Oronêl und Glorfindel aus den GärtenWenige Minuten nachdem Elea gegangen war, kam Oronêl in die Halle des Feuers. Bei ihm war ein Elb, den Kerry erst auf den zweiten Blick als Glorfindel erkannte. Sein Gesichtsaudruck, der oft sorglos und sogar amüsiert gewirkt hatte, selbst während des Krieges im Düsterwald und am Erebor, war nachdenklich, was auf Oronêl ebenso zutraf. Als der Waldelb jedoch Kerry und die anderen entdeckte, schienen sich seine Gesichtszüge ein wenig zu entspannen.
"Hier drüben!" rief Celebithiel den beiden zu und winkte sie zu ihnen an den Tisch. Inzwischen waren nicht mehr viele Elben in der Halle; bereits vor Eleas Rückzug waren schon einige gegangen nachdem sie ihr Mal beendet hatten. Hier und da saßen noch vereinzelte Gäste alleine oder zu zweit entlang der riesigen Tafel, und vor dem großen Kamin hatte sich ein kleines Grüppchen versammelt. Leiser Gesang und das Spiel einer Harfe drangen von dort an Kerrys Ohr.
Oronêl und Glorfindel kamen an den Tisch und nahmen Platz. Oronêl setzte sich auf den Platz, auf dem zuvor Elea gesessen hatte, während Glorfindel rechts neben Celebithiel Platz nahm.
"Wo hast du dich herumgetrieben?" fragte Kerry halb scherzend
"Oho," ließ sich Glorfindel vernehmen.
"Wie eine strenge Ehefrau, die ihren nichtsnutzigen Mann verhört," sagte Celebithiel.
Kerry verschluckte sich und wurde rot. "So ein Unsinn! So war es nicht gemeint. Ich frage mich doch nur, wohin er so plötzlich verschwunden ist!"
Zu ihrem Glück lächelte Oronêl und seufzte leise. "Deine Sorge ehrt mich, Kerry. Aber sie war unbegründet. Ich habe nur einen Spaziergang in den Gärten gemacht."
Bei diesen Worten hob Arwen den Blick und schaute Oronêl mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck an, ohne jedoch etwas zu sagen. Kerry fragte sich, was wohl dahinter stecken mochte, traute sich aber nicht zu fragen. Verlegen legte sie die Hände im Schoß zu sammen. "Ich habe jemanden kennengelernt," gestand sie, um das Thema zu wechseln.
"Kennengelernt?" wiederholte Oronêl und hob die Brauen.
"Eine ganz wundervolle Frau. Sie heißt Elea, und sie ... würde gerne mit uns nach Eregion gehen."
Oronêl schien einen Augenblick darüber nachzudenken, sah dann Glorfindel an. Der hingegen nickte und sagte: "Es bietet sich ohnehin an, dass ihr mit jenen geht, die zum Schutze Eregions entsandt werden sollen. Die Aufgabe, alle Kampfeswilligen zu sammeln, hat Meister Elrond mir anvertraut."
"Und auch mir," warf Celebithiel ein. "Kerry, du solltest wichtige Details Oronêl gegenüber nicht unerwähnt lassen," fügte sie mit einem kleinen Schmunzeln hinzu.
"Ah... natürlich, du hast Recht..." entgegnete Kerry noch verlegener. "Elea ist... Helluins Mutter."
"So. Daher weht also der Wind," meinte Oronêl und wirkte, als wäre ihm recht unwohl dabei. "Dann nehme ich an, sie ist auf der Suche nach ihrem Sohn?"
"Das ist sie, aber nicht erst seit gestern," erklärte Arwen. "Schon seit seinem Aufstieg zum Stammesführer der Dúnedain des Nordens versuchte Elea, Helluin zur Umkehr zu bewegen. Doch in den Wirren des Krieges ist es ihr bislang nicht gelungen, mehr als einmal mit ihm zu sprechen."
"Ich dachte, Helluin sei in den Osten ins Exil gegangen," meinte Oronêl nachdenklich.
"Er kehrte zurück, noch ehe Celebithiel und ich das Waldlandreich in Richtung Imladris verließen. Er hat sich nach Rohan aufgemacht... " sagte Glorfindel.
Oronêl schaute sie alle einen nach dem anderen an und machte ein verwundertes Gesicht. "Warum habe ich das Gefühl, hier als Einziger nicht im Bilde zu sein?"
