Mathan mit dem kleinen Elbenheer aus Ost-In-EdhilMathan blickte seinem Freund eine lange Weile noch hinterher und ließ die dreihundert Elben eine kleine Rast einlegen. Sie hatten ein strammes Tempo an den Tag gelegt und bis in die Dämmerung marschiert. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die geordneten Reihen zerfaserten und an den Wegesrand der alten Weststraße verteilten, wo sich die Avari in kleine Grüppchen zusammenfanden. Manche aßen eine Kleinigkeit, andere unterhielten sich gedämpft. Die Stimmung war ein wenig angespannt, je näher sie dem östlichen Bollwerk kamen. Einzig die Sturmspitze, die Elite der Manarîn blieb in geordneten Reihen und wartete geduldig auf Befehle.
Die Nachrichten, die Oronêl Mathan über das uralte Wesen überbracht hatte, hatten ihn sofort an seine Erlebnisse bei seiner Mutter im hohen Norden denken lassen. Nur mit großer Mühe hatte er die dunklen Geschehnisse wieder von sich geschoben. Stattdessen freute er sich, dass sein Freund mehr oder weniger wohlbehalten aus Moria entkommen war, trotzdem schlichen sich wieder Sorgen an ihn heran. Seine Enkelin war von der Außenwelt abgeschnitten und der Sirannon würde wieder Wasser führen. Eine schlechte und eine gute Nachricht, doch er gedachte die schlechte Nachricht zu beheben.
„
Tarcáno?“ Mathan wandte sich um und starrte die drei Kommandanten der jeweils drei Kompanien erwartungsvoll an. Sie hatten ihn ungefragt als Feldherr angesprochen, obwohl er sich anfangs einfach als Hauptmann vorgestellt hatte. Sein alter Rang schien wohl ausgedient zu haben, oder den übrigen Elben erschien er zu niedrig. Mathan musste zugeben, dass er die Einheiten und Truppeneinteilungen der Manarîn noch nicht kannte, bis auf besagte Kompanie, die einhundert Elben umfasste. Er beschloss es zu dulden und nickte dem Sprecher der drei Kommandanten zu. Sie trugen noch immer Tücher vor dem Mund, sodass er Schwierigkeiten hatte sie auseinander zu halten, bis auf den Anführer der Sturmspitze, der Elitetruppe. Er war einfach an der rotorangen Farbe seines Umhangs zu erkennen und den eingelassenen Rubinen an den Armschienen zu erkennen. Er war es auch, der ihn angesprochen hatte und sich nun als Lorindion vorstellte. Der Avar nickte knapp und fragte, wer der fremde Elb war und meinte damit offensichtlich Oronêl.
„Ein Freund, mit dem ich eine lange, gemeinsame Reise hinter mir habe“, antwortete Mathan ausweichend und beschloss im Gedanken den Sindar später zu einem Becher Wein einzuladen. Lorindion schien noch etwas Fragen zu wollen, entschied sich aber lieber zu schweigen. Einer der beiden Kommandanten, die sich als Nénmaril vorstellte, berichtete, dass die Späher zurückgekehrt waren und Neuigkeiten hatten. Mathan hatte sie ausgesandt, um eventuelle Überraschungen zu vermeiden. Ein marschierendes Heer war ein leichtes Ziel, das wusste jeder angehende Kommandant. Er folgte Nénmaril, deren himmelblauer Mantel aus Seide sich bei einer leichten Brise leicht aufbauschte. Die Kommandantin führte ihn in den steinigen Hang hinauf, auf einen kleinen Hügel, der von zwei Hulstbäumen gekrönt wurde. Irgendwie kam ihm der Anblick vertraut vor und Mathan hatte Mühe, alte Erinnerungen mit der Realität zu trennen. Hier hatte es einst ein schweres Gefecht zwischen Saurons Schergen und den Elben Eregions gegeben, von dem er nur gehört hatte. Er kannte nicht mehr das genaue Datum, aber es war im Juli, 1694 im zweiten Zeitalter gewesen. An dieser Stelle wurde sein Kindheitsfreund Lanym in einem unerwarteten Hinterhalt erschlagen worden. Er selbst war damals gerade erst dreißig Jahre alt gewesen, in Elbenmaßstäben noch ein Jugendlicher. Mathan ballte unbewusst die Fäuste. Damals waren die Orks über das Gebirge gekommen und hatten die Frontlinien umgangen. Eine Taktik, die zu dem Zeitpunkt das erste Mal angewendet wurde und sich danach immer wieder häufte, sehr zum Zorn der Zwerge, die das mit allen Mitteln versuchten zu verhindern. Vor seinem geistigen Auge, sah er eine Handvoll Elben, die sich erbittert gegen eine Übermacht aus Orks unter großen Verlusten zur Wehr setzte, doch es war ein verzweifelter Überlebenskampf, den sie letztendlich mit dem Leben bezahlten.
