Eddy und Aivari als Gefangene der Dúnedain von der Ebene von CelebrantDie geschundene, von Striemen aufgeschürfte Haut am Handgelenk bewegte sich langsam, aber rhythmisch am Rücken entlang und sorgte dabei für noch mehr Reibung und Schrammen.
Die Wunden brannten schmerzlich, die Gedanken fanden keinen Halt, schossen von einem zum anderen ohne Ruhe. Was war geschehen? Vor wenigen Stunden die wohlige Wärme des Lagerfeuers, die Hoffnung bald einen weiteren Schritt auf dem Weg zu seinem Ziel hinter sich zu bringen. Wie davon geblasen. In seinem Beutel, der ihm in die Seite drückte, spürte er die leicht gezackte zwergische Insignie, die vor Tagen im Schlamm am Celebrant gefunden wurde. Hatte sein Ehrgefühl nun den endgültigen Schicksalsschlag verschuldet?
Sollte das Verlangen dem verzweifelten Breeländer zu helfen ihnen beiden zu ihrem vorzeitigen Ende verhelfen?
Wenn es so sein sollte, dann war es ihm gleichgültig. Genug Schmerz hatte er in seinen einhundertzweiundzwanzig Lebensjahren in Mittelerde erfahren, um diese Sorglosigkeit wie einen Schild zu tragen. Wieder vereint mit Fjóla, Balvari und all den anderen, die ihn so früh hatten verlassen müssen – das war ein tröstlicher Gedanke... doch nein, da war diese eine Sache, auf die er nicht bis ans Ende aller Tage warten wollte. Für die es sich lohnte immer weiter und weiter zu machen, auch wenn die größte Kraft längst aus den Gliedern gefahren war.
»Haltet dort drüben. Dort drüben! Ruhig, ruhig.«, die Stimme des Menschen, der vor ihm auf dem Pferd saß, riss Aivari abrupt aus seinen Gedanken. Er sprach offenbar zu den anderen Reitern. Wie nach dem Wiederauftauchen nach einem Tauchgang im Rotwasser, baute sich die Realität wieder um den Zwerg auf, Geräusche drangen wieder zu ihm durch, die zuvor nur entferntes, dumpfes Stimmengewirr waren.
Der Blick war noch immer verhüllt durch den Leinensack auf dem Kopf, doch Gerüche und Geräusche erreichten nun seine Sinne. So plötzlich wie ein Schlag in die Magengrube. Nach über einem Jahrhundert in dieser Welt konnte er die Sinneseindrücke, die er nun wieder bewusst wahrnahm, schnell eindeutig zuordnen: Orks. Und nicht zu wenige von ihnen. Das widerliche Lachen, die schleimige Aussprache, die rauen Stimmen,
die abstoßende schwarze Sprache. Wut, Verwirrung und Benommenheit wurden in Aivaris Geist zu einer unheilvollen Mischung.
Was geht hier vor sich? Wer sind diese verdammten Menschen bloß? Auf was habe ich mich hier eingelassen?Wild suchten seine Augen unter dem Sack nach irgendeiner Antwort auf diese Fragen.
»Was geht hier vor? Lasst mich herunter. Wo habt ihr uns hingebracht?«
Seine hektische Stimme drang in seine eigenen Ohren, als käme sie aus etlichen Metern Entfernung, wie durch mehrere dünne Wände gesiebt.
Als er die Ausweglosigkeit erkannte und der Mensch, der gerade vor ihm vom Pferd gestiegen war, seine Fragen ignorierte, überkam ihn der Schwindel so sehr, dass er sich nicht mehr aufrecht halten konnte und vom Pferd glitt. Dunkelheit überkam ihn.
Die geschundene von Striemen aufgeschürfte Haut am Handgelenk bewegte sich langsam, aber rhythmisch an einem unbarmherzig harten, unbequemen Holzpfahl entlang, der Hände und Rücken trennte. Die Umgebung war verschwommen, der Kopf wollte nicht stillhalten, sondern drehte und drehte sich, als Aivari sein Bewusstsein wieder erlangte.
