Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Lindon

Die Grauen Anfurten

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Kerry war froh, dass sie sich entschieden hatte, wieder ihre normale Reisekleidung zu tragen, die aus fester Lederbekleidung und bequemen Stiefeln bestand. Sie rannte, so schnell ihre Beine sie trugen, durch die Straßen Mithlonds, und die beiden Zöpfe, zu denen sie ihr Haar geflochten hatte, flogen hinter ihr her als sie um eine scharfe Kurve bog. Von fern waren ein durchdringender Gong zu hören, der die Abfahrt der Schiffe ankündigten. Kerry machte sich Vorwürfe. Sie war viel zu spät aufgestanden und hatte dann sogar noch einen Umweg zum südlichen Markt gemacht, um neue Beeren für Farelyë zu kaufen. Und jetzt schien es so, als würden die Schiffe ohne sie abfahren. Wie konnte ich es nur dazu kommen lassen? dachte sie hektisch, während sie einer großen Gruppe Elben auswich, die in der Mitte der Straße in ein angeregtes Gespräch vertieft waren. Kerry sprang über eine flache steinerne Bank, auf der zum Glück gerade niemand saß, und kürzte durch einen gut gepflegten Garten ab. Auf dem kurzgeschnittenen Rasen setzte sie zum Sprint an. Der gegenüberliegende Ausgang des Gartens bestand aus einem steinernen Torbogen, der mit Elbenrunen verziert war. Und dahinter kam endlich das Blau des Meeres in Sicht. Kerry mobilisierte ihre letzten Reserven, stürmte durch den Torbogen und - fand sich mit schmerzendem Hinterteil auf dem Boden wieder. Sie war im vollen Lauf gegen etwas geprallt - oder vielmehr, gegen jemanden.
Es war ein Elb in silberner Rüstung. Mit einem besorgten Gesichtsausdruck beugte er sich zu ihr herunter und streckte ihr den Arm hin. Kerry ergriff die angebotene Hand und der Mann zog sie auf die Beine. Dabei fiel ihr auf, dass sein rechter Arm schlaff von seiner Schulter herabhing und mit Lederriemen an seiner Seite fixiert war.
"Es tut mir furchtbar Leid! Ich habe Euch nicht gesehen," beteuerte sie. Dabei warf sie mehrere hastige Blicke an ihm vorbei, auf die hohen Masten der beiden Avari-Schiffe, die hinter den Dächern der Häuser aufgetaucht waren.
"Nein, mache dir keine Vorwürfe, junge Dame," antwortete er. Seine Stimme war gelassen, ohne eine Spur von Emotion darin und seine Augen musterten Kerry aufmerksam. "Der Fehler liegt auf meiner Seite; ich war tief in Gedanken..."
Er unterbrach sich mittem im Satz und verharrte. Eine Mischung aus Verwunderung und Erkennen trat auf sein Gesicht. Der Krieger ergriff Kerrys Handgelenk und sie war zu überrascht, um etwas zu entgegnen. Er starrte sie einen langen Moment geradezu perplex an, dann schienen seine Augen in die Ferne zu blicken, auf etwas, das Kerry nicht sehen konnte. Schließlich, als sie sich gerade losreißen wollte, zog er ein kleines, eisernes Kästchen hervor und legte es in Kerrys Hand. Dann schloss er Kerrys Finger darum und hielt ihre Hand mit seiner umklammert.
"Es... es tut mir Leid," sagte er leise und stockend. "Ich kann... es dir nicht genau erklären. Ich sah... sah, dass du ... diejenige bist, die dies mit sich nehmen sollte. Es geschieht nur selten, dass mich die Weitsicht überkommt, aber... ich habe gesehen, was ich gesehen habe. Du musst dies mit dir nehmen. Nimm es mit.... nach Hause. Nach Eregion... Wo alles begann. Dort muss es enden... aber ich habe nicht die Kraft dazu."
"Was soll das alles bedeuten? Woher wisst Ihr, dass ich nach Eregion gehe?" fragte Kerry verwirrt.
"Ich wusste es nicht," antwortete der Einarmige. "Ich sah es. Gerade jetzt. Ich will dir diese Last nicht auferlegen, denn ich fürchte, dass... nein, dies sind dunkle Worte, die hier keinen Platz haben. Geh, und verbirg dies Ding so gut du kannst. Sprich mit niemandem darüber. Öffne es niemals! Wenn du nach Eregion kommst, wirst du wissen, was zu tun ist."
"Ich verstehe nicht," antwortete Kerry, doch der Elb hatte ihre Hand bereits losgelassen.
"Es tut mir Leid," wiederholte er. "Ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg. Aber ich habe keinen gesehen... möge Tulkas dir die Kraft geben, zu tun, was nötig ist." Er wandte sich ab und ging langsam die Straße entlang davon.

