Córiel und Jarbeorn von Aldburg"Es stimmt also, was die Soldaten an der Ostgrenze erzählt haben," meinte Jarbeorn mit einem für ihn üblichem breiten Grinsen. Er hob die Hand und zeigte auf das blaue Band des Isenflusses, das sich vor ihnen von Norden nach Süden erstreckte. "Sowohl die östliche als auch die westliche Grenze Rohans werden von Flüssen gebildet."
Córiel warf ihm einen Blick zu, ging aber nicht weiter auf Jarbeorns Aussage ein. Es war die Art des Beorningers, seine Gedanken oft laut auszusprechen, ohne dass er unbedingt darüber diskutieren wollte. Für ihn war es in solchen Momenten offenbar ausreichend, dass seine Aussagen zur Kenntnis genommen wurden. Und das tat Córiel, während sie ihr Pferd in Richtung der Isenfurten lenkte, die gerade in Sicht kamen.
"Im Osten sind es Mering und Anduin, die Rohans Einfluss begrenzen und das Land zugleich vor Feinden schützen sollen. Hier im Westen sind es die Flüsse Isen und Adorn," erzählte Jarbeorn munter weiter. Sein großes, starkes Pferd trug ihn mühelos neben dem schlanken und flinken Elbenross Córiels her. Sie waren schnell genug geritten, um die Isenfurten innerhalb eines Tagesrittes zu erreichen, aber nicht schnell genug, um die Pferde bis zur Erschöpfung zu treiben. Jetzt, wo es Abend wurde, würden sie ihren Reittieren an den Furten eine wohlverdiente Rast und Übernachtung gönnen, bevor sie die relative Sicherheit Rohans verlassen würden.
Jarbeorn schnippte mit den Fingern, eine weitere Eigenart seinerseits. Ihm war etwas eingefallen. "Auf unserer Flucht aus dem Goldenen Wald überquerten wir die Nordgrenze Rohans. Kannst du erraten, woraus sie besteht, Stikke?"
Erneut warf sie ihm einen Blick zu und ließ ein leises Seufzen hören, ehe er die Frage selbst beantwortete.
"Der Flusss Limklar, den hatte ich ganz vergessen! Wenn die Menschen Rohans kein Reitervolk wären, würde man sie sicherlich für ein Volk von Flussmenschen halten." Er lachte laut und herzlich.
Wenig später kamen die beiden Gefährten an die Furten heran und wurden von den aufmerksamen Grenzwachen erspäht und in Empfang genommen. Königin Éowyn hatte eine mehrere hundert Mann starke Wachmannschaft an beiden Ufern des Flusses stationiert, die seit dem Tag, an dem die ersten Kriegsgerüchte aus Dunland über den Isen drangen, noch weiter verstärkt worden war. Befehligt wurden sie von Erkenbrand, dem Herrn von Helms Klamm und Isengard, der sich gerade in der großen Festung der Hornburg aufhielt. Córiel hatte von Fürst Faramir ein offizielles Schreiben mit seinem Siegel erhalten, das sie den Grenzwachen nun vorzeigte. Man gestattete ihnen daraufhin, die Pferde in dem kleinen, befestigten Lager am Ostufer der Furten unterzubringen und wies ihnen ein kleines Zelt zu, das im hinteren Teil des Lagers nahe dem schützenden Palisadenwall stand, der das Lager umgab.
Die Männer musterten Córiel und Jarbeorn aufmerksam. In vielen Blicken lag Respekt und Anerkennung, doch einige wenige schienen vor allem der Elbin nicht ganz zu trauen.
"Es erfordert ein großes Ausmaß an Mut, sich in die Wildnis von Dunland zu wagen," sagte der Befehlshaber des kleinen Grenzpostens. "Zwar ist in den letzten Tagen jenseits des Isen alles ruhig geblieben, aber das muss nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein. Vielleicht ist es nur die Ruhe vor dem Sturm."
Gemurmel aus den Reihen der Soldaten antwortete ihm. Córiel beobachtete die Gesichter ganz genau und sah viele, die kriegsmüde waren. Nach drei langen Jahren voller Schlachten, Gefechte und Blutvergießen waren es viele der Rohirrim nicht sonderlich erpicht auf einen weiteren Angriff auf ihre Heimat.
"Was, wenn die Dunländer durch diese beiden hier provoziert werden, und über uns herfallen?" rief einer der Soldaten und erntete einiges an Zustimmung. Offenbar hatten manche der Männer Angst, dass Córiels Mission der Funke sein könnte, der den Krieg gegen Rohan aufs Neue entflammen würde.
"Wir werden vorsichtig sein, meine Freunde," antwortete Córiel, die sich nicht recht sicher war, welche Worte sie wählen sollte. Eine Situation wie diese war ihr ganz und gar fremd, und sie fühlte sich unwohl. Sie vermisste die Disziplin und Ordnung des Heeres der Noldor.
"Und wenn uns nicht gefällt, was wir in Dunland vorfinden, drehen wir wieder ab, bevor uns überhaupt jemand zu Gesicht bekommt," warf Jarbeorn freundschaftlich ein, und schlug dem Soldaten, der seine Zweifel lautstark geäußert hatte, kameradschaftlich auf die Schulter. Jarbeorn war jemand, der rasch Freundschaften schloss, und der von den meisten Menschen gemocht wurde. Durch seine Worte und seine Art beruhigten sich die rohirrischen Grenzwächter wieder einigermaßen. "Wir werden herausfinden, wie die Lage in Dunland wirklich aussieht. Wenn wirklich erneut Krieg droht, müssen wir es rechtzeitig wissen, um uns vorzubereiten. Doch ich habe vielmehr gehört, dass sich die Dunländer gegenseitig bekämpfen."