Schließlich ließ er den Hinterkopf gegen den Pfahl gleiten und schloss einige weitere Minuten die Augen, ehe er es erneut versuchte. Nun ergaben die Eindrücke seiner Umwelt schon mehr Sinn.
Ein kleines Zelt, vielleicht drei Dutzend Fuß breit, nur von einigen wenigen Fackeln erhellt. Schatten tanzten an der Innenseite der Zeltwände im Rhythmus der flackernden Flammen entlang und deuteten darauf hin, dass außerhalb bereits die Nacht hereingebrochen war.
Leises Stimmengemurmel war zu vernehmen, hier und da ein gequältes Stöhnen, Husten... Weinen.
Ein Blick nach rechts und links zeigte mehrere andere Menschen, die genau wie der Zwerg rücklings an einen Pfahl gefesselt halbsitzend auf dem Boden hockten. Neben sich erkannte er die einzige vertraute Gestalt, den Kopf auf der Brust hängend, die Haare ins Gesicht fallend. Eddy Weingarten – der Mann, der dem Zwerg das hier eingebrockt hatte -
nein, Aivari hatte freiwillig gehandelt – fahrlässig... dumm. Es war seine eigene Schuld.
»Eddy...«, brachte Aivari etwas stockend heraus. Seine Stimme fühlte sich strapaziert an, wie aufgerieben, er musste sich mehrmals räuspern, bis er ein ganzes Wort herausbrachte. Das letzte Mal, dass er Wasser getrunken hatte, schien eine halbe Ewigkeit her zu sein.
Der schwarze Schopf des Breeländers fuhr mit einem Mal nach oben und das raue Gesicht des Jungen kam zum Vorschein.
»Es tut mir wirklich leid, Herr Zwerg.«, erwiderte er sofort mit ähnlich angestrengter Stimmlage, als hatte er nur darauf gewartet, dass der Zwerg wieder zu Sinnen komme. »Ich wollte nicht, dass Ihr wegen mir in diese Lage geratet.«
Aivari schaute ihn durch seine müden Augen an und nickte nur.
»Das sagtest du bereits und ich nehme deine Entschuldigung an.«, meinte der Zwerg nur und lehnte seinen Kopf wieder an den Pfahl an. »Es war jedoch meine eigene Entscheidung.«
Sein Blick war starr in die Ferne gerichtet, was in diesem Fall der zugezogene Eingang des Zeltes war. »Und nenn' mich Aivari, sonst komm' ich mir noch vor wie ein Zwergenfürst. Und ein solcher hätte sich bestimmt nicht in diese Situation gebracht.«
Ein erschöpftes Lächeln konnte er dem Breeländer entlocken.
»Also gut, Aivari.«
»Ich glaube du bist mir die ein oder andere Erklärung schuldig.«, meinte der Zwerg nun und sprach etwas leiser, während er seinen Kopf wieder zum Breeländer neigte. »Was geht hier vor sich? Wer sind diese Menschen und was für ein dunkler Zauber steckt hinter der Zusammenarbeit mit diesem Ork Abschaum? Wo hast du mich hier hereingezogen?«
So gut es der Breeländer eben selber wusste, versuchte er Aivari die Lage zu erklären, was die letzten Monate geschehen war und wie er selbst in diese Misere hineingeraten war. Hin und wieder folgte ein Kommentar von einem der anderen Gefesselten, die ebenso tragische Schicksale erlitten hatten. Die Welt war ein wahrlich finsterer Ort geworden.
Nachdem sie so etwa eine Stunde unwissend und ohne Orientierung im Zelt ausharrten, riss ohne Vorankündigung plötzlich ein Mensch - der ebenso wie alle zuvor, die Aivari gesehen hatte, in einen grauen Mantel gehüllt war - die Plane auf, die über dem Eingang hing, und eine andere Gestalt betrat das Zelt. Alle sechs am Boden gefesselten Anwesenden rückten sich instinktiv auf, egal wie schläfrig sie zuvor gewesen waren, und wurden alleine durch die Präsenz des Eintretenden an die Pfähle hinter ihnen gepresst.
Ein Mann mit grauweißem Bart, langem glattem Haar und einem fürstlichen, glanzvollen weißen Gewand stand vor ihnen.
