zu können. Der Bojar erklärte ihr beiläufig, dass Fürst Vakrim Recht über zwei Sklaven sprechen würde, die einen anderen Bojaren angegriffen und verletzt hatten - eine Angelegenheit, die der eitle Adel Govedalends natürlich nicht hinnehmen konnte. Die Angelegenheit würde in ermüdender Genauigkeit bis ins kleinste Detail ausgeschlachtet werden und alle möglichen Würdenträger würden vor Ort sein, um ihre Wichtigkeit zu unterstreichen - das galt natürlich ins Besondere für den frisch ernannten fürstlichen Mundschenk, der einen Platz in der Nähe seines Fürsten erhalten würde.
Vanara verstand allerdings nicht, weshalb der Bojar darauf bestand, sie mitzunehmen. Dies war kein Bankett und auch kein Ball, ebensowenig eine andere höfische Festlichkeit, bei der man seine Ehefrau vorzeigen konnte. Rechtsprechung war eine Angelegenheit der Männer. Frauen nahmen dort nur selten teil - meistens in der Rolle der Angeklagten. Umso mehr wunderte Vanara sich, dass sie nun hier war. Nachfragen konnte sie nicht - das würde nur einen Wutanfall provozieren. Ihr blieb nichts anderes übrig als abzuwarten.

"Du bleibst hier," sagte der Bojar, als sie ihr Ziel erreicht hatten. Die Sänfte hielt an und Vanaras Meister stieg mühsam aus. Ehe er davon ging, blieb er noch einmal stehen. "Ich erwarte dass der Fürst die Verurteilung mit einem Gelage feiern wird," schärfte der Bojar ihr ein. "Alle wichtigen Würdenträger werden dort sein. Ich erwarte, dass du mich offiziell begleitest." Damit drehte er sich um und verschwand inmitten der Soldaten, die ihn zu seinem Platz an Fürst Vakrims Seite eskortierten.
Vanara ließ sich in die weichen Kissen sinken. Die gute Nachricht war, dass sie nun endlich in den Palast gelangen würde. Die schlechte? Sie tat es ganz offensichtlich als designierte Ehefrau des Bojaren...

Vanara seufzte und fragte sich nicht zum letzten Mal, was Tiana wohl an ihrer Stelle getan hätte.
« Letzte Änderung: 11. Jan 2022, 17:16 von Fine »
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Curanthor

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Ein langweiliges Fest
« Antwort #13 am: 15. Jan 2022, 17:17 »
Die Ruhepause tat gut, auch wenn Dragan sich noch nicht traute die Maske abzunehmen. Wirklich entspannen konnte er sich auf dem weichen Bett aber nicht. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Ihn besorgte der große Einfluss des Tempels und Mórvals. Der Hohepriester war ohne Zweifel einer seiner gefährlichsten Widersacher, doch auch Dragans Großvater war nicht harmlos. Mórvals Pläne und Handlungen waren aber bedenklicher und hatten Dragan und Danica fast das Leben gekostet. Er war sich sicher, dass die beiden Doppelgänger von ihnen – wie vom Hohepriester angekündigt, getötet oder verschwinden würden. Dragan fragte sich kurz, ob die Weißen Streiter das zulassen würden, beruhigte sich aber mit dem Gedanken, dass das sicherlich zu ihren Plänen gehörte, was auch immer sie vorhatten. Würden sie aber auch Unschuldige für ihre Pläne opfern? Dragan setzte sich auf. Wahrscheinlich nicht, aber er konnte nicht einfach still herumsitzen und darauf warten, dass etwas geschah. Mórval hatte vorhin etwas von einer Besprechung gesagt, rief er sich wieder ins Gedächtnis. Dragan erhob sich vom Bett und durchquerte das geräumige Zimmer. Er kannte jeden Winkel in dem Fürstensitz. Das große Anwesen war in vier Bereiche unterteilt. Im südlichen Teil befand sich das alte Herrenhaus mit der vorgelagerten, großen Eingangshalle und Empfangsraum, in dem der Fürst für das gemeine Volk Hof hielt. Hier waren die meisten bessergestellten Bediensteten und Gästezimmer untergebracht, aber auch ein paar Besprechungsräume. Dragan wusste aber, dass man vertrauliche Gespräche lieber in dem Ostflügel führte, wo auch eine große Festhalle angesiedelt war und nur sehr wenige Gästezimmer, dafür mehr Lagerräume. Hier war auch ein spezieller Raum, der normalerweise stets verschlossen war. Zumindest für die meisten. Er grinste in sich hinein.
Dragan durchsuchte die vier Schränke an der Wand gegenüber dem Bett, die bis auf zwei leer waren. In einem lag eine schmucklose Maske des Tempels. Sie war aus Eisen gefertigt und hatte keine besonderen Merkmale, das Metall war durch das Alter schon stumpf. Wenn er sich richtig erinnerte, trugen die einfachsten Initianten, also die einfachen Fußsoldaten des Tempels solche Masken. Rasch nahm er sie aus dem Schrank und warf sie auf sein Bett. Im letzten Schrank fand er ein Dutzend Kleidungsstücke. Tuniken, Überwürfe, zwei Wamse, eine Lederweste und mehrere Hosen aus verschiedenen Stoffen, sowie verschiedene Stiefel und Schuhe. Ein weiter Kapuzenmantel fiel ihm beim Wühlen vor die Füße. Dragan hob ihn auf und entdecke eine Tempelrobe darin eingewickelt. Sie war etwas abgewetzt und aus billigeren Leder gefertigt als jene, die er gerade trug, auch die typisch rote Seide als Innenstoff war nur rot gefärbtes Leinen. Ihm kam eine Idee. Dragan hob sie auf und schloss die Schränke. Rasch wechselte er die Robe und die Maske. Jetzt war er einfach ein namenloses Mitglied des Tempels. Er rümpfte kurz die Nase, da die Robe schon wohl länger im Schrank versteckt gewesen war. Sie roch nach muffigen Leder, getrocknetem Schweiß und zu lange getragener Kleidung. Wenigstens war die Maske sauberer, auch wenn die Sehschlitze noch mickriger waren als bei der von Ástrebor. Er würde sie nur anziehen, wenn es nötig war.
