Valion, Narissa, Aldar und Thorongil aus Dol AmrothValion lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling, während das Schiff Aldars mittlerweile den Felsen, auf dem die Stadt Dol Amroth stand, umrundet hatte und in die weite Bucht von Belfalas hinausfuhr. Der Wind stand günstig und brachte die
Falthaleth mit Schwung in tiefere Gewässer.
"Das ist nicht meine erste Fahrt entlang der Küsten von Belfalas," begann Valion gelassen. "Schon wieder entsendet mich mein Fürst nach Umbar, aber diesmal ist so einiges anders."
"Du hast bereits ein wenig davon erzählt, wie du mit deiner Zwillingsschwester aufgebrochen bist, um Prinzessin Lothíriel zu retten," sagte Narissa und bewies damit, dass sie bei ihren vorherigen Unterhaltungen besser aufgepasst hatte, als Valion erwartet hatte. "Aber ins Detail bist du nicht wirklich gegangen. Ich schätze, jetzt hätten wir die Zeit dafür..."
Valion grinste. "Langweilen möchte ich dich nicht. Der aufregende Teil dieser Geschichte beginnt eigentlich erst damit, dass Kapitän Véantur am Horizont eine geheimnisvolle Insel gesichtet hat, nachdem wir einer schlimmen Flaute ausgesetzt waren und von der Strömung nach Südwesten abgetrieben worden waren."
"War das... Tol Thelyn?"
"Ja. Es muss einige Zeit nach dem Fall der Insel gewesen sein. Ich glaube, wenn ich es richtig verstehe, warst du zu diesem Zeitpunkt schon eine ganze Weile fort gewesen. Jedenfalls ist uns dort dein Onkel begegnet..."
"Er... erzählte mir davon," sagte Narissa leise. "Nachdem wir alle wieder zusammen auf der Insel waren, und etwas Zeit zum Reden hatten. Er hatte sich endlich dazu durchgerungen, mit ... mit meinem Großvater reinen Tisch zu machen. Sich wieder zu versöhnen. Aber er kam zu spät..."
Valion legte Narissa erneut eine Hand auf die Schulter, doch er tat es nur vorsichtig. Das Mädchen war ihm in vielen Dingen noch immer ein Rätsel. Sie erinnerte ihn so oft an eine jüngere Version seiner Schwester, aber anders als Valirë konnte Narissa deutlich nachdenklicher und schwermütiger sein, wenn sie es wollte. So wie jetzt gerade. "Na komm schon, Kopf hoch. Die eigene Heimat brennen zu sehen ist niemals leicht, das weiß ich nur zu gut. Ich habe das sogar zweimal erleben müssen. Aber wir sind beide noch hier, nicht wahr? Unser Kampf geht weiter, und wir geben nicht auf..."
"...nicht solange es etwas gibt, für das es sich lohnt, zu kämpfen," ergänzte Narissa und drehte sich zu ihm, sodass sie einander nun an der Reling gegenüber standen. "Du hast Recht."
"Und ich glaube, ich kenne zumindest einen deiner Gründe," sagte Valion und lächelte schief. "Sie ist wirklich eine ganz besondere Person."
"Das ist sie," wiederholte Narissa, und Valion hätte schwören können, dass die grünen Augen bei diesen Worten wie von einem inneren Glanz aufleuchteten. "Aber... nun lass uns über Umbar sprechen. Du kamst in die Stadt, als... ich gerade mit Edrahil Kontakt aufgenommen hatte, nicht wahr?"
"So genau kann ich dir das nicht sagen, Narissa," antwortete Valion. "Begegnet sind wir uns damals jedenfalls nicht; stattdessen hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, mich mit einem besonders durchtriebenen Banditen herumzuschlagen, der diesem Schreiber, Bayyin, das Leben schwer machte. Mustqîm, das war sein Name. Er..."
"Du kennst ihn?" unterbrach Narissa ihn. "Er ist uns in Kerma über den Weg gelaufen... dreimal. Er ist ... nun..."
Valion legte den Kopf etwas schief. "Was ist er? Etwa dein heimlicher Liebhaber?"
