Cyneric, Zarifa und Kerry aus dem HargtalEs war erst das zweite Mal, dass Kerry die Stadt Aldburg mit eigenen Augen sah. Als sie zuletzt hier gewesen war, war sie noch ein Kind gewesen und hatte ihre Eltern dorthin begleitet. Nun kehrte sie als junge Frau zurück. Erneut kamen sie zu dritt an das Tor der Stadt, doch anstelle von Kerrys Mutter war diesmal die Südländerin Zarifa die Dritte im Bunde.
Erstaunlicherweise lachten die Wachen, als sie Kerrys Vater erkannten. "Sieh mal einer an. Der Rumtreiber kehrt zurück," sagte der erste Wächter.
"Die Gerüchte, die wir aus Edoras gehört haben, waren also wahr," meinte der Zweite mit einem breiten Grinsen.
"Hast dir ganz schön Zeit gelassen, alter Knabe," sagte der dritte Gardist. "Hat dir eine der Ostling-Frauen schöne Augen gemacht?"
Zu Kerrys Verwunderung ging ihr Vater kaum auf die Sprüche seiner Gefährten ein. "Ich erzähle euch nach Schichtende alles in Ruhe," erklärte er. "Wir treffen uns im Gasthof "Zur Alten Straße", die erste Runde geht auf mich."
"Hört, hört!" riefen die Wächter und ließen die Gruppe passieren.
Im Inneren der Stadt herrschte ein ziemliches Gedränge. Überall waren Menschen unterwegs. Die Dächer und Straßen Aldburgs waren mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt und die Luft war kalt genug, dass Kerrys Atem bei Ausatmen als weiße Wolke entwich. Sie hatte Zarifas Hand genommen, die sich warm anfühlte, und bahnte der Südländerin einen Weg durch die Menschenmassen, während sie ihrem Vater die Hauptstraße entlang folgte. Es ging bergauf.
"Wohin gehen wir, Vater?" fragte Kerry.
"Wir suchen Marschall Erkenbrand auf. Er wird meinen Bericht hören wollen, und darüber hinaus wird er wissen, zu wem wir Zarifa bringen können."
Zarifa hatte seit ihrer Ankunft in Aldburg noch kein Wort gesagt. Staunend blickte sie sich um und schien die neuen Eindrücke wie ein Schwamm aufzusaugen.
"Mach dir keine Sorgen, Zarifa. Alles wird gut werden," sagte Kerry. Das entlockte Zarifa ein zaghaftes Nicken, und Kerry freute sich darüber. Sie wollte Zarifa helfen, und sie wusste, dass ihr Vater diesen Wunsch teilte. Auf dem Weg nach Aldburg hatte sie sich rasch an Cynerics beruhigende Gegenwart gewöhnt, was den Schmerz und die Trauer über Oronêls Abschied etwas leichter zu ertragen gemacht hatte.
Sie erreichten ein großes Gebäude aus dunklem Holz, das Cyneric ihnen als Rüstkammer der Königsgarde vorstellte. Dort hoffte er, Herrn Erkenbrand vorzufinden.
"Erkenbrand? Nein, der ist gerade nicht hier. Wir hörten, er hielte sich in der Residenz der Königin auf," erklärte man ihm auf seine Frage hin. Weitere Gardisten erkannten Cyneric wieder und wurden ebenfalls auf einen Umtrunk im Gasthof zu späterer Stunde eingeladen, ehe er die Rüstkammer wieder verließ.
"Cyneric," sagte Zarifa, während sie einer der kleineren Straßen in die höher gelegenen Viertel der Stadt folgten. "Kennst du die Königin, von der die Männer gesprochen haben?"
"Ich habe viele Jahren in ihren Diensten gestanden," antwortete Kerrys Vater.
Zarifa gab ein Schnauben von sich, das wohl Belustigung ausdrücken sollte. "Erst die Königin der Waldelben, und jetzt die Königin von Rohan. Wenn du mir als Nächstes die Königin der Zwerge vorstellst, würde mich das nicht im Geringsten wundern."
Kerry lachte. "Ich glaube kaum, dass die Zwerge überhaupt so etwas wie eine Königin haben. Hast du schon jemals eine Zwergenfrau gesehen?"
"Ich habe noch gar keinen Zwerg in meinem Leben gesehen," erwiderte Zarifa.