Die buschigen Augenbrauen und die große Nase schafften es nicht die lichtlosen, dunklen Augen zu verbergen, die aus den Schatten seines Gesichtes lugten und jeden, der ihnen standhalten musste, wie Eisenketten an Ort und Stelle hielten.
Eine unheimliche, aber nicht direkt bösartige Erscheinung. Der lange Bart bebte, als seine Stimme die Luft zu zerreißen drohte. Bis auf die lange nachklingende, tiefe Stimme des alten Mannes war nichts zu hören. Wie ein stürmischer Wind schienen die Worte auf die Umgebung einzupreschen und ließen ihr Echo in den Köpfen widerhallen.
»Lasst uns alleine.« Ebenso rasch wie der Mensch, das Zelt geöffnet hatte, zog er den Eingang wieder zu und verschwand wortlos.
Natürlich wusste Aivari wen er da vor sich hatte. Nie hatte er ihn persönlich getroffen, doch die Legenden hatten genug enthüllt, um ihn unter allen anderen Wesen Mittelerdes eindeutig zu erkennen.
Saruman der Weiße, Mächtigster der Zauberer. Und jemand, der es für richtig hielt Orks und anderes Getier zu befehligen.
»Ein jeder der hier Anwesenden hat töricht gehandelt... äußerst töricht.«
Die Stimme mal so schwer wie Eisen und mal so leicht wie ein Blatt im Wind. Jeder eigene Gedanke wurde wie mit einem scharfen Messer in dem Moment durchtrennt, in dem er gedacht wurde und sämtliche Aufmerksamkeit zog sich nur auf die bebenden Worte des Zauberers. Seine Stimme klang als werfe sie ihr Echo in einer der stattlichsten Hallen in den Tiefen Morias. Der Boden schien unter den Tiefen zu zittern, die Höhen trieben durch scheinbar luftleeren Raum. Ein jeder Anwesende starrte die aufrechte Gestalt Sarumans mit Ehrfurcht an.
Aivari erkannte erst jetzt bewusst den langen, weißen Stab, den Saruman in seiner linken Hand hielt. Nicht etwa um sich darauf abzustützen – nein. Der Stab selbst schien ihm zu huldigen. Saruman brauchte keine Stütze – er war die Stütze selbst.
An der Spitze des Stabes thronte eine fürstliche, beinahe mosaikartige Verästelung, von einer Beschaffenheit wie von einer anderen Welt. Wenig dergleichen hatte Aivari je zu Gesicht bekommen. Das Muster erinnerte an die Regentschaftszeichen der alten Geschlechter der Menschen, wirkte zugleich erhaben und prunkvoll. Wie eine Insignie der Macht, Herrschaftssymbol eines wahren Weltenlenkers.
Der Stab war von einem reinen Weiß wie der hellste Stern am Himmel, ein Weiß wie es nur in der Sonne selbst lodern konnte.
Keine Sekunde länger konnte Aivari einen Gedanken an diesen Stab verlieren, denn es geschah nichts sonst, wenn Saruman das Wort ergriff.
»Eure Verbündeten habt ihr betrogen. Verrat an der eigenen Sache begangen. Andere Leben aufs Spiel gesetzt, damit ihr in eurem eigenen Elend weiterleben könnt.«
Jedes Wort bohrte sich in die Schädel der Zuhörer hinein, jedes Wort traf sein Ziel wie ein gut vorbereiteter Messerstich.
Saruman stand dort wie aus Stein gemeißelt, ein Monument der alten Baumeister dieser Welt. Er schaute auf sie herab wie die großen Götter von einst es auf ihre Schöpfung getan haben mussten.
»Und doch wird euch eure Einfältigkeit verziehen. Genauso leichtgläubig wie ihr gehandelt habt, werden wir euch leichtgläubig vergeben.«
Seine Stimme wurde überraschend sanfter, der Sturm war binnen Sekunden zu einer leichten Brise geworden. Die Anwesenden atmeten hörbar auf, Erleichterung war in den Gesichtern zu sehen. Nicht wegen dem was Saruman gerade gesagt hatte, sondern wegen dem
wie er es gesagt hatte. Alleine das war Absolution, Begnadigung.