Er wusste genug über Frauen, um sofort einen Schritt rückwärts zu tun, denn Narissa wurde rot - aber nicht vor Verlegenheit - und ihre flache Hand hätte Valions Wange wohl sehr platziert getroffen, wenn er nicht ausgewichen wäre. "Idiot!" schimpfte sie. "Du hast überhaupt nichts verstanden!"
"Es war ein Scherz!" beteuerte er lachend. "Diesen Mistkerl würde ich keiner Frau wünschen, nicht einmal der Jungfrau von Arzâyan. Was hat es nun mit ihm auf sich? Hat er es etwa auf dich abgesehen?"
"Kann man so sagen," brummte Narissa, noch immer etwas verstimmt. "Er ist ein Bastardsohn Sûladans... was ihn wohl zu meinem Halbbruder macht."
Valion kniff die Augen zusammen. "Schwer zu glauben, dass ein solcher Wurm mit jemandem wie dir verwandt sein soll..."
"Ich habe zum Glück nicht viel von meinem Vater an mir," sagte Narissa. "Jedenfalls ist Mustqîm noch irgendwo dort draußen. Es würde mich nicht wundern, wenn wir seinen Weg noch einmal kreuzen."
"Ich habe hier zwei schlagkräftige Argumente, die ihn uns vom Leib halten sollten," sagte Valion und tätschelte die Griffe seiner Schwerter. "Und du bist ja auch nicht gerade wehrlos, Narissa."
"So ist es," sagte Narissa, halb grimmig, halb amüsiert.
"ich fürchte, ich muss dich enttäuschen," sagte Valion einige Zeit später, nachdem er Narissa ausführlicher von seinen Abenteuern in Umbar erzählt hatte. "Ich war nie jemand, der groß Pläne geschmiedet hat. Ich bin ein Mann der Tat. Wenn du von mir wissen möchtest, wie ich vorgehen würde, um Sûladan anzugreifen, dann würde ich den direkten Weg wählen. Es herrscht Krieg in Harad, nicht wahr? Sûladan wird sich dem Schlachtfeld nicht ewig entziehen können. Ich sage, wir schließen uns Fürst Qúsays Heer an und stellen ihn im Felde. Du und ich, wir schlagen uns im Getümmel zu deinem Vater durch, und dann..."
"Dann besitzt du hoffentlich sowohl die Höflichkeit als auch den Verstand, mir den Vortritt zu lassen," sagte Narissa und lächelte gefährlich.
"Na, aber sicher doch," stimmte Valion zu. "Du hast mein Wort."
"Aber was tun wir, wenn wir Sûladan nicht zu einer Schlacht zwingen können? Wenn uns Qúsay nicht helfen will?" überlegte Narissa.
"Ich habe es dir bereits gesagt," erwiderte Valion. "Ich bin kein Plänemacher. Aber das muss ich zum Glück ja auch nicht sein. Du kennst doch den Experten für solche Dinge. Und wie es der Zufall will..."
"...hält sich Edrahil noch immer in Umbar auf," beendete Narissa den Satz, dann nickte sie. "Ja. Ich hoffe nur, er sieht unser Ziel als wichtig genug an."
"Wir haben natürlich auch noch andere Verbündete," sagte Valion. "Dein Onkel ist - da bin ich ehrlich - meiner Auffassung nach einer der besten Kämpfer, die mir je begegnet sind. Darüber hinaus ankert die Flotte von Dol Amroth vor Umbar, und dort hat Erchirion das Kommando. Außerdem ist meine Schwester bei ihm. Sollte sich der alte Griesgram quer stellen, finden wir genug Hilfe anderswo, sei unbesorgt. Sûladan wird fallen."
"Woher nimmst du diese Gewissheit?" fragte Narissa etwas leiser.
"Wer weiß? Vielleicht ist das die sagenhafte Vorsehungskraft, die man einst den Dúnedain von Westernis nachgesagt hat. Aber vielleicht bin ich auch einfach nur optimistisch," sagte Valion und lachte. "Ich habe nie viel auf angestaubte Mythen und Legenden gegeben." Er wurde wieder ernster und richtete den Blick auf das Meer. "Jedenfalls sage ich dir eines, Narissa: Ich stehe dir zur Seite. Du kannst dich auf mich verlassen."
