Aragorn, Gandalf, Amrothos, Irwyne, Narissa und Aerien von den Pfaden der TotenNachdem sie alle wieder aufgesessen waren, hatte Gandalf ein hartes Tempo vorgegeben und sie waren im Galopp durch das Tal geritten, das Amrothos später als Schwarzgrundtal bezeichnete. Dabei waren sie schon nach kurzer Zeit auf eine Straße gestoßen, die quer zu ihrer Reiserichtung nach Osten führte, doch nach einer kurzen Beratung hatten sich Aragorn und Gandalf für einen südlicheren Weg entschieden, entlang des Flusses Morthond, der aus dem Tal heraus dem Meer entgegen strömte. Dieser Weg würde sie vorbei an den besiedelteren Gebiete in Lamedon und Belfalas bringen und stattdessen durch recht dünn bewohntes Land an der Grenze zu Anfalas führen, bis sie das Lehen von Edhellond und damit das Meeresufer erreichen würden.
Aerien erinnerte sich später nur noch wenig an die beiden Tage, in denen sie dem Morthondfluss folgten. Es wurde nur wenig gesprochen und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Amrothos und Irwyne blieben viel unter sich, während Aerien und Narissa es ihnen gleich taten. Aragorn trug wieder seine Kapuze. So gelangten sie schließlich am dritten Tag seit ihrem Aufbruch von Edoras in die weite Umgebung der Hafenstadt Edhellond. Aragorn und Gandalf planten, den Rest des Weges nach Dol Amroth per Schiff zu reisen, um so etwas Zeit zu sparen. Die Stadt selbst würden sie allerdings erst am folgenden Tag betreten, denn als sie ihr Lager für die Nacht aufschlugen, war die Sonne bereits seit mehreren Stunden untergegangen.
Nachdenklich saß Aerien auf einem flachen Stein und fasste sich wie automatisch an die Stelle, an der früher ihr Schwert auf ihrem Rücken gehangen hatte. Normalerweise hätte sie die Klinge jetzt gereinigt und geschliffen, wie sie es schon an vielen Abenden getan hatte, um ihre Gedanken ein wenig zur Ruhe zu bringen. Doch ihre Hand griff ins Leere. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken als sie sich daran erinnerte, weshalb sie das Schwert im Dunklen Turm zurückgelassen hatte.
"Ist alles in Ordnung?" fragte Narissa, die gerade mit einem Arm voll Feuerholz aus einem kleinen Wäldchen ganz in der Nähe zurückgekehrt war und sich nun daran machte, ein Lagerfeuer in Gang zu bringen.
Aerien blickte sich um. Aragorn und Gandalf waren ein Stück voraus geritten, um den Weg in Richtung der Hafenstadt auszukundschaften, wie sie gesagt hatten, doch Aerien vermutete, dass sie den Ritt hauptsächlich dafür nutzen würden, Dinge zu besprechen, die nicht für den Rest der Gruppe bestimmt waren. Amrothos und Irwyne hingegen kümmerten sich um die Pferde, die sie im ein gutes Stück entfernten Morthondfluss tränkten.
"Ich weiß nicht, 'Rissa," sagte Aerien, die sich zumindest für ein paar Minuten unbeobachtet und allein mit Narissa fühlte. "Ich habe das Gefühl, meine Erinnerungslücken werden schlimmer... weißt du noch, was heute morgen passiert ist? Ich weiß nur noch, dass ich aufgewacht bin, und wir losgeritten sind, an diesem... verlassen Gehöft vorbei, und... dann waren wir plötzlich schon hier."
"Du machst dir zuviele Gedanken," meinte Narissa schnell und brachte ein Lächeln zustande. Sie legte das Holz sorgfältig auf das noch kleine, aber schon lautstark knisternde Feuer und kam zu Aerien hinüber, um ihr eine enge Umarmung zu geben. "Es gab nun einmal nicht viel zu sehen auf dem Ritt hierher, bis auf leere Landstriche und die Berge ringsherum."
"Aber dies ist Gondor," wiederholte Aerien leise. "Ich wollte dieses Land schon so lange sehen. Und nun bin ich mitten in seinem Herzen und fühle... nichts."
Narissa legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah Aerien direkt in die Augen. "Ich glaube, ich weiß, weshalb dir das alles so vorkommt," meinte sie dann. "Mir geht es nämlich ganz ähnlich. Wir haben unser Ziel erreicht und Aragorn aus der Gefangenschaft befreit, aber... was tun wir jetzt?"
"Wir unterstützen König Elessar," sagte Aerien sofort.
"Das ist mir zu schwammig, und dir auch - und das weißt du genau," erwiderte Narissa. "Weißt du, auf unserem ganzen Weg bisher hatten wir immer ein Ziel vor Augen. Wir kamen beide damals nach Ain Séfra, um Qúsay zu beurteilen. Dann rannte ich weg und... du machtest es zu deiner Aufgabe, mich zu retten. Danach kam die Sache mit... Qafsah." Sie schluckte und fuhr erst einen Augenblick später wieder fort. "Hinterher gingen wir zur Insel und halfen beim Wiederaufbau, bis...
ich an der Reihe war, dich zu retten. Und selbst damals war schon klar, dass wir den Weg, den Arandir gefunden hat, beschreiten würden. Es ... wartete auf uns, selbst während unserer Irrfahrten durch Kerma und den Süden Harads. Eine Aufgabe, die nur wir beide erfüllen konnten. Und jetzt, da dieses Ziel erreicht ist... müssen wir uns erst wieder an das Leben ohne eine klare Aufgabe erinnern."
