Erster Teil: Leben in Qafsah
Anfang 2999 D.Z., Qafsah
Am Tag danach ging das Leben in Qafsah weiter, wie alle Jahre davor - scheinbar. In Wirklichkeit war alles anders geworden, die Menschen wussten es nur noch nicht, und die meisten ahnten es noch nicht einmal.
Wie jeden Morgen arbeitete Herlenna in der Schenke "Halbmond", wischte die Tische ab, säuberte die Gläser, und wartete dann auf die ersten Stammgäste, die häufig bereits mittags eintrafen. Im Laufe des Vormittags begannen sich die ersten Gerüchte über das, was in der Nacht geschehen war, flüsternd aber wie ein Lauffeuer, in der Stadt auszubreiten.
Suladan, der zweite Sohn des alten Scheichs Natnu, sei mitten in der Nacht von einer Reise zurückgekehrt, und habe ein ganzes Heer mitgebracht, um die Festung im Sturm zu nehmen, sagten die einen.
Nein, sagten andere, Suladan sei allein gewesen, und habe seinen Vater im Streit erdolcht. Daraufhin hätte er ein Heer von Dämonen aus dem Boden gerufen, die alle Getreuen seines Vaters getötet hätten.
Und wieder andere erzählten, Suladan habe sich noch vor der Stadt in eine riesige Fledermaus verwandelt, sei zur Festung hinauf geflogen, und habe seinen Vater verschlungen.
Aber was man sich auch immer erzählte, alle waren sich in einem Punkt einig: Suladan hatte seinen Vater und seinen älteren Bruder Musa getötet, und war jetzt der Scheich von Qafsah.
"Was sollte uns das kümmern?", fuhr Yaran, der Wirt vom "Halbmond", einen Mann an, der zum wiederholten Mal die Geschichte erzählte, nach der Suladan seinen Vater in voller Absicht getötet hatte, und mit seinen Brüdern ebenso verfahren würde. "Ein Scheich ist so gut wie der andere, und solange er mich und meine Gäste in Ruhe lässt, soll es mir egal sein, ob er angeblich seinen Vater getötet hat." Herlenna blickte ihn ungläubig an, doch er konnte es nicht besser wissen. Nur wenig war über Suladan bekannt, denn seit Jahren war er nicht mehr in der Stadt gewesen, und hatte angeblich ganz Harad bereist. Mehr wusste so gut wie niemand, doch Herlenna kannte seinen Ruf, der sich außerhalb der Stadt verbreitet hatte. Suladan war machthungrig und skrupellos, und ein überzeugter Verfechter der Einheit Harads und des Krieges gegen Gondor im Norden.
Manche sagten auch, er sei eine Zeit an Orten gewesen, an die kein Mensch gehen sollte, in Mordor, dem Land des Schattens im Norden.
"Ich weiß nicht, Herr Yaran.", sagte sie leise und unterbrach ihre Arbeit. "Man erzählt sich einiges über ihn, und wenig gutes..."
"So?", unterbrach er sie, "Ich habe noch nichts davon gehört. Und jetzt fang nicht auch noch an mit diesem sinnlosen Geschwätz, sondern mach deine Arbeit."
Herlenna nickte, obwohl sie innerlich den Kopf über diese Verschlossenheit der Wahrheit gegenüber schüttelte, und fuhr fort, den Tisch abzuwischen. Sie wusste dass es besser war, Yaran bei diesem Thema nicht weiter zu widersprechen. Obwohl er meistens freundlich war, solange sie ihre Arbeit gut machte, war ihr doch daran gelegen ihn nicht unnötig zu verärgern.
Für den Rest des Vormittags mischte sie sich nicht mehr ein, als Yaran einem Schwätzer nach dem anderen das selbe sagte, doch als gegen Mittag die Nachricht kam, dass Suladan eine Ansprache vor den Toren der Festung halten würde, blickte sie ihn fragend an. Sie musste unbedingt wissen, was Suladan seinen Untertanen erzählen würde, und sie wollte es nicht aus zweiter Hand erfahren. Yaran nickte nur ergeben, und legte auch selbst seinen Lappen beiseite, meinte allerdings: "Warum muss unser Scheich seine erste Rede gerade in der größten Mittagshitze halten?"
Gemeinsam machten sie sich auf, um ihren neuen Herrn sprechen zu sehen.
Vor den großen Festungstoren hatte sich, als Herlenna und Yaran dort eintrafen, bereits eine große Menschenmenge versammelt. Auf dem Platz war ein hohes Podest errichtet worden, das von einem dichten Ring Soldaten umgeben war. Oben auf der Mauer waren Bogenschützen zu sehen, doch sie trugen nicht die Kleidung, die für die Soldaten des Scheichs von Qafsah typisch war.
Herlenna wies Yaran darauf hin, und sagte: "Sie sind vermutlich mit ihm in die Stadt gekommen. Wie es aussieht, hat er tatsächlich eine eigene Armee mitgebracht."
Yaran blinzelte schlecht gelaunt, und erwiderte: "Ich kann keinen Unterschied feststellen. Und nun hör auf mit dem närrischen Geschwätz, Weib, und hoffe, dass unser neuer Scheich nicht zu lange redet. Wir haben noch Arbeit vor uns."
Gerade als Herlenna zu einer Antwort ansetzten wollte, ging ein Raunen durch die Menge, und Suladan trat auf das Podest.
Er war groß, größer als der alte Scheich gewesen war, und ganz in Schwarz gekleidet. Neben ihm standen zwei Männer, einer auf jeder Seite, ebenfalls in Schwarz gekleidet, und mit Kapuzen, die ihre Gesichter verdeckten. An der Seite trugen sie Schwerter, aber kein Krummschwert haradischer Art, sondern Langschwerter, wie man sie im Norden führte. Hinter Suladan stand sein vier Jahre jügerern Bruder Yusuf.
"Schwarz?", raunte Yaran Herlenna zu. "Sie müssen doch bei lebendigem Leib gekocht werden!" "Still!", zischte sie zurück, denn langsam breitete sich Schweigen über die versammelten Menschen aus.
Suladan ließ seinen Blick über die Menge schweifen, und Herlenna erschauerte unwillkürlich, als sein Blick sie zu streifen schien.
Dann begann der Scheich zu sprechen.
"Leute von Qafsah! Ich spreche zu euch in einer schweren Stunde. Mein Vater, der Scheich von Qafsah, und mein Bruder Musa, sein Erbe, sind tot! Aber sie starben nicht eines natürlichen Todes, sondern wurden ermordet. Ermordet! Sie starben durch die Klingen gedungener Mörder. Wessen Mörder, werdet ihr euch fragen. Ich kann es euch sagen: Sie kamen von unserem alten Feind, den fast alle vergessen hatten. Sie kamen aus dem Norden, aus Gondor!"
Plötzlich schwindelte es Herlenna. Das war schlimmer, als sie angenommen hatte. Suladan hatte tatsächlich seinen Vater getötet, daran hatte sie keinen Zweifel, und nun schob er die Tat Gondor zu. Sie wusste, es würde Krieg geben.
"Aber was keiner von euch weiß: Gondor hat nicht alleine gehandelt, sondern gemeinsam mit meinen Brüdern Nuhuru und Haritat, die auf diese Weise die Herrschaft über Qafsah erlangen wollten! Doch ihr feiger Anschlag ist nicht vollends gelungen. So fällt mir nun die Bürde zu, Scheich von Qafsah zu sein, doch ich verspreche euch, wir werden die Toten rächen. Wir werden meine verräterischen Brüder zur Rechenschaft ziehen! Und wir werden mit Feuer und Schwert über Gondor kommen, und mein Vater und mein Bruder werden tausendfach gerächt werden!
Wie sollen wir unser Ziel erreichen, fragt ihr euch, denn auch wenn dies die mächtigste Festung in Harad ist, so ist ihre Macht doch keineswegs der von Gondor ebenbürtig.
Einst war Harad ein stolzes Reich, geeint, und jedem anderen Reich dieser Welt ebenbürtig. Die Herrscher dieser großen Nation regierten von hier aus, vom Felsen von Qafsah beherrschten sie den Süden der Welt. Und ich bin ihr Erbe! Ich bin Suladan, Scheich von Qafsah, Nachkomme der Sultane von Harad, und damit der rechtmäßige Herr über alle Haradrim!"
Es kam immer schlimmer. Nie hätte Herlenna gedacht, dass Suladan so größenwahnsinnig sein konnte, sich tatsächlich auf dieses Erbe zu berufen. Aber wenn er tatsächlich mit den Mächten im Bunde stand, die sie an seiner Seite vermutete, konnte er sein Ziel tatsächlich erreichen.
"Wie wollt ihr das erreichen? Niemals werden sich die anderen Stammesfürsten eurer Herrschaft beugen!", kam eine Stimme aus der Menge.
Suladan wandte sich gemächlich um, er erinnerte Herlenna dabei an eine Schlange, die ihr Opfer fixierte, und blickte den Mann an, der gesprochen hatte. Herlenna erkannte ihn, er war ein Stammgast im "Halbmond", der schon immer vorlaut gewesen war und noch nie viel von Höhergestellten gehalten hatte.