 
Dragan schlüpfte aus seinem Zimmer und blickte sich um, doch der Flur war leer. Dann wollen wir mal sehen, was du so zu besprechen hast, Menschenschinder, dachte er sich und machte sich auf den Weg in den Westflügel. Dabei vermied er es gesehen zu werden, drückte sich in Schatten, schlich einmal über ein kurzes Vordach, um ein paar Wachen auszuweichen und durchquerte den großen Innenhof, in dem er früher als Kind oft gespielt hatte. Hier konnte er nicht auffallen, also ging er ganz gemütlich an den Brunnen und dem Teich vorbei, der den Hof dominierte. Einige Hofdamen saßen auf dem Rande des Brunnens und unterhielten sich aufgeregt. Einige Diener brachten ihnen hin und wieder Erfrischungen. Sie mieden es Dragan anzublicken. Sobald er unter den Vorbau des Westflügels trat, beschleunigte er seine Schritte. Doch Dragan ging nicht nach links zum großen Eingang des Flügels, sondern nach rechts, zu den Lagerräumen. Die übrigen Bewohner mieden diesen Teil des Westflügels. Hier war nur das arbeitssame Volk. Man räumte die Vorräte ein, die ständig über eine große Rampe aus der Stadt über einen Hintereingang gebracht wurden. Hier befanden sich auch die einfachen Werkstätten in einer großen Scheune, die gegenüber dem Westflügel gebaut worden war. Hier befand sich alles, was ein kleines Dorf benötigte, neben Stallungen mitsamt Hufschmied ein Schuhmacher, Rädermacher, Bäcker, Schneider und alles weitere für den täglichen Bedarf. Einige der Arbeiter warfen ihn verwunderte Blicke zu, die meisten ignorierten ihn aber und gingen ihren Aufgaben nach. Dragan konnte einige Wortfetzen verstehen. Die meisten beschwerten sich, dass Vakrim wieder einmal ein Fest gab und sie dadurch noch mehr schuften mussten. Ein Dutzend Träger, die Weinfässer in die Lagerräume rollten drängten sich an ihn vorbei. Dragan folgte ihnen. Wenn es ein Fest gab, konnte er sich unbemerkt umsehen. Die Lagerräume im Westflügel weckten Erinnerungen. Sie lagen etwas tiefer als der übrige Flügel, der Boden bestand aus massivem Stein, sodass man auch mit Karren hineinfahren konnte. Die doppelfügeligen Tore zu den einzelnen Räumen standen meist offen. Er schmunzelte hinter seiner Maske, als er sich erinnerte, dass er sich hier gern vor seiner Mutter versteckt hatte. Oft auf den alten Heuböden, die nur durch eine Leiter zu erreichen war. Sein Tutor hatte ihn damals immer ermahn, da es gefährlich war, doch seine Mutter hatte seine Kletterkunst stets bewundert und ihn heimlich ermuntern – nicht ohne zu betonten, vorsichtig zu sein.
 
Dragan stolperte gegen die Treppen, die weg von den Lagerräumen, in den übrigen Westflügel führten. Das Tor oben an der Treppe war unverschlossen und stand weit offen. Ein Wachmann drehte sich um, alarmiert von dem Geräusch des Stolperns. Dragan fluchte leise, doch durch die Maske war es nur ein Zischen. Der Wächter musterte ihn scharf. Er trug keine Hellebarde, sondern nur ein Schwert am Gürtel. Dragan war unbewaffnet. Langsam erstieg er die Stufen, doch der Wächter wandte ihn wieder den Rücken zu. Offenbar konnte der Tempel tatsächlich hier ein- und ausgehen wie ihm beliebte. Der Wächter informierte ihn im Vorbeigehen, dass Mórval in der Festhalle bei den anderen Gästen war. Dragan nickte knapp zu dank. Er spürte den Blick des Mannes in seinem Rücken. Ihm war klar, dass der er ihn anhalten würde, wenn er jetzt einen anderen Weg nehmen würde, also bog Dragan nach links auf den breiten Korridor, der zu der Festhalle führte. Hier waren keine Wachen, doch am Ende des Ganges stand eine kleine Gruppe von gut gekleideten Menschen. Offenbar Gäste Castavs. Sie blickten den Gang hinab, erblickten ihn und gingen nach links. Dragan hörte ihre Stimmen, auch wenn er sie nicht verstand, gaben sie sich keine Mühe leise zu sein. Die Festhalle lag an der Kreuzung vor ihm ebenfalls links den Gang hinab. Dragan hatte aber kein Interesse, von noch mehr Menschen gesehen zu werden. Er wurde langsamer und lauschte auf das Stimmgewirr der kleinen Gruppe, die nur aus seinem Blickfeld verschwunden war und an der Ecke offenbar weitersprach. Unterschwellig war auch das Lärmen und Murmeln aus der Festhalle zu hören, begleitet vom Klang von Lautenschlägen. Dragan zählte die unscheinbaren Türen, die Fackelhalter hingen unverändert an der Wand. Bis auf zwei waren alle der zwölf Fackeln erleuchtet. Er blieb an der siebten Fackel stehen und wartete kurz. Die Holztäfelung wirkte unscheinbar für das ungeübte Auge, doch er wusste, was sich dahinter befand. Rasch drehte der den Fackelhalter und drückte auf eine gesplitterte Leiste in der Vertäfelung. Es klickte leise. Dragan grinste breit. Selbst durch Zufall konnte man diesen Eingang nicht finden. Nur er und der aktuelle Hofmeister wussten davon. Früher wurden diese Gänge genutzt, um ungesehen an die tragende Struktur, wie