Kerry und Oronêl vom östlichen DüsterwaldWährend die beiden verbliebenen Gefährten aus Oronêls Gemeinschaft sich ihren Weg nach Süden durch den Düsterwald bahnten, sprachen sie nur wenig miteinander. Oronêl war nachdenklich und schweigsam, während Kerry sich darauf beschränkte, sich ihre Argumente zurecht zu legen, um für das entscheidende Gespräch vorbereitet zu sein. Das Gespräch, das sie früher oder später mit ihrem elbischen Begleiter führen würde, und in dem sie versuchen würde, ihm sein Vorhaben, Mittelerde für immer zu verlassen, endgültig auszureden. Doch bis es soweit war, würde Kerry nicht davon sprechen, wie Oronêl es bei ihrem Aufbruch aus dem Waldlandreich gefordert hatte. Sie würde ihre Worte sorgfältig wählen, um die eine Gelegenheit, die irgendwann kommen würde, auf keinen Fall zu verpassen. Anstatt Oronêl ständig mit demselben Thema zu belästigen, hielt Kerry sich zurück - für den einen Moment, der dann hoffentlich den Unterschied machen würde.
Oronêl stapfte zielstrebig zwischen den dunklen Bäumen des Waldes hindurch, einen Pfad geradewegs nach Süden bahnend. Der Waldelb hatte ein scharfes Tempo angeschlagen, das Kerrys Ausdauer auf die Probe stellte. Doch sie schluckte ihren Ärger darüber hinunter, denn sie wusste, dass Oronêl aus gutem Grund in Eile war. Sie hatten die Grenzen des Waldlandreiches verlassen und befanden sich nun wieder im Einflussgebiet der Weißen Hand. Und nun, da sie nicht länger auf den Schutz der Waldelbenkönigin zählen konnten, waren sie dem Zorn Sarumans schutzlos ausgeliefert. Kerry war sich sicher, dass der Weiße Zauberer nicht vergessen hatte, welche Rolle Oronêl und sie selbst in den Kämpfen in Eriador gespielt hatten - von den jüngsten Geschehnissen rings um den Erebor ganz zu schweigen. Sarumans Streitmacht befand sich auf dem Rückmarsch nach Dol Guldur, und obwohl die Orks langsamer vorankommen würden als zwei einzelne Reisende, waren Oronêl und Kerry dennoch gut beraten, den Kriegern der Weißen Hand aus dem Weg zu gehen. Die tragischen Ereignisse am Rande des Düsterwaldes hatten gezeigt, dass selbst ein so mächtiger Kommandant wie Saruman nicht in der Lage war, die Mordlust der Orks auf Dauer in die Schranken zu weisen.
Hin und wieder glaubte Kerry, in der Ferne das rhythmische Stampfen von vielen hunderten marschierenden Stiefeln zu hören, was dazu führte, dass Oronêl sie in eine leicht abgewandelte Richtung führte. Dabei wichen sie allerdings nur selten von ihrem groben Kurs ab, der sie den Wald in einer langgezogenen Diagonale durchqueren ließ. Kerry hoffte, dass sie schnell genug vorankamen, um den Düsterwald so bald wie möglich hinter sich lassen zu können.
Fünf Tage verbrachten sie unter dem lichtlosen Dach der Bäume des Düsterwaldes und schliefen nachts in getarnten Unterschlupfen im dichten Gebüsch, das den Waldboden bedeckte. Nur wenig Rast war Kerry vergönnt, der vermutlich nach nicht einmal drei Tagen die Kraft für diesen Gewaltmarsch ausgegangen wäre, wenn nicht das elbische Wegbrot gewesen wäre, das ihnen Faerwen als zusätzlichen Proviant mitgegeben hatte. Sein süßlicher Geschmack hob Kerrys Laune und es verlieh ihr mit jedem Bissen neue Kraft und beflügelte ihre Schritte, sodass sie mit Oronêl mithalten konnte. Zwar war die Reise durch den Düsterwald noch immer außerordentlich anstrengend, doch Kerry wusste, dass sie durchhalten würde. Ihr blieb gar keine andere Wahl.