Suladan schenkte ihm ein träges Lächeln, doch Herlenna, und sicher auch einige andere erkannten, dass in seinen Augen eine plötzliche Wut loderte.
"Eine berechtigte Frage, mein Freund. Ich werde diese große Aufgabe natürlich nicht einfach so angehen. Wie ihr alle wisst, waren mein Bruder Yusuf und ich in der letzten Zeit auf Reisen, aber was ihr nicht wisst, ist, dass diese Reise eben den Zweck der Einigung Harads hatte. Die Stämme der Banu-Abid und Mir haben sich bereits einverstanden erklärt, das Knie vor dem Scheich von Qafsah und Sultan von Harad als rechtmäßigem Herrn zu beugen, und auch der Stamm der Almora wird sich mir bald anschließen."
Herlenna waren diese Namen nicht unbekannt. Sowohl bei den Banu-Abid, als auch bei den Mir war vor kurzer Zeit der Stammesfürst auf mysteriöse Art und Weise zu Tode gekommen und durch einen ihrer Söhne ersetzt worden. Bislang hatte sie keine Verbindung zwischen diesen Zwischenfällen gesehen, denn so etwas war bei einigen Stämmen an der Tagesordnung. Aber nun wurde ihr klar, dass diese beiden Tode direkt mit der letzten Nacht zu tun hatten, und auch, dass der Anführer der Almora nicht mehr lange zu leben hatte.
Offenbar zogen auch einige andere ähnliche Schlüsse, denn plötzlich war es nicht mehr auf dem Platz, sondern die Luft war erfüllt von dem Raunen unzähliger Gespräche.
Ich muss eine Botschaft zu meinem Vater schicken, wie ich es ihm versprochen habe...
Suladan fuhr fort und übertönte den aufkommenden Lärm mühelos: "Doch unser wichtigster Verbündeter kommt aus dem Norden. Nicht aus Gondor, sondern aus Mordor, dem Land, dass einige von euch irrigerweise das Land des Schattens aus dem Norden nennen."
Plötzlich senkte sich eine Totenstille über die Menge.
"Ich war dort, und ich habe mit dem Stellvertreter des Herrn der Geschenke, dem Fürst von Mordor gesprochen. Auch er ist ein alter Feind Gondors, der Unterdrücker, und hat sich bereit erklärt, an unserer Seite zu kämpfen."
Wiederum wurde Herlenna schwindelig. Dieser Narr war tatsächlich einen Pakt mit Mordor eingegangen... Sie konnte nur hoffen, dass er nicht wusste, was er tat, denn wenn er es wusste, war alles noch viel schlimmer.
"Was ich euch sagen will ist folgendes: Mit Mordor an unserer Seite und ganz Harad unter uns werden wir Gondor niederwerfen, und jedes andere Land, dass sich uns in den Weg stellt! Qafsah wird die Hauptstadt der Welt werden!" Damit verließ Suladan das Podest, gefolgt von seinem Bruder und seinen schwarzgekleideten Begleitern.
Herlenna wandte sich Yaran zu, der totenbleich geworden war. "Mordor...", flüsterte er, und leckte sich nervös die Lippen. "Ich habe es ja gesagt.", meinte Herlenna. Yaran nickte nur schwach, und schweigend, wie auch fast alle anderen, machten sie sich auf den Weg, durch den Staub, der von unzähligen Füßen aufgewirbelt wurde, zurück zum "Halbmond".
Frühling 2999 D.Z., Qafsah
Erst als sie in der nun verlassenen Schenke eingetroffen waren, begann Yaran wieder zu sprechen. "Mordor...", sagte er, wie schon zuvor nach Suladans Rede, und fuhr dann fort: "Wenn ich es nicht von ihm selbst gehört hätte, könnte ich es nicht glauben. Unser neuer Sultan muss verrückt sein!"
Herlenna warf einen beunruhigen Blick zur Tür. "Leise!", zischte sie ihm zu. "Wenn jemand dich so reden hört..."
Auch Yaran blickte warf einen Blick zur Tür, doch niemand war dort. "Es ist aber niemand hier, nur du, und ich kenne deine Meinung dazu."
"Trotzdem ist es gefährlich. Es wird nicht mehr lange dauern, dann können wir hier niemandem mehr vertrauen. Noch mag vielleicht nichts davon zu spüren sein, aber Suladan wird ein schlimmerer Tyrann werden, als alle seine Vorfahren zusammen."
Yaran nickte, und erwiderte dann: "Was können wir tun?" Für einen Augenblick blieb Herlenna vor Überraschung der Mund offen stehen, denn sie hätte niemals damit gerechnet, dass ausgerechnet Yaran, der gemütliche Wirt des "Halbmond", der sich nie gegen die Oberschicht aussprach, sich nun gegen Suladan auflehnen wollte.
"Bist du sicher, dass...", erwiderte sie, wurde aber von ihm unterbrochen. "Ja, verdammt. Wenn Suladan mit Mordor im Bunde ist, müssen wir ihn so schnell wie möglich los werden." In seinen Augen stand plötzlich nackte Angst, und auf seiner Stirn sammelten sich Schweißtropfen.
Bei diesem Anblick stutzte Herlenna für einen Moment, dann fragte sie: "Wie kommt es, dass du eine solche Angst vor Mordor hast? Die meisten hier fürchten den Schatten im Norden, aber so, wie man sich auch vor Geistern und Wiedergängern fürchtet, Dinge, von denen man eigentlich weiß, dass sie nicht existieren."
Yaran wich ihrem Blick nervös aus. "Ich, mich fürchten? Aber nein, ich..."
"Yaran.", unterbrach sie ihn sanft. "Ich muss die Wahrheit wissen."
"Also gut...", erwiderte er, und sank auf einen Stuhl. "Also gut. Was du nicht weißt, ist, dass ich ursprünglich nicht aus dieser Stadt komme. Ich bin weiter im Norden aufgewachsen, in Khand, nahe der Grenze zum Land des Schattens. In diesem Gebiet enden die Berge von Mordor, und die Grenze ist leicht zu überschreiten. Niemals ging jemand aus unserem Stamm dorthin, und niemals kam jemand von dort zu uns. Wir hielten das Land für verlassen, doch eines Tages, es ist jetzt achtundzwanzig Jahre her, kam doch jemand. Es war der Tag nach meinem siebten Namenstag, und ich werde ihn niemals vergessen.
Über die Grenze kam eine große Horde Orks, und an ihrer Spitze ritt ein Mann auf einem schwarzen Pferd, der sich Varakhôr nannte. Der ganze Stamm versammelte sich, und dieser Mann sprach mit unserem Anführer. Er verlangte, dass wir das Knie vor seinem Herrn beugten, und ihm jedes Jahr zwanzig Pferde und eine jedes Jahr neu festzulegende Summe Gold zu zahlen. Außerdem sollten unsere Krieger im Kriegsfall dem Heer seines Herrn anschließen. Unser Anführer beriet sich mit den Ältesten, und dann wiesen sie die Forderung zurück.
Der Reiter zuckte nur die Achseln, befahl sofort den Angriff, und die Orks fielen über uns her. Nur wenige entkamen, darunter ich, doch meine ganze Familie blieb erschlagen zurück.
Später kam ich nach Qafsah, und es schien mir weit genug fort von Mordor und seinen Orks zu sein... bis heute."
Während er erzählte, war Yaran totenbleich geworden, und nun starrte er ausdruckslos auf den Boden. Herlenna machte einen Schritt auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Ich verstehe. Und wenn du es wirklich willst: Ja, wir können etwas tun."
Am nächsten Tag wurde vor den Toren der Festung die Leiche eines Mannes gefunden. Einige erkannten ihn wieder: Es war derjenige, der Suladan bei seiner Rede angesprochen und bezweifelt hatte, dass er Harad vereinen könnte.
Noch am selben Tag streiften schwarz gekleidete Männer durch die Stadt, klopften an Türen, und zerrten scheinbar willkürlich Menschen aus ihren Häusern und schleppten sie ihn die Festung. Nur wenige sah man je wieder, und niemanden lebend.
Am nächsten Tag ging es so weiter, und auch am Tag danach, und inzwischen beherrschte eine Atmosphäre der Angst die Stadt. Wenn die Schwarzgekleideten eine Straße betraten, zogen sich die Menschen so tief wie möglich in ihre Häuser zurück, und hofften, sie mögen vorbeigehen. Der "Halbmond" blieb allerdings noch verschont, und wurde schon bald eine Anlaufstelle für alle, die sich gegen Suladans wachsenden Terror wehren wollten. Wie durch ein Wunder blieben die Treffen im Hinterzimmer der Schenke unentdeckt.
Drei Wochen gingen so ins Land, und in der Zwischenzeit starb der Scheich der Almora eines mysteriösen Todes, und sein Sohn und Erbe beugte das Knie vor Suladan und nannte ihn den einzige wahren Sultan von Harad. Auch Suladans jüngere Brüder wurden aufgespürt, und öffentlich für den Mord an ihrem Vater hingerichtet.