Nénmaril räusperte sich respektvoll und katapultierte Mathan mehr als viertausend Jahre wieder in die Gegenwart. Noch immer hallten ihm die Schmerzensschreie seines Freundes in den Ohren, auch wenn es nur seine Einbildung gewesen war. Er fasste sich unmerklich an den Kopf und folgte dem Nicken der Kommandantin. Unter den Bäumen warteten vier leicht gerüstete Elben, einer davon zu Pferde. Nacheinander berichteten sie, dass sie eine große Flutwelle durch das alte Flussbett beobachtet hatten, die vom Osten kam. Somit hatte sich Oronêls Bericht bewahrheitet, auch wenn Mathan ihm von vornherein geglaubt hatte. Der Sirannon war damals ein recht breiter und tiefer Fluss gewesen mit einigen Nebenarmen, auf dem auch kleine Schiffe gefahren waren. Er vermutete, dass das Land sich dadurch noch besser erholen konnte und sich das auch auf die Ernten auswirkte.
Der Reiter berichtete schließlich von Orksspuren, in nord-östlicher Richtung, was Mathan aufhorchen ließ. „Was für Spuren?“, hakte er nach und kam damit Nénmaril zuvor, die eigentlich die Berichte abfragte. Einen Moment der Überraschung später, berichtete der Späher ausführlicher, dass er Spuren von etwa einhundert Orks gefunden habe, davon trennte sich die Hälfte und führte nach Moria. Die andere Hälfte verlor sich in steinigen Hügelgruppen, vorgelagerte Ausläufer des Nebelgebirges, die dicht mit Tannen und anderen Nadelhölzern bewaldet waren.
„Irgendwelche Hinweise auf die ungefähre Richtung?“
Der Späher überlegte kurz und deutete auf eine kleine Hügelkette im Norden von ihnen. „Etwa dort müssten wir ihren Spuren folgen können. Entweder wollen sie weiter nach Norden, Westen, oder haben uns entdeckt und machten kehrt nach Moria…“
„Das vermute ich auch“, murmelte Mathan und entließ die Späher wieder in die Obhut ihrer Kommandantin. Nachdenklich schritt er den kleinen Hügel hinab, der ihm noch immer ein mulmiges Gefühl bereitete. Wenn die Orks sie gesichtet hätten, würde die Rettung von Isansca wahrscheinlich noch schwerer werden, oder es würde ihre Feinde dazu provozieren eher zuzuschlagen, da sie schon relativ weit weg von der Hauptstadt waren und diese momentan über weniger Verteidiger verfügte. Mathan beschloss kein Risiko einzugehen und winkte die drei Kommandanten heran. Wobei der Dritte, sich am Tor von Ost-In-Edhil als Angadil vorgestellt hatte. Dieser hatte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen geduldig auf neue Befehle gewartet und wachsam den Osten im Blick gehalten. Etwas widerwillig gab er seinen Aussichtspunkt auf und trat an Mathan heran. Man sah Angadil an, dass er nur durch Faelivrins ausdrückliche Anordnung ihm gehorchte.
Mit knappen Worten wiederholte Nénmaril den Bericht der Späher und Mathan verkündete seinen Entschluss: „Wir müssen diese Orks unschädlich machen. Sie dürfen auf keinen Fall Kunde von unseren Vorstoß nach Moria bringen; auch die zweite Gruppe, deren Spur sich verloren hat muss gestellt werden. Wenn sie uns mit Verstärkung in den Rücken fallen, wird es übel ausgehen.“
Die drei Elben nickten ernst, doch blieb die Frage in den Raum, welche Kompanien die beiden Aufgaben erledigen würden. Mathan schielte zu Angadil, den er als stolzer, aber fähigen Mann einschätze, dann zu Lorindion, der sich gelangweilt an seine Glefe lehnte und zum Schluss zu Nénmaril, die sich aufmerksam umblickte und eine gewisse Ruhe ausstrahlte.