Am Vormittag des sechsten Tages seit ihrem Aufbruch aus Faerwens Reich gerieten sie unvermittelt in hügeliges Gelände. Das Gebirge inmitten des Düsterwaldes hatten sie bereits am zweiten Tag ihrer Reise hinter sich gelassen, indem sie den gut ausgebauten Pass im Zentrum der Berge verwendet hatten. Kerry wunderte sich, dass der Boden nun erneut anzusteigen schien. Schon bald stellte sie fest, dass sie keineswegs auf eine zweite Gebirgskette gestoßen waren. Vielmehr schienen die Hügel, die sich nun vor ihnen erhoben, nicht ganz von natürlichem Ursprung zu sein. An vielen Stellen waren sie nur leicht bewachsen, und der Erdboden wirkte, als wäre er öfters umgegraben worden. Die Bäume ringsum waren weniger dicht als noch im Zentrum des Waldes, und auf den Hügeln selbst, die jeweils nur einen Steinwurf breit waren, wuchsen gar keine größeren Pflanzen.
Oronêl pirschte sich vorsichtig an einen der Hügel heran und betastete den Boden. Kerry konnte sehen, dass der Waldelb seine Sinne wachsam in alle Richtungen ausgestreckt hatte und dass er auf Gefahren horchte. Also tat sie es ihm gleich und hielt die Augen offen. Dabei fiel ihr auf, dass zwischen den Baumwipfeln merkwürdige Strukturen hingen, die Kerry an etwas erinnerten...
„Sieht beinahe aus wie ein riesiges Spinnennetz dort oben,“ raunte sie in Oronêls Richtung und deutete mit der linken Hand hinauf zu den Baumkronen, die über den Hügel ragten, der direkt vor ihnen lag.
Ehe Oronêl noch darauf antworten konnte, fiel Kerry erschrocken ein, was ihr Helluin vor einiger Zeit über die Kreaturen des Düsterwaldes gesagt hatte. Kerry fuhr zusammen und blickte sich hastig um, doch der Wald blieb still. Nichts schien sich zu regen. Atemlos tastete Kerry nach ihrem Schwert, doch Oronêl legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Diese Hügel müssen einst die Brutstätten der großen Spinnen des Düsterwaldes beherbergt haben,“ mutmaßte der Waldelb und deutete in Richtung eines der weiter entfernten Hügel, an dessen Vorderseite Kerry einen dunklen Eingang erkennen konnte. „Ich glaube allerdings nicht, dass hier jetzt noch Spinnen leben. Sarumans Schergen müssen sie vertrieben haben, wie es mir scheint.“
„Den Valar sei Dank dafür,“ stieß Kerry erleichtert hervor. „Diese Netze dort oben sehen äußerst ungemütlich aus. Und was sich in den unheimlichen Höhlen unterhalb dieser Hügel befindet, will ich ehrlich gesagt gar nicht so genau wissen.“ In ihrem Verstand sah sie einen finsteren, von Netzen übersäten Tunnel vor sich, in denen noch die knochigen Überreste der Opfer der Spinnen zu finden waren. Und in den tiefsten Kammern unterhalb der Hügel ruhten schleimige Eier, beinahe größer als Kerry selbst, die bald schlüpfen und neue grausame Riesenspinnen auf den Wald loslassen würden...
Kerry schüttelte sich, um die abstoßende Vorstellung zu vertreiben. Das brachte Oronêl zum Lächeln. „Keine Sorge, Kerry. Heute ist niemand zuhause... sonst hätten sie uns vermutlich bereits angegriffen.“
„Lass uns bitte weitergehen,“ bat Kerry dennoch. „Dieser Ort gibt mir ein richtig mieses Gefühl... auf der Zunge, im Nacken, und vor allem im Bauch.“
Oronêl nickte und kletterte rasch über den Hügel vor ihm hinweg, gefolgt von Kerry. Sie überquerten die Lichtung der Spinnen mit Eile und erreichten schon bald wieder die gewohnten verschlungenen Pfade des Düsterwaldes.
