Oronêl träumte.
"Komm schon, Vetter", meinte Amdír. Der König von Lórinand lehnte mit verschränkten Armen am Stamm eines mächtigen Mallorn-Baumes. "Es wird alles gut gehen. Calenwen ist nicht schwächer als irgendeine andere Frau."
"Natürlich", erwiderte Oronêl schwach, und zuckte zusammen, als ein gedämpfter Schmerzensschrei aus dem Talan über ihnen erklang. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, und sagte: "Ich sollte bei ihr sein... ihr beistehen..."
Amdír hob eine Augenbraue. "Du weißt, dass es ihre Entscheidung war. Und du weißt besser als ich, dass man die Entscheidungen deiner Frau respektieren sollte, wenn man klug ist."
"Ich weiß, aber..." Oronêl hob hilflos die Hände. "Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll, wenn sie... mich verlässt." Ein weiterer Schmerzensschrei, und er sank auf die Knie. "Ihr Herren des Westens, wenn ihr mich hören könnt... lasst mir meine Frau. Sorgt dafür, dass sie bei mir bleibt, denn ich liebe sie." Es kam nicht oft vor, dass Elbenfrauen bei einer Geburt starben, doch es war bereits geschehen. Oronêl hatte an Calenwens Seite sein wollen, was nicht unüblich unter den Elben Lórinands war, doch Calenwen war wie so oft anderer Meinung gewesen und hatte alle außer Elwen, Amdírs Gemahlin, von ihrem Talan verbannt.
"Sie wachen über sie", sagte Amdír ruhig, und sein Tonfall war sanft und beruhigend. "Deine Mutter hat deine Geburt überlebt, Elwen hat Amroths Geburt überstanden - und er hat es ihr wahrlich nicht leicht gemacht - und meine Mutter hat sogar drei Kinder unbeschadet zur Welt gebracht. Es wird ihr nichts geschehen."
Gerade als er ausgesprochen hatte, erschien Elwens lächelndes Gesicht über ihnen. "Komm herauf, Oronêl, und begrüße deine Tochter auf dieser Welt."
Später konnte Oronêl sich nicht erinnern, wie genau er vom Fuß des Baumes auf die Plattform des Talan hinauf gelangt war. Doch nur wenige Augenblicke später stand er oben, und nahm mit bebenden Händen das winzige Bündel entgegen, dass Elwen ihm reichte. Er betrachtete das Kind zärtlich, und spürte eine Liebe von einer Art, wie sie ihm zuvor unbekannt gewesen war. Er strich sanft mit dem Daumen durch den Flaum brauner Haare auf dem kleinen Kopf, und blickte in die geöffneten, grauen Augen.
Seine Tochter schrie nicht - die wenigsten Elbenkinder taten das - und er glaubte sogar den Hauch eines Lächelns auf dem kleinen Gesicht zu erkennen.
"Oronêl Galion", hörte er Calenwen sagen. Er liebte ihre Stimme, immer kräftig und einen Hauch tiefer als die der meisten anderen Frauen, und er wandte sich zu dem Bett um. Seine Frau wirkte ein wenig erschöpft, und doch stolz - und glücklicher, als er sie je zuvor gesehen hatte. "Gib mir meine Tochter zurück", sagte sie, und Oronêl kniete sich neben sie, und legte ihr das Kind in die Arme. Dann küsste er sie zärtlich auf die Stirn und sagte: "Das ist... vermutlich der wunderbarste Augenblick meines Lebens. Wie...
wie soll sie heißen?"
Calenwen runzelte auf die wunderbare Weise die Stirn, wie nur sie es konnte. "Ich weiß nicht. Vielleicht solltest du ihr zuerst einen Namen geben."
Oronêl betrachtete seine neugeborene Tochter eindringlich, und dachte nach. Er spürte eine sanfte Berührung auf seiner Schulter, und bemerkte ein Mallornblatt, das von einem der Bäume hinabgefallen sein musste und nun mit der silbergrauen. Unterseite nach oben auf seiner Schulter lag.
Er wandte sich wieder seiner Tochter zu, und berührte mit dem Zeigefinger sanft ihre winzige Nasenspitze. "Du sollst... Mithrellas heißen. Siehst du diese Welt?" Mit der linken Hand machte er eine ausholende Bewegung. "Sie soll dir gehören."Der Traum veränderte sich, obwohl Oronêl sich dagegen wehrte.
"Sie ist gegangen." Die Worte fühlten sich falsch in seinem Mund an. "Sie hat mich verlassen."