„Lorindions Kompanie kommt mit mir. Die Dämmergarde. Ihr seid schwerer gerüstet und weniger geeignet um schnell anderen den Weg abzuschneiden“, sagte er nach einer Weile und grinste verschmitzt in die verwunderten Gesichter, „Wenn ihr schon unter mir dient, denke ich mir passende Namen aus.“
„Dann marschieren wir im Laufschritt als Vorhut und stellen die Orks, die nach Moria wollen“, schlug Nénmaril nach einer kurzen Überlegung vor.
Angadil, der offenbar erleichtert war, dass er nicht mit Mathan marschieren musste, nickte bekräftigend und schlug vor, dass er seine Kompanie in die Flanke und den Rücken der Orks führe, dass niemand entkommen konnte. Die beiden Kommandanten tauschten einen Blick und beschlossen den Feind einzukreisen, sodass niemand entkommen konnte. Und für den Fall, dass sie schneller als die Orks waren, schlug Mathan einen Hinterhalt vor, der widerspruchslos angenommen wurde. Er lächelte erfreut von dem taktischen Können der Manarîn klatschte in die Hände. „So sei es. Nénmaril, achtet darauf, dass ihr den Wind nicht im Rücken habt, Orks haben gute Nasen.“
Sie nickte und auch Angadil wirkte dankbar für den Tipp. Die beiden verneigten sich knapp und kehrten zu ihren Kompanien zurück. Kurz darauf kam der Befehl zum Aufbruch und die zweihundert Elben zogen versetzt zur Straße in nord-östlicher Straße durch das Gelände, wobei die Vorhut jetzt schon einen Vorsprung herausholte. Lorindion gab ebenfalls den Befehl zum Aufbruch. Inzwischen hatte sich der neue Name der Kompanie herumgesprochen und löste eine gewisse Begeisterung aus. Dazu kam wohl der Umstand, dass viele von ihnen noch nie gegen Orks angetreten waren und auf den Kampf brannten. Die Veteranen dagegen schienen ruhig, aber dennoch glitzerte die Motivation ihre neue Heimat zu säubern in ihren Augen. Er hörte, wie einige sich kaum hörbar darüber beschwerten, dass sie keine Trommeln des Krieges dabei hatten. Mathan beschloss nachher genauer nachzufragen und gab das Zeichen zum Aufbruch.
Selbst im Feld marschierte die Dämmergarde in geordneten Reihen, wenn es das Land zuließ. Mathan marschierte wie gewohnt an der Spitze und nickte hin und wieder Spähern zu, die ihren Zug deckten. Es war von großer Wichtigkeit, dass sie sich unentdeckt den Orks näherten. Er schaute sich um. Hier war er bisher nur selten gewesen, da es relativ weit von seiner Heimat entfernt war. Dunkel erinnert er sich, dass es trotzdem einst einige Siedlungen gegeben hatte. Lorindion, der neben ihm lief wirkte ein wenig gelangweilt. Seine Hand öffnete und schloss sich aber unruhig um den Schaft seiner Glefe. Mathan betrachtete die Stangenwaffe genauer, die eine lange, kurzschwertartige Klinge besaß, die an den Seiten zwei Sporne besaß, die man als Rüstungsbrecher einsetzen konnte. Ein seltenes Bild in Mittelerde, da hier der Speer die vorherrschende Stangenwaffe war, zumindest im westlichen Teil. Er erinnerte sich, dass es an der Ostküste einige Völker gab, die eine Vielzahl an verschiedenen Waffentypen verwendeten. Ein Späher unterbrach seine Gedanken, der direkt auf sie zugelaufen kam. Lorindion reagierte sofort und hob den Arm mit geballter Faust im Winkel. Die Kompanie machte abrupt halt. Mathan eilte dem Späher auf leisen Sohlen entgegen. Dabei blickte er sich um. Sie befanden sich in einem kleinen Tal, aus dem ein verschlungener Pfad hoch auf eine kleine Hochebene führte. Dichte Tannen wuchsen an den Rändern und verbargen das Tal vor dem Blicken von der Hochhebe. Mathan vermutete, dass dort die Orks lagerten. Der Späher bestätigte seine Vermutung auch prompt. Also war ihre Ankunft unentdeckt und die Orks haben nicht vor, heute noch weiterzuziehen. Der Elb berichtete weiter, dass es wie erwartet etwa fünfzig bis sechzig waren, doch waren nicht nur Orks darunter. „Gefangene, oder Sklaven“, vermutete Mathan leise, woraufhin der Späher knapp nickte.
