Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Dunland

Die Hügellande von Dunland

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Fine:
Die schwere Tür wurde von draußen mit Gewalt aufgebrochen, und Aéds Männer stürzten hinein. Die meisten waren ungefähr im selben Alter wie der Wolfskönig selbst. Als sie die Leiche sahen und erkannten, dass die Gefahr für den Augenblick gebannt war, wurden sie ruhiger, doch dann fiel einem der Krieger auf, um was es sich bei dem Toten tatsächlich handelte.
Ein lautstarkes Stimmengewirr brach aus. "Die Elben haben uns verraten!" lautete die Hauptaussage. Aéd gelang es nur mit größter Anstrengung, die Männer zum Schweigen zu bringen und ihm zuzuhören.
"Bewahrt die Ruhe! Wir wissen nicht, warum dieser Elb versucht hat, mich zu töten," rief er. "Ich glaube nicht, dass er aus Eregion kam, und solange wir keine Beweise dafür haben, werde ich das Bündnis mit der Königin der Avari nicht ohne guten Grund brechen."
Die meisten Dunländer schienen Aéd zu vertrauen und beruhigten sich, doch einige blieben stur. Córiel sah, wie sie ihr hasserfüllte Blicke zuwarfen. Das Misstrauen der Dunländer gegenüber den Erstgeborenen saß tief und war viele Jahrhunderte alt. Selbst Aéd würde weitaus mehr als ein paar Wochen benötigen, um dieses Misstrauen in seinem Volk verschwinden zu lassen.
"Diese Frau hat den Angreifer getötet und mir das Leben gerettet," verkündete der Wolfskönig und deutete auf die Hochelbin. "Beruhigt euch also! Die Gefahr ist für den Augenblick gebannt. Und würde sich bitte jemand um ihre Verletzungen kümmern?"
Eine Heilerin von Corgans Stamm wurde gerufen, und brachte ihren Häuptling gleich mit. Corgan polterte zunächst laut drauflos, außer sich vor Zorn, dass es jemand gewagt hatte, die Gäste, die er in seinem eigenen Heim beherbergt hatte, anzugreifen. Als er jedoch sah, dass Córiel kurzen Prozess mit dem Attentäter gemacht hatte, legte er ihr anerkennend seine Hand auf die Schulter, während die Heilerin die Schnitte verband, die sie im Kampf erlitten hatte.
"Er hat bekommen, was er verdient hat, dieser Haufen Abschaum. Zu schade, dass ich es nicht selbst tun konnte. Doch wie ich sehe, habt Ihr Euch wirklich sehr gut gegen ihn geschlagen." Er zog das Messer aus dem Hals des Toten und wog es abschätzend in der Hand. "Diese Waffe stammt vom Stamm des Messers. Die meisten ihrer Krieger tragen es," stellte Corgan fest.
"Wahrscheinlich sollte es so aussehen, als ob einer von Yvens Gefolgsleuten den Wolfskönig umgebracht hat," überlegte einer von Aéds Gefährten.
"Zu schade, dass du ihn töten musstest, Stikke," meinte Jarbeorn. "Er hätte uns vielleicht viele interessante Dinge verraten können, wenn wir ihn zum Reden gebracht hätten."
Córiel blickte entschuldigend zwischen dem Beorninger und Aéd hin und her, doch der Wolfskönig winkte ab. "Ihr habt um Euer Leben und um meines gekämpft. Wir werden schon noch herausfinden, was hinter dieser Sache steckt. Verdoppelt für heute Nacht die Wachen," wies er seine Leute an. "Ich für meinen Teil bin zu müde, um mich heute mit der Angelegenheit weiter zu befassen."

Der Morgen kam und die Sonne ging blutrot über dem fernen Nebelgebirge im Osten auf. Córiel und Jarbeorn hatten sich nach einem kurzen Frühstück zu Aéd und seinen engsten Vertrauten und Beratern gesellt, die sich ein Stück außerhalb des Dorfes unter einer mächtigen, uralten Eiche versammelt hatten. Der Baum war mehr als einen Meter dick und seine Krone war breiter als viele Häuser. In die Rinde des Stammes waren seltsame, fremdländisch wirkende Zeichen und Runen eingeritzt.
"Dies ist die Gebrannte Eiche," erklärte Corgan. "Hier versammeln sich die Ältesten vom Stamm des Stabes, um wichtige Entscheidungen zu treffen."
"Sie soll uns heute für den selben Zweck dienen," meinte Aéd, dem Sorge, aber auch Entschlossenheit ins Gesicht geschrieben standen. Nachdem er einen prüfenden Blick auf den Baum geworfen hatte, drehte er sich um und wandte sich an die Gruppe. "Ihr alle wisst inzwischen, was gestern Nacht geschehen ist. Jemand hat versucht, mich zu töten. Es gelang ihm, sich als einer meiner Männer zu verkleiden, doch in Wahrheit war er ein mir unbekannter Elb. Wir sind jetzt hier, um zu entscheiden, was wir wegen dieser Angelegenheit unternehmen werden."
"Ein Angriff auf den Wolfskönig kann nur eines bedeuten," rief einer der Berater, ein älterer Mann mit dichtem, buschigen Bart. "Die Elben wollen Krieg!"
"Er hat recht!" stimmte ein zweiter Dunländer zu. "Jetzt, wo sie sich in Eregion sicher fühlen, wollen sie uns führerlos machen, um selbst die Herrschaft über Dunland zu übernehmen."
"Das wisst ihr nicht," entgegnete Corgan. "Nur weil ein einzelner Elb versucht hat, Aéd Forathssohn zu töten, heißt das nicht, dass sich plötzlich alle Avari gegen uns gewendet haben. Wir wissen nicht, woher der Angreifer kam. Vielleicht ist er gar keiner der Elben, die in Eregion leben."
"Vielleicht steht er mit ihr im Bunde," rief der Bärtige und zeigte anklagend auf Córiel. "Sie kommt aus Rohan, oder nicht? Wie wir gehört haben, leben dort nun viele Elben."
"Es kann dennoch sein, dass der Attentäter auf eigene Faust gehandelt hat," überlegte Jarbeorn.
"Gibt es unter den Elben bezahlte Mörder?" fragte Aéd, an Córiel gerichtet, doch sie schüttelte den Kopf. Zumindest unter ihrem eigenen Volk, den Noldor, hatte sie noch nie davon gehört. Aéd ließ den Blick in die Ferne schweifen. "Wir dürfen nicht voreilig handeln. Denkt nach: Wer würde etwas von meinem Tod haben? Ich weiß, dass es viele Feinde gibt, die mich mit Freuden tot sehen würden, doch eines haben die meisten von ihnen gemeinsam...."
"Sie dienen der Weißen Hand," ergänzte Corgan. "Saruman ist es, der am meisten von deinem Tod hat. Dunland würde erneut ins Chaos stürzen und die Stämme würden sich wieder gegenseitig bekriegen. Das will niemand hier. Was hätten die Elben davon? Ich denke nicht, dass sie dahinter stecken."
"Und doch ist es äußerst ungewöhnlich, dass es Saruman oder Yven gelungen sein könnte, einen elbischen Attentäter anzuheuern," sagte ein Mann, der bisher noch nichts zur Diskussion beigesteuert hatte. "Ich denke, wir sollten dennoch die Möglichkeit nicht ganz ausschließen, dass die Elben Eregions dahinterstecken. Erinnerst du dich, wie kalt der Abschied ihrer Königin war?" fragte er, an Aéd gewandt.
Aéd schüttelte langsam den Kopf. "Ich weiß nicht, Domnall. Sie kam mir nicht wie eine  Herrscherin vor, die ihr Volk vor dem Untergang ihrer Heimat rettet, nur um einen Krieg mit den Menschen anzufangen."
Domnall schlug nachdenklich die Hände zusammen. "Ich meine nur, dass wir vorsichtig sein sollten und alle Möglichkeiten im Auge behalten sollten."
Nun nickte der Wolfskönig. "Also gut. Dann hört nun meine Entscheidung. Wir werden wachsam sein, und unsere Anstrengungen verdoppeln, Yven und seine fehlgeleiteten Anhänger zu erwischen. Wenn wir ihn haben, wird er uns sagen, ob er hinter dem Angriff steckt." Leises Gemurre erhob sich, doch Aéd brachte die Dunländer mit einer Geste zum Schweigen. "Außerdem werden wir die Grenze zu Eregion aufmerksam beobachten und versteckte Wachposten am Südufer des Glanduin aufstellen. Ich will wissen, wer den Fluss überquert, und aus welchem Grund. Sollten die Elben wider Erwarten etwas damit zu tun haben, werden wir sie zur Rede stellen. Wir werden nun umso dringender das Bündnis mit Rohan benötigen und ich bin froh, dass mein Bote bereits nach Aldburg unterwegs ist."