Am Abend des Tages, an dem diese Nachricht Herlenna und Yaran erreicht hatte, sagte sie zum ihm: "Ich muss eine Nachricht zu meinem Vater schicken." Er nickte nur, und fuhr mit seiner Arbeit fort. Er hatte bereits früher versucht, sie nach ihrer Abstammung zu fragen, doch nie eine Antwort bekommen, und inzwischen hatte er es aufgegeben.
Sie verließ die Schenke mit einer kleinen Rolle Pergament in der Tasche, und machte sich auf den Weg zum Südtor der Stadt, wobei sie oft über die Schulter sah, um zu vermeiden, dass jemand ihr unbemerkt folgte. Sie verließ die Stadt, und wandte sich nach Westen. Inzwischen war die Sonne untergegangen, doch der Mond stand am Himmel und spendete ihr genug Licht.
Nach etwa einer Meile erreichte sie eine kleine Oase, an deren Quelle mehrere Zelte standen. Sie pfiff dreimal leise, zweimal kurz, einmal lang, und rief dann, ebenso leise: "Níthrar!"
Aus dem Zelt, das ihr am nächsten war, trat ein Mann, eilte auf sie zu und nahm ihre Hand. "Herlenna...", sagte er leise. "Ist etwas geschehen?"
"Ja.", antwortete sie. "Suladan hat den Scheich der Almora ermordet, und der neue Scheich hat ihm Treue geschworen. Suladans Macht wächst, und ich fürchte, dass er sein Ziel erreichen könnte. Mein Vater sollte davon erfahren." Sie griff in ihre Tasche, und drückte ihm den Brief in die Hand. "Hier. Bring das zu ihm."
Er nickte, und sagte: "Ich bin bald zurück. Solltest du Schwierigkeiten bekommen, wende dich an die anderen."
Sie beugte sich vor, und küsste ihn auf die Wange. "Danke, Níthi. Und sag meinem Vater, es ginge mir gut. Tu es um seinetwillen."
Dann floh sie in die Dunkelheit.
Sie hatte gerade die Straße nach Qafsah wieder erreicht, als sie hinter sich Hufschlag hörte. Sie sprang zur Seite, und konnte so gerade noch drei schwarz gekleideten Reitern auf schwarzen Pferden ausweichen.
Reitet weiter, bitte reitet weiter..., flehte sie in Gedanken, ihr Flehen fand kein Gehör. Die Reiter mussten sie gesehen haben, denn sie wendeten und brachten ihre Pferde direkt vor ihr zum stehen. Der vorderste sprang ab und packte sie am Arm, und als ein Strahl Mondlicht auf sein Gesicht fiel, erkannte sie mit einem Schaudern Suladan, Sultan von Harad.
"Was haben wir denn hier Schönes? Du kommst mir gerade recht.", sagte er, und grinste einmal anzüglich. Dann schob er ihr seine eine Hand zwischen die Beine, und zerriss mit der anderen ohne sichtliche Anstrengung ihre Kleider. Er streifte die zerrissenen Rest herunter, und fuhr dann mit der Hand grob über ihren nackten Körper.
Sie wehrte sich nicht, denn sie wusste, es würde trotzdem geschehen, egal was sie tat. Dann stieß er sie grob zu Boden und warf sich auf sie.
Als er fertig war, erhob er sich wortlos, richtete seine Kleidung und stieg wieder auf sein Pferd. Er nickte seinen Begleitern, die die ganze Zeit über regungslos dagesessen hatte, zu, und sie setzten ihren Weg in die Stadt fort. Herlenna blieb noch einen Moment reglos liegen, und erst jetzt begannen ihr Tränen in die Augen zu steigen.
Kind der Zeit...
Sie kam mühsam auf die Füße, und streifte sich ihre zerrissene Kleidung über. Dann machte sie sich auf den Weg zur Oase, denn sie wusste, dass sie in diesem Aufzug am Tor nur aufsehen erregen würde.
Níthrars Freunde kümmerten sich gut um sie, und gaben ihr neue Kleider, und so kehrte sie am nächsten Morgen nach Qafsah zurück, begleitet von zwei Oasenbewohnern. Yaran empfing sie mit besorgtem Blick, und doch er fragte nicht weiter nach.
Drei Wochen später stellte Herlenna fest, dass sie schwanger war.
Frühling 2999 D.Z. bis Anfang 3000 D.Z., Qafsah
Der Gedanke, sie könnte schwanger sein, kam Herlenna zuerst, als ihre Blutungen ausblieben. Das war an sich nichts allzu ungewöhnliches, doch es passte zu gut mit den Geschehnissen jener Nacht zusammen. Sicher war sie schließlich, als ihr gelegentlich morgens übel wurde.
Noch war die Schwangerschaft nicht erkennen, und so erfuhr auch Yaran noch nichts davon. Stattdessen verließ sie eines Morgens wieder die Stadt und ging zu der kleinen Oase vor den Mauern. Noch bevor sie die Zelte erreicht hatte, kam Níthrar ihr entgegen. "Herlenna!", begrüßte er sie. "Ich habe einen Brief von deinem Vater für dich. Ich wollte ihn dir schon bringen, aber die Wachen am Tor wollten mich nicht einlassen."
Er nahm ihren Arm, und führte sie in sein Zelt, wo sie sich auf Hockern niederließen. Sie lächelte schwach, und erwiderte: "Ja, es hat sich einiges geändert in Qafsah. Suladans Griff schließt sich immer fester um die Stadt, und er versucht den Hass auf Gondor nach Kräften zu schüren. Leute mit zu heller Haut, wie du, werden nicht länger in die Stadt eingelassen, und wer bereits drin ist, wünscht sich, wieder draußen zu sein.
Auch sein Größenwahnsinn scheint ins Unermessliche zu wachsen. Er hat einen neuen Kalender eingeführt, nachdem wir nicht länger das Jahr 2999 des Dritten Zeitalters schreiben, sondern das Jahr 48 seit der Rückkehr des Herrn. Damit meint er die Rückkehr Saurons nach Mordor.
Aber das ist nicht der Grund aus dem ich gekommen bin.", schloss sie.
Níthrar blickte sie aufmerksam an. "Sondern?"
Sie sah kurz zu Boden, bevor sie ihm in die Augen blickte: "Níthrar... haben deine Freunde dir erzählt, was in der Nacht, in der ich der meinen Brief brachte, noch geschehen ist?"
"Nein, sie haben nichts erwähnt. Wieso, gibt es da etwas, das ist wissen sollte?"
"Deine Freunde sind gute Männer. Ich habe sie schwören lassen, nichts zu sagen, und wie es scheint, haben sie ihren Schwur gehalten."
Es schien, dass Níthrar etwas sagen wollte, doch Herlenna hob die Hand, und kam ihm zuvor: "Auf dem Rückweg in die Stadt bin ich überfallen worden. Es waren drei Männer, und... nun, du kannst dir ja vorstellen, was sie getan haben. Níthrar, bitte beruhige dich.", sagte sie, denn er war aufgesprungen, auf seinem Gesicht ein kaum beherrschter Ausdruck des Zorns.
"Wer? Wer hat es getan?", fragte er, die Zähne gebleckt.
"Ich..." Sie sah zu Boden, und log dann: "Ich weiß es nicht."
Plötzlich war er bei ihr, hob ihr Kinn sanft an, und zwang ihr, ihm in die Augen zu sehen.
"Du lügst.", sagte er mit sanfter Stimme.
Einen Augenblick herrschte Stille, und beide verharrten in ihrer Position.
Dann antwortete sie, flüsternd: "Suladan. Es war Suladan selbst."
Níthrar ließ ihr Kinn los, und begann, rastlos im Zelt auf und ab zu gehen. "Dieser... Bastard."
"Nein.", sagte sie. "Viel schlimmer. Dieser Verblendete, dieser Narr, dieser Verbündete des Schattens."
Er setzte sich wieder. "Was wirst du nun tun? Willst du das... Kind loswerden?"
"Nein, das will ich nicht.", erwiderte sie. "Es ist mein Kind, ganz gleich, wer der Vater ist, und ich würde niemals meinem eigenen Kind ein Leid zufügen."
"Aber Qafsah ist kein gutes Pflaster für eine unverheiratete Frau mit einem unehelichen Kind.", meinte Níthrar. Sie wusste, dass er Recht hatte. In Qafsah kam es verhältnismäßig häufig vor, dass eine Frau von jemand anderem als ihrem Ehemann schwanger wurde, und niemals ging es gut für sie aus. Meistens waren es allerdings unverheiratete Frauen, die es traf, und nur fast immer wurden sie von ihren Vätern oder Arbeitgebern verstoßen, oder mussten ihr Kind abtreiben. Egal, was sie taten, auf ihrer Ehre würde für immer einen Fleck zurückbleiben.
"Ich weiß.", antwortete sie.
"Du wirst die Stadt verlassen müssen. Ich kann dich zu deinem Vater bringen, und..."
Herlenna schüttelte den Kopf. "Nein. Ich muss hier bleiben."
"Dann heirate mich.", sagte er, flüsterte es geradezu. "Ich werde für dich und dein Kind sorgen, ich würde es als meines annehmen."
"Ich weiß, das würdest du, Níthi. Aber es ist unmöglich.", erwiderte sie.
