Die Tage flossen zäh wie Honig dahin, abgesehen von einem dauerhaften Kratzen und den gelegentlichen Mahlzeiten blieb die Zellentür verschlossen. Dragan verlor nach einer Zeit das Zeitgefühl, aber er wusste, dass die Wachen ihm etwa alle zwei Tage eine Schüssel Broteintopf vor das Gitter setzten. Anfangs war es kaum herunterzubekommen, aber sein Hunger hatte schließlich gesiegt und auch sein Tagesablauf hatte er erst anpassen um nicht verrückt zu werden. Wenn Dragan wach wurde, stählte er seinen Körper mit Liegestütze, Kniebeugen und anderen Übungen, bis zur Erschöpfung, dann legte er sich flach auf den Boden und lauschte. Wenn sein pochendes Herz sich wieder beruhigte und er sich konzentrierte, konnte von oben das Stimmgemurmel der Wachen in der Baracke hören. Dragan konnte nie genau verstehen, was sie sagten, aber er konnte nach geschätzt einer Woche an den Schritten erkennen, wenn sich jemand die enge Treppe hinunter in die Kerker schleppte. Es waren immer drei Wachen, die sich abwechselten. Zwei hatten schlurfende, unmotivierte Schritte, der dritte Wächter hingegen hatte es immer eilig. Er war es auch, der die Schüssel mit einem Stock durch die Klappe in der Türe bis an das Gitter heranschob, sodass Dragan ohne sich zu strecken und zu recken an sie herankam. Und er war es auch, der immer darauf achtete, dass Dragan immer den hölzernen Löffel wieder mit in die Schüssel legte. Einmal hatte er bei einer der anderen Wachen versucht den Löffel zu behalten, aber die eiligen Schritte von oben hatten ihm verraten, dass sein Plan missglückt war. Die Wächter hatten sich Tücher vor dem Mund geschlungen und Kieselsteine in dicke Leintücher eingewickelt. Die Schmerzen von der Prügelorgie hatten ihn noch mehrere gefühlte Tage begleitet. Dragan stemmte sich wieder vom Boden auf, seine Muskeln an den Oberarmen traten hervor und begannen zu zittern. Ausatmen. Dann wiederholen. In seinen Gedanken sprach er immer mit sich selbst. Dann war es wieder da, das Kratzen. Stellenweise ging es gefühlte Stunden. Wenn er aß, selbst wenn er schlief kratzte es ununterbrochen. Vielleicht waren es die Wachen – auf Befehl Vakrims, um ihn zu foltern? Er presste sein Ohr auf dem Boden. Das Kratzen übertönte die Schritte von oben. Dragan fluchte und hieb mit der Faust gegen die steinerne Wand. Putz und kleine Steinchen rieselten auf den Boden. Das Kratzen verstummte. Dragan horchte auf. Erneut schlug er gegen die Wand. Zwei Kratzer hintereinander antworteten ihm. Sein Herz klopfte vor Aufregung. Das Kratzen kam aus der Zelle rechts neben ihm! Anfangs hatte er an Ratten gedacht, oder anderen Nagetieren. Seine Ohren spitzten sich unwillkürlich, als er Schritte vernahm, sie kamen von oben, gingen über seinen Kopf, an das Ende der Zelle. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Sollten sie nur kommen, dachte er sich kämpferisch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Schritte verstummten kurz, das taten sie immer, wenn der Wächter die Treppe hinabschritt. Dragan hörte die schweren Stiefel vor seiner Zellentür, dann das Rasseln der Schüssel. Seine Knöchel wurden weiß, so fest ballte er die Fäuste, doch die Schritte gingen weiter. Zu der Zelle rechts neben ihm. Der Riegel wurde zurückgeschoben. Metall quietschte, dann hörte er plötzlich die gedämpfte Stimme einer Frau. Einen kurzen Moment lauschte er gebannt mit klopfenden Herzen. Sie kam ihm unbekannt vor. Dragan atmete erleichtert aus, spitze aber seine Ohren und legte seinen Kopf an die Wand, in der Hoffnung etwas zu erlauschen. Die Wand der Zelle war unsäglich kalt und unfreundlich, und doch hatte die Stimme der Frau aus der anderen Zelle eine warme Färbung, die ihn das vergessen ließ. Sie erinnerte ihn an Cheydan. Er spürte, wie seine Augen etwas feucht wurden. Die Diskussion in der Nachbarzelle wurde etwas lauter – aber war dennoch undeutlich. Die Frau stritt sich mit dem Wächter! Dann schrie sie auf, wieder und wieder. Dragans Körper bebte vor Zorn. Er biss sich auf die Lippen, lief im Kreis und fragte sich was er tun sollte. Gleichzeitig hatte er Angst davor wieder von den Wachen verprügelt zu werden. Dann steigerten sich die Klagerufe der Frau zu einem einzigen, hohen Kreischen. In seinem Kopf platzte etwas.