die dicken Eichenstämme, die Stützwände und die Fundamente zu gelangen. Die Spinnenweben im inneren des engen Ganges zeigten aber, dass schon lange niemand hier war. Er erinnerte sich, dass der Hofmeister jene, die hier Reparaturen betrieben danach verschwinden ließ, damit das Geheimnis auch eines blieb. Dragan hatte nur so viel Platz, wie seine Schultern breit waren. Also ging er seitlich. Licht gab es kaum welches, hin und wieder fielen breite Strahlen von den Seiten oder es fiel wie Lichtspeere von oben herab. Niemand kannte die Doppelwände und wusste wo die Gänge verliefen. Von außen war das Anwesen ziemlich verwinkelt. Dragan kannte sich aber im Herzen des Fürstensitzes besser aus als sonst jemand, da er sich hier oft vor seinem Vater versteckt hatte. Er schlängelte sich durch die Gänge, quetschte sich an einen durchgebogenen Stützstamm vorbei und kletterte an der Verstrebung der großen Wandvertäfelung zur Festhalle empor. Dumpf drang das Lachen, unablässiges Gemurmel und der Klang von Lautenschlagen an sein Ohr. Endlich fand er sein altes Versteck. Drei Bretter quer über die Verstrebung gelegt, eine morsche Decke darauf. Er grinste. Früher hatte er hier hoch oben gesessen und das Treiben in der Festhalle beobachtet, wenn ihm sein Vater verboten hatte dabei zu sein. Was er alles hier gesehen hatte, würde er nie vergessen. Lustige Dinge, wie den Hofnarren, der sich lächerlich machte; Spannendes, wie das Duell von Gunnar Jornson, dem Vater seines Freundes Ulf von den Sonnenhügeln gegen einen Kerl, der dessen Ehre beleidigt hatte. Leider konnte sich Dragan nicht mehr an den Namen erinnern, doch Ulfs Vater hatte gewonnen. Damals war er neun gewesen und hatte das erste Mal Blut gesehen. Dragan schüttelte den Kopf, um nicht noch weiter in Erinnerungen zu schwelgen. Er packte das Rundholz, das Teil von der Dachkonstruktion war und zog sich auf die Bretter. Sie knirschten leise, doch waren sie zum Glück nicht morsch. Er zog die zwei hölzernen Stifte heraus und hielt dabei das Brett der Vertäfelung fest. Es ging schwerer als früher. Mit einem kleinem Rück löste sich der Letzte und Dragan zog vorsichtig das Brett nach oben. Es klappte. Ein Schwall von warmer Luft, getränkt von Bratenduft, Pfeifenrauch und Alkohol stieg ihm entgegen. Er schnaubte kurz und zog seine Maske ab. Endlich konnte er genauer hinabblicken. Die Festgesellschaft hatte sich gut in der Halle verteilt. Dragan erkannte Vakrim sofort an einer pompösen, roten Kopfbedeckung und einem schwer gerüsteten Mann in seiner Nähe. Der Anführer der Leibwache, ein ehemaliger General der Armee Rhûns – wie er bei den Lagerarbeitern aufgeschnappt hatte. Dragan sah sich die Gäste genauer an. Ulf Gunnarson stand in der Nähe der Festtafel, ein Glas Wein in der Hand und sprach mit einer Frau mit langen blonden Haaren, die einen Schleier vor dem Gesicht trug. Er wirkte so, als ob er nicht dort sein wollte und nur duch die Verpflichtung als Vasall anwesend war. Dragan schmunzelte und wünschte sich, mit seinem alten Freund noch einmal sprechen zu können. Sein Blick wanderte stattdessen wie der eines Raubvogels umher. Die Hälfte der Gäste waren Speichellecker Vakrims, die unablässig in seine Richtung wanderten, um sich mit ihm gut zu stellen. Sein Großvater Drazan stach wie ein Berg aus der Masse hervor. Er hatte einen großen Becher in der Hand und lachte hin und wieder schallend. In seiner anderen Hand befand sich eine große Hähnchenkeule. Drazan biss davon hin und wieder herzlich ab, während er sich mit einem grobschlächtigen Mann unterhielt, zweifelsohne ein Vertrauter aus Remedà. Niemand traute sich in die Nähe der beiden, doch nicht nur bei ihnen war das so. Zwei einsame Gestalten am Rand des Geschehens erregten Dragans Aufmerksamkeit. Hohepriester Mórval, war sofort an der goldenen Maske zu erkennen. Er lungerte am Rand des Banketts herum, während seine Finger ungeduldig um seinen goldenen Priesterstab trommelten. Die zweite Gestalt an der anderen Seite der Halle ließ Dragan etwas weiter zurück in sein Versteck rutschen. Es war die hochgewachsene Schwertfuchtlerin mit silberweißem Haar. Zwei spitze Ohren stachen durch die lange, seidenglatte Haarpracht hindurch. Sie schien den Festsaal unablässig abzusuchen. Auch jetzt war sie voll bewaffnet und in ihrem fein gearbeiteten Brustpanzer gehüllt. Ein mitternachtsblauer Mantel aus kostbarstem Stoff wallte von ihren Schultern hinab und endete ganz knapp über dem Boden. Offenbar war sie die Erklärung, warum Vakrim Castav mit so wenigen Leibwachen am Bankett erschienen war. Dragan seufzte und bereute es, dass er keine Wurfmesser dabei hatte. Er schätzte die Entfernung auf vielleicht dreißig Schritt. Selbst die ‚spitzohrige Dämonin‘ würde Vakrim nicht rechtzeitig zur Hilfe eilen können. Er beschränkte sich darauf zu beobachten.