"Nein, das ist es nicht!"
"Doch, ist es. Du kannst die Stadt nicht betreten, aber ich muss in der Stadt bleiben. Und außerdem... du gehörst den Erstgeborenen an, und ich den Zweitgeborenen."
Níthrar schüttelte verzweifelt den Kopf. "Und was willst du dann tun? Wie willst du überleben?"
"Ich werde Yaran anbieten, ihn zu heiraten, und er wird es tun. Es wird funktionieren, ich weiß es." In dem Augenblick, als sie dies gesagt hatte, zuckte Níthrar zusammen, und sein Gesicht wurde ausdruckslos.
"Geh.", sagte er.
"Níthrar, ich..."
"GEH! DU BIST HIER NICHT LÄNGER WILLKOMMEN!", schrie er jetzt beinahe.
"Es tut mir leid.", flüsterte sie noch, und floh dann aus dem Zelt, zurück in die Sicherheit der Stadtmauern von Qafsah.
Am folgenden Tag setzte sie ihren Plan in die Tat um. Sie erzählte Yaran alles, was sie auch Níthrar erzählt hatte, mit Ausnahme der Tatsache, dass es Suladan gewesen war, der sie vergewaltigt hatte.
"Wenn du bereit bist, mein Kind als deines anzunehmen, und allen zu erzählen, dass es deines ist, werde ich dich heiraten.", sagte sie.
Yaran nahm an, und noch am selben Tag heiratete der Wirt des Halbmondes seine schöne Gehilfin. Zu anderer Zeit hätte sich diese Nachricht wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet, doch zu dieser Zeit sprachen die Leute nur wenig miteinander. Eine Atmosphäre des Misstrauens hatte sich über Qafsah ausgebreitet, und außerdem hatten die Leute wichtigere Gesprächsthemen: Suladan hatte mehreren Stämmen nördlich des von ihm beherrschten Gebiet den Krieg erklärt, mit dem Ziel, diese seinem Reich mit Gewalt einzuverleiben, und nun zogen jeden Tag Soldaten durch die Stadt und aus den Toren nach Norden.
Wenige Wochen später gehorchten eben jeden Stämme Suladans Befehl.
Es kam eine Nacht im Winter, neun Monate nach der Nacht, in der Suladan über Herlenna hergefallen war. Außerhalb von Suladans Reich war es die letzte Nacht des alten Jahrtausends, und bei Herlenna setzten die Wehen ein.
Sie weckte Yaran, der neben ihr schlief, und presste zwischen den Zähnen hervor, denn gerade überrollte sie einen neue Welle des Schmerzes: "Das Kind kommt, hol die Hebamme!" Sofort war er auf den Beinen, bereits fertig angekleidet. So schlief er bereits seit mehreren Tagen, seit die Geburt jeder Zeit zu erwarten war.
Er küsste sie zum Abschied auf die Stirn und sagte: "Halt aus, ich bin gleich zurück."
Dennoch kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sich die Tür wieder öffnete. In diesem Moment hatte sie die Augen geschlossen und schrie, denn obgleich sie geübt war, Schmerzen zu ertragen, so waren diese Schmerzen doch etwas anderes.
Als sie die Augen wieder öffnete, stand eine Frau am Fußende des Bettes, und starrte auf ihren Bauch.
"DU!", keuchte Herlenna.
Die Frau schlug ihre Kapuze zurück, und antwortet: "Ja, ich. So sehen wir uns wieder, Herlenna, Tochter der Yamira und des Hador von der Insel. Wie es scheint, erinnerst du dich noch an mich."
"Wie könnte ich dich und deine Freundinnen vergessen? Aber du bist keine Hebamme, was tust du hier? Ich will... dass du gehst!"
"Oh, du würdest dich wundern, wenn du wüsstest, was ich alles kann, Herlenna. Aber willst du wirklich, dass ich gehe? Willst du die Geburt wirklich ganz alleine durchstehen?" Die Mundwinkel der Frau verzogen sich zu einem triumphierenden Grinsen, als Herlenna unter den Schmerzen einer weiteren Wehen erschauderte.
"Nein, verdammt.", stöhnte sie.
"Hab ich es mir doch gedacht. Na, dann wollen wir doch mal.", sagte die Frau.
Herlennas Martyrium dauerte die ganze Nacht, bis sich schließlich die Sonne über den Horizont erhob und einen neuen Tag ankündigte. In eben dem Moment sagte die Frau: "Ein Mädchen, wie ich es gedacht habe." Ihre Stimme klang außerordentlich zufrieden.
"Gib sie mir.", sagte Herlenna mit schwacher Stimme.
Die Frau lachte leise. "Hast du Angst, ich könnte sie dir wegnehmen? Noch nicht, noch nicht...", flüsterte sie, kam aber mit dem Kind im Arm um das Bett herum und legte es Herlenna sanft in die Arme.
"Wie soll sie denn heißen?", fragte die Frau, und fügte nahezu unhörbar hinzu: "... unser kleines Kind der Zeit..."
Trotz ihrer Schwäche sah Herlenna sie scharf an, und erwiderte dann: "Narissa. Ihr Name ist Narissa."
Die Frau lächelte, und meinte: "Eine gute Wahl. Nun, Narissa, Tochter der Herlenna, die Sieben Schwestern mögen über dich wachen."
"Verdammt, Elyana, lass das sein!", presste Herlenna zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
"Ich bin ja schon fertig.", sagte sie, und zwinkerte der kleinen Narissa zu. Dann sammelte sie ihre Tücher und sonstigen Habseligkeiten zusammen und verstaute sie in ihrer Tasche.
"Ich denke, ich werde nun gehen, und deinen armen Mann von seinen Qualen erlösen. Und denk immer daran, Herlenna: Dieses Kind ist etwas besonderes. Sie wurde geboren, als das alte Jahrtausend starb, und das neue geboren wurde. Schon jetzt fühle ich, wie sich die Wellen auftürmen. Dieses Jahrtausend wird einen gewaltigen Sturm bringen... einen Sturm aus Mordor. Bring ihr alles bei, was du weißt, Herlenna, denn sie wird gegen den Sturm stehen müssen. Und erinnere dich daran, dass sie den Schwestern gehört."
Dann verließ sie den Raum.
Erstes Zwischenspiel: Die Tage werden kürzer
3000 bis 3010 D.Z., Quafsah
Es schien in den folgenden Jahren, dass die Tage immer kürzer wurden, je weiter sich der Schatten Mordors über Mittelerde ausbreitete. Weit von Qafsah entfernt, hoch im Norden, lag der Ring verborgen, doch er spürte das Erstarken seines Meisters, und rührte sich. Die Wachen Mordors waren immer wachsam, und schließlich fingen sie jenen, der ihnen verraten konnte, wohin der Ring gegangen war... und der Dunkle Herrscher sandte mit der Rechten seine Häscher aus, während er mit der Linken Krieg gegen Gondor führte.
Von alledem bemerkte man in Qafsah recht wenig - abgesehen vom Vormarsch des Schattens. Mit den Jahren verfiel Suladan immer weiter in Größenwahnsinn und Tyrannei, nach Kräften gefördert von seinen kapuzenbewehrten Beratern, und ahnte nichts von der Tocher, die unter ihm, in seiner Stadt heranwuchs, das jedoch keineswegs ungestört.
Bereits in der Nacht ihrer Geburt hatte Herlenna festgestellt, dass die Haare ihrer Tochter eine außergewöhnlich helle Färbung aufwiesen. Nur wenige Tage später hatte sich der Eindruck erhärtet, und nach einer Woche war klar, dass die Haare der kleinen Narissa keineswegs nur hell, sondern weiß waren.
Das beunruhigte Herlenna und Yaran, denn in diesen Zeiten war es unklug, aufzufallen und anders als die Anderen zu sein, selbst für ein kleines Kind. Also deckten sie sich bei sämtlichen Kräuter-Händlern mit den verschiedensten Mitteln ein, um die Haare ihrer, in Yarans Fall Adoptiv-, Tochter dunkel zu färben wie es sich gehörte.
Für einige Zeit gelang dies tatsächlich, doch leider brachten die verschiedenen Färbemittel leicht veränderte Farben hervor, und mit der Zeit begann es, auch anderen aufzufallen. Also musste ein neuer Weg gesucht und gefunden wurden. Immer, wenn ein Färbemittel ausging, schnitt Herlenna Narissas Haare gnadenlos ab, und erzählte überall, dass ihre Tochter unter einem schlimmen Laus-Befall leide.
Aber auch das konnte nicht gut gehen, und so wurde Narissa trotz der Bemühungen ihrer allmählich im Viertel bekannt.
Sie selbst bekam davon wenig mit, und wuchs beinahe ebenso auf, wie alle anderen Kindern in Qafsah zu dieser Zeit. Die Ehe ihrer Eltern war glücklich, oder es schien ihr zumindest so. Nur was sie spät in der Nacht mit einigen anderen im Hinterzimmer der Schenke, über dem sie später, seit ihrem fünften Lebensjahr, ihre Kammer hatte, noch trieben, würde ihr wohl auf ewig ein Rätsel bleiben. Wenn sie fragte, wurden ihre Eltern abweisend und scheuchten sie häufig auch davon... und Narissa fragte häufig, denn sie war äußerst hartnäckig.