Nicht alle Dunländer waren mit Aéds Entscheidung zufrieden und als sich die Gruppe zerstreute, sah Córiel einige Gesichter, die ihr gar nicht gefielen. Unterdrückte Wut lag in der Luft und die Elbin hoffte, dass der Wolfskönig seine Gefolgsleute unter Kontrolle halten konnte.
Aéd und Domnall standen noch immer unter der Eiche und unterhielten sich leise miteinander. Jarbeorn trat hinzu, und Córiel folgte ihm.
"Es gibt da noch etwas, das ich euch noch nicht erzählt habe," sagte der Wolfskönig. "Während des Krieges reisten mein Vater und ich einige Zeit mit einer kleinen Gruppe von Elben. Ich wollte es schon gestern ansprechen, doch der Angreifer hat sich eingemischt, ehe ich dazu kam. Ihr hattet gesagt, ihr wäret auf der Suche nach einer Elbengruppe, richtig? Könnte es sich dabei womöglich um eben jene Gruppe handeln, mit der ich einige Tage unterwegs war?"
Er beschrieb in einigen kurzen Sätzen die Elben, mit denen er gereist war. Es waren fünf gewesen, drei Frauen und zwei Männer. Vier von ihnen waren Córiel unbekannt, doch der fünfte passte auf Lasserons Beschreibung. Aéd fügte hinzu, dass diese Gruppe zwar ebenfalls nach Eregion gegangen war, doch bereits Pläne gehabt hatte, nach Imladris und von dort in den Düsterwald weiterzureisen.
"Nun, das ist trotzdem eine gute Spur," befand Jarbeorn. "Auch wenn dies nicht die einzige Gruppe von Elben ist, die wir suchen. Ihr habt von Imladris gesprochen, Aéd..."
"Wir suchen den Herrn dieses verborgenen Tals, der vor einigen Monaten aus Aldburg aufbrach, um in seine Heimat zurückzukehren. Wahrscheinlich kam er noch vor dem Beginn des Stammkrieges durch Dunland.
"Dabei kann ich euch leider nicht behilflich sein," sagte Aéd entschuldigend.
"Nun, ich denke, wir werden erst einmal selbst nach Eregion gehen und uns dort ein Bild der Lage machen," sagte Córiel. "Falls wir etwas über den geheimnisvollen Angreifer herausfinden, werden wir es Euch wissen lassen, Wolfskönig."
"Ich danke Euch. Besonders dafür, dass Ihr mein Leben bewahrt habt."
Sie verabschiedeten sich von Aéd und sattelten rasch die Pferde. Dabei entging ihnen nicht, dass in Corgans Dorf noch immer eine angespannte Stimmung herrschte. Córiel hoffte, Aéd würde rasch für Beruhigung sorgen können.

Jarbeorn und Córiel trieben ihre Pferde zur Eile an, denn sie wollten Dunland rasch hinter sich lassen. Jetzt, wo das Gerücht umging, dass ein elbischer Attentäter den Wolfskönig angegriffen hatte, wollte Córiel kein Risiko eingehen. Sie verbarg ihre verräterischen Ohren unter ihrer Kapuze und hielt den Kopf bedeckt.
Die Landschaft veränderte sich langsam, während sie weiter nach Norden kamen. In diesem Teil Dunlands wuchsen mehr Bäume, und das Gras färbte sich grün, im Gegensatz zu dem braunen Gras der Ebene. Immer wieder überquerten sie kleine Bäche, die vom Gebirge nach Westen zum Gwathló flossen. Dennoch war das Land noch immer recht steinig und übersät von großen und kleinen Felsen. Es wurde hügeliger, je weiter sie kamen, und das bremste ihren eiligen Ritt mehr und mehr aus.
Gegen Mittag des selben Tages machten sie eine Pause in einer kleinen Mulde, die am Fuß eines besonders hohen Hügels lag. Aéd hatte ihre Vorräte aufstocken lassen, weshalb sie noch immer kein Feuer entzünden mussten. Jarbeorn hatte sich der Länge nach ins weiche Moos gelegt, das am Boden der Mulde wuchs, und blinzelte träge ins helle Licht der Mittagssonne, die zwischen den Ästen der nahen Bäume hindurchblitzte. Auch Córiel fühlte sich schläfrig. Um bei voller Wachsamkeit zu bleiben, stand sie auf und ging auf und ab. Seltsamerweise spürte sie, wie sie dennoch mehr und mehr das Verlangen überkam, die Augen zu schließen. Regelmäßiges, lautstarkes Schnaufen zeigte ihr, dass Jarbeorn das bereits getan hatte. Córiel schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit abzuschütteln, doch davon wurde ihr nur schwindlig. Taumelnd stützte sie sich auf ihren Speer, als sich ein Schatten über ihr Gesicht legte.
"Du siehst aber gar nicht gut aus," sagte eine Stimme. "Ein Mittagsschläfchen würde dir bestimmt gut tun. Danach fühlst du dich erfrischt und gestärkt für die Weiterreise."
Córiel riss die Augen auf. Jemand beugte sich über sie. Sie brachte einen Moment, um die Dunländerin Veca zu erkennen. Córiel versuchte, sich aufzuraffen, doch dabei verlor sie das Gleichgewicht und landete auf ihrem Hinterteil.
"Wie seid ihr so schnell hierher gelangt?" stieß sie hervor.
"Widerspenstig gegen den guten Rat einer alten Freundin, was? Tsssk." Die merkwürdige Frau setzte sich neben Córiel und musterte sie.
"Was wollt Ihr von uns? Steht Ihr in Sarumans Diensten?" Córiel gelang es nun etwas besser, gegen die Müdigkeit anzukämpfen.
"So viele Fragen. Neugier steht dir nicht gut, meine Liebe. Ich sagte doch, du solltest lieber ein wenig schlafen."
"Antwortet mir," forderte Córiel, doch stattdessen erhob sich die Dunländerin und drohte ihr mit dem Finger. "Du hättest Kivan nicht töten sollen. Das war äußerst unhöflich von dir."
"Wovon... von wem sprichst du?" Córiel gelang es, aufzustehen.
Die Frau deutete anklagend auf Córiels Umhang, an dem noch Blutflecken zu sehen waren. "Du hast es nicht einmal für nötig gehalten, sein Blut abzuwaschen. Dabei hat er nur getan, was ich ihm aufgetragen habe."
"Du steckst hinter dem Angriff auf den Wolfskönig?"
"Ich sagte doch bereits bei unserer letzten Begegnung, dass ich nicht allzu viel von ihm halte." Veca klang, als würde sie über etwas so Belangloses sprechen wie die Sonne oder den Wind, und nicht über Mord und Blutvergießen. "Immerhin werden nun einige denken, dass der Angriff aus Eregion kam. Vielleicht hat Kivan am Ende doch nicht versagt."
Córiel packte ihren Speer. "Spuckt endlich aus, was das zu bedeuten hat, oder ich muss euch wehtun."
Veca schien unbeeindruckt zu sein. "Nun werd' aber nicht unfreundlich, Mädchen." Mit einer raschen Bewegung fegte sie die Speerspitze beiseite und traf Córiel mit der flachen Hand an der Schläfe, wo sie am Abend zuvor der Attentäter mit dem Knauf seines Dolches erwischt hatte. Und ihre Augen sahen nichts mehr als Schwärze.