 Es war langweilig. Dragan blendete alles soweit aus, doch nicht Wichtiges tat sich. Hin und wieder lief Tiana in der Halle umher. Und ‚Fürst‘ Castav hatte einen neuen Mundschenk. Ein fetter Kerl, offenbar ein Bojar, der von den hochrangingen Adligen etwas belächelt wurde. Er war in der Begleitung einer sehr hübschen Frau gekommen, die offenbar Tiana nicht leiden konnte. Immer wenn sie Vakrim etwas zu essen, oder trinken brachte, das dann an den Mundschenk weitergegeben wurde, wandte sie sich ab oder tat so, als ob sie nicht im Raum wäre. Dragan seufzte leise. Genau deswegen hatte er sich nie für solche Feste interessiert. Kleinliche Fehden und belangloses Geschwätz. Dann wurde es plötzlich interessant. Ulf Gunnarson geriet mit dem fetten Mundschenk aneinander. Sein Kindheitsfreund war unverkennbar mit seinem feuerroten Bart. Dragan konnte nicht verstehen worum es ging, doch Ulf baute sich vor dem Bojar bedrohlich auf und ließ die Muskeln spielen. Ulf war offenbar Veteran der Feldzüge im Westen, denn er trug ein zwergisches Schwert am Gürtel, zog es jedoch nicht. Es gab einige Gäste, die Waffen trugen, doch waren blanke Klingen streng verboten, sie dienten nur als Statussymbol. Dragan wünschte sich für einen kurzen Moment dort hinunter zugehen, doch der Anführer der Leibwache ging dazwischen. Er blinzelte. Vakrim war verschwunden. Rasch schaute er nach Mórval, doch der Hohepriester lehnte nicht mehr an der dicken Holzsäule. Und auch Drazan Blutfinger war nicht im Saal, ebenso wenig wie die silberhaarige Schattenelbe. Dragan fluchte und verschloss eilig sein Guckloch. Er griff sich die Maske, band sie an seinen Gürtel und kletterte hinab. Zweimal rutschte er von der Verstrebung, da ihn die Robe behinderte, doch seine Klettererfahrung bewahrte ihn vor einem Absturz. Mit schmerzenden Fingern landete er wieder in dem engen Gang. Er wusste ganz genau, wo er hin musste.

Curanthor

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Eine geheime Besprechung und Verrat
« Antwort #14 am: 18. Jan 2022, 23:33 »

Auf dem Boden der geheimen Gänge angekommen blies Dragan sich kurz über die schmerzenden Fingerkuppen. Zum Glück hatte er ein gutes Gedächtnis und hatte sich aus seiner Kindheit erinnert, wo die ganzen Nägel aus Brettern der Verstrebung hervorstachen. Seine Robe schien aber zweimal gerissen zu sein, zumindest hatte er das Reißen des Stoffs vernommen. Es war aber zu dunkel, um das nachzuprüfen. Und er hatte keine Zeit. Seine Gedanken flossen kurz zurück zu dem Saal, den er beobachtet hatte. Wann warren sie verschwunden? War er zu nachlässig geworden? Er vermutete, dass Castav, Drazan, Mórval und die Schattenelbe die Festhalle verlassen hatten, als Ulf an den Bojar geraten war. Dragan quetschte sich an einer Stütze vorbei, die von einem Metallband stabilisiert wurde und offenbar dazu diente, die zweite Etage zu tragen. Kurz verharrte er an dem alten Holz und schloss die Augen. Die Begleitung des Bojaren schwirrte ihm durch die Gedanken. Er hatte zuvor versucht nicht darauf zu achten, denn um Tiana wollte er sich nicht den Kopf zerbrechen, die ständig in der Nähe gewesen war. Je mehr er sie sich in Erinnerung rief, umso bekannter erschien sie ihm. Die nachtschwarzen Haare, die zu einer kunstvollen Frisur hochsteckt waren, sah man nicht oft in Govedalend, doch auch die Art, wie sie sich bewegte passte zu ihr. Dragan öffnete die Augen und schüttelte die aufkommende Verwunderung ab. Er kannte sie nur wenige Wochen und auch nur dadurch, dass sie die Seiten gewechselt hatte. Mit einem leisen Schnauben verschob er weiteres Grübeln und hastete durch die engen Gänge. Er hatte wichtigeres zu tun! Dragan erinnerte sich an den verbotenen Raum, den sein Vater vor langer Zeit hatte bauen lassen. Es war einst nur ein mickriger Hinterhof gewesen, doch sein Vater hatte durch seine paranoiden Tendenzen dort einen Besprechungsraum gebaut, in dem nichts und niemand lauschen konnten. Es war ein Haus in einem Haus. Wahrscheinlich war der Besprechungsraum fast genauso gesichert wie die geheimen Gewölbe, für die er und Danica die