Mit den Jahren wurde sie älter, und nach und nach lernte sie, dass nichts so war, wie sie dachte. Eines Abends belauschte sie ihre Eltern, und erfuhr, dass Yaran nicht ihr echter Vater war.
Die ganze Nacht weinte sie deswegen, und fürchtete, ihn am Morgen plötzlich nicht mehr zu lieben, doch als sie bei Sonnenaufgang in den Schankraum herunterkam, und ihn dort an einem der Tische sitzen sah, wurde ihr klar, dass sich scheinbar nichts geändert hatte.
Eines Tages kam eine Truppe Weissager nach Qafsah, doch die Torwachen ließen sie nicht ein. Also schlugen sie ihre Zelte vor der Stadt auf, und niemand vertrieb sie von dort. Es gelang Narissa, unter gehörigem Einsatz ihrer Sturheit, ihre Mutter dazu zu bringen, mit ihr zu diesen Weissagern zu gehen, denn ihre beste Freundin war ebenfalls dort gewesen, und sie hatten ihr ein Leben in Reichtum vorhergesagt.
Ihre Mutter sagte dazu nur: "Ich weiß nichts über die Zukunft, und ich glaube auch nicht, dass man sie hervorsagen kann. Es gibt nur eines, was sicher ist: Die Tage werden kürzer, und die Schatten länger."
Zweiter Teil: Die Sieben Schwestern
Anfang 3010 D.Z., Quafsah
Narissa zerrte an der Hand ihrer Mutter, versuchte sie dazu zu bringen, schneller zu gehen. Sie wollte möglichst schnell zu den Weissagern vor der Stadt, denn es hieß, dass sie jeden Tag um diese Zeit die Zukunft eines Mädchen öffentlich vorhersagten... und da heute ihr Namenstag war, kam dafür ja wohl nur sie selbst in Frage.
Aber dazu musste sie die Weissager erst einmal rechtzeitig erreichen, und ihre Mutter machte das nicht gerade einfach.
"Jetzt komm schon!", quengelte sie, und zog wieder an der Hand ihrer Mutter.
Herlenna lächelte, allerdings irgendwie gequält, und erwiderte: "Ich komme doch schon, meine Kleine. Warum hast du es denn so eilig?"
Narissa blickte kurz zu Boden, und sagte dann: "Ich möchte einfach nur diese Weissager sehen, und nicht hier auf der Straße herumstehen."
Mutter nickte langsam, und irgendwie hatte Narissa das Gefühl, dass sie ihr kein Wort glaubte. Sie hatte ihrer Mutter nämlich nichts davon erzählt, dass sie ihr Schicksal vor allen anderen hervorsagen lassen wollte, denn dann wäre sie erst recht nicht mit ihr hingegangen.
Es war so schon schwierig genug gewesen, sie von diesem Ausflug zu überzeugen.
"Aber Mutter..." "Nein, habe ich gesagt. Diese sogenannten Weissager machen nur Ärger und erregen Aufsehen. Du weißt doch, dass wir kein großes Aufsehen erregen können."
Narissa verdrehte die Augen. Wie oft hatte sie das jetzt schon gehört? "Aber Yana war auch da, und sie haben überhaupt keinen Ärger gemacht." Yana war die Tochter des Händlers, der neben dem Halbmond seinen Laden hatte, und Narissas beste Freundin. "Und außerdem ist morgen mein Namenstag, da darf ich mir etwas wünschen, und ich wünsche mir, dass du mit mir zu diesen Weissagern gehst!" Sie verschränkte die Arme, und blickte ihre Mutter triumphierend an.
Herlenna seufzte und strich sich das Haar aus dem Gesicht. "Ich finde immer noch, dass es keine gute Idee ist. Außerdem hast du schon wieder die Läuse, da sollte man nicht unter Leute..." Ein Blick in Narissas Gesicht bewahrte sie davor, weiterzusprechen.
Es stimmte, nur zwei Tage zuvor hatten ihre Eltern ihr wieder den Kopf rasieren müssen. Die Läuse würde sie wohl niemals loswerden, denn wie oft ihre Mutter ihren Kopf auch mit den verschiedensten Mitteln behandelte, sie kehrten doch immer wieder, und dann musste sie sich wieder den Kopf rasieren lassen.
Zunächst war es Narissa unangenehm gewesen, als sie festgestellt hatte, dass es anderen Mädchen nicht so ging, doch mit der Zeit begann sie, die Aufmerksamkeit insgeheim zu genießen - gewissermaßen auch als kleine Rebellion gegen ihre Mutter, die immer predigte, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen.
"Lass sie doch, was kann dieser kleine Spaß denn schon für Schaden anrichten?", mischte sich Yaran, ihr Vater - nein, ihr Adoptivvater - ein. Der Blick, den ihre Mutter ihm daraufhin zuwarf, schien ihm gar nicht zu behagen, doch Narissa witterte ihre Chance. "Ja, was kann schon passieren? Yana war doch gestern auch dort, und es ist überhaupt nichts passiert."
Herlenna seufzte und meinte dann: "Na gut, meinetwegen. Weil doch morgen dein Namenstag ist."
Mittlerweile hatten Mutter und Tochter das Tor erreicht, und verließen Qafsah. Draußen schien es Narissa, als ob ihre Mutter einmal tief durchatmete, so als sei sie unmittelbar einer Gefahr entronnen, doch sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
Bald schon hatten sie die Zelte der Weissager erreicht, vor denen eine kleine Bühne errichtet war. Auf der Bühne stand eine Frau, die ein wenig älter als Mutter zu sein schien, und sprach zu Menge.
Gerade als Narissa und ihre Mutter die Bühne erreichten, fragte sie: "Ist denn heute ein Mädchen unter euch, dass seinen Namenstag hat?" Sofort riss Narissa sich von der Hand ihrer Mutter los, und rief: "Ja, hier!"
Die Frau wandte sich zu ihr um, und lächelte ihr zu. Hinter sich hörte sie ihre Mutter aufkeuchen. "Du hast heute also Namenstag, mein Kind?", fragte die Weissagerin, und fuhr fort, als Narissa stürmisch nickte: "Na, dann komm mal hoch zu mir."
In diesem Moment fasste Herlenna sie an der Schulter und zischte: "Narissa, bleib hier!", doch sie entwand sich dem Griff und eilte die Stufen zur Bühne hinauf. Sie wusste, wenn sie wieder unten war, würde sie einiges zu hören kriegen, doch gerade jetzt, in diesem Moment, war es ihr gleichgültig.
"Und mein Kind, wie heißt du denn?" Narissa blickte der Frau in die Augen, und für einen kurzen Augenblick hatte sie das seltsame Gefühl, die Weissagerin wüsste bereits genau, wer sie war, und wie sie hieß. "Ich bin Narissa, Tochter der...", sagte sie, möglichst laut und deutlich, verstummte jedoch, als sie der flehende Blick ihrer Mutter traf. Sie biss sich auf die Zunge, und ihr kam wieder in den Sinn, was sie versprochen hatte: Kein Aufsehen erregen!
Für einen Moment war es still, doch dann sagte die Weissagerin leise: "Nun gut, dann komm mit mir.", legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie auf der Rückseite von der kleinen Bühne.
"Aber... ich dachte...", stammelte Narissa, und verrenkte sich den Hals, um nach ihrer Mutter zu sehen.
Sie erreichten eines der Zelte und betraten es. "Du dachtest, ich würde dir die Zukunft oben auf der Bühne vorhersagen, vor diesen ganzen Leuten? So war es doch, hm?" Sie setzte sich auf einen Kissen, und deutete Narissa, sich ihr gegenüber zu setzen. Aus dem Augenwinkel erkannte Narissa, wie sich vor dem Zelt zwei Gestalten postierten... Gestalten mit Lanzen. Langsam spürte sie, wie ihr die Angst die Kehle hoch kroch. Zögernd setzte sie sich.
Die Frau hatte ihren Blick bemerkt und lachte leise. "Du brauchst keine Angst zu haben, kleine Narissa, ich will dir nichts tun, im Gegenteil. Ich kenne dich schon sehr, sehr lange, auch wenn du es nicht weißt, und das letzte was ich will, ist dir zu schaden."
Das verstand Narissa nicht, doch vielleicht war es das, was eine echte Weissagerin auszeichnete: Sie kannten alle Menschen, weil sie alle Menschen in ihren Visionen sahen. Das musste es sein!
"Dann... dann habt ihr mich in einer Version gesehen?", fragte sie aufgeregt, die Angst vergessen.
Die Frau schüttelte langsam den Kopf. "Eigentlich nicht. Als ich sagte, ich kenne dich schon sehr lange, meinte ich eigentlich, dass ich dich seit deiner Geburt kenne. Deine Mutter wird es dir nie erzählt haben, denn sie hat nicht viel für uns über, aber ich war es, die dich auf die Welt geholt hat. Mein Name ist Elyana vom Bund der Sieben Schwestern, und du bist Narissa, Tochter der Herlenna... aber nicht des Yaran. Ah, das wusstest du schon, wie ich sehe, sonst würdest du nicht so ruhig bleiben."