"Sie hat... es nicht länger ausgehalten", erklärte Mithrellas mühsam. "Sie konnte so nicht leben. Nicht in dem Wissen, dass..."
"Dass was?", fiel Oronêl ihr ins Wort. "Dass Amdír mir wichtiger war als sie? Ist es das gewesen? So war es nämlich nicht, denn sie war alles für mich." Er hörte sich selbst immer lauter werden, doch seine Stimme war die eines Fremden. "Doch sie wusste, was Amdír mir bedeutet hat, und er ist gestorben. Ich dachte, sie würde verstehen,
dass ich, dass ich..."
Er konnte nicht weitersprechen.
"Mutter, sie... hat dir etwas hier gelassen", sagte Mithrellas, und in ihren grauen Augen standen Tränen - der Trauer, und der Furcht. Sie hielt ihm ein verschlossenes hölzernes Kästchen entgegen, doch Oronêl machte keine Anstalten, es zu nehmen. "Ich will es nicht." Die Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund. "Sie hat ihren Weg gewählt. Und du. Du hast vermutlich nicht einmal versucht, sie umzustimmen."
Mithrellas machte einen Schritt zurück. "Doch, aber ich..."
"Geh", schnitt Oronêl ihr hart das Wort ab. "Geh mir aus den Augen, ich... will dich jetzt nicht sehen."
"Vater, ich... " "GEH!" Er schrie es beinahe, und mit einem erstickten Schluchzen wandte Mithrellas sich ab und rannte unter den Bäumen davon - das Kästchen noch immer in der Hand.Oronêl erwachte plötzlich. Sein Herz hämmerte, und er holte ein paar Mal tief Atem um sich zu beruhigen, bevor er sich leise erhob. Anhand der Position der Sterne schätzte er, dass es kurz nach Mitternacht war, und offenbar hatten auch einige andere Schwierigkeiten zu schlafen. Mathan, dessen Wache eigentlich bereits zu Ende war, lag nicht bei den anderen, doch Oronêl sah ihn auf einem großen Felsen neben Kerrys kleinerer Gestalt sitzen und hörte, wie sie leise, unverständliche Worte sprachen. Auch Ardóneth war nicht dort, sondern hatte sich leise aus dem Lager entfernt.
Da er Mathan und Kerry nicht stören wollte, ging Oronêl langsam den Pfad den sie gekommen waren ein Stück zurück. Die Nacht war klar und kühl, und tausende Sterne bedeckten den wolkenlosen Himmel. Diese Nächte waren Oronêl eigentlich die liebsten, doch sein Traum hatte ihn unruhig und rastlos werden lassen.
Er kam in ein kleines Wäldchen aus Kiefern, wo er einige Augenblicke stehenblieb, und den herben Geruch der Nadeln und des Harzes in der frischen Luft genoss. Es wirkte belebend, und der letzte Rest Müdigkeit verließ ihn. In dieser Nacht würde er vermutlich nicht mehr schlafen.
Ein leises Knacken hinter ihm weckte seine Aufmerksamkeit, und wie zuvor erkannte er Mírwen am Klang ihrer Schritte. Oronêl wandte sich zu ihr um, und sagte: "Ich habe dich also nicht verschreckt."
"Zumindest nicht für immer", erwiderte sie, und trat neben ihn. "Oronêl...", begann sie zögerlich. "Wenn du möchtest, dass ich gehe, dann... gehe ich. Ardóneth wird über den Pass nach Imladris zurückkehren, und wenn du es sagst, werde ich ihn begleiten."
Oronêl schwieg, und betrachtete sie nur. Mírwen hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Calenwen, weder vom äußeren her, noch vom Charakter. Selbst ihre Stimme klang gänzlich verschieden, und doch... Irgendetwas hatte sie an sich, was ihn unbestreitbar anzog.
Ein Teil von ihm wollte sie trotzdem fortschicken - oder gerade deshalb - doch eine andere, leise aber hartnäckige Stimme drängte ihn dazu, es nicht zu tun. Calenwen war gegangen, nicht er. Solange er noch in Mittelerde war, schuldete er ihr nichts, sagte diese Stimme. Und sie würde es verstehen. Niemand konnte sein ganzes Leben ohne Liebe verbringen oder es sich leisten, eine Liebe abzuweisen, die so freigiebig gegeben wurde.
"Oronêl?", riss Mírwen ihn aus seinen Gedanken. "Was soll ich tun?"