Kerry wollte etwas sagen, aber sie bekam vor Verlegenheit keinen Ton heraus. An ihrer Stelle antwortete Arwen. "Helluin sucht nach deiner kleinen blonden Freundin dort. Er ist der Meinung, dass sie es war, die Sarumans Zauber brach, der auf ihm lag. Er möchte sich bei ihr bedanken."
"Rohan könnte sich als nicht sonderlich gastfreundlich für ihn erweisen," meinte Oronêl und schaute dann Kerry in die Augen. Sie sah, wie die linke Augenbraue des Waldelben ein Stückchen höher kletterte und konnte seine Gedanken schier hören. Sie war froh, dass er es nicht laut aussprach.
"Das wird sich zeigen," sagte Celebithiel. "Jedenfalls stimme ich Glorfindel zu, ich habe Kerry auch schon dasselbe gesagt. Wir werden gemeinsam zurück nach Eregion gehen, wenn du nichts dagegen hast, Oronêl."
Das schien Oronêl zu verwundern. "Wieso sollte ich etwas dagegen haben? Ich habe es im Gegensatz zu Kerry nicht ganz so eilig, nach Eregion zurückzukehren." Er nahm einen Schluck von dem klaren Wasser, das er sich mittlerweile aus einer der Karaffen auf dem Tisch eingeschenkt hatte. "Ich heiße euch alle gerne in der Reisegemeinschaft willkommen, auch diese Elea, meinetwegen."
"Das wäre schon die zweite Gemeinschaft des Oronêl," merkte Arwen an. "Wenn dem so ist... dann werde ich ebenfalls mitkommen." Sie lächelte, als sie sah, wie ausgesprochen gut ihr die Überraschung gelungen war. Selbst Glorfindels Miene zeugte davon, dass nicht einmal er das hatte kommen sehen.
"Aber Schwester!" protestierte Celebithiel prompt. "Eregion wird bedroht, und du bist nicht... ich meine, du bist keine...
"Keine Kämpferin?" fragte Arwen und in ihren Augen funkelte es. "Das mag sein. Aber sieh dir Kerry an. Sie geht mit euch, weil ihr ihre Freunde wichtig sind, und weil sie helfen möchte. Ich finde das inspirierend. Ich mag vielleicht keine Klinge wie meine Geschwister zu führen... aber ich werde Eregions Verteidigung unterstützen, so gut ich kann."
Glorfindel nicke sachte. Celebithiel hingegen sprach noch eine ganze Weile gegen Arwens Entscheidung, bis es Kerry schließlich zuviel wurde und sie die Halle des Feuers in einem unbemerkten Augenblick verließ.
Sie kam nicht weit. Als sie auf einen Balkon hinaustrat, der ihr einen guten Ausblick über die Wasserfälle von Bruchtal bot, hörte sie bereits Schritte hinter sich. Es war Oronêl, der ihr gefolgt war.
"Ich, ich wollte doch keinen Streit auslösen," beteuerte Kerry sofort.
"Sehe ich so aus als wäre ich gekommen, um mit dir zu schimpfen, Kerry?" fragte Oronêl ruhig.
"Ähm... ich weiß nicht. Wenn du so fragst, dann... wohl nicht?"
Oronêl lehnte sich gegen das Geländer und schaute auf das rauschende Wasser hinaus. "Ich denke nicht, dass wir Frau Arwen ihren Wunsch abschlagen sollten. Aber ich ahne, dass sie nicht nur aus dem Grund, den Elben Eregions zu helfen, Bruchtal verlassen möchte."
"Wie meinst du das?" fragte Kerry verwundert.
"Hm... hat Elea dir erzählt, weshalb man Helluin damals zum Stammseführer der Waldläufer des Nordens ernannt hat?" fragte Oronel zurück.
"Nein," musste Kerry gestehen. "Ich weiß nur, dass der vorherige Anführer im Krieg gefangen genommen wurde. Von ... Mordor."
"Leise!" zischte Oronêl. "Beschwöre es nicht herauf."
Kerry riss erschrocken die Augen auf und schlug sich beide Hände vor den Mund.
"Ist schon gut. Jedenfalls war jener Stammesführer, der Helluin vorausgegangen war... Arwens Verlobter, Aragorn."