Narissa blinzelte. Das war noch aufregender, als sie sich diesen Ausflug vorgestellt habe. Aber Moment: "Woher wisst ihr das? Ich meine, dass Yaran nicht mein wirklicher Vater ist?"
"Nun, es gibt Dinge... die ich weiß, und viele Dinge, die ich ahne und mir zusammenreimen kann. Aber eins ist sicher: Du bist etwas Besonders, Narissa, und deshalb wollte ich auch hier mit dir reden, allein."
Narissas Mund war vor Aufregung ganz trocken. "Ich bin... etwas Besonderes? Ihr meint, wie eine verschollene Prinzessin, oder so etwas?"
Für einen winzigen Augenblick schien Elyana überrascht, fing sich aber schnell wieder und erwiderte: "Im Grunde ist jeder Mensch etwas Besonderes." Als sie Narissas enttäuschten Blick bemerkte, fuhr sie rasch fort: "Aber du... nun, man könnte es so ausdrücken: Du bist ein wenig besonderer als die meisten anderen. Du bist wichtig."
Narissa strahlte, erinnerte sich dann aber daran, warum sie eigentlich hier war, und bat: "Könnt ihr mir etwas über mein Schicksal verraten, Elyana von den Sieben Schwestern?"
Elyana lächelte triumphierend, und erwiderte: "Ich kann und ich werde. Aber vorher wisse eines: Ich spüre, wie sich die Wellen heben. Eine Flut kommt, und ein großer Sturm. Beides wird über Harad hinwegfegen, und danach wird vieles anders sein als zuvor. Ich kann nicht alles sehen, doch du wirst eine wichtige Rolle spielen in dem was kommt. Dein Haar", schloss sie sehr abrupt.
Narissa blinzelte überrascht, und meinte: "Mein Haar? Was ist damit?" Sie fuhr sich unsicher über den Kopf, auf dem bereits wieder ein weicher Flaum zu fühlen war.
"Ja, Mädchen, dein Haar.", sagte Elyana ungeduldig. "Welche Farbe hat es, wenn du gerade nicht so verunstaltet bist wie jetzt?"
Narissa blickte sie gekränkt an, noch nie hatte ein Erwachsener das zu ihr gesagt, aber sie antwortet: "Nun... dunkel, denke ich." Aber mit einem Mal war sie sich unsicher.
Elyana lächelte sanft. "Nein. Dein Haar ist weiß, und war es schon von Geburt an. Ich habe es selbst gesehen, und auch jetzt kann man, wenn man genau hinschaut, die Farbe erkennen. Deine Eltern sind kluge Menschen, dass sie deine wahre Haarfarbe verbergen. Du darfst niemandem davon erzählen!"
"Und warum nicht?", fragte Narissa, ein wenig trotzig, denn Geheimnisse waren doch am schönsten, wenn man sie mit jemandem teilen konnte.
"Weil es gefährlich ist. Und bevor du jetzt sagst, dass ich wie deine Mutter klinge: Deine Mutter mag in einigen Dingen zu misstrauisch sein, aber in dies Punkt hat sie Recht. Nein, ich kann dir die wahren Gründe jetzt nicht verraten.", meinte sie, als Narissa den Mund zu eben dieser Frage geöffnet hatte. "Nur so viel: Leute mit deiner Haarfarbe sind selten, sehr selten, und was selten ist, ist zu diesen Zeiten nicht gerne gesehen. Es ist schon Menschen für geringeres Leid angetan worden."
"Aber...", setzte Narissa an, doch Elyana schnitt ihr das Wort ab. "Nichts aber. Du weißt, was du wissen musst, jedenfalls zu diesem Thema. Zum anderen kommen wir jetzt. Kennst du die Geschichte von den Sieben Schwestern?"
Narissa schüttelte den Kopf. "Dann werde ich sie dir erzählen..."
Einst, vor langer Zeit, herrschten sieben mächtige Wesen über die Welt. Sie waren Schwestern, die Töchter eines großen Gottes, des Königs außerhalb der Welt. Sie herrschten gut, gerecht und weise, und jedem Lebewesen, klein oder groß, ging es gut unter ihrer Herrschaft.
Doch eines Tages stieg ihr Bruder vom Himmel herab. Er war neidisch auf die Macht und Schönheit seiner Schwestern, doch er war nicht stark genug, sie ihnen zu nehmen. Also versteckte er sich, hoch im Norden der Welt, und er nahm Wesen, die schon auf der Welt wandelten, denn er selbst konnte kein Leben erschaffen, und verstümmelte und veränderte sie. So züchtete er sich schließlich eine Armee, die für ihn eine große Festung baute, verborgen vor den Blicken der Schwestern.
Tief in den Hallen dieser Festung setzte er seine Arbeit fort, und züchtete immer grauenhaftere und mächtigere Wesen heran. Eines Tages war alles bereit, und er brach mit seiner Armee aus seiner Festung hervor, nannte sich König der Welt, und überzog die Sieben Schwestern mit Krieg. Seit diesem abscheulichen Verrat ist sein Name aus der Welt getilgt, und niemand kann sich mehr an ihn erinnern.
Aber seine Armee war groß und für den Kampf gerichtet, und bei all ihrer Macht verfügten die Schwestern doch über keine bewaffneten Heere, denn unter ihrer Herrschaft hatte Frieden in der Welt geherrscht.
So wurden die Schwestern von der dunklen Armee ihres verräterischen Bruders immer weiter zurückgedrängt, und alle, die unter ihnen in Freiheit gelebt hatte, wurden getötet und versklavt.
Als die Lage der Schwestern immer verzweifelter wurden, und sich der Ring der Feinde immer enger um sie schloss, griffen sie schließlich zu ihrer letzten, verzweifelten Maßnahme: Sie boten all ihre Macht auf, und griffen vereint ihren Bruder an. Inzwischen waren sie ihm selbst zu siebt nicht mehr gewachsen, denn mit jedem Sieg seiner Heere war seine Kraft gewachsen, und mit jedem Land, das an ihn gefallen war, war ihre Macht geschwunden. Doch die Schwestern wussten das, und so gingen die den Kampf mit List an. Niemand weiß heute mehr, was während dieses Kampfes geschah, doch am Ende siegten die Schwestern, und stießen ihren Bruder aus der Welt.
Doch ihr Sieg hatte seinen Preis, denn sie mussten sicherstellen, dass der nie wiederkehrte. So verteilten sie sich am Himmelsgewölbe, und bewachten den Übergang zum Nichts außerhalb der Welt, damit ihr Bruder für immer dort blieb.
Zurück blieben leider die verbliebenen seiner Heere, und auch wenn sie sich nach der Verbannung ihres Meisters zerstreuten und versteckten, so sind sie doch noch immer da, und eine ständige Bedrohung für die Kinder der Sieben.
"Doch die Sieben Schwestern scheinen noch immer vom Himmel herab, ein Zeichen der Hoffnung, für alle, die ihnen immer noch dienen.", beendete Elyana die Geschichte.
"Das also sind die Sieben Schwestern, und ich und noch viele andere dienen ihnen. Wenn wir unsere Aufgabe gut erfüllen, werden sie eines Tages wieder auf die Welt herabsteigen, und sie vom Bösen säubern."
In Elyanas Augen brannte mit einem Mal ein Feuer, dass Narissa erschreckte, und sie wich unwillkürlich ein Stück zurück. Zum Glück schien Elyana es nicht bemerkt zu haben, und so fragte sie rascht: "Und was hat das alles mit mir zu tun?"
"Manchmal wählen die Schwestern einen Menschen aus, der Bösen entgegen treten soll. All diese Menschen zeichnen sich durch ein besonderes Merkmal aus... wie deine weißen Haare. Dir steht ein Kampf bevor, Narissa, ein Kampf gegen das Böse, das noch immer im Norden lauert... nur lauert es nicht mehr lange. Bald wird der Sturm losbrechen.
Und für dich wird bald die Zeit kommen, zu der du dich entscheiden musst. Denn du musst wissen, die Schwestern zwingen niemandem ihr Schicksal auf. Es wird ein Moment kommen, in dem du wählen kannst, ob du dem Bösen gegenüber treten, oder ein normales Leben führen willst. Diese Entscheidung ist endgültig, und lässt sich vielleicht mit einem Sprung aus großer Höhe vergleichen. Achte auf den Moment, und wenn er kommt, dann zögere nicht zu springen!
Wenn du es tust, wirst du alles verlassen, was du kennst: Zunächst deine Eltern, dann Qafsah, und zu guter Letzt sogar Harad. Was dann dein weiteres Schicksal ist, kann ich dir nicht sage, doch es kann sein, dass du eines Tages zurückkehren, und Rache nehmen wirst."
Elyana endete, und für einen Moment wusste Narissa nichts zu sagen.
"Rache? Wofür denn? Und an wem?", fragte sie dann.
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es vielleicht so sein wird.", antwortete Elyana. Sie blickte Narissa noch einen Augenblick nachdenklich an, und sagte schließlich: "Es ist alles gesagt. Geh, Narissa, Kind der Zeit. Bedenke noch eines: Nicht alles Böse sind Monster, oder man könnte auch sagen: Auch unter Menschen gibt es Monster."