Fine:
Als Córiel erwachte, kniete Jarbeorn gerade mit besorgtem Gesichtsausdruck über ihr und presste ihr ein kühles Stück von feuchtem Stoff an die Schläfe, wo sie nun bereits zweimal getroffen worden war. Der Beorninger schien unverletzt zu sein. Vorsichtig setzte die Hochelbin sich auf. Von Veca war keine Spur zu sehen. Doch sie war nicht alleine mit Jarbeorn in der Mulde, in der die Dunländerin sie überrascht hatte. Ein Mensch lehnte an einem der Bäume und blickte mit scheinbaren Desinteresse zur Seite. Er war kleiner als Jarbeorn, aber dennoch muskulös gebaut. Er trug eine hellbraune, ärmellose Jacke, die seine nackte Brust zeigte, sowie eine feste Hose aus dunklem Leder und hohe Stiefel, die bis zu seinen Knien reichten. Um den Hals lag ein weißer Schal, der ihm über den Rücken fiel und bis zu seinen Oberschenkeln reichte. Die braunen Haare trug er offen und knapp schulterlang, und ein wohlgepflegter, kurzer Bart rundete sein Aussehen ab. Córiel musste zugeben, dass sie den Unbekannten auf eine gewisse Art ziemlich attraktiv fand. Seine Haut war sehr braungebrannt, als käme er aus dem Süden Mittelerdes.
"Wieder wach, was?" meinte er und warf ihr einen beiläufigen Blick zu. Seine Stimme war angenehm klingend, wenngleich sie nicht so tief wie Jarbeorns war. Er sprach Westron ohne jeglichen Akzent.
Córiel kam auf die Beine. "Wer seid Ihr? Und wo ist dieses Miststück hin, das mich niedergeschlagen hat?"
Jarbeorn hob ahnungslos die Schultern. "Als ich erwachte, hat er dich gerade auf den Rücken gerollt und ins weiche Moos gebettet," erklärte der Beorninger. "Ich glaube, wenn er ein Feind wäre, hätte er uns schon etwas angetan, ehe ich erwacht bin."
"Seht ruhig bei euren Sachen nach. Es ist alles noch da," meinte der Fremde. Er stieß sich von dem Baum ab, an den er sich gelehnt hatte, und schlenderte zu ihnen hinüber. Dann stützte er die Hände in die Hüften und sagte: "Wenn ihr diesem Weib begegnet seid, dann bin ich zu spät gekommen. Ich hatte gehofft, sie dieses Mal endlich zu erwischen. Als ich vor zwei Wochen nach Dunland kam, hat sie mir etwas gestohlen... etwas Wichtiges. Seitdem jage ich sie. Doch immer wieder entwischt sie mir, wie ein Schatten. So etwas habe ich noch nie erlebt."
Er schien nicht sonderlich verärgert zu sein, sondern erzählte Jarbeorn und Córiel im Plauderton davon, als würden sie sich schon lange kennen.
"Ich habe uns bereits vorgestellt," warf Jarbeorn ein. "Dies ist Sabri, der auch der Sohn des Falken genannt wird."
Sabri machte eine wegwerfende Handbewegung. "Sabri genügt." Er beugte sich vor und fragte: "Hat Veca irgendetwas zu euch gesagt, das vielleicht auf ihren nächsten Schritt hinschließen lässt? Was wollte sie von euch?"
"Wenn ich das wüsste," antwortete Córiel und rieb sich vorsichtig die Schläfe. Rasch fasste sie zusammen, was Veca zu ihr gesagt hatte, ehe sie sie niedergeschlagen hatte und verschwunden war. "Sie hat... zugegeben, hinter dem Mordversuch auf den Wolfskönig zu stecken."
"Das passt zu ihr," meinte Sabri verdrossen. "Sie stiftet Chaos, wo immer sie nur kann."
"Ihr Ziel scheint zu sein, dass ein Krieg zwischen Dunland und Eregion ausbricht," fuhr Córiel fort.
"Und wer hätte etwas davon?" überlegte Jarbeorn, und beantwortete seine Frage gleich darauf selbst: "Natürlich. Saruman. Sie muss in seinen Diensten stehen."
"Gut möglich," meinte Córiel. "Ich denke jedenfalls, dass wir so bald es geht nach Eregion weiterreiten sollten, und mit den Elben dort sprechen sollten. Wir müssen verhindern, dass aus diesem Missverständnis tatsächlich ein blutiger Krieg entsteht. Außerdem können uns die Elben von Eregion sagen, wohin Lasseron und seine Gruppe gegangen sind, und sie haben vielleicht auch etwas von Meister Elronds Gruppe gehört."
"Missverständnis?" wiederholte Sabri fragend.
"Der Angreifer, der den Wolfskönig ermorden wollte, war ein Elb," erklärte Jarbeorn.
"Hmm. Interessant," kommentierte Sabri. "Ich schätze, ich werde mitkommen. Wenn Veca tatsächlich einen Krieg anzetteln will, kann ich das nicht zulassen. Ihre Pläne zu durchkreuzen wird sie vielleicht zu mir locken, und sich am Ende als erfolgreicher erweisen als eine schier endlose Jagd durch die Ödnis dieses Landes."
Jarbeorn stimmte erfreut zu, doch Córiel war vorsichtiger. Sabri schien es sofort zu bemerken. "Mach dir keine Sorgen, große Elbenkriegerin. Ich habe nicht vor, dich oder deinen Kumpanen zu verraten. Ich bin ebenso fremd in diesem Land wie ihr beide und werde hier so bald ich meinen Auftrag erledigt habe, wieder verschwinden."
"Was für einen Auftrag?" wollte Córiel wissen. "Was willst du hier, und in wessen Diensten stehst du?"
Sabri schüttelte den Kopf. "Das kann ich nicht verraten. Noch nicht. Ich sage nur so viel: Es hängt mit Saruman zusammen. Doch Veca hat mir einen wichtigen Gegenstand gestohlen, den ich zur Erfüllung meines Auftrages benötige. Gelingt mir das nicht, muss ich in Schande zu meinem Vater und seinen Kriegern zurückkehren."
"Wir haben einen gemeinsamen Feind," stellte Jarbeorn klar. "Selbstverständlich kannst du uns begleiten."
"Hmpf," machte Córiel. "Also gut. Aber wenn er am Ende doch ein Verräter ist, kümmerst du dich um ihn. Und du schuldest mir dann einen Honigkuchen."
"Ha!" rief Jarbeorn. "Es sei!" Die Honigkuchen der Beorninger waren berühmt, doch Córiel war es in all der Zeit, in der sie Jarbeorn kannte, noch nie gelungen, ihn dazu zu überreden, ihr eine solche Köstlichkeit zu backen.
"Ich fürchte, auf diesen Kuchen wirst du lange warten müssen, meine Liebe," meinte Sabri mit einem schiefen Lächeln. "Ihr könnt mir nämlich vertrauen."