"Du musst tun, was du für dich am besten erachtest", antwortete er sanft. "Jedoch... ich will dir keine Versprechungen machen, und ich weiß nicht was geschehen wird. Aber mir würde es gefallen, wenn du bleiben würdest."
"Dann werde ich bleiben und dich ins Waldlandreich begleiten", erwiderte sie ohne jedes Zögern. "Was geschehen wird, wird geschehen, und was nicht geschehen soll, lässt sich ohnehin nicht erzwingen."
Sie berührte vorsichtig die Kette von Calenwens Medaillon um seinen Hals. "Das ist von ihr, nicht wahr?"
"Ja. Ein Abschiedsgeschenk."
Mírwen biss sich auf die Unterlippe. "Meinst du... glaubst du, sie würde es verstehen, wenn du... falls es das ist, was dich..."
"Was mich zurückhält?", beendete Oronêl den Satz für sie. "Es mag ein Teil davon sein. Und ich weiß nicht, ob sie es verstehen würde. Sie hat mich um Verzeihung gebeten, dass sie mich verlassen hat, und ich habe ihr verziehen. Aber... wenn sie mich ganz für sich haben wollte, hätte sie nicht nach Westen fahren sollen, nicht wahr?"
Mírwen lächelte, und er erwiderte das Lächeln. Es fühlte sich gut an.
"Ich brauche ein wenig Zeit für mich... zum Nachdenken unter den Sternen", sagte sie dann. "Vor dem Morgengrauen bin ich zurück." Sie küsste Oronêl auf die Wange, und verschwand dann mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.
Oronêl warf noch einen Blick hinauf zum Himmel, und machte sich dann mit einem Seufzer auf den Weg zurück zum Lager.
Im Lager angekommen, sah er noch immer Kerry auf ihrem Felsen sitzen, inzwischen alleine. Ungefähr die Hälfte ihrer Wache musste vergangen sein, und er sah, wie sie ein Gähnen unterdrückte.
Oronêl kam langsam heran, wobei er ein wenig mehr Lärm beim gehen als üblich machte um Kerry nicht zu erschrecken, und lehnte sich neben ihr an den moosbewachsenen Felsen. "Du kannst schlafen gehen, wenn du müde bist", sagte er leise. "Ich bin ohnehin wach, und kann den Rest deiner Wache übernehmen - so kann ich ein wenig die Dunkelheit genießen."
"Nein, danke", erwiderte sie. "Jeder von euch anderen übernimmt seine Wache, da will ich auch meinen Teil beitragen - egal wie müde ich bin. Aber du kannst dich zu mir setzen und mir dabei helfen, wach zu bleiben."
"Das ist eine sehr ehrenhafte Einstellung", meinte Oronêl anerkennend, und kletterte mit einer raschen Bewegung auf die spitze des Felsens, sodass er neben Kerry zum Sitzen kam. "Man tut was man kann", erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln, zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. "Also. Du hast gesagt, du willst die Dunkelheit genießen - aber ich dachte immer, Elben würden das Licht lieben. Und dass die Dunkelheit dem Bösen gehört."
"Nun, das ist nicht ganz richtig", begann Oronêl. "Weißt du, es gibt einen Unterschied zwischen der Dunkelheit und der Finsternis. Die Dunkelheit der Nacht ist etwas ganz Natürliches, und ohne diese Dunkelheit könnten wir das Licht gar nicht wirklich wahrnehmen. Es ist richtig, dass Elben Licht lieben - doch alle Elben lieben ganz besonders das Licht der Sterne."
Er deutete nach oben, auf den sternenübersäten Nachthimmel. "Die ersten Elben erwachten an den Wassern des Cuiviénen als Elbereth die Valacirca an den Himmel hängte." Mit dem Zeigefinger folgte er der gebogenen Linie der sieben Sterne, die das Sternbild formten. "Damals gab es weder Sonne und Mond, und die Dunkelheit, die nur von den Sternen ein wenig erhellt wurde, war die Welt der Elben - wenn du Gelegenheit hast, kannst du Ivyn oder Farelyë danach fragen. Diese Dunkelheit hat nichts Böses oder Bedrohliches an sich, sondern sie bietet Frieden, Schutz und Geborgenheit. Das, was Sauron über die Welt bringen will, ist die Finsternis, die nichts mit dieser Dunkelheit zu tun hat. Die Finsternis ist die Abwesenheit von allem Licht, von allem was schön und gut ist in dieser Welt. Doch solange die Sterne am Himmel scheinen, wird die Finsternis die Welt niemals ganz beherrschen - ganz gleich, was geschehen wird."