Lorindion kratzte sich unter seinem Mundtuch am Kinn und blickte zu seiner Glefe. Im Wald waren die Stangenwaffen eher hinderlich, das bemerkte der Kommandant auch selbst und tätschelte den Griff seines Langschwerts. Mathan musterte ihn genauer. Er trug das Langschwert rechts am Gürtel, einen Brustgürtel mit Dolch quer über die Brust, wo auf dem Rücken noch ein Kurzbogen befestigt war. Ein halb gefüllter Köcher mit etwa zwanzig Pfeilen baumelte an seiner linken Hüfte. Den Rundschild trug er seit dem Aufbruch aus der Stadt am linken Unterarm, die Glefe stets in der Linken. So waren alle Elben von dem ersten Sturmtrupp ausgestattet. In seinem Kopf formte sich ein Plan, der klarer wurde, als er den Späher nach dem Gelände ausfragte. Schließlich wusste er soweit alles, was er brauchte.
„Lorindion, hole mir deine Truppführer“, bat er ihn, „Da dies unser erster gemeinsamer Kampf ist, möchte ich ihnen sagen, dass mir jeder ihrer Untergebenen wichtig ist.“
Der Avar schaute ihn etwas überrascht an, lächelte aber dann und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig, wir kämpfen für die Königin und Ihr seid in gewisser Weise der Vater der Krone. Nur durch Euch sind wir, wer wir sind und niemand würde sein Leben leichtfertig aufs Spiel setzen. Außerdem haben die meisten Euch sowieso gehört.“
Mathan sah, dass die einhundert Elben versteckt im Schatten der Bäume in Hörweite waren und lächelte geschlagen. Dann grinste er kurz: „Ich sehe schon, wir werden gut miteinander auskommen.“
Lorindion grinste ebenfalls, zumindest konnte er das an dessen Augen ablesen und klopfte ihm respektvoll auf die Schulter. „Sehe ich auch so. Dann weiht mich mal in Euren Plan ein, Feldherr.“
Mathan erklärte in knappen Worten, was er vorhatte. Der Kommandant hörte aufmerksam zu und wirkte mehr und mehr begeistert. Zum Schluss sprühten seine Augen vor Kampfeslust. Eilig nickte er nach der Ausführung und gab die Befehle sofort weiter. Dabei traten die neun Truppführer an Lorindion heran, der ihnen den Überfall genau beschrieb. Mathan bemerkte, dass sie einen etwas exotischeren Dialekt des Avarin verwendeten, den er nicht verstand. Er vermutete eine Eigenart, die sich bei den Manarîn im Lauf der zweitausend Jahre Isolation entwickelte. Bei den Erklärungen schauten einige hin und wieder zu ihm, doch die meisten der neun Anführer nickten knapp. Schließlich war die Besprechung abgeschlossen und Lorindion teilte die Trupps ihre Aufgaben im kommenden Kampf zu. Drei von ihnen zogen sofort los und begannen das Tal südlich der Hochebene ostwärts zu erklimmen. Sie würden die Bogenschützen sein, die als erstes vom Hang des Gebirges aus die Hochebene unter Beschuss nahmen. Mathan spürte, wie das Blut in seinen Ohren zu pochen begann. Auch ihn packte die Kampfeslust und er legte die Hand an den Griff von Halarîns Schwert, das einige wichtige Aufgabe in dem Plan einnahm. Einige Manarîn betrachteten es neugierig, begaben sich aber rasch auf ihre Posten. Lorindion gesellte sich mit zwanzig Elben zu ihm, als er zu dem Pfad ging. Links von ihnen schlichen ebenfalls zwanzig Elben durch das Unterholz, sie würden den Orks in die linke Flanke fallen. Atemlos beobachtete Mathan, wie sie ohne einen Laut parallel zum Pfad den Hang erklommen. Niemand schlug Alarm. Er atmete erleichtert aus. Ein Teil des Plans war geglückt. Er blickte an den Osthang des Gebirges und zählte innerlich weiter bis zweihundert. So lange würde es etwa dauern, bis die Bogenschützen Stellung bezogen hatten. Sie würden Pfeile hageln lassen und die Orks auf den Pfad treiben, den Mathan und Lorindion versperren würden. Die Nachhut aus dreißig Elben würde dann die Gefangenen befreien und Orks stellen, die den Osthang angriffen. Alles in allem sah sein Plan eine Einkreisung vor und die Nutzung des Geländes. Seine Jahrzehnte lange Schlachterfahrung machte sich hier nun bezahlt. Der Gesang einer Nachtigall ertönte und irgendwo weiter im Süden erklang der Ruf eines Falken. Mathan lächelte in die Nacht hinein. Selbst die Natur war auf ihrer Seite. Lorindion und er tauschten einen kurzen Blick der Bestätigung, dann folgten sie dem Signal und erstiegen den steilen Pfad.