Rasch machten sie sich aufbruchsbereit. Die Pferde waren zum Glück noch an Ort und Stelle, und es hatte sich ein drittes Ross zu Córiels und Jarbeorns Reittieren gesellt; eines, wie es es Córiel noch nie gesehen hatte. Sein Fell war tiefschwarz und glänzte in der hellen Mittagssonne. Es war ein kräftiger, feuriger Hengst, der freudig wieherte, als Sabri in den Sattel stieg.
Voller Drang, die durch den unfreiwilligen Mittagsschlaf verlorene Zeit wieder aufzuholen, trieben die drei Gefährten ihre Pferde zur Höchstgeschwindigkeit an. Die nördlichen Hügellandschaften Dunlands flogen nur so an ihnen vorbei, bis schließlich in der Ferne das blaue Band des Glanduins auftauchte, das die Grenze des Reiches des Wolfskönigs markierte. Als der Fluss in Sichtweite kam, wurden die drei Reiter etwas langsamer. Sie ritten zwischen zwei großen Hügeln hindurch, und das Land wurde abschüssig zum Ufer des Flusses hin. Direkt vor ihnen, noch ungefähr eine Meile entfernt, lag eine breite Furt. Und dahinter erstreckte sich ein großes und leeres, grünes Land.
"Eregion", rief Córiel, und sie hielten ihre Pferde an. "Dort liegt es, das ehemalige Reich meines Volkes."
Keiner der beiden Menschen sagte etwas. Jarbeorn und Sabri hatten sich unterwegs hin und wieder einige Minuten lang über dies und das ausgetauscht, doch nun blickten sie beide aufmerksam nach Norden. Córiels scharfe Elbenaugen hingegen fingen im Osten eine Bewegung auf, und sie drehte den Kopf nach rechts. Dort, auf der Spitze des Hügels, war eine Gestalt zu sehen, die in dunkle Gewänder gehüllt war. Ein frischer Wind war aufgezogen und verwirbelte Córiels Haar. Als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass es sich bei der Gestalt um einen Elb handelte. Sein Gesicht glich dem Angreifer, den sie in Corgans Dorf getötet hatte, so sehr, dass sie fast schon glaubte, er wäre von den Toten auferstanden. Sie keuchte überrascht auf, und warf ihren Gefährten einen besorgten Blick zu. Doch als sie wieder nach oben blickte, war der geheimnisvolle Elb verschwunden.
"Das klingt gar nicht gut," befand Jarbeorn, nachdem Córiel rasch erzählt hatte, was sie gesehen hatte.
"Es klingt nach Veca," brummte Sabri verdrossen. "Sie lässt uns beobachten."
Mehrere Minuten verharrten sie an Ort und Stelle, die Waffen wachsam griffbereit haltend. Der Wind rauschte über ihre Köpfe hinweg und riss das braune, rote und goldene Laub von den Blättern der wenigen Bäume, die hier wuchsen. Córiel hielt den Atem vor Anspannung an. Doch nichts geschah.
"Wir sollten hier nicht verweilen," sagte Jarbeorn. "Lasst uns weiterreiten."

Eilig durchquerten sie die breite Furt. Gerade als Córiels Pferd das vorderste Bein auf das jenseite Ufer setzte, schoss ein Pfeil haarscharf an ihrem Gesicht vorbei, und eine Stimme rief ihr auf Quenya zu: "Keinen Schritt weiter, wenn Euch das Leben lieb ist!" Der Sprecher hatte die Sprache mit einem seltsamen Akzent gesprochen, und als Córiel sich überrascht umblickte, sah sie eine große Gruppe von gut gerüsteten Elben auf sich zukommen, die sich hinter den großen Felsen verborgen hatten, die am nördlichen Ufer der Glanduin-Furt lagen. Dies mussten die neuen Bewohner Eregions sein, die sie aufsuchen wollten.
"Wer seid ihr, und was habt ihr in Eregion zu schaffen?" fragte der Sprecher, ein hochgewachsener Elb in schwerer Rüstung, der sein Schwert gezogen hatte.
Córiel antwortete ihm in ihrer Muttersprache. "Wir kommen aus Rohan mit einer Nachricht der Heerführer des Westens," sagte sie. "Und bringen eine Warnung an eure Königin. Es gab ein Attentat auf den Wolfskönig von Dunland, und wir glauben, dass es so aussehen sollte, als wären die Elben von Eregion verantwortlich. Denn der Attentäter war ein Elb. Ich selbst habe ihn getötet. Jemand will einen Krieg zwischen euch und den Dunländern auslösen."
"Ihr habt gut daran getan, die Wahrheit zu sprechen. Wir hörten bereits verschiedene Gerüchte, die Ähnliches besagen. Dennoch sind dies finstere Zeiten, und wir Manarîn können es uns nicht erlauben, jetzt unvorsichtig zu werden. Ihr werdet uns eure Waffen übergeben, und uns zu unserer Hauptstadt begleiten, wo unsere Königin sich eurer annehmen wird."
Córiel gefiel das zwar nicht, doch sie sah ein, dass dies der schnellste Weg war, die Königin der Avari zu erreichen und mit ihr zu sprechen. Also willigte sie ein und übergab ihren Speer an die Elben. Auch Jarbeorn und Sabri ließen sich entwaffen. Dann ritten die drei Gefährten in Begleitung ihrer neuen Eskorte am Fluss entlang nach Nordwesten, um mit der Königin zu sprechen...