Schlüssel besorgen wollten. Sobald einmal die Türen geschlossen waren, war es fast unmöglich von außen einzudringen. Dragan grinste in sich hinein. Natürlich nicht, wenn man um die geheimen Gänge wusste. Er bog um eine besonders enge Ecke. Hier befanden sich Gästezimmer, das wusste er ohne sich zu orientieren. Früher hatte er oft seinen Vater in dem verbotenen Zimmer belauscht, wie sonst hätte er den einfachen Bauern helfen können? Er versuchte die Zimmerwände nicht unnötig zu berühren. Ein regelmäßiges Pochen ließ ihn kurz innehalten. Rasch tastete er nach der Maske an seinem Gürtel. Sie war es nicht gewesen. Dragan spitzte die Ohren und grinste kurz danach anzüglich in sich hinein. Offenbar ging es in dem Gästezimmer heiß her – wie zu erwarten, nach einem großen Fest. Mit vorsichtiger Eile ließ er die Gästezimmer hinter sich und gelangte an die Stelle, die er am meisten hasste. Und die ihm auch am meisten Kopfschmerzen bereitete: der zwei Fuß breite Gang endete in einem kleinen Kriechkeller, der unter einem kleinen Lagerraum lag. Dahinter befand sich der verbotene Besprechungsraum. Als er noch Jugendlicher war, hatte er keine Probleme gehabt. Dragan überlegte kurz, beließ die schäbige Robe aber an. Es war keine Zeit. Er ging auf die Knie und streckte die Arme in den zwei Fuß hohen Eingang. Spinnenweben begrüßten ihn. Kurz wedelte er sie fort, dann schob er sich hinein. Es war stockfinster. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern und hoffte dabei, dass niemand hier unten etwas verändert hatte. Zehn Fuß nach vorn robben, vier Fuß nach links. Dragan verschnaufte beklemmt. Sein Atem hallte von der niedrigen Decke unnatürlich wieder. Es roch nach Staub und trockener Erde. Etwas krabbelte über seine Hand. Hastig schüttelte er sie und tastete nach vorn. Kurz kam Panik in ihm hoch, als er das Rundholz nicht zu packen bekam. Es war der einzige Orientierungspunkt in der Mitte des Raumes. Dann streifte seine Hand etwas Raues. Er atmete erleichtert aus und packte die Stütze und zog sich mit aller Kraft daran nach vorn. Sein Kopf prallte gegen etwas Hartes. Dragan fluchte und tastete danach. Er hatte vergessen, dass er damals noch kleiner gewesen war. Er drückte seine Wange auf den staubigen, felsigen Boden. Vorsichtig versuchte er es erneut. Licht fiel in sein Gesicht. Der Dreck rieb unangenehm über sein Gesicht, doch er passte noch unter die Wand. Mühsam zwängte er sich unter die Fundamentstütze. Ein winziger Fehler der Baumeister, der unentdeckt blieb und nur Dragan durch seine vielen Streifzüge entdeckt hatte. Er befand sich genau in der Doppelwand des verbotenen Raumes, die an die schwere Steinwand des Lagerraumes gebaut wurde. Durch die doppelte Wand konnten die Gespräche nicht nach draußen gelangen, wenn nicht geraden aus vollem Hals brüllte. Zudem war der Innenraum von Kissen, Decken und Wandteppichen bedeckt, was den Hall noch zusätzlich dämpfte.
 Dragan richtete sich auf und tastete sich über seine rechte Wange. Sie war etwas aufgeschürfte und pochte nur ein wenig. Stimmengemurmel drang an sein Ohr. Dragan atmete erleichtert auf und tastete sich nach rechts. Es war fast finster, durch die Dachschindeln drangen jedoch zwei Spalten Licht. Die Doppelwand war zwei Ellen breit, mehr als die eher engen Gänge. Er war noch nie in dem Raum selbst gewesen, hatte aber hin und wieder einen Blick durch die offenen Türen werfen können, wenn sein Vater darin mit Gästen verschwand. Er ging auf die Knie und tastete nach dem Astloch. Sein Fingernagel stieß gegen einen kleinen Vorsprung im Holz. Er grinste. Vorsichtig und stetig zog er daran. Dann war das Astloch frei. Dragan beruhigte seinen Atem, fokussierte sich und zwang seinen Herzschlag leiser zu werden. Seine Sinne schärften sich. Dann legte er die linke Wange an die Wand, sodass er mit dem linken Auge in den Raum blicke konnte. Was er sah, bestätigte seinen Verdacht. Der Besprechungsraum war vielleicht fünf mal fünf Schritte groß, an jeder Wand standen gemütliche Sitzbänke mit flauschigen Sitzkissen und großen, sechseckigen Kissen in Seidenbezügen.