Kerry wollte ihm nachrennen und ihm den Gegenstand zurückgeben, doch da erklang erneut der Gong vom Hafen her, diesmal lauter und energischer. Ihr lief die Zeit davon. Verdammt! dachte sie und stampfte frustriert mit dem Fuß auf. Noch einen Augenblick schwankte sie und war sich unsicher, doch dann lief sie wieder los, in Richtung des Hafens. Nun, da die Masten der Schiffe in Sicht waren, konnte sie sich wenigstens nicht mehr verlaufen. Und bereits nach wenigen Minuten kam sie schwer atmend am Hafen an, wo bereits eine große Gruppe Elben am Kai stand. Die beiden großen Avari-Kriegsschiffe der Vorhut hatten inzwischen sogar schon abgelegt und waren ein Stück in den breiter werdenden Golf hinein gefahren. Nur die Avalosse, das weiße Schiff Círdans, lag noch immer angetäut am Ufer. Endspurt, dachte Kerry und gab noch einmal alles. Über die kleine Rampe hinweg gelangte sie schließlich auf das Deck des Schiffes, wo ihre Eltern sie bereits erwarteten: Mathan mit ungeduldiger Verärgerung, Halarîn mit Sorge in den Augen.
"Wo hast du nur gesteckt, Morilië?" fragte ihre Mutter. "Wir dachte schon, wir müssten ohne dich fahren!"
"Hättest du noch länger gebracht, hätten wir nicht mehr warten können," sagte Mathan ärgerlich. "Wir wollten bereits am frühen Morgen in See stechen, und sieh nur, wie hoch die Sonne schon steht."
Kerry blickte schuldbewusst zu Boden und ließ dabei das Kästchen unbemerkt in ihre Tasche gleiten, die sie quer über die Schulter gehängt trug. "Es tut mir Leid, Ontáro," sagte sie. "Ich wurde aufgehalten..."
"Womit?" fragte Mathan.
"Ich wollte Beeren für Farelyë kaufen und habe dabei die Zeit vergessen," antwortete Kerry wahrheitsgemäß.
"Du solltest wirklich lernen, Prioritäten zu setzen," mahnte Halarîn.
"Beim nächsten Mal wird das Schiff nicht auf dich warten, Ténawen."
"E-es wird kein nächstes Mal geben, versprochen!" rief Kerry schnell.
"Besser wäre es," sagte Mathan, doch für den Augenblick schien er besänftigt zu sein.