Córiel, Jarbeorn und Sabri mit den Manarîn-Wachen nach Eregion

Fine:
Kerry und Oronêl aus Enedwaith


Dichte Nebelschwaden zogen über den südwestlichen Teil Dunlands, der von einer Vielzahl von kleinen Moorfeldern durchzogen war. Dank Oronêls Erfahrung gelang es dem Elb, für sich und Kerry einen sicheren Weg durch das tückische Gelände zu finden. Immer wieder war Kerry über ihre Kindheit froh, in der sie wie die meisten Kinder Rohans bereits sehr früh das Reiten erlernt hatte. Es war ihr Onkel gewesen, der sie zum ersten Mal in den Sattel gesetzt hatte. Und wie die meisten Kinder Rohans hatte es nicht lange gedauert, bis aus der kleinen Déorwyn eine geborene Reiterin geworden war. Die langjährige Erfahrung half ihr nun, sicher auf dem Rücken ihres Pferdes sitzen zu bleiben, selbst wenn das Tier hin und wieder ins Straucheln geriet und den Sattel ins Schwanken brachte.
Der Abschied von Gwŷra war kurz , aber herzlich gewesen. Kerry und Oronêl hatten versprechen müssen, den Glannau Môr auf jeden Fall einen erneuten Besuch abzustatten und Gwŷra hatte die beiden mit dem höchsten Feuersegen des Blutmondes belegt, was auch immer das bedeuten musste. Aelwyd hatte Kerry ein listiges Grinsen geschenkt und Oronêl geraten, sich von seinen Instinkten leiten zu lassen. Der Häuptling des Küstenstammes hatte sich im Hintergrund gehalten. Kerry hoffte, dass das Volk Enedwaiths nun zumindest für einige Zeit von den Machenschaften Sarumans Ruhe haben würde.
Die Sumpflandschaft zog vorbei, ohne sich groß zu verändern. Oronêl hatte geschätzt, dass es noch zwei Tagesritte dauern würde, ehe sie wieder das vertrautere Hügelgebiet erreichen würden, in dem Aéds Volk, der Stamm des Schildes lebte. Immer wieder ertappte Kerry sich dabei, wie sie sich das Wiedersehen mit Aéd vorstellte. Endlich würden sie Zeit haben, wirklich miteinander zu reden und sich besser kennen zu lernen. Weil Oronêl seinen eigenen Gedanken nachzuhängen schien - der Großteil schien um das schimmernde Ding zu kreisen, das der Waldelb geradezu eifersüchtig wie einen Schatz hütete - hatte auch Kerry viel Zeit, um nachzudenken. Und dabei war ihr aufgefallen, dass sie Aéd gar nicht so gut kannte, wie sie immer gedacht hatte.
Wie oft haben wir uns überhaupt getroffen? dachte sie. Da war unsere erste Begegnung, im Kriegslager der Dunländer vor Tharbad. Der gemeinsame Marsch nach Eregion - bei dem ich sauer auf ihn war und kein Wort mit ihm gewechselt habe. Die Aussprache im Dorf des Schildes. Und dann - Danach hatte Mathan Kerrys Aufmerksamkeit auf sich gezogen, denn damals hatten sie die Grenze zur ehemaligen Heimat des Elben überschritten, was ihn auf gewisse Weise belastet hatte und somit Kerrys Neugierde und Einfühlsamkeit geweckt hatte. Nach der Schlacht in der Schmiede war Kerry mit Aéd in dessen Heimatdorf zurückgekehrt und hatte - sie erötete, als sie sich daran erinnerte - ihn geküsst. Aber... das war es auch schon gewesen. Sie hatten ein bisschen miteinander geredet, ehe Oronêl und Finelleth sie unterbrochen hatten. Und danach war Kerry nach Norden aufgebrochen und hatte Abenteuer über Abenteuer erlebt, bis...
Eigentlich hatte sie an das Wiedersehen mit Aéd in Aldburg denken wollen, doch als Kerrys Gedanken ihre Reise durch den Düsterwald Revue passierten, blieb Kerrys inneres Auge am schweigsamen Gesicht Helluins hängen. Seine dunklen Haare fielen ihm unordentlich zu beiden Seiten bis auf die Wangen herab und die Stirn war in grüblerische Falten gelegt. Doch darunter brannten die beiden Augen wie zwei Eissterne und zogen Kerrys Blick unwiderstehlich an und nahmen sie für sich gefangen.
Sie blinzelte heftig. Nein, dachte sie. Er ist fortgegangen. Und er war ein Diener Sarumans! Doch am Ende hatte er Oronêl gerettet, und er hatte Kerry vor dem Zauberer gerettet, und... sein Abschied war beinahe schon wie der Abschied eines Freundes gewesen. Oder gar eines...
Kerry musste bei diesem Gedanken ein Geräusch von sich gegeben haben, denn Oronêl, der vor ihr ritt, hielt sein Pferd an und blickte über die Schulter zu ihr zurück. "Ist etwas, Kerry?" wollte der Waldelb verwundert wissen.
Peinlich berührt schlug Kerry die Augen nieder. "Nein, nichts," druckste sie herum.
Zu ihrer wachsenen Beklommenheit wendete Oronêl sein Pferd und kam heran, bis er ihr direkt in die Augen sehen konnte. Ein belustigtes Lächeln spielte über sein Gesicht. "Du kannst mit mir darüber reden, wenn du willst," bot er an.
"I-ich..." Kerry schluckte. Verdammte Elben und ihre übermenschliche Auffassungsgabe! "Oronêl," begann sie vorsichtig. "Wie... wie war das einst bei dir, äh..."
"Ja?"
"Als du... deine Frau kennengelernt hast."
Oronêl zog die linke Augenbraue in die Höhe. "Oh?"
"W-wann warst du dir... sicher?"
"Sicher?"
Kerry raufte sich die Haare. "Oronêl!" schrie sie frustriert. "Hast du etwa die Fähigkeit verloren, vollständige Sätze zu bilden? Muss ich dir jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen?"
"Kerry, beruhige dich," lachte Oronêl. "Komm schon, ich beiße nicht. Stell deine Frage. Ohne weiteres Drumherum."
Kerry seufzte verärgert. Also gut. Also gut.... "Wann warst du dir sicher, dass du Calenwen liebst?"
Oronêl verschränkte die Arme vor der Brust. "Wirklich Kerry, du überraschst mich immer wieder mit deiner..."
"Beantworte die Frage!"
Der Waldelb hob abwehrend die Hände. "Ruhig Blut, ruhig Blut..." Er schmunzelte. "Es gab bei uns nicht diesen einen entscheidenden Augenblick, in dem mir klar wurde, dass ich Calenwen liebe. Es war ein Prozess. Je mehr ich sie kennenlernte, desto mehr fiel mir an ihr auf, das mir gefiel - nein, das meine Hingezogenheit zu ihr stärker werden ließ. Und ihr ging es ähnlich."
"Wie lange... hat das gedauert?"
"Oh, viele hunderte von Jahren."
"Verstehe," murmelte Kerry.
Oronêl sah aus, als wäre er drauf und dran, eine Bemerkung zu machen, die Kerry im Augenblick keinesfalls hören wollte. Also warf sie ihm einen warnenden Blick zu und der Elb zwinkerte ihr stattdessen nur zu.
"Kopf hoch, Kerry. Du stehst erst ganz am Anfang. Mach' dir nicht zu viele Gedanken! Alles wird sich zu seiner Zeit ergeben."
"Du hast gut reden," maulte Kerry leise. "Von Zeit hast du mehr als genug."
Statt einer Antwort stupste ihr Oronêl gegen die Nase, ehe er sein Pferd wieder nach vorne wendete. "Komm schon, kleine Geheimniskrämerin. Wir haben heute noch einen weiten Weg vor uns."
Der Waldelb presste dem Ross sanft die Innenschenkel gegen die Flanken und das Tier gehorchte, in einen raschen Trab verfallend. "Bald werden wir diesen Sumpf hinter uns gelassen haben!" rief Oronêl Kerry zu und sie musste sich beeilen, um ihm zu folgen.

In der folgenden Nacht konnte Kerry lange nicht schlafen. Entgegen Oronêls Rat hatte sie den ganzen Tag mit brütender Grübelei verbracht. Und obwohl sie so viel Zeit investiert hatte, hatte sie das Gefühl, nicht einen Schritt weiter gekommen zu sein.
Wann wird es klar werden, ob ich Aéd wirklich liebe? dachte sie und starrte in den finsteren Himmel über ihr. Der Nebel war durch dichte Wolken ersetzt worden, die die Sterne über ihnen verhüllten. Er ist heldenhaft und liebenswert, und gutaussehend, und er scheint mich wirklich zu mögen, aber... eigentlich kenne ich ihn gar nicht wirklich. Wir haben selbst während dem Ritt durch Rohan kaum geredet, stattdessen eher... Sie wurde rot und drehte sich auf die linke Seite. Mit einem Mal fürchtete sie sich vor dem Wiedersehen mit Aéd. Was, wenn ich feststelle, dass er... dass er gar nicht der Richtige für mich ist? Sie wünschte sich, sie wäre bereits in Eregion und könnte mit Halarîn über alles reden - die Elbin erschien Kerry die Einzige zu sein, die sie wirklich verstehen würde. Ich wünschte, alles wäre einfacher, dachte sie frustriert. Wieso kann es nicht einfach alles ganz klar sein? Wieso halten mich diese Gedanken so gefangen? Und... jetzt, da ich mich an ihn erinnert habe... weshalb kann ich Helluin nicht vergessen?