Dragan brüllte laut auf und tat gegen das Gitter. „Kommt hier her, ihr Schweine!“. Erneut trat er gegen das Zellengitter. Staub prasselte aus Löchern, in denen die metallenen Verstrebungen in der Decke verschwanden. „Seid ihr nicht Manns genug? Müsst ihr euch an Frauen vergreifen!?“ Seine Tritte hallten laut wieder. „He! Ihr da drüben! Kommt her, und ich reiß dir den Kopf ab!“ Sein Kopf dröhnte wie eine Kriegstrommel, doch es zeigte Wirkung. Das Kreischen seiner Zellennachbarin verstummte. Laute Schritte erklangen von oben. Es waren mehr als zwei. Das Fußgetrappel verstummte kurz, dann waren sie die Treppe heruntergekommen. Er verharrte am Ende der Zelle, die schützende Wand im Rücken.
„Was soll dieser Lärm!“, donnerte eine unbekannte, tiefe Stimme im Zellenkorridor mit einem autoritären Tonfall „Ruhe verdammt!“
Dragan atmete flach. Er könnte hören, wie auch aus den anderen Zellen ein Tumult zu hören war. Der Wächter brüllte mehrfach, drohte Peitschenschläge an und Kürzungen der Essensrationen. Letzteres zeigte Wirkung, das Dröhnen, Rufen und Protestieren der Gefangenen verstummte langsam.
Dragan konnte das Gespräch vor seiner Zellentüre belauschen, als die tiefe Stimme wutentbrannt die benachbarte Zellentür aufriss und donnerte: „Was zum Himmel denkst du, was du da tust?!“
Dragan konnte die Erwiderung nicht verstehen, doch die polternde Antwort des vermeintlichen Anführers der Wachen: „Schwachsinn! Sie ist eine persönliche Gefangene des Fürsten, die Tochter eines einflussreichen Bojaren des Fürstentums, du Idiot! Raus da, sofort!
Dragan atmete erleichtert aus. Scheinbar war der Anführer der Wachen ein fairer Mann.
„Abführen. Und schneidet das da durch. Werft ihn in den trockenen Brunnen, das wird ihm eine Lehre sein.“ Dragan nahm seinen ersten Eindruck zurück, der Kerl war skrupellos.
„Nein!“, flehte der Wächter, „Ich habe doch nur… bitte, nein!“ Ein dumpfer Schlag war zu hören.
„Weg mit diesem Abschaum!“, keifte der Wachführer, dann war seine Stimme plötzlich näher an Dragans Zellentür, „Also er war das, ja?“ Eine unverständliche Bestätigung ertönte. „Gut, aufmachen.“ Eine ebenfalls unverständliche Erwiderung war zu hören. „Wie war das? Willst du dem da draußen etwa Gesellschaft leisten? Nein? Gut, jetzt schwing' deinen Arsch hier her und mach auf.“ Dragan fluchte leise und rückte in die Ecke der Zelle. Der Schlüssel zu seiner Zellentür wurde ins Schloss gesteckt, dann war sie auch schon offen. Blendender Fackelschein leuchtete ihm ins Gesicht. Dragan kniff die Augen zusammen. Im Durchgang stand eine massige Gestalt.