Kurz vor der Hochebene hielten sie an und drückten sich gegen die steinige Felswand, als ein hoher Schrei ertönte. Eindeutig un-orkisch. Keinen Augenblick zu früh. Fackelschein fiel auf die Hälfte des Pfades, dort wo sie gerade noch gelaufen waren.
„Nichts hier“, murrte eine krächzende Stimme vielleicht zwei Schritt über ihren Köpfen, „Du siehst überall Gespenster, Gûrakul. He du, mach das mal wieder ganz. Ist stumpf.“
Die Antwort war nicht zu vernehmen und ging in einen weiteren, eindeutig weiblichen Schrei unter, gefolgt von wüsten Beschimpfungen in zwergischer Sprache. Mathan überlegte kurz, flüsterte Lorindion dann zu, dass sie wohl direkt unter dem Gefangenenlager waren. Der Kommandant nickte und schlug vor, dass er mit seinen Händen einen Tritt bildete, um ihn das Lauschen zu ermöglichen. Mathan nickte knapp und balancierte kurz darauf auf einem Bein auf den Händen Lorindions. Ganz vorsichtig spähte er über die Felskante. Der Wächter war weiter nach Süden gegangen und starrte angestrengt hinunter ins Tal. Mathan konnte zehn Gefangene zählen, die dicht aneinander gedrängt um ein Feuer hockten. Ihre Füße lagen in Ketten. Direkt vor seinen Augen hockte ein Zwerg, dessen feuerroter Bart zerzaust und wild wirkte. An seinem Bein lag eine Fußfessel ohne Kette. Der Gefangene schliff an einem zwergischen Schwert und tat dies mit einem unzufriedenen Gemurmel. Er bemerkte Mathan nicht, obwohl er ihn in die Seite zwicken könnte. Wo die Frau war, konnte er aber nicht erkennen. Er blickte nach links, wo der Pfad auf der kleinen Hochebene endete. Zwei Wächter standen dort und taten ziemlich nachlässig ihren Dienst. Hinter ihnen war der Großteil der Meute, die einen großen Pulk bildete und sich um Etwas tummelte. Dabei grölten sie und schienen irgendwas anzufeuern. Ein leises Stimmchen in seinem Hinterkopf ahnte was es war, aber er schob es von sich. Hinter der Meute war der dichte Wald, von dem Bericht des Spähers. Mathan hatte genug gesehen. Leichtfüßig sprang er wieder auf den Boden und berichtete Lorindion, der nur ernst nickte und einen Boten zu der Nachhut schickte. Mathan atmete noch einmal tief durch. Sein Herz raste, dennoch zog er Halarîns Schwert und führte die die Parierstange sacht an die Lippen. Die Klinge leuchtete bereits in einem unübersehbaren Blau in der Nacht. Dann hielt er sie über die Steinkante und spitzte die Ohren. Ein verwundertes „
Fanâd Thikil?“ ertönte vom Zwerg, was in erschrockenes Orkgekreische unterging.