Eandril:
Das Dorf des Stammes des Schildes hatte sich seit Oronêls letztem Besuch kaum verändert, und beim Anblick der Hütten, die sich zwischen die Hügel schmiegten, fragte er sich, ob er jemals nicht unter dramatischen Umständen oder drängender Zeit an diesen Ort kommen würde. Beim ersten Mal waren er und Orophin gekommen, um Amrothos zu befreien, das zweite Mal hatten sie hier Halt auf dem Weg nach Eregion gemacht, und beim dritten Mal hatte sich Aéd sein Amt als Wolfskönig verdient. Und nun drängte die Zeit erneut, und Oronêl und Kerry würden nicht lange verweilen können.
Im Gegensatz zu früher hielt sie niemand auf, als sie zwischen den Hütten hindurch zum zentralen Platz im Nordwesten des Dorfes ritten, auch wenn sie den ein oder anderen neugierigen Blick auf sich zogen. Die meisten davon schienen auf Oronêl gerichtet zu sein, doch auch Kerry bekam mehr Aufmerksamkeit als ihr lieb zu sein schien. Vor dem großen Haus, das Aéd mit seiner Familie seit Bórans Tod bewohnte, ließ Oronêl sich vom Pferd gleiten, und Kerry tat es ihm kaum weniger elegant gleich.
"Ob Aéd wohl zu Hause ist?", fragte sie mit gespielter Leichtigkeit, und Oronêl seufzte innerlich. Nach ihrem Gespräch vor zwei Tagen ahnte er, was sie beschäftigte, und er würde es nicht wagen, auf einen bestimmten Ausgang zu setzen. Bei Kerry wusste man nie.
Bevor er an die dicke Holztür klopfen konnte, öffnete sich diese bereits, und ein braunhaariges Mädchen trat schwungvoll und strahlend über die Schwelle. "Du bist wieder da!", sagte sie aufgeregt an Kerry gewandt. "Aéd hat gesagt, dass du kommen würdest, aber er wusste nicht wann. Er hat überhaupt viel von dir geredet." Sie senkte ihre Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, und ergänzte: "Ich glaube, er ist furchtbar verliebt in dich." Kerry biss sich bei diesen Worten auf die Unterlippe, und schien unschlüssig zu sein, was sie darauf antworten sollte. Zu ihrem Glück trat eine kleine, rundliche Frau, Aéds Stiefmutter Brigid, aus dem dunklen Flur heraus auf die Schwelle, und legte ihrer Tochter eine Hand auf die Schulter. "Lynet...", schalt sie leise. "Es gehört sich wohl kaum, unsere Gäste auf der Türschwelle mit solchen Themen zu überfallen." Sie lächelte warmherzig, und Oronêl entging die stumme Erleichterung, die Kerry ausstrahlte, nicht. "Seid beide in unserem Haus willkommen. Ich fürchte, Aedir ist noch nicht hier, doch er sollte vor dem Abend zurück sein." Sie warf Kerry einen Seitenblick zu, und ihre Augen funkelten verdächtig.
"Wir nehmen deine Gastfreundschaft gerne an", erwiderte Oronêl. Er hatte befürchtet, sich beim Anblick Brigids und ihrer Kinder schuldig wegen Foraths Tod zu fühlen, doch sie schienen den Verlust einigermaßen überwunden zu haben. "Doch ich fürchte, wir werden nicht allzu lange bleiben können", fügte er ernst hinzu. "Wir haben in Enedwaith Gerüchte über einen Angriff auf Eregion gehört."
"Morgen", sagte Kerry leise. "Wir brechen morgen früh wieder auf." Sie wich Oronêls Blick aus. Er hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.
Stattdessen ergriff Brigid das Wort: "Nun, für diese Nacht werdet ihr froh sein, ein Dach über dem Kopf zu haben. Es wird Schnee geben." Sie sagte es in einem Tonfall, als gäbe es keine Zweifel an ihrer Vorhersage, und Oronêl war geneigt, ihr zuzustimmen. Die letzte Stunde hatte er den kommenden Schnee im Wind gerochen.

Sie folgten Brigid durch den dunklen Flur, an den Oronêl sich gut erinnerte, in die warme Küche hinein. Im Ofen brannten munter einige Holzscheite, und die Fensterläden waren fest geschlossen und sperrten die heraufziehende Dunkelheit und die Kälte aus. Oronêl wäre es lieber gewesen, ein wenig vom Himmel sehen, doch als Gast beklagte er sich nicht. Kerry war inzwischen von Lynet in ein Gespräch verwickelt worden, und gab sich dabei betont unbeschwert, doch offenbar bemerkte selbst Brigid, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. Aéds Mutter betrachtete Kerry einen Augenblick nachdenklich, bevor sie den Kopf schüttelte und ein wenig traurig lächelte. Sie stellte jedoch keine Fragen - ganz im Gegensatz zu Lynet, die Kerry mit Fragen geradezu überschüttete, als sie erfuhr, dass Kerry nicht nur im Waldlandreich gewesen und den Erebor - wenn auch nur von außen - gesehen hatte, sondern auch ihren Vater wieder gefunden hatte.
"Gibt es Neuigkeiten aus Enedwaith?", fragte Brigid, während Oronêl sich auf einem der hölzernen Stühle niederließ und die Beine ausstreckte. Vermisste er auch den Himmel, zu dieser Jahreszeit war ein warmer Raum nach mehreren Tagen im freien trotzdem sehr willkommen. "Gute", antwortete er knapp. "Ich werde mit der Erzählung warten, bis Aéd hier ist. Ihn dürften die Nachrichten sehr interessieren."
"Das denke ich auch", erwiderte Brigid, und rührte gedankenverloren in einem großen Kessel, der über dem Feuer hing, und von dem sich ein angenehmer Duft ausbreitete. Oronêl fühlte sich ein wenig an Aelwyd und ihren Kessel zurückerinnert, doch gleichzeitig dachte er, dass Aelwyd und Brigid sich im Grunde nicht unähnlicher sein konnten. "Der arme Junge - Mann, sollte ich eher sagen - hat alle Hände voll zu tun, denn die meisten Männer unseres Volkes sind nicht weniger stur und willensstark als mein armer Forath." Sie musste Oronêls Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn sie lächelte und fügte hinzu: "Ich gebe dir keine Schuld an seinem Tod, Oronêl, ebenso wenig wie den anderen, die nach Eregion gegangen sind. Forath hatte seinen Weg gewählt, und ich wusste immer, dass er eines Tages für das sterben würde, woran er glaubt. Gibt es denn einen besseren Trost als den Gedanken daran, dass sein Tod eine besser Welt für seine Kinder ermöglich hat?"
Wie gerufen kamen ihre jüngeren Kinder, Henwas und Eryn, in die Küche - besser gesagt kam Eryn in die Küche gestürmt und Henwas folgte ihr mit Leidensmiene, die besagte, dass er, der er fast schon ein Mann war, sicherlich besseres zu tun hatte, als sich für die Spiele seiner kleinen Schwester einspannen zu lassen. Bei Oronêls Anblick stockte Eryn, und warf einen Blick zu ihrer Mutter, die beruhigend lächelte. "Es ist nichts geschehen, meine Kleine", sagte Brigid. "Oronêl und Kerry sind nur während ihrer Reise durch unser Dorf gekommen und machen hier Rast." Offenbar erinnerte Oronêls Anblick das Mädchen daran, dass ihr Vater tot war, und nun konnte er die Schuldgefühle doch nicht unterdrücken.
Kaum dass Brigid ausgesprochen hatte, öffnete sich die Tür zum nächsten Mal, und Aéd selbst trat in die nun ziemlich ausgefüllte Küche. Als sein Blick auf Kerry fiel, strahlte er, und Kerry unterbrach ihre Erzählung mitten im Satz.
"Wie schön, dass ihr hier seid", stellte er fest, und gab dann Brigid einen Kuss auf die Wange. "Und wie ich sehe, ist die ganze Familie bereits hier versammelt." Er lächelte, und schien seinen Blick nicht wirklich von Kerry losreißen zu können. Kerry jedoch hatte sichtlich Mühe, seinen Blick zu erwidern, und sah dann verlegen weg. Oronêl räusperte sich. "Ich hoffe, deine Wunden sind gut verheilt."
Aéd riss sich von Kerrys Anblick los, und antwortete etwas verlegen: "Äh, ja, das sind sie. Und Domnall auch, er... ist schon fast wieder ganz der Alte." Er schwieg einen Moment, und sagte dann ein wenig gezwungen: "Nun... was gibt es neues aus Enedwaith? Hattet ihr Erfolg?"
Oronêls Antwort wurde durch das Geräusch eines umfallenden Stuhls verhindert. Kerry war so abrupt aufgesprungen, dass der Stuhl nach hinten umgekippt war. Sie errötete, und sagte dann: "Aéd können... können wir uns... unterhalten? Ich meine... allein?" Lynet kicherte unterdrückt, und wurde von einem finsteren Blick ihrer Mutter zum Schweigen gebracht, während Eryn Kerry mit offenem Mund anstarrte und Henwas den Blick angestrengt auf das geschlossene Fenster gerichtet hielt. "Ich, äh... natürlich können wir, aber was...", erwiderte Aéd stockend, bevor Kerry ihn am Arm packte, und in Richtung der Tür zog. "Erkläre ich dir dann. Jetzt komm mit."
Aéd hinter sich her gezogen, verließ sie den Raum. Lynet schob sich unauffällig hinter ihnen in Richtung Tür, wurde allerdings von ihrer Mutter aufgehalten. "Es wird nicht gelauscht, junges Fräulein. Das ist eine Sache zwischen Aéd und Kerry - was auch immer es ist." Doch sie konnte ihre eigene Neugierde offenbar selbst nicht vollkommen bezähmen, sondern warf einen fragenden Blick in Oronêls Richtung. Er hob die Schultern, und lächelte. "Wie du sagtest. Das ist eine Sache allein zwischen ihnen - und ich weiß ohnehin nicht, worum es geht." Er wusste tatsächlich nichts. Dass er ziemlich genau zu ahnen glaubte, was in Kerry vor ging, war eine andere Sache...