„Ugh, wann habt ihr das letzte Mal die Zelle sauber gemacht?“, wandte sich der Anführer an seine Untergebenen, ohne eine Antwort abzuwarten „Unglaublich, unfähiges Pack. He, du. Steh‘ gefälligst auf, wenn du Besuch hast.“
Dragan drückte sich an der Zellenwand in die Höhe. Ihm kam die Stimme entfernt bekannt vor. Der Mann trat nun vor, nah an das Zellengitter heran. „Du siehst scheiße aus“, befand der Anführer, ein zahnlückiges Grinsen blitzte auf. Dragan blinzelte, bis sich seine Augen endlich an das helle Licht gewöhnt hatten. Das Erkennen durchzuckte ihn wie einen Blitz. Cheydans graue Augen blickten ihn an.
„Du?!“, keuchte Dragan ungläubig und umfasste die Gitterstäbe mit beiden Händen, „Bist du’s Marek?“
„Kapitan Marek für dich jetzt“, antwortete er mit einem bellenden Lachen und wandte sich an die übrigen Wachen, „Verzieht euch.“ Eilig machten sich die übrigen Wächter davon. Dragan musterte seinen alten Freund. Sein Gesicht sah aus, als ob er gegen einen Stier gekämpft hatte. Seine Nase mehrfach gebrochen, so krumm war sie. Sein Mund hatte einen fast tödlichen Hieb abbekommen, die Lippen gespalten und durch das Grinsen konnte man sehen, dass er nur durch Glück nur ein paar Zähne verloren hatte. Viel hätte nicht mehr gefehlt um ihn den Kopf zu spalten.
„Du siehst auch nicht besser aus“, befand Dragan und nickte zu seinem Gesicht.
Marek lachte noch einmal, wirkte aber dabei etwas düsterer. „Der verfluchte Feldzug gegen den Erebor. Dadurch bin ich jetzt dort, wo ich jetzt bin.“ Er deutete zu seinem Gesicht, „Das da ist ein Andenken aus Thal, die haben wirklich interessante Hellebarden.“
„Und wie kommt es, dass du jetzt meinen Kerkermeister spielst?“, fragte er skeptisch und rüttelte ein wenig am Gitter, „Mach‘ das Ding auf, und wir können reden.“
Marek verzog das Gesicht, durch seine Narben wirkte es besonders grotesk. Etwas leiser sagte er: „Ich würde ja gern, aber noch nicht. Wir sind noch nicht so weit.“
Dragan horchte auf und trat näher an seinen alten Freund heran: „Wir?“
„Der Widerstand. Vorher müssen aber noch ein paar Handlanger verschwinden“, wisperte Marek und schaute sich rasch um, „Mein ehemaliger Kapitan - Hauptmann der Stadtwache, Velibor. Der, der dabei war, als du damals fortgingst. Der Kerl ist jetzt Heerführer des Fürstentums - hat viele von uns verraten, um befördert zu werden. Dann der Stadtvogt Bogna. Steuereintreiber und Richter, entscheidet immer für Sauronanbeter und lässt sich bestechen. Von den hohen Abgaben gar nicht angefangen. Dann noch ein paar im Bojarenrat und andere Amtsträger.“
„Du hast es ihnen nicht vergeben oder?“, stellte Dragan unnötig fest.
