Valion, Valirë, Erchirion und Lóminîth von den Pinnath GelinDer gut ausgebaute Straße von Arandol in Richtung Westen war die Reisegruppe einige Zeit entlang des Südrandes des Weißen Gebirges gefolgt, bis sie nach einer Tagesreise an eine Wegkreuzung gekommen waren, an der eine aus Süden kommende Straße nach Anfalas endete. Diesem Weg folgend hatten sie das Hügelland der Pinnath Gelin am Tag darauf hinter sich gelassen und waren in südwestlicher Richtung entlang der Straße gereist, noch immer in Begleitung der Soldaten, die ihnen Herrin Nengwen mitgegeben hatte.
Während die nur von vereinzelten Bäumen bewachsene grüne Landschaft des nördlichen Teils von Anfalas langsam an Valion vorbeizog, dachte er darüber nach, wie seine Reise in den Westen Gondors verlaufen war. Er stand nun nur wenige Tage vor der erneuten Rückkehr nach Dol Amroth und erneut hatte er einen Auftrag des Fürsten der Schwanenstadt abgeschlossen. Doch im Gegensatz zu seiner heldenhaften Rückkehr aus Umbar konnte er diesmal keine vergleichbaren Ergebnisse vorweise. Ja, der Anführer der Separatisten war tot, doch war Maegond lange genug an der Macht gewesen, um die Stimmung in West-Gondor nachhaltig zu beeinflussen. Viele hatten seinen Worten Glauben geschenkt und hielten die Prinzen von Dol Amroth für torhaft und arrogant. Die Probleme, mit denen Herrin Nengwen sich nun in ihrem Amt als Herrscherin der Pinnath Gelin befassten musste, hatten gerade erst begonnen. Darüber hinaus musste sich Valion bei seiner Rückkehr in Dol Amroth mit den Umständen von Maegonds Tod befassen und hatte dafür zu sorgen, dass man seine Verlobte nicht hinrichtete und sie ihre Stellung am Hofe behalten konnte.
Lóminîth, die neben ihm ritt, wirkte ebenfalls nachdenklich. Sie hatte seit dem Aufbruch von Arandol kaum ein Wort gesprochen und hatte abends darauf bestanden, ein Zelt für sich allein zu bekommen. Valion, der kein Problem damit hatte, draußen zu schlafen, hatte ihr diesen Wunsch gewährt, sich jedoch gewundert. Dieses Verhalten sah Lóminîth nicht ähnlich. Normalerweise suchte sie abends, in einer privaten Umgebung eher körperliche Nähe als Abstand.
Die Straße vor ihnen überquerte einen sanften Hügel, und als sie dessen Spitze erreicht hatten, kam am dahinter liegenden Horizont das ferne blaue Band des Meeres in Sicht. Sie hatten sich dazu entschieden, in einem kleineren Hafen etwas weiter östlich von Revaillond, dem Haupthafen von Anfalas, an Bord eines der Schiffe zu gehen, die dort vor Anker lagen. Keiner von ihnen hatte große Lust darauf, sich noch einmal mit Golasgils Sohn Toradan zu befassen, auch wenn sie sich inzwischen sicher waren, dass der großspurige Jüngling wohl kaum etwas mit den Separatisten zu tun haben könnte.
„Alles in Ordnung?“ fragte Valion seine Verlobte, die ihn mit einem schwer zu deutenden Blick bedachte.
„Ich bin mir nicht sicher, wie der Fürst von Dol Amroth auf all dies reagieren wird,“ antwortete Lóminîth nach einer längeren Pause. „Ich dachte, ich hätte mittlerweile verstanden, wie die Herrschaftsstrukturen in Gondor funktionieren. Aber diese unbedingte Festhalten an Regeln und Gesetzen, bis hin zur Lächerlichkeit, überrascht mich nun doch.“
„Ich dachte einst auch, dass Regeln nur dazu da sind, damit man sie bricht,“ erwiderte Valion. „Doch inzwischen glaube ich, dass die meisten Gesetze dieses Landes nur zu unserem Besten sind. Ich habe gesehen, wie es im Umbar zugeht. Dort würde ein Mord an einer hochgestellten Persönlichkeit vermutlich keine so großen Wellen schlagen wie hier.“
„Das kommt ganz auf die Umstände an,“ sagte Lóminîth.