Fine:
Im Dorf des Stammes des Schildes gab es nur wenige Pferde. Das hügelige Land ringsum eignete sich nicht besonders gut für die Aufzucht solcher Tiere, und unter den Dorfbewohnern kannte sich ohnehin kaum jemand richtig mit Pferden aus. Einige konnten reiten, nur wenige beherrschten es gut. Aéd und die Wolfskrieger gehörten dazu, weshalb es nun seit einigen Monaten einen kleinen Stall am Dorfrand gab, der hauptsächlich von den reitenden Boten des Wolfskönigs verwendet wurde. Dort hatten Oronêl und Kerry ihre Pferde untergebracht, und dorthin hatte Kerry Aéd nun geführt. Nebeneinander saßen sie auf einem Heuhaufen und ließen die Beine baumeln.
"Worüber wolltest du dich... unterhalten?" wollte Aéd wissen.
Kerry versuchte, ihr Unbehagen beiseite zu schieben. "Ich will einfach... reden. Ich will wissen, was in dir vorgeht. Was dich beschäftigt. Wie dein Tag war."
Aéd musterte Kerry verwundert. "Und deswegen dieser dramatische Abgang? Meine Geschwister werden glauben, wir werden... wir..." Er hustete verlegen.
Kerry wurde tiefrot bei seinen Worten. "W-was?" stammelte sie.
Aéd ließ sich rückwärts ins Heu sinken und starrte nachdenklich auf das hölzerne Dach der Stallungen über ihnen. Ein schmales Lächeln umspielte seine Mundwinkel. "Lynet kann gar nicht genug von dem Thema bekommen," meinte er und warf Kerry einen Blick zu. "Aber... zurück zu deiner Frage. Was in mir vorgeht, wolltest du wissen? Es war ein langer Tag heute. Ich habe mit drei Häuptlingen gesprochen und es mit Mühe und Not geschafft, keinem der drei etwas zu versprechen, was den Wünschen der übrigen Stämme widerspricht. Dunland ist nun einmal kein klassisches Königreich wie Rohan. Ein Wolfskönig muss sich jeden Tag aufs Neue beweisen. Meine Vorgänger... hatten es leichter. Sie traten ihre Herrschaft im Krieg an, wo es einen gemeinsamen Feind aller Stämme gab, und sie taten das Einzige, was von ihnen erwartet wurde: sie kämpften gegen diesen Feind. Doch wer ist unser gemeinsamer Feind hier und heute? Yven ist tot - möge seine Seele niemals Frieden finden - und Saruman ist jenseits unserer Reichweite. Seine Diener sind noch immer unter uns, hier und dort, um uns Nadelstiche zu versetzen, wo sie können, aber... sie sind kein Feind, gegen den ich meine Krieger in die Schlacht ziehen kann. Der neue Häuptling vom Stamm des Messers spricht davon, Rohans Lage auszunutzen und Isengard und die Furten zu erobern. Andere Stimmen wollen mich dazu bringen, die reichen Lande der Elben oder der Menschen von Bree zu plündern. Dabei ist alles, was ich für mein Volk jemals wollte, ein dauerhafter Frieden." Er seufzte und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. "Ich hatte mir die Position als Wolfskönig anders vorgestellt, Kerry. Aber ich bin froh, dass du jetzt hier bei mir bist."
Aéds Arm legte sich um Kerrys Schulter. Sie ließ sich neben ihn sinken, ihr Kopf an seiner Schulter ruhend. In ihrem Inneren stritten unterschiedliche Gedanken miteinander. Aéd hatte Kerrys Frage beantwortet, das stimmte. Aber... die politischen Probleme Dunlands interessierten sie im Augenblick nicht. Sie hatte ihn eigentlich nach seinen Gefühlen fragen wollen, es aber offensichtlich nicht deutlich genug in Worte fassen können. Ihr war klar geworden, dass sie ihre eigenen Gefühle Aéd gegenüber nur dann besser verstehen würde, wenn sie sich mehr mit ihm austauschen und ihn besser kennenlernen würde. Dies war ihr erster Versuch... und bis auf Aéds letzten Satz war dabei nur wenig herausgekommen, wie Kerry fand.
"Ich bin froh, dass es dir gut geht," sagte sie und nahm seine Hand in ihre. "Und dass Yven dir nicht mehr gefährlich werden kann. Aber was ist mit dem Donnerer?" Sie erinnerte sich an den Häuptling vom Stamm der Kette, dem Aéd sich im Duell stellen würde.
Aéd winkte ab. "Er ist stark, aber ich bin schnell. Mach' dir wegen Marchod keine Sorgen. Ehrlich gesagt ist er sogar das kleinste meiner Probleme. Erst gestern habe ich erfahren, dass es in Tharbad Unruhen gegeben hat. Bis jetzt weiß niemand, was in der Stadt so wirklich vor sich geht - mein Vater hatte damals nur eine kleine Garnison zurückgelassen. Ich denke, ich werde mir selbst ein Bild der Lage machen müssen."
"Aéd..." begann Kerry vorsichtig. "Was... gefällt dir an mir?"
Die Frage schien den jungen Wolf vollkommen zu überrumpeln. Er starrte angestrengt in Richtung des Ausgangs der Stallungen. "Nun also zuallerersteinmal bist du, ähm, wunderschön?" beeilte Aéd sich zu sagen. "Und du bist witzig. Ich mag es, mit dir über Dinge zu lachen. Und ich mag deine Art, die Welt zu sehen. Dass du immer treu zu denen bist, die dir wichtig sind und dass du tapfer für deine Freunde einstehst. Und ich mag... dass du... kitzlig bist!"
Kerry schrie erschrocken auf als Aéds Finger sich in ihre Seite bohrten und wirbelte das Heu auf, als sie sich verzweifelt aus seinem Griff zu befreien versuchte. Der Kampf endete damit, dass Kerry schließlich völlig außer Atem auf dem Boden des Stalls zum Liegen kam und der Heuhaufen in seine Einzelteile ringsum zerstreut war. Aéd saß neben ihr und grinste frech.
"Stopp, bitte," flehte Kerry schwach. Sie konnte kaum klar denken, weshalb sie einfach liegen blieb. Ihr Pferd betrachtete das blonde Mädchen mit einem kritischen Blick. Doch dann schnaubte es nur, anstatt etwas zu der peinlichen Situation zu sagen. Kerry war inzwischen wieder zu Atem gekommen. Aéds Worte hatten sie berührt aber... ihr war nicht entgangen, wie schnell dem Dunländer die Komplimente ausgegangen waren und er handgreiflich geworden war. Hat er mich nur gekitzelt, weil ihm nichts mehr eingefallen ist? dachte Kerry.
"Also," sagte Aéd und strich sanft durch Kerrys verwuscheltes Haar. Selbst ihr fest geflochtener Zopf hatte sich inzwischen gelöst. "Was ist los mit dir, Kerry? Woher kommen auf einmal all diese tiefgründigen Fragen?"
Kerry setzte sich auf und betrachtete ihn. Sein Bart war gewachsen, wie ihr jetzt auffiel. Und seine Augen waren auf ihre Lippen gerichtet. "Ich... wollte wissen, wie du über mich denkst," sagte sie leise. "Um einordnen zu können, wo wir... wo wir stehen."
"Ist es denn so kompliziert?" wunderte sich Aéd schmunzelnd. "Ich will, dass wir zusammen sind."
"Also liebst du mich?"
Aéd schwieg. Dann stand er langsam auf. "Das ist ein großes Wort, Kerry. Ich liebe meine Mutter und meine Geschwister. Und ich liebe meine Brüder von den Wolfskriegern - nein, ich liebe das ganze Land, Dunland, in dem wir hier gerade sind. Ich dachte, auch du könntest Teil meines Lebens werden, wenn wir mehr Zeit für einander hätten."
"Mehr Zeit..." wiederholte Kerry. Auch sie stand nun auf. "Das ist genau das Problem, das ich ebenfalls sehe. Ich... glaube nicht, dass ich dafür geschaffen bin, ewig an einem Ort zu verweilen, Aéd."
"Wie meinst du das?"
"Ich glaube... es wird immer neue Abenteuer geben, die nach mir rufen werden. Ferne Länder, die ich bereisen möchte. Freunde, die meine Hilfe brauchen." Je mehr Kerry sagte, desto klarer wurden ihre Gedanken. "Du wirst immer mit Dunland, deiner Heimat verbunden sein, nicht wahr?"
"Ich denke schon," erwiderte Aéd, der inzwischen die Arme vor der Brust verschränkt hatte.
Kerry seufzte leise. Sie wandte sich dem Ausgang des Stalles zu. "Dann..."
Ehe sie gehen konnte, ergriff Aéd ihre Hand und zog sie zurück, in eine enge Umarmung, die er mit einem Kuss vollendete. "Ich denke, du machst dir zu viele Gedanken, Kerry," sagte er, als sie sich voneinander lösten. "Lass die Zukunft bringen, was sie bringen mag. Für heute sollten wir den Frieden genießen, der uns geschenkt worden ist."