Mareks Augen flammten vor Zorn auf, „Niemals. Meine Schwester… sie alle haben sie verkauft und verschachert wie billiges Viech. Sie alle werden dafür bluten.“ Seine gepanzerte Hand bebte, „Allem voran Vakrim Castav, dieses elende Schwein. Doch der versteckt sich hinter einer…“ Marek wurde eine Spur blasser und schaute noch einmal über seine Schulter und wisperte, „Eine Schwarzelbe.“
Dragan blinzelte verwirrt. „Und das soll mir jetzt was genau sagen?“
Marek wirkte unsicher und flüsterte weiter: „Nicht so laut! Sie sind skrupellos und grausam. Genau das Gegenteil von Elben. Sie sind böse, ihre Herzen schwarz wie die Nacht. Wenn du einen von ihnen begegnest, sieh‘ zu Boden und rede nicht mit ihnen.“ Von oben ertönten Schritte und Marek wirkte plötzlich getrieben. „Ich kann dich nicht hier rausholen, noch nicht, aber das Leben einfacher machen. Ein paar Stunden im Palast arbeiten und-“
Dragan schnaubt und ließ die Zellengitter los, „Du erwartest ernsthaft, dass ich mir für dieses elende Schwein die Finger schmutzig mache?!“
Marek packte ihm erstaunlich schnell durch die Gitterstäbe hindurch am Kragen und rammte ihn gegen das Gitter. Dragan keuchte, ihm blieb kurz die Luft weg. „Hör‘ mir jetzt ganz genau zu, du kleiner Scheißer“, zischte Marek, „Du bist der einzige, der meine Schwester finden kann. Ich bin in der Armee, ich kann nicht weg. Gefangene können sich ihre Strafe abarbeiten. Doch du bist eine Ausnahme, Vakrim wird dich niemals freilassen, aber er kann sich nicht gegen den Bojarenrat stellen – noch nicht. Sie verlangen, dass jeder Gefangene sich seine Haft mit Arbeit erleichtern kann. Auch du.“ Marek funkelte ihn einen Moment noch wütend an, dann ließ er ihn endlich los, „Also hör‘ auf mit deinem Unfug und tu‘ endlich was für deine Mitmenschen. So wie du es für die nebenan gemacht hast… was ungewöhnlich großmütig von dir war.“
Dragan rieb sich den Hals und spuckte aus. „Sie hat mich nur an Cheydan erinnert…“, murmelte er leise.
„Du bist viel zu besessen von ihr. Lässt dich mit Geheimbünden ein und was weiß ich.“ Marek schüttelte den Kopf, doch seine Mundwinkel wanderten nach oben. „Ich kann dafür sorgen, dass sie gleichzeitig mit dir Schicht hat.“
Dragan hob eine Braue, doch sein Freund lachte und sagte, dass ihm etwas Ablenkung nicht schaden wird. Ihm war der Gedanke, sich auf andere Frauen einzulassen fremd, aber gleichzeitig sehnte sich ein Teil ihn ihm nach Nähe – auch körperliche Nähe. Es war ein zerreißendes Gefühl.
„Hm, wenn du es einrichtest, kann ich sowieso nichts dran ändern…“, brummte er gleichgültig, „Wie kommt es eigentlich, dass du jetzt erst hier bist?“
Marek schien seinen Gedanken zu erraten, denn er ging nicht auf seine Frage ein: „Ihr wart nicht verheiratet und ich denke, sie wird es dulden, wenn du noch eine hast. Sie hat mir mal im Vertrauen erzählt, dass sie dein Herz nicht an sich ketten will.“
Dragan blickte überrascht auf. „Das hat Cheydan erzählt? Wann?“
Sein Freund zuckte mit den Schultern und antwortete nur ausweichend, dass es irgendwann war, bevor sie geholt wurde. Auf Dragans Bemerkung, dass es eine etwas ungesunde Einstellung für eine Frau war, erwiderte Marek, dass es in anderen Ländern normal war, mehrere Frauen zu haben. „Auch ich habe zwei, wobei eine meine Frau ist, die andere nur eine Liebhaberin.“
„Und beide wissen davon?“, hakte Dragan skeptisch nach, „Mutig.“