»Doch brennt euch eines in euren Verstand ein.«
Genauso schnell wie der Sturm zur Brise geworden war, schien es wieder so, als zuckten Blitze über den Himmel und bahnten sich ihren Weg zu ihren jämmerlich an Holzpfählen kauernden Opfern.
»Sollte es je wieder jemand wagen sich gegen die Befehle Sarumans des Vielfarbigen zu stellen, dann sei euch bewusst, dass meine Barmherzigkeit hier und heute ihr Ende findet. Und eines wollt ihr nicht heraufbeschwören: Meinen Zorn.«
Das letzte Wort sprach der Zauberer mit einer solchen Macht aus, dass Aivari schauderte. Und auch die anderen fuhren unter dem Beben der Stimme zusammen. Bevor irgendjemand reagieren konnte, schlug Saruman mit seinem Stab auf den harten Boden. Ein dumpfer Knall, just in diesem Moment brachen die Ketten, die sie alle an den Holzpfählen hielten, entzwei und gaben ihre geschundenen Hände und Gelenke frei.
Aivari begutachtete einen Augenblick seine von Striemen und Wunden übersäten Handgelenke und als er wieder aufschaute, war von Saruman nichts mehr zu sehen. Es hätte natürlich ohnehin keinen Widerspruch gegeben. Eine Gruppe Menschen, strömte herein, packte jeden einzelnen von ihnen und trieb sie hinaus ins Lager.
Erst jetzt konnte Aivari das Ausmaß des Lagers erkennen, obwohl sie sich scheinbar gerade einmal in den Randausläufern befanden.
Orks, Uruk-Hai und Aivari glaubte sogar einige Trolle in der Ferne entdecken zu können. Es stank nach totem Fleisch, es wurde gebrüllt und geflucht, doch über allem schien eine gewisse Disziplin zu liegen. So wie Aivari Orks kannte nutzten sie jede Gelegenheit sich gegenseitig aufzuspießen, wenn sie nicht von einem mächtigen Gebieter zusammen gehalten wurden. Saruman schien ganze Arbeit geleistet zu haben.
»Du wirst dich Glorfindels Einheit anschließen, Zwerg. Wir werden dich zu seinem Lager bringen.«
Der Mensch, der Aivari gepackt hatte und ihn vor sich her schob, sprach nicht mit Missgunst, aber auch nicht mit Freundlichkeit. Er sprach wie zu einem zweckmäßigen Verbündeten, mit dem er nach dem Kampf ohnehin kein Wort mehr wechseln musste.
Aivari sagte nichts. Er wagte es nicht. Die Worte Sarumans hallten immer noch nach in seinem Inneren, wie ein sich immer wieder neu aufbauendes Echo, das sich zwischen Tälern und Bergen ausbreitet und scheinbar nie ganz verhallt. Er wusste nicht was mit Eddy und den anderen war und es war ihm im Moment auch gleich, solange er dieses fürchterliche Lager verlassen, und Saruman aus dem Weg gehen konnte. Der Zauberer schien nicht gewusst zu haben, dass Aivari kein Deserteur war, oder – was viel wahrscheinlicher war – es hatte ihn schlichtweg nicht interessiert. Es wäre wohl ohnehin auf das selbe Ergebnis hinausgelaufen. Er hatte nichts mit diesem Krieg am Hut und war auch kein Deserteur und doch war er sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob er sich den Reihen der freien Völker nicht womöglich wieder anschließen würde. Nach dem was Eddy erzählt hatte war die Sache für die sie kämpften eine Gute, wenngleich ihre Mittel zum Zweck Zweifel hervorriefen, wie es auch bei Eddy der Fall gewesen war. Eventuell befanden sich andere Zwerge in Glorfindels Reihen... vielleicht befanden sich sogar die Zwerge nach denen er suchte dort. Immerhin hatte ihre Spur ihn letztlich in diese Richtung geführt. Ein Spross der Hoffnung war in ihm aufgekeimt und doch überkam ihn auch die Befürchtung, dass er sich wieder Tod und Zerstörung hingeben musste, um sein letztes Kapitel abschließen zu können...
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