Die Sterne waren in dieser Nacht kaum zu sehen, denn eine dichte Wolkenschicht bedeckte den Himmel über dem Dorf. Aéd war bereits zum Haus seiner Familie zurückgekehrt, doch Kerry war unter dem Vorwand geblieben, sich ein wenig um ihr Pferd zu kümmern. Während sie das Tier striegelte, versuchte sie, die Gedanken in ihrem Kopf zur Ruhe zu bringen. Doch es gelang ihr nicht. Sie konnte einfach keinen Frieden im Bezug auf Aéd finden.
Schließlich verließ sie den Stall und wanderte ein Stück entlang des ausgetretenen Weges, der aus dem Dorf hinaus führte. Ungefähr eine halbe Meile von den Hütten der Dunländer entfernt fand Kerry einen kleinen Teich, der ringsum mit hohem Schilf bewachsen war. Eine dünne Eisschicht lag auf dem Gewässer und ließ es geheimnisvoll schimmern, als sich ein Loch in der Wolkendecke auftat und silbernes Sternenlicht hindurch drang. Kerry blickte wie verzaubert auf das Eis hinab und für einen kurzen Augenblick gelang es ihr, an überhaupt nichts mehr zu denken.
Der Moment verging, als das Sternenlicht wieder verblasste. Kerry seufzte und wandte langsam den Blick zurück in Richtung des Dorfes - als sie erschrocken feststellte, dass da jemand kaum zwei Schritte entfernt neben ihr stand. Es war eine schlanke Gestalt, einen halben Kopf größer, gehüllt in einen grauen Umhang mit Kapuze und einem dunklen, langen Gewand darunter. Kerry befürchtete schon, die Priesterinnen Enedwaiths hätten sie gefunden, als sie eine vertraute Stimme hörte.
"Die Sterne führten dich hierher, Schwester."
"Wer bist du?" fragte Kerry alarmiert. Die Schatten der Kaupze gaben keine Gesichtszüge preis, selbst als sich die Gestalt ihr bis auf einen Schritt näherte. Kerry erkannte den Klang der Stimme, aber sie konnte ihn nicht recht zuordnen. Sie war weiblich und jung... und auch wieder nicht jung.
Die Gestalt schien amüsiert zu sein. "Viel Zeit ist seit unserer letzten Begegnung veronnen. Ich habe mich verändert... an Körper und Geiste." Sie setzte die Kapuze ab. Im Dunkeln konnte Kerry ihre Haarfarbe nicht erkennen. Doch was sie sah, war genug, um ihre letzten Zweifel auszuräumen. Zwei spitze Ohren zeichneten sich gegen den dunklen Himmel ab, und zwei Augen gaben einen unbestreitbar silbernen Schimmer von sich. Und obwohl es dunkel war, konnte Kerry die Gesichtszüge dennoch erkennen. Sie entsprachen denen einer jungen Frau ungefähr in Kerrys Alter. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte man sie für siebzehn oder achtzehn halten können.
"Wie ist das möglich?" stammelte Kerry. "Bist du es wirklich... Farelyë?"
"Ich bin es, Schwester," antwortete Farelyë und nahm Kerrys Hand. Die Berührung war überraschend warm.
"Aber... aber..."
"Es war an der Zeit für mich, meinen Körper vollends meinem Geist zu unterwerfen," erklärte Farelyë. Ihre Art zu sprechen hatte sich verändert - sie sprach wie es die meisten Hochelben nun taten, in akzentfreiem Westron, jedoch in altertümlichem Ton. "Ich habe viel gelernt, seitdem du fortgingst. Und nun entspricht mein Äußeres dem Stand meines Wissens."
"Und wieso... wieso bist du nun hier?"
"Ich kam, um dich zu sehen, Schwester, ehe die Wogen des Krieges über Eregion hereinbrechen. Und um dich zur Umkehr zu bewegen."
"Zur Umkehr?" wiederholte Kerry verwundert.
"Viel Leid steht jenem Land bevor," warnte Farelyë. "Hier, unter den Menschen, wird es für dich sicherer sein."
"Aber..."
"Ich werde dich nicht dazu zwingen. Dies ist nurmehr der Rat einer Schwester. Mut und Tapferkeit werden sich der Bedrohung stellen, die nun heraufzieht. Doch mein Herz fände Frieden, wenn ich dich weitab jener Schrecken wüsste, die Eregion bedrohen."
Kerry drückte die schlanke Hand Farelyës. "Ich kann jetzt nicht umkehren. Oronêl und ich müssen nach Eregion gehen, um die Elben zu warnen. Und ihnen zur Seite zu stehen."
Farelyë blieb einen langen Augenblick stumm. "Dann sei es so," sagte sie schließlich. "Doch eile dich, Schwester. Ich werde an den Furten des Sirannon auf dich und Oronêl warten."
Sie drehte sich um und verschwand, ehe Kerry noch etwas erwidern konnte, im Dunkel der Nacht. Kerry blieb stehen und fragte sich mehr und mehr, ob sie nicht gerade geträumt hatte. Voller unbeantworteter Fragen kehrte sie schließlich in das Dorf zurück.

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