Mathan sah, wie die zwei Wächter am Pfad ihren Posten verließen und wohl in die Mitte der Hochebene liefen. Ihr Plan schien aufzugehen. Lorindion schlug mit seiner Glefe gegen den Schild und brüllte aus vollem Halse „
Póna!“ und stürmte die letzten Schritte zum Pfad hinauf, seine Formation von zwanzig Elben folgte ihm auf dem Fuße. Der Kommandant ließ seine Glefe auf den Kopf eines der Wächter krachen, doch niemand reagierte. Mathan eilte hinter die Zweierlinie aus Elben. Die meisten Orks sammelten hastig ihre Waffen ein, andere rannten zu dem Osthang. Ein weiterer Pfeilhagel tötete vier Orks. Die gefangenen Menschen riefen und flehten um Hilfe, manche deuteten sogar auf sie. Mathan sah, dass ein Großteil aus dreißig und mehr Orks der Meute umschwenkte und sich mit Gebrüll auf die neuen Feinde warf.
„Sandastan!“, erklang der Ruf zum Schildwall und die Elben befolgten ihn augenblicklich. Die Glefen blitzen im Schein des Lagerfeuers. Die Orks jaulten fröhlich und wahrten sich ihrer Übermacht sicher. Mit einem Krachen prallte die geordnete Schlachtlinie der Elben auf die Orkmeute. Fünf von ihnen wurden vom Elbenstahl aufgespießt, die mit einem kollektiven Schildstoß antworten. Die zweite Reihe stach nun mit ihren Glefen nach, wobei diesmal sieben Orks fielen. Das Quieken und Kreischen der Sterbenden rief die übrigen ihrer Art zum Geschehen. Wütend brüllend kamen sie angelaufen, diesmal jedoch geordneter. Vereinzelte Pfeile prallten von den Stahlschilden wirkungslos ab. Mathan bemerkte, dass es mehr als vierzig waren. Mehr und mehr Orks strömten aus der Dunkelheit. Offenbar hatte ein großer Teil im Schatten des Gebirges gelagert. Siebzig Orks brandeten über die Hochebene. Er fluchte leise und hob sein Schwert und ließ es weit über seinem Kopf kreisen. Das Donnern von Schilden erfüllte die Ebene und wurde von den mächtigen Bergen zurückgeworfenen. Die Nachhut hatte an der Stelle, wo er gelauscht hatte die Felswand erklommen und warf sich nun in die Schlacht. Aus dem kleinen Wald links von ihnen hagelte es Pfeile in die Flanke der Orks und die zuvor heimlich postierten zwanzig Elben stürmten mit gesenkten Glefen und erhobenen Schilden ebenfalls in den Kampf. Die Orks sahen sich plötzlich von allen Seiten eingekeilt. Mathan änderte seinen Plan und rannte zu den Gefangenen, den Blick auf den unbewaffneten Zwerg gerichtet, der um sein Leben kämpfte. Der Orkwächter hob sein Schwert zum Todesstoß, bemerkte aber den neuen Feind aus dem Augenwinkel. Der Wächter sprang ihn an. Mathan machte einen tänzelnden Schritt zur Seite. Das Orkschwert streifte seinen Schild. Er wechselte den Griff des Schwert und stach dem Ork im vorbeitaumeln in den Nacken. Ein Gurgeln ertönte. Mathan schleuderte das Blut von der Klinge und reichte dem verdatterten Zwerg die Hand. Dieser warf einen Blick auf die tobende Schlacht, dann den toten Ork neben ihnen und ließ sich aufhelfen.
„Ich hätte nie gedacht, eines Tages einem
Fanâd mein Leben zu schulden. Das war wirklich in letzter Minute, “ sagte der Zwerg mit seiner sonoren Stimme dankbar und nahm den Toten etwas ab. Es war das Zwergenschwert, das er zuvor poliert hatte. „Grám Feuerhammer, wird diese Schuld nie vergessen, auf in die Schlacht!