 Dragan blickte genau auf die Bank, auf der Drazan breitbeinig saß, links neben der Bank stand ein teurer Stuhl aus Wurzelholz, auf dem die Schattenelbe Platz genommen hatte und mit geschlossenen Augen aufrecht da saß. Auch hier trug sie ihr edles Schwert an der Seite. Dragan musste etwas schielen, um auf der Stirnseite des Raumes Vakrim Castav zu erkennen, der an einem goldenen Weinpokal nippe. Mórval war nicht zu sehen, doch der Hohepriester sprach gerade davon, dass die beiden Verhüllten ihm überstellt werden sollten.
Vakrim Castav grinste überheblich, als der den Pokal absetzte. „Wisst Ihr überhaupt, was Ihr da verlangt?“
 „Das weiß ich“, erwiderte Mórval eisig.
Dragan sah, wie Vakrims dem Hohepriester einen giftigen Seitenblick zuwarf. Eine kurze Pause trat ein. Er vermutete, dass Mórval an der Wand saß, von der Dragan aus in den Raum spähte.
 „Allerdings interessiert es mich“, hob der Hohepriester gedehnt an, „Warum diese Fremde selbst in dieser geheimen Besprechung anwesend ist.“
Drazan brummte zustimmend, die mächtigen Arme noch immer vor der Brust verschränkt, sein Blick auf den Tisch in der Mitte gerichtet, auf dem einige kleine Stärkungen aufgebracht waren. Die Angesprochene reagierte nicht, doch ihre ruhige Ausstrahlung hatte noch immer einen Hauch von tödlicher Gefahr. Vakrim erklärte, dass er ein Geschäft mit ihr abgeschlossen habe und damit ihre Verschwiegenheit. „Allerdings…“, begann der Fürst etwas weniger selbstsicher, „Müssen wir einige Details unserer Abmachung noch einmal durchgehen. Bis das nicht geklärt ist, weicht sie nicht von meiner Seite.“
„Unwichtig“, schnappte Drazan Blutfinger und griff sich eine Hühnerkeule vom Tisch, „Was sollte dieses Narrentheater auf dem Brunnenplatz?“ Seine tiefliegenden Augen stierten zu Mórval, dann zu Vakrim, „Haltet ihr beide mich für einen Greis? Ich lebe schon lange genug, um diese Spielchen zu durchschauen.“ Der Markgraf biss in die Keule. Der Knochen knackte laut, als er einfach darauf herumkaute. Niemand sagte etwas, da wieder eine Ader an seiner Schläfe pulsierte. Drazan kaute ein wenig auf dem Fleisch herum, spuckte es aber dann aus und schnalzte mit der Zunge. Dann neigte er sich etwas nach vorn und ließ die dicken Muskeln an seinen Schultern anschwellen. „Wo ist Dragan?“
Die Frage hallte wie ein Hammerschlag in seinen Ohren wieder. Rasch schluckte er und hielt den Atem an. Dabei schlug sein Herz heftig in seiner Brust.
 „Ihr müsst Euch irren…“, begann Mórval, doch der Blick Drazans machte klar, dass es sein letzter Satz sein könnte, sollte er ihn beenden.
„Mit dir wechsle ich keine verlogenen Wörter. Schweig still, Abschaum.“
„Meine Herren“, versuchte Vakrim zu besänftigten, „Ihr beide vertritt jeweils eine der mächtigsten Fraktionen meines Landes. Bleiben wir zivilisiert.“
„Das Blut der Alten in meinem Adern ist stark, sonst würde ich nicht so lange leben. Damit stehe ich über…normalen Blut und dem übrigen Getier in Mittelerde. Das macht mich zivilisierter als so mancher König oder Fürst.“ Drazan erhob sich. „Und das Hähnchen hier ist scheußlich.“ Er wandte sich an die schweigsame Silberhaarige: „Kommt, holen wir uns etwas Richtiges zu essen.“
Zur allgemeinem Überraschung regte sich die Schattenelbe und nickte knapp. Mit langen Schritten folgte sie dem Markgraf außerhalb von Dragans Sichtfeld. Er hörte dumpf wie mehrere Schlösser und Riegel zurückfuhren. Es waren drei Türen. Erst als alle drei wieder geschlossen waren, kehrte wieder Ruhe ein.
 „Wo ist Dragan?“, verlangte Mórval scharf zu wissen.
Vakrims Gesicht nahm eine deutliche Rötung an. „Was wollt Ihr von ihm?“
  Der Hohepriester schnaubte und sagte, dass sie eine alte Rechnung offen hatten.
„Er ist mein Gefangener“, stellte Vakrims Castav klar, „Ich brauche ihn für eine Vereinbarung.“
 „Welche Vereinbarung?“, knurrte Mórval bedrohlich, „Habt Ihr Euren Pakt mit dem Tempel vergessen? Was wir verlangen, bekommen wir auch.“
Vakrim ließ sich jedoch nicht davon beeindrucken und nippte erneut an seinem Wein. „Nicht diesmal, doch keine Sorge. Wie haben einen gemeinsamen Freund.“
Das schien Mórval zu beruhigen, denn er drängte nicht weiter. Nun war es Vakrim, der fragte, warum die Sache mit Bojar Branko so aus dem Ruder gelaufen war. „Eigentlich war es ausgemacht, Dragan alleine und ohne diese lächerliche Maskerade vor Gericht zu zerren. Ist die Schlangenaxt nur zu so viel nutze?“
Der Hohepriester schnaubte nur und sagte, dass er wohl zu wenig Geld geboten hatte. Es war offensichtlich, dass er den Fürst belog. Dragan erinnerte sich, dass Mórval alles bis zum Auftauchen der Weißen Streiter geplant oder zumindest in die Wege geleitet hatte. Er bekam nicht mit, was als nächstes gesagt wurde.