Kerry ließ ihre Eltern stehen und begab sich zum Bug des Schiffes, wo sie Finelleth und Celebithiel vorfand, die in ein Gespräch vertieft waren. Kerry lehnte sich neben den beiden Elbinnen an das aus weißen Holz geschnitzte Geländer und betrachtete das ruhige Wasser des Hafens, während die Besatzung des Schiffes begann, die Leinen loszumachen.
"Ich wusste nicht, dass Meister Elrond eine zweite Tochter hat," sagte Finelleth gerade. "Mein Beileid zum Verlust deiner Brüder."
"Ich hatte viel Zeit, um darüber nachzudenken," antwortete Celebithiel. "Es ist ein Trost, sie eines Tages im Alten Westen wiederzusehen. Ich vermute, du denkst Ähnliches über deinen kleinen Bruder?"
Finelleth legte nachdenklich den Kopf schief. "Ich hatte nie eine so enge Beziehung zu ihm. Ich vermute... es wäre schön, mit ihm über alles, was geschehen ist, zu sprechen. Eines Tages." Sie unterbrach sich und warf Celebithiel einen schnellen Blick zu. "Ist es nicht ein seltsamer Zufall, dass wir beide hier stehen, als Schwestern der Elben, die mit der grauen Schar ritten?"
"Auf eine Art schon," entgegnete Celebithiel. "Wer ist von deiner Familie noch übrig, wenn du die Frage erlaubst? Lebt deine Mutter noch?"
"Mein Vater hat viele Jahre nicht über meine Mutter gesprochen," antwortete Finelleth leise. "Sie verschwand eines Tages, als die Schatten über dem Grünwald zu wachsen begannen. Und kehrte erst viele Jahre später zurück. Mein Vater nahm sie mit in sein privates Zimmer und sprach viele Stunden lang mit ihr. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, was beim Fall des Waldlandreiches mit ihr geschah - und ob sie noch am Leben ist. Ich hoffe es... doch ich befürchte das Schlimmste."
"Vergiss nicht, was Meister Círdan gesagt hat," sagte Celebithiel sanft. "Es mag eine Zeit kommen, in der du dich der Verantwortung stellen musst, vor der du dich lange Jahre versteckt hast. Du weißt, wovon ich spreche."
"Ja," seufzte Finelleth. "Du hast Recht. Es ist nur so... es fällt mir nicht leicht, jahrtausendalte Überzeugungen einfach so aufzugeben."
"Du bist nicht allein, Faerwen," sagte Celebithiel. "Oronêl sieht dich als Schwester an und wird dich unterstützen, egal was kommen mag. Und auf meine Hilfe kannst du auch zählen. Wir kennen uns vielleicht noch nicht lange - aber ich habe die Zeit in Mithlond gut genutzt um mir darüber klar zu werden, was ich in dieser Welt tun und bewegen möchte. Und wenn ich dabei helfen kann, eines der verbliebenen Elbenreiche in Mittelerde zu erhalten, dann werde ich alles dafür tun."
"Und ich helfe dir ebenfalls," mischte Kerry sich ein, und die Frauen blickten überrascht zu ihr hinüber. Offenbar hatte keine der beiden bemerkt, dass Kerry neben ihnen am Geländer gelehnt hatte.
"Danke, Kerry," sagte Finelleth. "Und danke, Celebithiel. Eure Unterstützung bedeutet mir sehr viel."
"Werden hier etwa Geheimnisse ausgeplaudert?" fragte eine amüsierte Stimme hinter ihnen. Da stand Oronêl, der seine Axt lässig in der Hand kreisen ließ.
"Wir sammeln alles, was wir an Peinlichkeiten über dich wissen, gwador," erwiderte Finelleth frech und Zweifel und Nachdenklichkeit schienen von ihr abzufallen. "Und dann wirst du tun müssen, was auch immer wir von dir verlangen, wenn du nicht willst, dass wir diese Dinge weitererzählen."
"Ich sehe schon," sagte Oronêl amüsiert. "Mein Vertrauen in euch Drei war völlig fehlgeleitet. Kaum verlassen wir Círdans Gestade, fallt ihr mir schon heimtückisch in den Rücken!"
"Wir müssen ja irgendwie dafür sorgen, dass du keine weiteren Dummheiten anstellst," ergänzte Celebithiel lächelnd.
"Dummheiten? So nennt ihr das also, wenn ich tödliche Verletzungen riskiere, um vorlaute Menschenmädchen zu retten?"
"He!" rief Kerry. "Es war immerhin deine Schuld, dass Laedor mich überhaupt entführt hat!"
"Genug davon, sonst gibt er sich wieder die Schuld für alles, was uns zustößt," sagte Finelleth und alle vier lachten sie herzlich.

Die Avalosse, wie Círdans Schiff hieß, setzte sich zwischen die beiden großen Kriegsschiffe der Manarîn und zu dritt setzten die Schiffe Kurs nach Westen, auf das offene Meer. Kerry warf einen letzten Blick zurück auf Mithlond, das hinter ihnen langsam immer kleiner wurde. Sie war froh, wieder unterwegs zu sein. Nachdenklich betastete sie das Kästchen, das im Inneren ihrer Umhängetasche verborgen war. Sie fragte sich, was es wohl damit auf sich haben mochte. Obwohl ein Teil von ihr dringend mit ihren Eltern oder ihren Freunden darüber sprechen wollte, hielt sie irgendetwas davon ab. Sie strich ein letztes Mal über den metallenen Deckel des Kästchens, dann ließ sie es los. Ich beschäftige mich später damit, dachte sie. Und währendessen fuhr ihr Schiff in den Golf von Lindon hinein.


Mathan, Halarîn, Finelleth, Celebithiel, Adrienne und Kerry an Bord der Avalosse zum Golf von Lindon

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