"Das ist... irgendwie ermutigend", sagte Kerry langsam. "Ganz gleich, was für schlimme Dinge auch geschehen, die Sterne werden immer da sein. Und so lange wird Mordor niemals ganz gewinnen."
Im schwachen Licht der Sterne sah Oronêl sie lächeln. "So wie du es erzählst erscheint es mir dumm, dass die meisten Menschen Angst vor der Dunkelheit zu haben scheinen."
"Das ist etwas, das ist ebenfalls nicht so einfach verstehen konnte", meinte Oronêl. "Aber nach dem, was ich gesehen habe... der dunkle Herrscher - und sein noch dunklerer Herr vor ihm - hat es verstanden, die Nacht zu seinem Vorteil zu wenden. Seine Kreaturen sind stärker in der Dunkelheit als am Tag, und so fürchten die Menschen, was die Nacht bringen könnte, und daran tun sie recht. Doch an der Dunkelheit selbst ist nichts furchterregendes."
Er atmete tief ein, genoss die kühle Nachtluft. "In manchen Nächten scheint gar ein Hauch Magie in der Luft zu liegen. Das sind die Nächte, die ich immer geliebt habe. Es war eine solche Nacht, in der ich Calenwen geheiratet habe", schloss er leise, und blickte zu Boden. Die Schuldgefühle und die Unsicherheit kehrten zurück.
"Ist... alles in Ordnung?", fragte Kerry unsicher, und Oronêl wunderte sich über ihr Feingefühl. Er hatte keine großen Gesten gemacht, und dennoch hatte sie anscheinend sofort die Veränderung in ihm gespürt.
Er lächelte, als er antwortete: "Solange ich auch lebe, es wird immer Situationen geben, in denen ich mir keinen Rat weiß, scheint es. Ich denke, du weißt wovon ich spreche."
Kerry nickte. "Ja, ich weiß..." Einen Augenblick blieben sie still, bis Kerry sagte: "Manchmal ist es, als ob man an einer Klippe steht, und man hat nur zwei Möglichkeiten - man springt hinunter, oder man läuft davon. Wenn man springt kann man einfach abstürzen, oder aber... man schafft es zu fliegen. Und wenn man weg läuft fragt man sich vielleicht den Rest seines Lebens, ob man es nicht vielleicht hätte wagen sollen."
Oronêl lachte leise. "Wann bist du denn weise geworden, Kerry?" Kerry lächelte ebenfalls. "Ich hatte ein paar gute Lehrer - und die ein oder andere Gelegenheit, in der ich selbst solche Entscheidungen treffen musste." Selbst im schwachen Licht konnte Oronêl erkennen, wie sie errötete. "An dem Abend, als Aéd mich... geküsst... hat, zum Beispiel. Da hätte ich ihn wegstoßen können, oder weglaufen, aber... ich habe es geschehen lassen, weil ich wissen wollte, was geschieht."
Oronêl blickte zu den Sternen empor, und schwieg eine Weile. Es war merkwürdig dass Kerry, die so unendlich jung war, ihm in diesen Dingen Ratschläge gab, und trotzdem war er ihr dankbar. Und in diesem Moment wurde ihm zum ersten Mal bewusst, wie bedeutsam sie war - und auf welche Weise. Kerry würde keine großen kriegerischen Taten leisten oder einen mächtigen Feind erschlagen, niemals. Doch das war nicht die einzige Art, die Finsternis aus Mordor zu bekämpfen. Oronêl hatte es bereits bei anderen gesehen, bei Gandalf und Galadriel. Sie kämpften mit der Kraft ihrer Herzen, sorgten dafür, dass andere den Mut nicht verloren und gaben ihnen die Kraft, zu kämpfen. Und das konnte Kerry für ihre Freunde ebenfalls tun.
Schließlich legte er ihr eine Hand auf die Schulter und sagte: "Ich glaube, deine Wache ist um, Kerry. Geh und leg dich schlafen - ich werde bis zum Morgen wachen." Als Kerry vom Felsen hinunter geglitten war, fügte er hinzu: "Und Kerry - ich muss mich bei dir bedanken. Manchmal findet selbst jemand wie ich Weisheit an den unerwartetsten Orten."
Oronêl, Mathan, Ardóneth, Kerry, Mírwen, Finelleth und Celebithiel ins Tal des Anduin