„Hätten wir Dragan wirklich enthüllt“, sagte Vakrim nun mit geballten Fäusten, „Hätte ich meine Stellung gefestigt und die unzufriedenen Narren, die noch ihm oder dem Wolf nachtrauern endlich den Wind aus den Segeln nehmen können. Doch sie rütteln weiterhin an meinem Thron. Habt Ihr nicht noch mehr Nachfahren des Wolfes aufspüren können? Seine und ihre Linie muss verlöschen.“
 Mórval gab ein untypisches, amüsiertes Glucksen von sich. „Was wollt Ihr mit wertlosen Bastarden? Der Wolf ist nicht untätig und seine Fänge sind noch immer messerscharf, vergesst das nicht“, gab er zu bedenken, „Und Ihr vergesst Drazan Blutfinger, selbst der Tempel kann ihn nicht kontrollieren.“
„Ich vergesse ihn nicht“, berichtigte Vakrim und nahm sich eine Traube vom Teller, „Sein Auftauchen ist unerwartet, aber nicht vollkommend überraschend. Ich bin vorbereitet.“
 Mórval schien zu nicken, denn sie verfielen in Schweigen, bis erneut die Schlösser und Riegel der Türen zu hören waren. Der Hohepriester erhob sich und erklärte, dass sie ein anderes Mal ihre Angelegenheiten besprechen würden. Er ging einmal durch Dragans Blickfeld und wurde durch Drazan und der Schattenelbe verdrängt, die gerade den Raum betraten. Sein Großvater wirkte zufrieden und ließ sich wieder in die Sitzkissen fallen, sodass das Holz etwas knirschte. Die Silberhaarige nahm wieder auf ihren Stuhl in Beschlag und nippte an einem Glas Wein. Offenbar schmeckte es ihr nicht, denn ein Mundwinkel zuckte. Ihre Türkis schimmernden Augen huschten sofort zur Tür. Schritte ertönten.

 „Du!“, rief Vakrim Castan laut und erhob sich halb“, Wie kommst du hier herein?!“
Dann antwortete eine Stimme, die Dragan den Boden unter den Füßen wegzog: „Was glaubt du Narr, wer diesen Raum gebaut hat?“
 Ein dröhnendes Lachen Drazans erfüllte den Raum: „Ich habe mich schon gewundert, wo du steckst.“
Dragan ballte wütend die Fäuste. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals, während es sich anfühlte, als ob die Zeit stehen geblieben war. Dragan wandte den Blick ab, während ihm Tränen der Wut über die Wangen rannen. Es fühlte sich genauso an, als er ihm Cheydan weggenommen hatte. Sein Innerstes krampfte sich zusammen vor Zorn. Seine Fingernägel gruben sich in seine Handinnenflächen.
„Hallo Vater“, sagte Ivailo abwertend, „Enttäuscht, dass ich noch lebe?“
„Milde überrascht“, erwiderte der Markgraf kühl, „Deine Geschwister haben sich bisher klüger angestellt, manche Kämpfen in großen Kriegen für Ruhm und Ehre.“
Ivailo gab ein leises Zischen von sich und eine eisige Stille trat ein.
Vakrim schien sich inzwischen wieder beruhigt zu haben, denn er erhob nun seine Stimme: „Ich dachte, dass wir abgesprochen haben, dass wir uns immer nur außerhalb der Stadt treffen.“
„Das haben wir“, erwiderte sein Vater kühl, „Aber ich bin meinem nutzlosen Sohn gefolgt.“ Ivailo lachte leise, „Der Narr läuft noch immer oder schon wieder einer Frau hinterher.“
Dragan musste an sich halten, um nicht durch die Wand zu steigen. Er zwang sich mit aller Macht dazu, ruhig zu bleiben. Es ging nicht nur um seine Gefühle und darum, dass er wieder verraten worden war. Seine neuen Freunde waren noch immer in Gefahr. Und Cheydan. Zitternd atmete er tief ein und aus, dann blickte wieder in den Raum.
Drazan saß wieder an seinem Platz und Ivailo hatte offenbar Mórvals Sitz eingenommen. Sein Großvater wirkte entgegen seiner Tonlage zufrieden: „Also hast du endlich angefangen die Blutlinie zu säubern? Das wurde auch Zeit. Ich habe dir schon vor Jahren gesagt, dass Kalena ein Fehler war.“
„Das weiß ich auch“, zischte Ivailo, „Was meinst du, warum sie nicht mehr lebt.“
Noch ein Hammerschlag, der in Dragan widerhallte. Sein Gehirn konnte gar nicht verarbeiten, was er da hörte. Es spürte einfach nichts mehr. Nur eine innere Leere, die alle Emotionen auffraß. Rasende Wut, Hass und Trauer, bis nichts mehr da war. Betäubt verfolgte er weiter, was geschah.