Sie machte eine Handbewegung, und Narissa verließ schnellstmöglich das Zelt, vollkommen verwirrt.
Anfang 3010 D.Z., Qafsah
Draußen vor dem Zelt erwartete ihre Mutter sie bereits. Als sie blinzelnd aus dem Halbdunkel des Zeltes trat, stürzte Herlenna auf sie zu, und schloss sie in die Arme.
"Tu so etwas nie wieder, hörst du?", sagte sie. Narissa war völlig perplex, es war doch nichts gefährliches geschehen - auch wenn sie ein wenig verwirrt von ihrer Begegnung mit Elyana war. Die Frau war ganz anders gewesen, als sie sich eine Weissagerin vorgestellt hatte.
"Was soll ich nie wieder tun?", fragte sie, und löste sich ungeduldig aus der Umarmung ihrer Mutter. "Du musst doch gesehen haben, wo ich war." Sie ließ dabei außer Acht, dass sie sich selbst beim Anblick der Männer, die das Zelt bewachten, gefürchtet hatte. Wo sie gerade an diese Männer dachte: Wo waren sie überhaupt hin? Narissa und Herlenna waren allein vor dem Zelt.
Bevor sie antwortete, warf Herlenna dem Zelt einen nervösen Blick zu, und bedeutete Narissa, ihr zu folgen. Sie gingen zurück in Richtung der Tore, und erst als sie außer Hörweite der Zelte der Weissager, vor denen sich noch andere Menschen versammelt hatten, waren, blieb sie stehen und fragte: "Was hat sie dir erzählt?" Also berichtete Narissa ihr, was Elyana gesagt hatte, so gut sie es konnte, denn ihre Erinnerungen waren merkwürdig verschwommen. Nur den Teil, in dem Elyana ihr gesagt hatte, sie sie etwas Besonderes, und etwas von einer Entscheidung und dem Kampf gegen das Böse, ließ sie aus. Irgendetwas sagte ihr, dass sie dies unbedingt geheim halten musste, auch wenn sie nicht wusste, warum.
Als sie geendet hatte, seufzte Herlenna, kniete sich vor sie hin und fasste sie an den Schultern. "Sie hat Recht, Yaran ist nicht dein leiblicher Vater. Aber das wusstest du bereits, nicht wahr?"
Narissa blickte zu Boden, und sah ihrer Mutter dann in die Augen. "Ja, ich wusste es. Aber was zählt das? Ihr habt es mir nie gesagt!" Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. "Und was ist mit meinen Haaren? Warum habt ihr mir nie die Wahrheit gesagt?"
Herlenna setzte sich, mit dem Rücken an eine Palme gelehnt, und zog Narissa an sich. "Du hast Recht, wir hätten dir schon vor einiger Zeit die Wahrheit sagen müssen. Aber was geschehen ist, ist geschehen, und wir können es nicht ändern. Eins solltest du dennoch wissen: Wir haben dir diese Dinge nicht erzählt, um dich zu schützen. Je weniger Leute Bescheid wissen, desto sicherer bist du, und ich bin mir sicher, dass Elyana dir etwas ähnliches erzählt hat. Hättest du immer schweigen können, die niemandem anvertrauen? Früher oder später hättest du mit jemandem gesprochen, oder es wäre dir herausgerutscht. Hättest du deine beste Freundin belügen können?"
Narissa zog trotzig die Nase hoch. "Ja. Ja, ich denke... ich denke schon." Plötzlich verschwand der Trotz, und sie wurde unsicher.
Herlenna blickte sie traurig an. "Du solltest so etwas nicht sagen. Lügen ist keine schöne Angelegenheit, und ich tue es nicht gerne. Lügen sind die Waffen des Schattens, und ich diene ihm nicht."
"Das will ich auch nicht... aber wenn man lügt, um etwas gutes zu tun?"
"Du bist klüger, als gut für dich ist, kleine Narissa. Aber du hast Recht, in Ausnahmefällen kann es etwas Gutes sein, nicht die Wahrheit zu sagen. Verstehst du, warum wir dir nichts gesagt haben?"
Narissa schwieg einen Moment und dachte nach. Dann erwiderte sie: "Ja, ich verstehe es. Und was macht es schon, wenn Yaran nicht mein leiblicher Vater ist? Er war immer wie ein Vater, und ich liebe ihn trotzdem wie meinen echten Vater."
Erleichterung machte sich auf Herlennas Gesicht breit, und sie sagte: "Ich hatte keine Ahnung, das du schon so vernünftig sein kannst. Aber du musst es ihm auch selber sagen, denn es quält ihn schon seit deiner Geburt, dass er nicht dein wirklicher Vater ist."
"Ja... aber ich würde meinen wirklichen Vater wirklich gerne kennen lernen." Noch in dem Augenblick, als sie das sagte, merkte Narissa, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ein Schatten huschte über das Gesicht ihrer Mutter, und sie antwortete: "Nein. Nein, das würdest du nicht. Bitte, erwähne ihn nicht wieder."
Narissa wollte gerade widersprechen, doch ein Blick auf die Miene Herlennas sagte ihr, dass das keine gute Idee war. Also schwieg sie.
Nach einem Moment, den sie beide schweigend dagesessen hatten, erhob sich Herlenna schließlich und zog ihre Tochter mit hoch.
"Komm, wenn wir noch länger fortbleiben, wird dein Vater sich Sorgen machen."
Narissa nickte, und so machten sie sich auf den Weg.
Noch bevor sie die Stadt wieder betreten hatten, fragte sie: "Und was ist mit den sieben Schwestern, von denen Elyana mir erzählt hat? Ist die Geschichte wahr?"
"Nein, aber mit dieser Geschichte verhält es sich so wie mit fast allem, was Elyana erzählt: Sie hat einen wahren Kern, doch in ein Gewand aus Veränderungen und Lügen gekleidet, und mit der Zeit hat sie sich durch die Überlieferungen immer weiter gewandelt. Wenn du willst, werde ich dir irgendwann die Wahrheit über die erzählen, die Elyana die Sieben Schwestern nennt."
Sie erreichten das Tor, und betraten die Stadt, unbehelligt von den Wachen. Doch als sie die Straße an der der "Halbmond" lag, blieb Herlenna plötzlich stehen. Sie musste etwas seltsames gesehen haben, doch als Narissa neugierig um die Ecke spähen wollte, hielt ihre Mutter sie zurück, indem sie sie an der Schulter packte. Ihr Griff war hart wie ein Schraubstock, und Narissa keuchte vor Überraschung auf.
Dann wandte Herlenna sich zu ihre um, und streifte sich mit der freien Hand das Medaillon, dass sie immer um den Hals trug, über den Kopf. Sie hängte es Narissa um, und sagte: "Meine Kleine, du musst jetzt genau das tun, was ich dir sage."
Narissa nickte, die Augen weit aufgerissen. Irgendetwas war falsch, furchtbar falsch.
"Du verlässt die Stadt, auf dem selben Weg, wie wir gekommen sind. Aber wenn du durch das Tor gehst. Aber geh dann nicht nach links, sondern wende dich nach rechts. Geh immer geradeaus, und folge nicht der Mauer, wenn sie einen Bogen macht. Nach einiger Zeit wirst du zu einer Oase kommen, in der mehrere Zelte stehen. Dorthin gehst du, und fragst nach Níthrar. Zeig ihm das Medaillon, und gib ihm diesen Brief von mir." Herlenna griff in ihre Tasche, und gab Narissa ein zusammengerolltes Stück Papier. "Du bleibst dort, bis ich dich holen kommen, hast du verstanden?"
Narissa nickte, und Herlenna küsste sie zum Abschied auf die Stirn.
"Nun geh, und schau dich nicht um. Ich komme die bald holen."
Narissa wandte sich um, und ging. Sie schaute nicht zurück, obwohl es ihr unendlich schwer fiel.
Anfang 3010 D.Z., In der Nähe von Qafsah
Unbehelligt verließ Narissa die Stadt, und tat, wie Herlenna ihr geheißen hatte. Die Sonne brannte heiß herunter, und schon bald plagte sie der Durst, doch sie sah sich nicht um. Sie hatte es schließlich versprochen.
Schließlich, sie musste schon eine Meile gegangen sein, sie hinter einer nahen Düne einige Palmen erspähte. Das musste es sein, und tatsächlich, als sie die Düne schließlich heruntergestolpert war, sah sie ganz deutlich die Oase, die ihre Mutter erwähnt hatte, vor sich.
Um den von Palmen und niedrigen Büschen umstandenen Teich gruppierten sich mehrere Zelte, es mussten ungefähr ein halbes Dutzend sein. Bevor sie die Zelte allerdings erreichen konnte erhoben sich zwei Männer, mit Krummschwertern bewaffnet, aus dem Schatten der Palmen.
"Halt!", sagte der eine, und bedeutete ihr, stehen zu bleiben.
"Es ist doch nur ein kleiner Junge. Keine Gefahr.", meinte der andere beruhigend.
"Ich bin kein Junge!", fuhr Narissa empört dazwischen. "Ich bin ein Mädchen!"