"Das besagen die Gerüchte, die an unser Ohr drangen," meinte der Befehlshaber der Grenzwächter. "Aber gerade in solchen Zeiten sind Gerüchte oft übertrieben und bergen nur einen kleinen Kern von Wahrheit. Einige sagen, die Stämme Dunlands wären gespalten und kämpften nun gegeneinander. Andere sprechen von schattenhaften Gestalten in den Wäldern, die nach Westen zögen, in immer größerer Zahl, und dass die Dunländer nun gegen fremde Invasoren kämpften. Und wieder andere erzählen von großen Kriegsschiffen, die die Flüsse Enedwaiths hinauffahren und Krieger aus längst vergessenen Tagen ausspucken."
"Der geflügelte Schatten war echt!" warf ein Soldat ein. Er konnte nicht älter als zwanzig Jahre sein und sein Helm saß etwas schief auf seinen Kopf. "Ich habe ihn gesehen, wie er vor dem Vollmond vorbeizog und gen Nordwesten rauschte!"
"Wann war das?" wollte Córiel interessiert wissen. Sie hatte noch nie gegen die Reittiere der Ringgeister gekämpft, auf die die Beschreibung des Soldaten zu gut passte, um nicht zuzutreffen.
"Vor etwas mehr als drei Wochen," antwortete der junge Mann.
Das könnte hinkommen, dachte Córiel und ballte die linke Hand zur Faust. Kampfeslust stieg in ihr auf. Drei Wochen waren vergangen, seit ein Ringgeist über den Meringfluss geflogen war, in aller Dreistigkeit am Mittag. Als hätte er es eilig gehabt.
Und er ist seitdem nicht nach Mordor zurückgekehrt, zumindest nicht auf direktem Weg. "Ihr mögt Euch ja vielleicht ungesehen bewegen können, Herrin," warf ein anderer Soldat ein, der einen dichten grauen Bart besaß. "Aber was ist mit ihm?" Er deutete auf Jarbeorn, der seine Axt geschultert hatte und sich an einem der Lagerfeuer wärmte. "Er ist nicht zu übersehen, das müsst ihr zugeben. Die letzten, die die Grenze überquert haben waren ein paar Elben, wie ihr, vor einigen Wochen, und auch sie sind nie zurückgekehrt."
"Er kann auf sich aufpassen. Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn, wird wahrscheinlich eher mit den Dunländern Frieden schließen als irgendwelche Kriege auszulösen," antwortete Córiel wahrheitsgemäß. "Er kämpft nicht gerne gegen andere Menschen. Orks hingegen... die kennt seine Axt nur allzu gut."
Dennoch brachten die Worte des Soldaten Córiel zum Nachdenken. Sie hatte Lasserons Spur gefunden, denn er hatte ganz offensichtlich zu der Gruppe von Elben gehört, die zuletzt die Furten überquert hatten. Doch wohin war er danach gegangen? Sie wusste es nicht.
Sie verbrachten die Nacht in dem kleinen Grenzposten, doch Jarbeorn bestand darauf, Córiel das Zelt alleine zu überlassen. "Ich werde in dem Wäldchen südlich von hier übernachten," verkündete er. Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er auch schon davon.
Córiel hingegen fand lange Zeit keinen Schlaf, obwohl der lange Ritt von Aldburg sie ermüdet hatte. Im Gegensatz zu Jarbeorn hatte sie keinerlei Probleme damit, gegen Menschen zu kämpfen. Nein, sie hoffte sogar darauf. Es gab ihres Wissens in Dunland keine Orks. Jeder Tag, der ohne einen Kampf verging, machte es Córiel schwerer, die Flammen in ihrem Inneren zurückzuhalten. Sie würde schon bald einen Ausgleich benötigen. Dunland lag auf halbem Weg zwischen Rohan und den Küsten des großen Meeres. Vielleicht wäre ein kleiner Umweg angebracht...
Beim Gedanken an die endlosen Weiten Belegaers fiel Córiel schließlich in einem tiefen, aber unruhigen Schlaf. Sie hörte das Rauschen von Wellen und fernen Schlachtenlärm, doch da war noch etwas anderes: Das Grollen einer Bestie oder einem sehr großen Tier, das ganz in der Nähe unterwegs sein musste. Beinahe wäre die Elbin davon erwacht. Stattdessen drehte sie sich im Schlaf um und wachte erst eine Stunde nach Sonnenaufgang wieder auf.
Es war Jarbeorn, der sie weckte. "Du hast einen grandiosen Anblick verpasst, Stikke," sagte er unerträglich gut gelaunt. Es schien ihm nicht aufzufallen, dass Córiel nur wenig bekleidet war, denn sie schlief niemals mit einer Decke. Der Beorninger trat beiseite und helles Sonnenlicht strömte durch den Eingang des Zeltes hinein. Die Sonne stand noch tief genug, um Córiel direkt ins Gesicht zu blenden.
"Es ist äußerst unhöflich, den Schlaf einer Frau zu unterbrechen, vor allem auf diese Weise," knurrte sie halb verschlafen, halb verärgert, doch Jarbeorn lachte nur.
"Hör auf dich zu beschweren, die du mit ewiger Jugend gesegnet bist. Wir brechen heute ins Ungewisse auf! Das Abenteuer erwartet uns! Und da willst du
ausschlafen?"
Sie musste zugeben, dass er Recht hatte. Die Aussicht auf einen Kampf brachte sie rasch auf die Beine und sie vertrieb Jarbeorn mit einigen derben Worten vom Zelteingang, um sich für die Reise umzuziehen.
Wenig später verabschiedeten sie sich von den Grenwächtern und lenkten ihre Pferde durch das flache Wasser der Furt. Sie überquerten den Isen und ließen Rohan hinter sich.
Córiel und Jarbeorn nach Dunland