Am selben Abend rasteten die beiden Gefährten am Ufer eines kleinen Baches, der zwischen dichtem Moos aufgetaucht war und sich seinen Weg entlang von großen, dunklen Farnen in Richtung Südwesten bahnte. Kerry lag eingerollt in den grauen Umhang, den Helluin ihr gegeben hatte, auf dem weichen Waldboden und lauschte auf das beruhigende Plätschern des Wassers, das eine willkommene Abwechslung zu den Geräuschen des Nachtwaldes war, die sie in den vergangenen Nächten hatte erdulden müssen. Denn wirklich still wurde es unter den finsteren Baumkronen des Düsterwaldes nie. Stets kam es Kerry so vor, als wären ungesehene Kreaturen in der Nähe ihres Schlafplatzes und beobachteten sie aus rot leuchtenden, niemals blinzelnden Augen... nur darauf wartend, dass sie einschlief. Kerry war froh, dass Oronêl kaum zu schlafen schien. Sie hatte schon davon gehört, dass einige Elben die Fähigkeit besaßen, ihren Geist zur Ruhe zu betten, ohne dass auch der Körper schlief. So hatte Oronêl vermutlich während der langen Stunden der Wanderung durch den Wald seine Erholung gefunden und konnte es sich daher leisten, nachts mit wachem Geist auf Kerry Acht zu geben, während sein Körper sich von den Strapazen der Reise erholte. Kerry war sich sicher, dass sie, wenn sie alleine gewesen wäre, vermutlich längst einer der Kreaturen des Waldes zum Opfer gefallen wäre.
Jetzt saß Oronêl mit angezogenen Knien am Ufer des Baches, einige Meter entfernt von Kerry, den Kopf zu den Sternen hinauf erhoben. Denn obwohl der Bach kaum mehr als ein kleines Rinnsal war, war über ihm dennoch ein kleiner Streifen des Nachthimmels zu sehen, von dem in jener Nacht die hellen Punkte der Sterne herableuchteten. Kerry beobachtete den Waldelb einige Zeit, indem sie ihre Augenlider so weit herabsenkte, dass sie für einen Beobachter geschlossen aussahen. Sie wusste nicht, weshalb sie sich schlafend stellte. An jenem Abend war sie weniger müde als zuvor und es würde noch ein Weilchen dauern, bis sie einschlafen würde. Irgendetwas brachte sie dazu, Oronêl sorgfältig im Auge zu behalten.
Mehrere Minuten vergingen, dann fingen Kerrys Ohren ein tiefes Seufzen auf, das ihrem elbischen Freund entfuhr. Noch immer ging Oronêls Blick zu den Sternen hinauf. Dann begann er leise - beinahe unhörbar - eine auf Kerry uralte und traurige Melodie zu summen, deren Laute schon bald in waldelbische Worte übergingen:
Oltha o Gollas, o Gollas mallen,
na Nglîn anoren, nan Lórinand.
Arannon ennus, o Lenwebar arod,
edlothia Arthored, nan Lórinand.
Linner ennus ellith, û linnant cû,
Tûrn Amdîr aran alwed, nan Lórinand
Kerry - die nur des Quenyas mächtig war - verstand natürlich kein Wort. Hätte sie Sindarin beherrscht, hätte sie gewusst, dass dies ein Klagelied auf Amdír, den letzten König von Lórinand war. Doch so drangen die Worte unverstanden an ihre Ohren und ihr blieb nichts als die Emotion, die das Lied mit sich trug. Trauer, Verlust und Melancholie schwangen darin mit und berührten Kerrys Herz zutiefst. Sie wusste, dass Oronêl viele Jahrhunderte ganz alleine gelebt hatte, in einer Art Exil, die er sich selbst aufgebürdet hatte. Und dass seit seiner unvermittelten Rückkehr in die Zivilisation noch nicht einmal ein Jahr vergangen war. Kerry verstand, weshalb Oronêl das Gefühl hatte, dass ihm all der Schmerz und das Leid, die ihm seit seiner Ankunft in Dol Amroth begegnet waren, einfach zu viel wurden und dass er sich nach Frieden sehnte. Einen Frieden, den er nur im verbotenen Westen zu finden glaubte.