"Ich danke dir," sagte Narissa. "Vermutlich... hast du Recht. Wir werden das schon hinbekommen. Irgendwie. Versuch' dabei nicht draufzugehen, in Ordnung?"
Valion lachte erneut. "Ich werde mir alle Mühe geben," versprach er. "Was wäre das für ein Trauertag für die edlen Damen Gondors! Lieder würden sie über mich singen, und Gedichte verfassen..."
"Das können sie auch tun, wenn du das hier überlebst," sagte Narissa amüsiert. "Außerdem dachte ich, du bist verlobt?" Sie lehnte sich interessiert vor. "Gibt es irgendwelche... Schwierigkeiten zwischen Lóminîth und dir? Auf mich wirkte sie eigentlich meistens wie eine jüngere Ausgabe ihrer Schwester..."
"In vielerlei Hinsicht ist sie das auch," antwortete Valion nachdenklich. Lóminîths ruhiges, aber eindringlich wirkendes Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf, eingerahmt von sorgfältig frisierten schwarzen Haarsträhnen. "Aber sie hat eine Dunkelheit in ihrem Herzen, die noch nicht ganz ihre Kraft verloren hat, um es mal so zu formulieren. So wie deine Aerien..."
"Was willst du damit sagen?" fragte Narissa und hörte sich ziemlich empört an.
"Ich habe es nicht so gemeint wie du denkst," bemühte er sich rasch zu erklären. "Aber du hast gesehen, was beim Frühstück mit dem Fürsten geschehen ist. Auf Aerien ruht noch immer der Schatten Mordors, selbst wenn das arme Mädchen selbst natürlich keinerlei bösen Absichten hat. Ich bin beileibe kein Gelehrter, Narissa, aber selbst ich weiß, dass der Einfluss des Dunklen Herrschers nicht leicht abzuschütteln ist. Bei Lóminîth ist es ... schwieriger. Sie hat beinahe ihr gesamtes Leben in einer Stadt verbracht, die unter Saurons Kontrolle stand, so indirekt diese Kontrolle auch gewesen sein mag. Ihre ältere Schwester hatte Thorongil, um ihr aus dieser Dunkelheit heraus zu helfen, und den kleinen Túor. Lóminîth... sie hatte lange Zeit niemanden."
"Ich... glaube, ich verstehe," meinte Narissa leise. "Du hast vor, sie zu retten."
"Außer mir hat sie nur ihre Schwester, und... wenn das genügt hätte, dann wäre sie dem Schatten schon lange entflohen," sagte Valion ungewohnt ernst. "Ich will für sie das sein, was du für Aerien bist. Ein Licht in der Dunkelheit, dem sie folgen kann."
"Aerien besitzt ihr eigenes Licht, in ihrem Herzen," sagte Narissa, doch sie schüttelte nicht den Kopf. "Aber lass dich nicht davon abbringen, hörst du?" Sie stellte sich neben ihn und gemeinsam blickten sie auf das Meer hinaus. "Wenn wir in Umbar angekommen sind, werde ich Edrahil bitten, einen Brief nach Dol Amroth zu schicken. Ich glaube, Aerien sollte davon erfahren. Vielleicht... kann sie dir ein wenig helfen."
Valion nickte langsam. "Einen Versuch ist es wert," stimmte er zu.
Sie standen noch eine ganze Weile dort an der Reling, während die
Falthaleth gute Fahr nach Südosten entlang der Küste von Belfalas machte. Schließlich tauchte Kapitän Aldar bei den beiden auf, um sie persönlich zu einem Abendessen in seiner Unterkunft einzuladen, um "sich euch zwei mal in aller Ruhe und gründlich anschauen zu können", wie er es formulierte. Es wurde ein sehr amüsanter Abend, denn der Kapitän war bei bester Laune, ganz im Gegensatz zu der wütenden Stimmung, die er einst in Linhir gezeigt hatte. Dass Valion sich an Hilgorns Rettung beteiligt hatte, schien Aldar ihm wohl recht hoch anzurechnen. So unterhielt er sie mit allerlei Späßen und Seemannsgeschichten, während die Sonne unterging und das Schiff weiter in Richtung Umbar fuhr...