Marek lachte laut auf, „Sie sind aus Minzhu, das ist da in manchen Provinzen normal. Es war ihre Idee, nicht meine, aber unser Gesetz erlaubt nur eine Frau… glaube ich. Hat mich nie groß gekümmert.“ Ein lautes Klirren von oben erregte seine Aufmerksamkeit, sodass Dragans Freund sich umwandte. „Morgen fängst du an die Böden im Palast zu schrubben, mit ihr.“, Marek deutete mit den Daumen zur Nachbarzelle, „Und keine Sorge, die Gesichter der Gefangenen sind bedeckt. Niemand wird dich oder sie erkennen während ihr arbeitet – und ihr werdet euch auch nicht erkennen, solltet ihr hier rauskommt.“ Er wandte sich ab, hielt aber noch einmal inne: „Oh, und die Wächter stehen bis auf einen unter Vakrims Kontrolle, also sei vorsichtig.“
Dragan hielt ihn noch zurück und fragte, warum er nicht mehr tun konnte, doch Marek winkte hastig ab und sagte, dass er bei dem Fürsten erwartet wurde. Dabei zog er eine Grimasse und versprach ihm, dass es sich bald ändern würde. „Du hast mein Word, alter Freund.“ Marek lächelte entschuldigend, dann schloss er mit zusammengekniffen Lippen die Kerkertür. Dragan atmete tief aus und ließ sich an der kalten, rauen Wand zu Boden gleiten. Er hätte nie gedacht, noch einen Menschen aus seinem alten Leben zu treffen. Marek war ihm immer nur flüchtig im Palast als Wache begegnet, aber sie hatten schon oft zusammen mit Cheydan in einem Brauhaus gegessen und getrunken. Und vor allem getrunken. Marek hatte Bier saufen können wie ein Pferd. Cheydan hatte sich oft pikiert zurückgezogen, nur um sich dann etwas Wein zu holen. Dragan lächelte versonnen. Sie hatte immer unschuldig getan, dabei hatte sie ordentlich Feuer gehabt. Er blickte auf seine Zehenspitzen und fragte sich, ob Marek tatsächlich Wort halten würde. Ein Kratzen unterbrach seinen Gedanken. Nun störte es nicht mehr. Er musste lächeln, zufrieden durch seine Tat und suchte etwas, mit dem er ebenfalls an der Wand kratzen konnte. Seine Augen flogen über den dunklen Boden. Ein dünnes, längliches Stück nahe am Gitter fiel ihm sofort auf. Er tastete danach und zog es schließlich in die Zelle. Es war der Dorn einer Gürtelschnalle. Dragan grinste in sich hinein. Marek, du alter Gauner, dachte er sich und kratzte mit dem Metallstift ebenfalls an der Wand.
Dragan wachte durch das bekannte Klirren von einem Schlüsselbund auf. Hastig drückte er den Gürteldorn in das kleine Loch, das er in die Wand gekratzt hatte und stellte den Eimer, in dem er sonst seine Notdurft verrichtete davor (während er sich die Nase dabei zu hielt). Keinen Moment zu spät, denn die Tür öffnete sich und die Wachen traten ein. Dragan richtete sich ohne Aufforderung auf und suchte mit dem Blick nach Marek, doch sein Freund war nicht dabei. Es waren drei Wachen, alle mit harten Gesichtern. Einer von ihnen trat an das Zellengitter und schloss es auf. Hinter ihm trat ein anderer vor und hob ein braunes Leintuch. Dragan erinnerte sich an die Worte seines Freundes und trat vor. Er hob die Hände, für Handfesseln, doch die Wachen schüttelten nur den Kopf. Jemand wickelte etwas grob das Tuch vor Dragans Gesicht, sodass nur seine Augen frei waren. Ein anderer stülpte ihn einen schäbigen, abgewetzten Lederhut auf den Kopf und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Nur Geduld“, wisperte der Mann hinter Dragan, der das Leintuch ordentlich verband. Dann gab er ihm einen leichten Stoß in den Rücken. Zwei der Wachen führten ihn hinaus auf den Korridor. Rechts auf dem Gang erblickte er das erste Mal die Frau in der anderen Zelle. Sie trug ein weites, schmutziges Kleid aus grauen Leinen. Sie war zierlich gebaut, doch waren ihre nackten Beine und Arme von dünnen Narben übersäht, sichtbare Muskeln schlangen sich um ihren Körper, sodass sie wie eine durchtrainierte Kriegerin aussah. Ihre