„Und was ist mir ihren Kindern? Dragan ist hier irgendwo in der Stadt“, hakte Drazan bedrohlich nach, „Willst du ihn etwa auch davonkommen lassen, so wie Idania?“
Ivailo gab ein seltsames Geräusch von sich, eine Mischung aus Nase hochziehen und Grunzen. „Eine Tochter, die ich nie zu Gesicht bekommen habe? Nein, sie habe ich zwar am Hof des Jadethrons belassen, als Ehrung von Kalenas letzten Willen, aber vor einige Monaten habe ich sie zurückbringen lassen.“
„Ehrenlos“, murmelte die Schattenelbe plötzlich. Ihre türkisenen Augen blitzen auf und schienen von ihnen heraus zu leuchten, „Menschen sind und bleiben Abschaum.“
„Manchmal muss man die faulen Zweige abschneiden“, erwiderte Drazan mit teilnahmslosem Blick, „Um den Rest des Baumes zu retten.“
Ivailo überging die Einwürfe und sagte: „Sie liegt irgendwo im Schlamm unter einer Brücke. Nicht wahr, Frau Rámalin?“
Die Schattenelbe nickte knapp. „Sie und die gesamte Karawane, die aus Minzhu kam. Ich habe alle meine Krieger in den Kampf geführt. Ich habe ihre Leiche gefunden und den Tod festgestellt.“
„Seid Ihr des Wahnsinns?!“, platzte es aus Vakrim heraus, der bisher nur aufmerksam zugehört hatte, „Ihr führt einen Angriff gegen Bürger des Jadethron? Eure Söldner sind zehntausend Mann stark, das wird sich Minzhu nicht bieten lassen!“ Der Fürst wirkte bleich und betupfte sich mit einem Tuch die Stirn, „Sie können das fünffache in die Schlacht führen… Ich muss das sofort König Goran berichten.“
Drazan schob seinen mächtigen Arm vor und hinderte Vakrim Castav daran aufzustehen, während Rámalin ich Schwert einen Fingerbreit aus der Scheide gezogen hatte. „Immer mit der Ruhe“, beschwichtigte Drazan, „Der Jadethron wird erst in einigen Monaten davon erfahren, da Minzhu sich gegen einem Angriff aus Kushan wappnet. Es wird Krieg geben im Osten, das munkelt man schon seit Wochen in der Weite.“
„Wenn wir es schlau anstellen“, warf Ivailo rasch ein, „Können wir es Kushan in die Schuhe schieben und die kriegerischen Handlung brechen vielleicht noch früher aus. Und Frau Rámalin ist nur mit ihrem Trupp losgezogen. Also nur zweitausend, die keine Zeugen übrig gelassen haben.“
Vakrim überlegte einen Moment, doch seine Gesichtsfarbe kehrte nicht zurück. Schließlich ließ er sich wieder zurück in seine weichen Kissen sinken. „Ihr spielt mit dem Feuer.“
Ivailo lachte laut auf, Drazan stimmte mit ein. „Das liegt uns im Blut. Was nützen einem Krone und Land, wenn man an einem Stuhl gefesselt wird.“ Dragan hörte, wie die Stimme seines Vaters an Kraft verlor: „Man muss wissen, wie man dort sitzt und was man tun kann. Kalena konnte das wie niemand anders. Besser als ich...“
„Wirst du jetzt melancholisch?“, fragte Drazan spöttisch, „Du hast sie töten lassen, also lebe damit, sonst wirst du ein Schwächling, wie dein missratener Sohn.“ Er lachte kurz auf, „Mal sehen wer von uns ihn zuerst erwischt.“
Etwas regte sich in Dragan. Jahrelange Schuldgefühle. Der Grund für seinen Dienst im Schatten. Der Grund, warum die Mórquen ihn jagten. Warum Mórval es auf ihn abgesehen hatte. Alles hatte mit dem Tod seiner Mutter begonnen, den er nicht verhindern konnte. Seitdem war alles in seinem Leben zerbrochen und er hatte sich dem Schatten hingegeben. Stets hatte er sich selbst die Schuld gegeben, warum er sie nicht beschützen konnte. Alles war sein Vater schuld gewesen. Sein Blick verschwamm. Heiße Tränen vor Trauer und Wut rannen seine Wangen hinab, seine Kehle war wie zugeschnürt. Dumpf hörte er das Gespräch. Etwas über Ungeziefer und Mäuse wurde gesagt. Dragans verschwommener Blick bemerkte etwas Blitzendes. Er riss den Kopf zur Seite. Kalter Stahl durchstach die hölzerne Wand und zerschnitt ihm die rechte Wange.  Er ließ sich flach auf den Staubigen Boden fallen und rührte sich nicht. Geistesgegenwärtig imitierte er ein Quicken einer Maus, nicht zu lang, auch nicht zu kurz. Atemlos wartete er ab. Das Schwert erschien nicht noch einmal. Verfluchte Schattenelbe! Dragan kroch rückwärts. Flucht ging vor! In seiner Brust herrschte ein tosender Kampf zwischen ungezügelter Wut, bodenlose Trauer und das betäubende Gefühl von Verrat. Er wollte weg von hier. Raus aus den beengten Gängen, fort aus Draganhrod und weit hinaus über die Grenzen von Rhûn. Er stieß seinen Kopf, als er auf der anderen Seite des Kriechkellers hervorkroch. Der Schmerz rief eine Tatsache in seinen vernebelten Verstand: Seine Freunde waren noch immer in Gefahr. Und die Weißen Streiter waren in der Stadt. Vielleicht würden sie ihm noch einmal helfen. Er verschob den Gedanken, alles hinter sich zu lassen und machte sich mit zerreißenden Gefühlen zurück auf den Weg in das Gemach. Noch konnte er nicht seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Er war froh, dass seine gequälte Grimasse hinter einer Maske verborgen war.