Oronêls Lied war vorbei, doch seine Stimme erstarb nicht. Kerry spitzte die Ohren und lauschte angestrengt. Noch immer sprach Oronêl in seiner Muttersprache, die Kerry nicht verstand. Einzig zwei Namen hörte sie heraus:
Mithrellas und...
Calenwen.
Und ohne Vorwarnung wechselte Oronêl ins Westron, als wäre eine neue Person zu der Unterhaltung gestoßen, die er mit sich selbst zu führen schien.
„Ich habe gesehen, was aus meinen Nachfahren geworden ist,“ sagte er. „Sie sind ein stolzes Volk geworden und werden sich dem Schatten Saurons niemals beugen. Und dennoch sind sie Menschen und besitzen nicht die Kraft der Erstgeborenen. Sie mögen von meinem Blut sein... doch nach den Jahrhunderten ist es verwässert worden.“
Kerry konnte sich im ersten Augenblick keinen Reim darauf machen, wovon Oronêl da sprach. Ehe sie noch darüber sinnieren konnte, sprach Oronêl leise weiter.
„Wo es begonnen hat, wird es auch enden. In der Stadt des silbernen Schwans, zu deren Rettung ich einst mein Exil verließ. Dort werde ich die Gestade dieser Welt verlassen und endlich das finden, wonach es meinem Herzen verlangt. Ich kann nicht länger warten.“
Dieser selbstsüchtige Idiot, dachte Kerry verärgert darüber, dass Oronêl noch immer vorhatte, Mittelerde zu verlassen. Dabei musste sie wohl ein Schnauben von sich gegeben haben, denn sofort verstummte Oronêl und sein Kopf wandte sich ein winziges Stück zur Seite.
Kerry hielt den Atem an. Sie fühlte sich wie ein Kind, das dabei erwischt wird, ein ausdrückliches Verbot ihrer Eltern zu missachten. Sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen und lag voller Anspannung da.
Da hörte sie, wie Oronêl sich langsam aufrichtete. Beinahe lautlose Schritte kamen über den weichen Waldboden näher, bis eine Hand Kerrys Schopf berührte und sanft darüber strich.
„Ich weiß, dass du wach bist, Kerry,“ sagte Oronêl - halb amüsiert, halb resignierend. „Na komm schon, wenn du noch länger die Luft anhältst, wirst du noch ganz blau im Gesicht.“
Keuchend ließ Kerry die angestaute Luft entweichen und atmete tief durch. Sie schlug die Augen auf und blickte in Oronêls sternenbeleuchtetes Gesicht.
„Ich wollte dich nicht absichtlich belauschen,“ sagte Kerry leise. „Aber ich konnte nicht einschlafen, und da hörte ich dein Lied. Es klang sehr traurig.“
Oronêl legte den Kopf leicht schief. „Kerry...“
„Ja?“
„Ich bin dir nicht böse. Aber du solltest wirklich versuchen, etwas Schlaf zu finden. Morgen wartet der Endspurt auf uns.“
„Also werden wir diesen unheimlichen Wald morgen endlich hinter uns lassen?“
„Morgen erreichen wir Radagasts Haus, sofern es denn noch steht. Dann wirst du zumindest für eine Nacht in einem richtigen Bett schlafen können.“
„Du weißt gar nicht, wie glücklich mich das macht.“
„Schlaf jetzt. Und höre nicht auf die Geräusche der Nacht. Die Sterne werden über dich und über mich wachen.“
Kerry warf einen letzten Blick zum Himmel hinauf, dann schloss sie die Augen. Und es war, als hätte Oronêl sie mit einem Zauberbann belegt, denn schon wenige Minuten später war sie bereits in einen besonders tiefen Schlaf gefallen.
Oronêl und Kerry nach Rhosgobel