Haare wurden von einem Ledertuch zusammengehalten, sodass man nicht sehen konnte, welche Farbe sie waren. Ebenso wie bei seinem Gesicht, hatte man ihr ein dunkelbraunes Leintuch umgebunden, um ihre Züge zu verbergen. Ihre strahlend blauen Augen musterten ihn jedoch eindringlich. Zwei Wachen waren auch bei ihr und schubsten sie in seine Richtung. Mit einer Aufforderung wurde auch Dragan nach vorn geschubst, ihr Blickkontakt riss ab. „Denkt dran“, sagte einer der Wachmänner laut, „Spricht mit niemanden da draußen. Benutzt nicht eure Namen. Manche Bürger mögen es nicht, wenn Gefangene für den Fürsten arbeiten.“ Jemand stach Dragan in den Rücken. „Du bist jetzt Oleg.“ Der Wächter wandte sich an die Frau: „Und du Boleg.“ Die übrigen Wächter lachten schallend. Dragan wechselte einen Blick mit der Gefangenen, die wütend die Fäuste ballte. Auch der Wortführer bemerkte es. „Was? Gefällt er dir nicht?“ Sie schüttelte den Kopf, woraufhin einer der Wächter einen hölzernen Prügel zückte. Unbeeindruckt stierte sie den Mann an. Der Wortführer zögerte, zischte aber dann wütend „Verdammt.“ Er bedeutete den Mann mit dem Prügel die Waffe zu senken, „Dann eben Danica. Ihr könnt froh sein, dass Kněz Kapitan Marek noch in der Stadt ist. Bewegung jetzt!“
Dragan beschwerte sich besser nicht über seinen Namen und folgte den Wächtern mit Danica hoch in die Baracke der Wachen. Kurz darauf standen sie in dem Gemeinschaftsbad. Dragan tauschte einen überraschten Blick mit Danica. „Los, ausziehen und waschen. Passt auf eure Kopfbedeckungen auf.“, forderte einer der Wachen barsch.
Dragan gehorchte, da er sich seit Wochen schon nach einem Bad sehnte. Er ging in die Mitte des Bads, wo ein steinernes Becken mit Wasser, vielleicht zwei Mal drei Schritte maß. Er wandte Danica den Rücken zu, die es ihm ebenfalls gleichtat. Rasch wuschen sie sich, ohne sich anzusehen, sehr zu Belustigung der Wachen – die aber erstaunlicherweise so viel anstatt hatten, nur Dragan zu nerven. Danica schien tatsächlich eine wichtige Gefangene zu sein, denn erst, als sie in ein Tuch eingewickelt aus dem Becken stieg, wandten sich die übrigen Wachen ihr zu und führten sie hinaus. Dragan war überrascht, dass sie so schnell fertig war, auch wenn ihm klar war, dass man als Frau wohl äußerst ungern mit einer Horde Männern im Bad sich Zeit ließ.
Nach seinem Bad wurde er in einen angrenzenden Raum geführt, in dem einfache Arbeitskleidung auf schäbigen Bänken lag. Es war ein enger Raum, die Wachen warteten vor der Tür, als sie ihn feixend hineinschubsten. Danica blickte kurz auf und hielt sich ihre Hand vor die Brust. Ihre blauen Augen funkelten bösartig. Dragan murmelte eine Entschuldigung und bedeckte seine Augen, während sie sich rasch eine Hose anzog. Den Anblick würde er trotzdem nicht so schnell vergessen. Mit größter Mühe unterdrückte er ein Grinsen und den Kommentar, dass selbst ihr Hinterteil durchtrainiert war. Damit wollte er eigentlich seine Bewunderung ausdrücken, dass eine Frau so viel trainiert hatte, dass so mancher Mann neidisch werden konnte. Er hörte leise Schritte, dann tippte sie ihm auf die Schulter. Dragan wartete, bis die Tür ins Schloss fiel. Draußen hörte man das anzügliche Gelächter der Wachen. Jemand pochte heftig gegen die Tür und rief, er solle sich beeilen, sonst würden sie ihn nackt durch die Stadt laufen lassen. Dragan fluchte und packte die Bundhose, das Wams und die schäbigen Lederstiefel. Eilig zog er alles an und trat hinaus. Die Wachen lachten und machten Witze darüber, dass er wohl Angst hatte. Danica vermied es ihm in die Augen zu sehen.