„Und von welchen Umständen reden wir hier?“ Valion sah ihr direkt in die Augen als er fortfuhr: „Hast du Maegond vorsätzlich erstochen? Oder war es wirklich Notwehr?“
Lóminîth hielt seinem Blick stand. Sie verzog keine Miene als sie antwortete: „Die Antwort darauf kennst du ganz genau. Ich habe eine Möglichkeit gesehen und sie genutzt, und die Bedrohung für Gondor mit einem Schlag beseitigt.“
Valion nickte, auch wenn ihm dabei das Herz ein wenig schwerer wurde. Diese Antwort hatte er erwartet, und doch gleichzeitig auch gefürchtet. „Ich verstehe,“ sagte er leise. „Du hast getan, was getan werden musste, schätze ich.“
„Ganz genau. Wieso fällt es euch Gondorern nur so schwer, das einzusehen?“
Weil wir keine Diener des Schwarzen Landes sind, wollte Valion schon antworten, doch er beherrschte sich und sagte stattdessen nichts.
„Ich hoffe, die Wogen in Dol Amroth bald glätten zu können. Ich habe mir bereits einen Plan für meine Rückkehr an den Hofe des Fürsten gemacht. Ich werde einige Gefallen einfordern müssen, wobei mir meine Mädchen sehr von Nutzen sein werden,“ fuhr Lóminîth fort. „Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Ich werde zurechtkommen... so wie ich immer zurechtgekommen bin.“
„Ich schätze, das wirst du,“ antwortete Valion.
Nur wenigen Minuten nach diesem Gespräch geschah etwas, das die Monotonie der Reise durch das friedliche Anfalas jäh durchbrach. Valirë war die Erste, die es bemerkte, und rasch alarmierte sie den Rest der Reisegruppe.
„Seht doch, dort im Osten steigt Rauch auf!“
Alle blickten sie in die gezeigte Richtung, linker Hand zu ihrer Reiserichtung entlang der Straße durch Anfalas. Tatsächlich hing dort eine dichte Rauchwolke über dem Flachland, deren Ursprung weniger als eine Meile entfernt zu liegen schien.
„Es kommt von einem kleinen Dorf, wenn mich meine Augen nicht täuschen,“ sagte Erchirion. „Reiten wir hinüber und sehen es uns an.“
Der Kommandant der Soldaten aus Arandol schien nicht besonders glücklich darüber zu sein, dass sie den geplanten Weg verließen, denn technisch gesehen waren Valion und Lóminîth seine „Gefangenen“. Doch er widersetzte sich nicht, denn das Wort des Prinzen von Dol Amroth wog schwer genug, um seine Einwände zu überstimmen. Und so lenkten sie alle ihre Pferde von der Straße ab und preschten rasch über die flache Ebene auf das Dorf zu.
Die Brände, die dort gelegt worden waren, waren bereits am Ersterben, als Valion die vordersten Häuser erreichte. Der Rauch hatte nachgelassen und das Ausmaß der Verwüstung war sichtbar geworden. Mehrere erschlagene Gondorer lagen zwischen den Ruinen des Dorfes verstreut, doch es gab auch einige Überlebende, die nun zwischen den schwer beschädigten Häusern hervorkamen, als sie die Soldaten sahen.
„Was ist hier geschehen? Wer hat dies angerichtet?“ wollte Erchirion von ihnen wissen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ihnen jemand diese Fragen beantworten konnte, denn viele der Überlebenden standen noch unter Schock. Es war schließlich eine ältere Frau, die Erchirion erzählte, was geschehen war.