"Da hast du nicht sonderlich viel verpasst," meinte Kerry grinsend.
Vor der Königsresidenz stand ein weiterer Gardist, der Cyneric aufgeregt begrüßte. Er war kaum älter als Kerry und Zarifa, schien daher wohl noch recht neu bei der Königsgarde zu sein.
"Ihr sucht den Herrn Erkenbrand? Ja, er ist hier, im Kartenraum im Obergeschoss. Ich bringe euch gleich zu ihm."
"Ist schon gut, mein Junge. Wir finden den Weg selbst. Bleib du besser auf deinem Posten, wenn du dir keinen Ärger einhandeln willst," erwiderte Cyneric. Und so betraten sie das Haus, das einst der erste Sitz der Könige Rohans gewesen war, ehe die Goldene Halle von Meduseld erbaut worden war. Cyneric führte die Mädchen die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Zielstrebig brachte er sie zu einer Tür, hinter der ein Raum lag, dessen Fenster nach Süden auf das Weiße Gebirge hinaus blickten. Ein gerüsteter Krieger stand über einen Kartentisch gebeugt in der Mitte des Raumes. Als er Cyneric bemerkte, drehte er sich um.
"Ah, Cyneric. Willkommen, mein Freund. Ich hatte deine Ankunft bereits erwartet," sagte Erkenbrand, der nicht sonderlich überrascht wirkte.
"Hat Dunstan dir aus Edoras Bericht erstattet?" wollte Cyneric wissen.
"Das hat er, doch mein Wissen über dein bevorstehendes Eintreffen stammt nicht von ihm," entgegnete Erkenbrand mit einem Lächeln.
"Sondern von mir," erklang eine Kerry wohl bekannte Stimme. Sie schob sich an ihrem Vater vorbei, um besser in den Kartenraum hinein blicken zu können. Dort stand Gandalf, in weiße Gewänder gehüllt und auf seinen Stab gestützt. Der Zauberer lachte. "Hallo, Kerry. Wie schön dich zu sehen, meine Liebe."
Kerry konnte nicht anders, sie musste ihn einfach umarmen. "Gandalf!" brachte sie hervor. "Ich dachte, du wärest noch immer in Mithlond, bei den Elben."
"Ihr kennt dieses Mädchen, Herr Gandalf?" wunderte sich Erkenbrand.
"Und ob ich sie kenne," entgegnete Gandalf. "Und auch ihrem Vater bin ich bereits begegnet."
"Jetzt wird mir klar, wen wir vor wenigen Tagen in der Wold getroffen haben," murmelte Cyneric. "Ihr wart es also, der Zarifa geholfen habt. Vielleicht... könntet Ihr ihr erneut behilflich sein?" fragte er mit Vorsicht in der Stimme.
"Worum geht es denn?" wollte Gandalf wissen.
Zarifa blickte beschämt zu Boden. Kerry konnte sie gut verstehen. Wäre sie selbst schwanger gewesen, wäre das nichts, was sie vor wildfremden Menschen herausposaunen wollen würde. Also beschloss sie, Zarifa zur Hilfe zu eilen. Rasch flüsterte sie Gandalf ins Ohr, wobei er Zarifa behilflich sein könnte. Der Zauberer lächelte und nickte. Dann wandte er sich der Südländerin zu, die instinktiv vor ihm ein Stück zurückwich.
"Du brauchst keine Angst zu haben," sagte Gandalf mit warmer Stimme. "Lass mich sehen, wie es um dich bestellt ist. Es wird nicht lange dauern." Er nahm Zarifas Hand, und als sie hilfesuchend Kerry anblickte, nickte diese ermutigend. Zögerlich ließ Zarifa sich von Gandalf etwas beiseite führen, während der Zauberer mit leisen, beruhigenden Worten auf sie einredete.
Cyneric hatte derweil begonnen, Erkenbrand seinen Bericht zu erstatten. Kerry hörte einige Minuten interessiert zu, doch da sie den Großteil der Geschichte bereits kannte, wurde ihr rasch langweilig. Nachdem einige Minuten verstrichen waren, kehrte Gandalf mit Zarifa zurück. "Dem Kind geht es gut," stellte der Zauberer klar. "Es ist gesund und wächst stetig heran."