Auf dem Weg durch die Stadt wurde nicht gesprochen. Die Wachen achteten darauf, dass immer zwei ihrer Männer zwischen Danica und Dragan waren. Sie ermahnten beide noch einmal, mit niemanden im Palast zu sprechen, den Blick stets gesenkt zu lassen und niemals ihr Gesicht zu zeigen. „Und wenn einer der adligen oder der Fürst selbst euch etwas befiehlt, tut ihr es ohne es zu hinterfragen. Klar?“
Sie nickten so knapp wie nur möglich. Jemand trat ihm schmerzhaft gegen das Schienbein, Danica kassierte einen schallenden Schlag auf den Po der sie zusammenzucken ließ. „Was? Ich habe nichts gehört. Macht mal die Zähne auseinander, sonst schlag‘ ich sie euch aus.“ Dragan konnte sehen, wie sie die Fäuste ballte und sagte für sie beide etwas lauter: „Verstanden.“
Danica brachte kein Ton über die Lippen, doch schien Dragans Antwort den Wachen zu genügen. Sie führten sie beide aus der kleinen Nebengasse, über den Brunnenplatz hinauf zum Palast. Das alte Holzgebäude weckte viele Erinnerung in Dragan, die er absolut nicht gebrauchen konnte. Die dunklen Tore des Fürstensitzes öffneten sich. Überrascht blieb der Tross kurz vor der Treppe und dem Mann, der hervorgetreten war stehen. Er trug einen breitkrempigen Lederhut, an dem eine grüne Feder steckte, ansonsten trug er eine bronzefarbene Rüstung und braunem Wappenrock.
„Kapitan“, sagte einer der Wachen offensichtlich überrascht und nervös. Die Wächter machten einen unbeholfenen Knicks oder eine Verneigung.
„Sind das die Zwei für heute?“, fragte Marek gebieterisch und würdigte sowohl Danica als auch Dragan keines Blickes.
„Jawohl, Kněz, sie sind für den Thronsaal und die Gästezimmer eingeteilt“, antwortete eine der Wachen pflichtbewusst.
Mareks Blick huschte über Danica und blieb für einen winzigen Augenblick an Dragan hängen. Ein Augenlied seines Freundes zuckte unmerklich. „Ich weiß. Sie sollen zuerst im Gästezimmer anfangen, der Boden hat es dort nötiger. Im Thronsaal hält der Fürst gerade Hof mit Würdenträgern und dem Bojarenrat.“
Die Wachen blickten sich unsicher an, nickten aber dann. „Wie Ihr befiehlt, Hauptmann.“
Sie schoben sich eilig an Marek vorbei, der die beiden Gefangenen dabei eindringlich musterte. Dragan musste an sich halten, nicht einen Dank zu murmeln, den sowohl Danica, als auch die Wachen gehört hätten. Wäre sein Freund nicht gekommen, würde er noch immer Wochen in diesem Kerker verbringen. Nun hatte er die Chance direkt unter der Nase Vakrims herumzuschnüffeln. Sein Blick wanderte zu Danica. Ob sie wohl heimlich für ihn arbeitete – so wie Tiana? Tat sie dies freiwillig? War das alles nur ein Trick? Dragan wusste es nicht, doch er vertraute ihr erstmal nicht. Selbst Marek war nicht einfach so zu trauen. Zu viel Zeit war vergangen. Dennoch hätte dieser die Tatsache, dass Vakrim gerade mit Würdenträgern und den Bojaren Hof hielt nicht erwähnen müssen – was ein wenig Hoffnung schafft. Er schmunzelte unter seinem Mundtuch und nahm sich vor, so schnell wie möglich mit den Gästezimmern fertig zu werden.
Kapitan dt.= Hauptmann
Kněz Anrede dt. = Herr
Bojaren = Großgrundbesitzer | Niederer Adel