„Es waren Männer, die weder Banner noch Insignien mit sich führten,“ sagte sie. „Sie kamen vor weniger als zwei Stunden in unser Dorf und griffen ohne Vorwarnung an. Dabei riefen sie immer wieder, dass uns die Prinzen von Dol Amroth nicht retten könnten und dass Gondor dem Widerstand gegen Mordor aufgeben müsse. Ich verstehe einfach nicht, wieso sie das getan haben.“
Valion trat hinzu. „Wer war ihr Anführer? Könnt Ihr ihn beschreiben?“
Die Frau dachte einen Moment nach, ehe sie antwortete. „Er war jung, hatte dunkles Haar und führte einen großen Bogen mit sich.“
Das bestätigte Valions Verdacht. „Das muss Gilvorn sein. Dieser Verräter ist ganz in der Nähe, weit kann er noch nicht gekommen sein.“
„Sie ritten nach Nordosten davon, nur wenige Minuten vor Eurer Ankunft.“
„Wir können sie noch einholen! Lasst uns rasch die Pferde satteln, und...“
„Warte, Valion. Diese Menschen brauchen unsere Hilfe,“ antwortete Erchirion. „Außerdem stehst du unter Arrest, bis die Angelegenheit mit deiner Verlobten geklärt ist. Ich verstehe, dass du Rache willst, aber...“
„Erchirion, das ist doch Wahnsinn. Wir haben die einmalige Gelegenheit, den Bastard der meinen Großvater ermordet hat und beinahe einen Aufstand gegen Dol Amroth ausgelöst hat, zu stoppen, und du willst mir sagen, dass ich
abwarten und nichts tun soll?“
„Du kannst nicht einfach davonreiten als würden die Gesetze Gondors für dich nicht gelten. Wir werden Gilvorn aufhalten, aber nicht hier und heute. Bis mein Vater sich nicht mit der Angelegenheit befasst hat, sind uns die Hände gebunden, so Leid es mir tut.“
Valion konnte es nicht fassen. Er ließ Erchirion stehen und kehrte zu seinem Pferd zurück, das nur wenige Meter entfernt stand. Valirë und Lóminîth, die alles mitangehört hatten, blickten ihn erwartungsvoll an.
„Du weißt, was du zu tun hast, kleiner Bruder,“ sagte Valirë. „Geh und schnapp dir den Bastard. Ich will seinen Kopf.“
„Wir halten dir in Dol Amroth den Rücken frei,“ fügte Lóminîth hinzu. Es kam nur selten vor, dass Valions Verlobte einer Meinung mit seiner Zwillingsschwester war, doch in diesem Augenblick hatten sie beide dieselbe entschlossene Miene im Gesicht. „Einige Gesetze müssen gebrochen werden, für das Wohl des Volkes. Gib auf dich acht, und bleib nicht zu lange fort! Ich werde deine Rückkehr in der Schwanenstadt erwarten.“
Sie gab ihm einen raschen Kuss. Und da hatte er seine Entscheidungen getroffen.
Valion schwang sich in den Sattel, ehe die Soldaten ihn aufhalten konnten, denn die meisten von ihnen waren damit beschäftigt, den Verletzten unter den Überlebenden zu helfen. Er ritt an den Nordrand des Dorfes.
„Wenn du jetzt gehst, bist du ein gejagter Mann,“ erklang Erchirions Stimme hinter ihm. Valion blickte über die Schulter zurück und sah den Prinzen, der in einiger Entfernung dort stand und ihn streng musterte.
„Ich habe es schon immer nicht so genau mit den Spielregeln genommen,“ gab Valion zurück und schenkte Erchirion ein schiefes Lächeln. „Richte deinem Vater meine besten Grüße aus. Ich werde meinen Auftrag zu Ende bringen, und Gondor retten.“
„Wir werden sehen, wie du bei deiner Rückkehr empfangen wirst, doch ich fürchte, es wird als gesuchter Verbrecher in Ketten sein,“ antwortete Erchirion.
„Du sagst es, alter Freund. Wir werden es sehen.“
Damit richtete Valion sich im Sattel auf und sein Pferd preschte vorwärts, in einen Galopp verfallend. Die Spur war frisch und im flachen Gras der Ebene kaum zu übersehen. Sie führte in einer geraden Linie nach Nordosten, in Richtung der an Anfalas angrenzenden Lehen im zentralen Teil Gondors.
Valion ins Schwarzgrundtal