"Da bin ich froh," sagte Kerry und umarmte Zarifa. "Ich habe dir ja gesagt, dass alles gut werden wird."
Zarifa blickte ihr in die Augen. "Das hast du gesagt, aber..." Sie hielt inne und blinzelte. Dann nickte sie. "Ich bin dankbar, Kerry."
Kerry grinste. "Während mein Vater den Rest seines Berichts ablegt, sollten wir uns etwas zu Essen suchen. Ich bin am Verhungern, und unsere Vorräte sind aufgebraucht."
"Nun, womöglich findet ihr in den Küchen noch ein paar Reste," sagte Erkenbrand. "Die Königin und der Herr Faramir haben ihr Abendessen bereits beendet und sprechen derzeit mit dem König der Dunländer..."
Kerry riss die Augen auf. "Sagtet Ihr
König der Dunländer? Er ist hier?"
Erkenbrand blickte sie verwundert an, während Gandalf schmunzelte. "Der Wolfskönig bat um eine Audienz, die ihm auf dem oberen Balkon gewährt wurde, und..."
Kerry ließ ihn mitten im Satz stehen und rannte los. Zarifa, Erkenbrand, Gandalf und Cyneric blieben zurück, und Kerry hörte noch, wie sie sich über ihr Verhalten wunderten. Doch es war ihr egal. Sie brauchte nicht lange, um den Balkon zu finden, der nach Norden hinaus ging und einen Ausblick über die weißen Dächer der Stadt bot. Vor dem Eingang standen zwei Wachen: ein Gardist der Königin mit Speer und Schild, und ein Dunländer mit Pelzumhang und einem langen Zweihänder auf dem Rücken.
"Déorwyn?"
"Kerry?"
Beide hatten gleichzeitig gesprochen und blickten einander überrascht an. Beide hatten Kerry erkannt; der Gardist kam ihr vage bekannt vor und musste ihr wohl einst in Edoras bei einem ihrer vielen Besuche dort begegnet sein, und der Dunländer war einer aus Aéds "Wolfsrudel", wenngleich sich Kerry gerade nicht an seinen Namen erinnern konnte. Sie nutzte die Verwirrung der beiden Wachen und schlüpfte zwischen ihnen hindurch.
"Wir kommen mit dem Wiederaufbau gut voran. Domnall schätzt, dass die große Halle auf der obersten Ebene von Edoras in wenigen Wochen fertiggestellt sein wird. Die Stadtmauer hingegen wird wohl noch..."
Da war er.
Aéd! Er saß auf einem Stuhl ohne Lehne nahe des Geländers des Balkons und hatte mitten im Satz inne gehalten, als er Kerry bemerkt hatte.
"Wer bist du, Kind?" Aéds Gesprächpartnerin blickte Kerry freundlich, aber eindeutig verwundert an. Sie - eine dunkelblonde Frau in einem tiefgrünen, bestickten Kleid - wandte sich Kerry zu. Sofort fiel Kerry auf, was sie hier eigentlich tat, und sie erkannte Königin Éowyn, die Herrin von Rohan.
Kerry gab einen halbwegs akzeptablen Knicks von sich und senkte errötend den Kopf. "Ich heiße Déorwyn, Tochter Cynerics, und ich..."
"Cyneric?" fragte die Königin.
"Kerry?" rief Aéd gleichzeitig. "Ich dachte, du wärest im Düsterwald..."
"Das war ich auch," begann Kerry zu erklären, ehe ihr wieder bewusst wurde, in welcher Art von Situation sie sich befand. "Es tut mir Leid, Euer Majestät. Ich hätte nicht stören dürfen."
Zu ihrem Erstaunen lächelte Éowyn sie freundlich an. "Dein Vater hat hin und wieder von dir erzählt. Er leistet gute Arbeit. Es stimmt also, dass er aus Rhûn zurückgekehrt ist?"
Kerry nickte und blickte mehrfach zwischen Aéd und Éowyn hin und her. "Er spricht gerade mit Herrn Erkenbrand und..."
Aéd war aufgestanden. Ehe Kerry reagieren konnte, hatte er ihre Hand genommen. Er war ganz nahe, ohne dass sie darauf vorbereitet gewesen war. Und dann küsste er sie.
"Ihr beiden kennt euch wohl ebenfalls schon," sagte Königin Éowyn, halb erstaunt, halb belustigt.