Khazâd ai-mênu!“ Ehe Mathan etwas antworten konnte, rannte der Zwerg auch schon zu den Reihen der Elben. Dort rammte Grám Feuerhammer einen von drei Orks das Schwert in den Rücken, die einen Elbenkrieger von der Schlachtreihe abgedrängt hatten. Der Krieger tötete sofort einen der beiden überraschten Orks und entledigte sich den Dritten mit einem gezielten Stich ins Auge. Mathan verlor den Zwerg in dem Getümmel aus den Augen. Bisher konnte er dort noch keinen toten Elben entdecken. Wütend biss er die Zähne zusammen. Er wollte heute niemanden verlieren. Die Gefangenen mussten warten. Mit einem Kriegschrei warf er sich in die Schlacht.
„Kämpft! Der Feldherr ist hier!“, rief ein anderer Elb, der ihn bemerkte, als er durch die Reihen der Elite schlüpfte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er mit dem goldroten Mantel eine aufgemalte Zielscheibe trug. Doch das war egal. Mathan gab dem Pochen in den Ohren und den Kribbeln in seinem Körper nach. Der Rausch des Kampfes spülte jeden klaren Gedanken fort. Ab den Moment lebte er nur für den Lärm der Schlacht, dem Bellen von Befehlen, das Schreien der Sterbenden und dem Geruch von Blut. Er blockte einen Schlag mit dem Schild und schlitze mit dem Schwert den ungedeckten Bauch auf. Ein weiterer Schlag landete auf dem Schild. Mathan rammte ihm den Angreifer ins Gesicht. Der Orks spuckte Blut, Zähne und ein Teil der Zunge. Mit einem gezielten Stich durch Mund hinauf ins Gehirn fiel er Tod zu Boden. Mathan fuhr wie ein Schnitter unter die Orks, blockte einen Hagel von Schlägen und verteilte Rückhandhiebe, Stiche und hackte sich durch Beine, Torsos und Hälse. Sein Schild prallte gegen einen besonders großen Ork, der mit dem Rücken zu ihm gestanden hatte. Es war ein schwer gepanzerter Uruk, der einen Streithammer schwang. „Kämpft, ihr Maden“, brüllte er und bemerkte Mathan, „Verdammtes Elbenpack!“ Mit einem Schrei schwang der Uruk den Hammer. Mathan lenkte den Hieb mit dem Schwert ab, der in dem Rücken eines Orks landete. Er konterte mit einem geraden Schlag mit dem Schild. Die Kante traf den Sehschlitz des Helms des Uruks, der zurücktaumelte und dabei wütend knurrte. „Hrmpf, ich hab euch unterschätzt, dachte ihr findet uns nicht.“ Der Uruk ging auf Abstand und schubste einige Orks aus dem Weg, „Das ist persönlich, macht Platz!“
Die Manarîn hatten inzwischen das Schlachtfeld dominiert und von den etwa achtzig Orks waren nur noch zwanzig übrig, die sich in einem Ring aus Elbeschilden eingesperrt sahen. Mathan bemerkte, dass auch seine Bogenschützen dabei waren und zählte eilig mehr als neunzig Elben. Erleichterung überkam ihn und das Pochen in seinen Ohren ebbte etwas ab. Den übrigen Orks war der Kampfesmut vergangen und sie kauerten ängstlich hinter ihrem Anführer, der ihn immer wieder lauthals zum Zweikampf herausforderte. Mathan musterte den Uruk mit Abscheu, der nun anfing Schmähung von sich zu geben, um ihn zu provieren. „Bist du nicht Manns genug? Hast du nichts zwischen den Beinen? Ihr Elben könnte nichts als Bastarde zeugen und-„
Der restliche Satz blieb ihm im Halse stecken. Lorindion löste seine Glefe aus dem Helm des Uruks und säuberte den spitz zulaufenden, blutigen Sporn mit einem Lumpen. Achtlos warf er ihn auf den Uruk, der indessen in die Knie brach und leblos vornüber kippte. „Niemand beleidigt unsere Königin“, befand der Kommandant kühl und nickte Mathan entschuldigend zu, „Er war unwürdig Euer Gegner zu sein.“ Lorindion schien zu überlegen und setzte trocken nach: „Und er stank.“
Mathan unterdrückte ein Grinsen über die Ausrede und winkte ab. „Erzählt mir, wie der Kampf für uns verlaufen ist.“
„Einige Verletzte, nichts ernstes. Keine Toten.“, antwortete der Kommandant knapp und schien stolz zu sein. Mit Recht, wie Mathan fand und beschloss es auch seiner Tochter zu sagen. Einige Soldaten gingen durch die Reihen und verbanden Schnitte und andere kleine Wunden. Mathan befahl die Orks weiterhin scharf zu bewachen und ging hinüber zu dem Gefangenlager, wo ein bestimmter Zwerg bereits auf ihn wartete. Grám Feuerhammer zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und kratzte sich mit dem Blick auf die überlebenden Orks am Ohr. „Ich würde diesem Pack den Hals durchschneiden, nichts anderes machen sie mit unsereins.“
Mathan musste ihm zustimmen, erklärte aber, dass er gerne wissen würde, woher sie kamen und warum sie Gefangene mit sich führten. Und wie viel sie über die Verteidigung und der Lage von Eregion wussten.