"Aragorn..." wiederholte Kerry den Namen. Gehört hatte sie ihn schon einmal... ob es in Fornost gewesen war? Oder in Rohan? Oder gar von Helluin selbst? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Vielleicht war es sogar Elea gewesen, die diesen Namen erwähnt hatte.
"Verstehst du jetzt?" fragte Oronêl.
Doch Kerry blieb nichts anderes übrig, als den Kopf zu schütteln. "Nein, ich verstehe es nicht," gab sie niedergeschlagen zu.
"Arwens Herz gehört jenem, der in die Schatten ging. Und nun hat ihr Herz seinen Ruf vernommen," sagte eine neue Stimme und erschreckte Kerry beinahe zu Tode, als sie herumfuhr. Am Eingang des Balkons stand niemand anderes als Meister Elrond persönlich.
Oronêl senkte das Haupt knapp, als Elrond weitersprach. "Seltsame Zeichen haben wir in den vergangenen Tagen verspürt. Etwas regt sich im Süden. Dinge geraten ins Rollen, die nicht aufzuhalten sind. Meine Tochter hat Hoffnung geschöpft auf, aber ich bleibe vorsichtig." Er blickte an seiner Hand herab und wirkte einen Augenblick nachdenklich. Als Kerry jedoch hinsah, konnte sie dort nichts entdecken, die Finger des Elbenfürsten waren leer. "Sauron ist es gelungen, genügend Kraft zu sammeln, um wieder eine körperliche Gestalt anzunehmen," murmelte Elrond. "Sein Reich hat er entblößt um ein Heer anzuführen... doch wir wissen nicht, wohin es zieht. Saruman mag bald in arge Bedrängnis geraten, wenn er das Ziel des Dunklen Herrschers ist. Ich befürchte auch erneute Angriffe gegen Gondor und Rohan. Doch Arwen... spürte noch etwas anderes. Ein Licht aus den Schatten, nannte sie es. Ich weiß nicht, ob die Last der Jahre meine Weitsicht getrübt hat, aber... ich habe nichts dergleichen gespürt. Ebensowenig habe ich von Pallando vernommen, der in den Osten zurückkehrte um Nachforschungen zu betreiben. Mehr und mehr scheint sich das Schicksal zuzuspitzen... das Schicksal von ganz Mittelerde."
Kerry wagte kaum zu atmen. Meister Elronds Blick war auf einen Punkt oberhalb ihres Kopfes gerichtet, als würde er mit jemandem sprechen, der sich in weiter Ferne befand. Oronêl schien ebenso verwundert zu sein, ließ sich aber bis auf eine einzelne Falte auf der Stirn nichts anmerken. Erst als Elrond nicht weitersprach, nahm der Waldelb das Wort. "Ihr werdet Arwen also gestatten, mit uns nach Eregion zu gehen?"
"Es ist ihre eigene Wahl," entgegnete Elrond etwas langsam. "Aber dich, Oronêl, mache ich für ihren Schutz verantwortlich, sollte sie sich deiner Gemeinschaft anschließen."
"Meine Gemeinschaft?" wiederholte Oronêl zweifelnd.
"Nennt man sie nicht bereits in der Halle des Feuer so?" sagte Elrond und ein kleines Schmunzeln umspielte seine Mundwinkel. "Dein Ruf eilt dir voraus, Sohn des Ardir."
"Ich will diese Bürde nicht," erwiderte Oronêl. "Ich habe versagt als Anführer der Gemeinschaft, die gen Fornost zog."
"Sag das nicht, Oronêl," mischte Kerry sich ein. "Siehst du denn nicht, wie sehr dich alle schätzen und bewundern? Du bist der richtige Anführer für unsere Gruppe. Wir vertrauen, weil wir wissen, dass du das Herz am richtigen Fleck hast."
"Aber warum nicht Glorfindel?" fragte Oronêl in Elronds Richtung.
"Glorfindel mag Heere in die Schlacht führen und im Kampfe große Macht aufbieten. Aber unterschätze niemals sein Urteil, Oronêl. Wenn er sich dir anschließt, dann aus gutem Grunde," antwortete Elrond. "Du hast eine Wahl getroffen, dort auf den Kaien der Schwanenstadt. Du hast dich entschieden, für Mittelerde zu kämpfen. Und hier ist eine Gemeinschaft, die deiner bedarf. Wie wirst du antworten, Oronêl Galion?"