Aerien nickte langsam. Narissa hatte Recht, zumindest teilweise. Der Weg nach Mordor hatte ihr die ganze Zeit über während ihrer Tage in Harad bevorgestanden wie eine Prüfung, der sie sich nicht entziehen konnte, so sehr sie es sich auch wünschte. Und nun, da sich ihre kühnsten Hoffnungen erfüllt hatten und Aragorn tatsächlich frei war, wusste Aerien nicht, was ihr neues Ziel im Leben war. Sie hatte immer davon geträumt, gemeinsam mit Narissa durch die Welt zu ziehen und ein sorgenfreies Abenteuerleben zu führen, aber... so leicht war es nicht. Sauron war nicht besiegt worden, sondern würde nun sogar noch zu einer größeren Gefahr für die Welt der Menschen werden. Womöglich würden die nächsten Wochen oder Monate die letzten sein, in denen es noch freie Reiche gab, die sich Mordor widersetzten. Dennoch gab es da etwas, irgendwo in Aeriens Hinterkopf, das noch über das Fehlen einer neuen Aufgabe hinaus ging. Etwas, woran sie sich erinnern sollte... es aber nicht konnte.
"Wahrscheinlich... hast du Recht," sagte Aerien daher und warf einen nachdenklichen Blick an Narissa vorbei auf das kleine Feuer. "Ich... hatte irgendwie immer gedacht, dass sich nach dem Abschluss der Aufgabe... alles irgendwie von selbst regeln würde."
"Und das wird es bestimmt auch," antwortete Narissa zuversichtlich, ehe ein Schatten über ihr Gesicht huschte. "Da ist... noch immer mein Vater. Sûladan. Ich..."
Sie brach ab. Aerien musste in diesem Augenblick daran denken, was Narissa einst während des Majles zu Qúsay gesagt hatte. Dass sie verlangt hatte, diejenige zu sein, die Sûladan tötete. "Das bedeutet... du willst zurück nach Harad?"
"Harad ist meine Heimat," meinte Narissa und nahm die Hände von Aeriens Schultern. "Die Insel, meine ich. Aber die liegt nun einmal in Harad... und nicht in Gondor. Ich dachte, wir kehren zusammen dorthin wieder zurück, wenn..."
"Wenn?" wiederholte Aerien zaghaft.
"Ich... weiß auch nicht," sagte Narissa unsicher. "Ich weiß, dass du ganz versessen darauf bist, Gondor und vor allem Dol Amroth zu sehen. Aber... ich habe gerade ein Gefühl, dass... wir nicht ewig Zeit haben." Sie wog nachdenklich den Kopf hin und her und das weiße Haar flackerte dabei rot im Schein der Flammen auf, ehe sie die Augen kurz schloss und dann Aeriens Hände nahm. "Ach, vergiss es einfach. Jetzt reiten wir erst einmal nach Dol Amroth, und dann... sehen wir weiter, ja?" Ein schiefes Grinsen stahl sich auf Narissas Lippen.
"Also gut," sagte Aerien verwirrt, beschloss aber, erst einmal nicht nachzuhaken. Sie hoffte, dass Narissa sich es anders überlegen würden, wenn sie erst einmal in Dol Amroth angekommen waren. "Ich... bin mir sicher, es wird dir dort gut gefallen."
"Du weißt doch, ich mache mir nicht so viel aus großen Städten," sagte Narissa, ehe sie sich wieder dem Feuer zuwandte. Etwas nachdenklich machte sich Aerien daran, ihrer Freundin beim Zubereiten des Abendessens zu helfen.
Als Irwyne und Amrothos zu ihnen zurückkehrten, löste sich die angespannte Stimmung. Irgendetwas musste unten am Fluss zwischen den beiden geschehen sein, das sowohl Amrothos und Irwyne in erstaunlich gute Laune versetzte, und es gelang den beiden, mit dieser guten Laune auch Aerien und Narissa anzustecken. Schon bald scherzten und lachten sie miteinander, als würden sie sich alle schon jahrelang kennen, und Amrothos musste versprechen, ihnen in Dol Amroth eine persönliche Führung durch die Residenz der Schwanenfürsten zu geben, nachdem er eine Wette gegen Narissa verloren hatte, bei der es darum ging, wer länger die Luft anhalten konnte. Bei all dem Spaß und Unsinn wäre ihnen beinahe die Brühe übergekocht, die in einem einfachen Eisentop über dem Feuer vor sich hin gezogen hatte. Nur dank Irwynes beherztem Eingreifen konnte das Abendessen gerettet werden, wofür ihr alle Beteiligten sehr dankbar waren.
Erst eine Stunde später kamen Aragorn und Gandalf zu ihnen zurück. Anhand der Blicke, die die beiden einander zuwarfen, erkannte Aerien, dass sie noch immer geteilter Meinung über jene Dinge waren, die sie nur im Verborgenen besprachen. Aerien wünschte sich, sie hätte den Mut, dieses Thema offen anzusprechen. Doch Gandalf war ihr noch immer nicht geheuer, und vor Aragorn hatte sie viel zu großen Respekt, um ihn nach etwas zu fragen, was womöglich zu einer Kritik an seinen Methoden und Vorhaben führen könnte.
In der folgenden Nacht wachte Aerien einmal auf, weil ein wirrer Traum sie geweckt hatte. Erinnern konnte sie sich nur noch daran, dass sie eine bleiche Hand gesehen hatte, die ein Messer gehalten hatte. Sie setzte sich vorsichtig auf und sah dabei den Zauberer Gandalf, der gerade Wache hielt, und sie schweigend aus einiger Entfernung betrachtete.
Mit einem mulmigen Bauchgefühl legte Aerien sich wieder hin. Gnädigerweise ließ der Schlaf nicht lange auf sich warten.
Am Tag darauf ritten sie nach Edhellond, um ein Schiff nach Dol Amroth zu nehmen.