Grám tippte sich energisch mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Der große Uruk ist komplett durchgeknallt. Mûrgol oder so. Faselt ständig was von Blut der Ersten, der Zweiten und so einen Kram.“
„Durchgeknallt
gewesen“, berichtigte Mathan zufrieden und hakte nach: „Also Blutzauber?“
Der Zwerg schien nachzudenken. „Wenn es sowas wirklich gibt… möglich wäre es. Aber so weit kam es nicht, da der Bekloppte keine Elben fand und zu feige war eine Siedlung anzugreifen. Die übrigen Gefangenen hier sind Kriegsbeute aus Gondor, die meisten zumindest. Sind auch ein paar Sklaven aus dem fernen Osten dabei.“
„Und wie haben sie Euch bekommen, Meister Grám?“, fragte Mathan neugierig, da es eigentlich ziemlich schwer war, an Zwerge heranzukommen, geschweige denn, sie gefangen zu nehmen.
Grám schien erneut zu überlegen, schüttelte aber den Kopf. „Später, Meister Heerführer.“
„Nennt mich Mathan. Mathan Nénharma.“
Der Zwerg verneigte sich, „Mathan, erneut meinen Dank. Grám Feuerhammer zu Euren Diensten.“
Etwas unwohl bedeutete er Grám sich zu erheben und nickte zu den Gefangenen mit der Frage, welche davon Kriminelle waren, ob sich Soldaten unter ihnen befanden und ob sie kämpfen konnten. Der Zwerg strich sich nachdenklich durch den struppigen feuerroten Bart und deutete auf einen fremdländischen Mann mit einem schlangenähnlichen Gesicht, blass-gelblicher Haut und blutunterlaufenen Augenringen. „Verräterschwein. Er hat uns immer wieder die Wächter auf den Hals gehetzt. Durch seine Schuld ist auch ein junge Frau heute Nacht geholt worden.“
Mathan horchte alarmiert und bestürzt zugleich auf. „Etwa in diesen Pulk von Orks?“
„Armes Mädel“, befand Grám und schaute auf das Schlachtfeld, „Ich weiß nicht, ob die Herren Elben schnell genug waren. Sie müsste irgendwo unter diesen Leichen liegen… Wird kein schöner Anblick.“
„Lorindion!“ Der Kommandant eilte rasch zu ihnen und starrte erst mit unverhohlenem Interesse auf dem Zwerg. Mathan räusperte sich und deutete auf den Verräter, den Grám gerade entlarvt hatte, „Schafft mir dieses widerwärtige Subjekt aus den Augen, bitte. Für immer.“, befahl Mathan mit harter Stimme und setzte sanfter nach. „Und sucht unter den Leichen nach einer jungen Frau, ihr Name ist…“
Er verstummte und sah den Zwerg fragend an, der jedoch ratlos mit den Schultern zuckte. Einer der Gefangenen richtete sich mit dem Rasseln seiner Ketten auf. Es war ein kräftig gebauter junger Mann mit mandelförmigen Augen, schwarzen Haaren und ausgeprägten Wangenknochen. Seine Lippen waren rissig und er schien ziemlich schwach, sodass Mathan sich zu ihm hinabbeugen musste, bis er den Namen verstand.
„Sucht nach einer gewissen Verdandi, vielleicht braucht sie unsere Hilfe“, bat Mathan Lorindion, der sich knapp verneigte und auf dem Absatz kehrt machte. Er selbst begann die Gefangenen zu befragen.