Die Männer grinsten sich an, und der erste fragte, nun deutlich weniger unfreundlich: "Und was tust du hier, kleines Mädchen, so weit weg von zu Hause?"
"Ich..." Narissa stockte. Was hatte ihre Mutter gesagt, was sollte sie jetzt tun? Sie hatte sich so sehr darauf konzentriert, hier her zu kommen, dass sie ganz vergessen hatte, was als nächstes zu tun war!
"Nun?", fragte jetzt der andere. "Was ist jetzt?"
Da fiel es ihr wieder ein.
"Níthrar! Ich will zu Níthrar!", stieß sie hervor. Die Wächter blickten sich nachdenklich an, dann nickte der eine, und der andere pfiff dreimal. "Níthrar kommt. Aber ich hoffe für dich, dass du einen wichtigen Grund hast, ihn zu stören."
Aus einem der Zelte trat ein großgewachsener Mann, der ebenso wie die Wächter in weiße Gewänder gekleidet war. Er trat auf die Gruppe zu, doch als sein Blick auf Narissa, die ihn interessiert und ein wenig ängstlich anblickte, fiel, blieb er abrupt stehen.
"Ich weiß, wer du bist.", sagte er. Dann legte er mit schnellen Schritten den verbliebenen Abstand zwischen ihnen zurück und kniete vor ihr nieder, sodass ihre Gesichter auf einer Höhe waren.
"Du bist Herlennas Tochter, oder?", fragte er dann leise, und sah ihr fest in die Augen. Sie nickte nur, sprachlos, und zog das Medaillon ihrer Mutter unter ihren Gewändern hervor und legte es in Níthrars Hand. Beim Anblick des Medaillons erbleichte er. "Was ist passiert?"
Narissa wollte antworten, wollte ihm alles erzählen, denn sie spürte, dass er auf ihrer Seite war. Doch plötzlich zog sich ihre Brust zusammen, und sie brach in Tränen aus. Níthrar zog sie an sich, und sie ergab sich der tröstlichen Umarmung dieses Mannes, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Dann hob er sie ohne erkennbare Anstrengung hoch, und trug sie in sein Zelt.
Als Narissa sich schließlich wieder beruhigt hatte, setzte er sich ihr gegenüber auf ein Kissen. Es erinnerte sie daran, wie Elyana vor ihr gesessen hatte - war das wirklich erst heute gewesen?
"Möchtest du mir erzählen, was geschehen ist?", fragte Níthrar, diesmal ganz sanft. Und diesmal gelang es ihr, ihm zu erzählen, wie sie und ihre Mutter auf dem Heimweg waren, wie ihre Mutter plötzlich stehen geblieben war, und sie mit dem Medaillon zu ihm geschickt hatte, und - der Brief! Sie hatte den Brief ganz vergessen. Sie zog die Rolle aus der Tasche und reichte sie ihm schüchtern.
"Das sollte ich euch geben, hat sie gesagt." Níthrar blickte die den Brief für einen Moment traurig an, wie er in ihrer Hand lag, und nahm ihn dann entgegen.
Allerdings las er ihn nicht, sondern fragte sie: "Hat deine Mutter mir jemals von mir erzählt?" Irgendwie erschien es ihr fast, als würde er sie um etwas bitten, als wollte er eine bestimmte Antwort hören.
"Nein.", antwortete Narissa. "Heute war das erste Mal."
Er seufzte leise, und meinte dann: "Dann will ich dir etwas von mir erzählen. Mein Name ist Níthrar, wie du ja weißt, und ich bin einer der ältesten Freunde deiner Mutter. Ich kannte sie schon, bevor sie nach Qafsah kam. Hat sie dir erzählt, woher sie kommt, und warum sie hier in Qafsah ist?"
Narissa schüttelte den Kopf. "Nein, ich dachte, sie wäre hier geboren, ebenso wie... Yaran."
"Weder deine Mutter noch ihr Mann wurden hier geboren, Narissa, auch wenn sie aus verschiedenen Gründen nach Qafsah kamen. Herlenna kam gemeinsam mit mir und diesen tapferen Männern, mit denen ich diese Oase teile, nach Qafsah, im Auftrag ihres Vaters. Er war beunruhigt, was die Lage in Harad anging, und so sandte er zu den wichtigsten Stämmen und in die größten Städte Leute, die ihm Bericht erstatten sollten, falls etwas ungewöhnliches geschehen sollte.
Eigentlich war Herlenna nicht für diese Aufgabe vorgesehen, und als sie sich freiwillig meldete, wollte er sie zunächst nicht gehen lassen. Letzten Endes bekam sie ihren Willen, doch er setzte sich insofern durch, dass ich und meine Männer sie begleiten und beschützen sollten."
Narissa nickte, schwieg aber. Dieser Tag wurde immer verrückter: Ihre Mutter sollte im Auftrag, aber dennoch gegen den Willen ihres eigenen Vaters nach Qafsah gekommen sein um genau was zu tun?
Sie biss sich auf die Lippen, und wollte sich wieder an Níthrar wenden, doch dieser war inzwischen in die Lektüre des Briefes vertieft, also schwieg sie weiterhin. Schließlich kam er zu einem Ende, und blickte sie wieder an.
"Weißt du, was darin steht?" Sie schüttelte den Kopf, doch sie war nicht imstande, etwas zu antworten, denn plötzliche Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Níthrar sah sie traurig an, und sagte dann: "Sie schreibt, dass, wenn ich diesen Brief lese, sie in Gefangenschaft... oder tot ist." Bei diesen Worten blieb Narissa beinahe das Herz stehen. Nein, nein, das konnte nicht sein!
"Sie schreibt davon, wie sie gemeinsam mit Yaran im Hinterzimmer des Halbmondes geheime Treffen organisiert hat, bei denen der Widerstand gegen Suladan geplant wurde. Wenn ich diesen Brief in den Händen halte, wurden sie entdeckt und wahrscheinlich gefangen genommen. Sie bitte mich, mich um dich zu kümmern, und hier zu warten, bis sie dich holen kommt. Und sie sagt, dass sie mir verziehen hat."
Angesichts der vielen schrecklichen Geschehnisse, die auf Narissa einstürzten, erschien ihr plötzlich der letzte Teil am bedeutsamsten.
"Was hat sie dir verziehen?"
Níthrar blickte zu Boden, und sah sie dann wieder an, als ob eine gewaltige Last ihn niederdrücken würde.
"Es ist fast zehn Jahre her, dass ich das letzte Mal mit Herlenna gesprochen habe. Damals kam sie zu mir, schwanger, und erbat meine Hilfe. Ich wollte ihr helfen, ich habe ihr sogar angeboten, sie zu heiraten, doch sie sagte mir, sie würde Yaran heiraten. Ich... ich wurde wütend, und ich verwies sie aus dem Lager. Ich sagte ihr, sie sei hier nicht länger willkommen, und seitdem kam sie auch nie wieder."
"Aber... warum?", fragte Narissa.
"Du bist klug, du stellst die richtigen Fragen... und die richtigen Fragen sind meist die schmerzhaftesten.", sagte Níthrar, mehr zu sich selbst als zu ihr. "Ich kann es dir nicht sagen, zumindest noch nicht. Du könntest es noch nicht verstehen. Wichtiger sind jetzt auch andere Dinge. Ich..."
Er wurde unterbrochen, denn mit einem Mal wurde die Zeltplane zurückgeschlagen, und Elyana trat ins Innere des Zeltes. Níthrar fuhr wie gestochen hoch, und stieß hervor: "Du! Was willst du hier? Und wie bist du überhaupt hier hereingekommen?"
Elyana gestatte sich ein kleines triumphierendes Lächeln. "Mae govannen, Níthrar. Ich kann es vermeiden, gesehen zu werden. Mit Erfolg wie mir scheint."
"Ich kann diesem Treffen nichts gutes abgewinnen." presste Níthrar hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. "Also, was willst du?"
Narissa blickte mit offenem Mund zwischen den beiden hin. Mae govannen? Was sollte das denn heißen?
"Was ich will, tut für den Augenblick nichts zur Sache. Aber was ich bringe, sollte euch interessieren." Elyana wandte sich an Narissa. "Es tut mir Leid Kind, aber Yaran wurde von Suladans Soldaten hingerichtet. Deine Mutter ist verschwunden, und der Halbmond niedergebrannt."
Es dauerte einen Augenblick, bis Narissa begriffen hatte, was Elyana eben gesagt hatte, doch dann fühlte sie sich, als ob sich der Boden aufgetan hätte, und sie in eine kalte, schwarze Tiefe stürzte. Sie wollte weinen, doch sie konnte nicht, denn offenbar waren ihre Tränen aufgebraucht.
Elyana blickte auf sie herab, mitleidig, und fuhr fort: "Suladans Schergen werden früher oder später hierher kommen. Du musst mit mir kommen."
"Nein!", fuhr Níthrar dazwischen. "Ihr werdet sie nicht bekommen, ihr werdet sie nicht für eure Zwecke einspannen wie all die anderen!"
"Es muss sein, du blinder Narr! Siehst du nicht, wessen Griff sich um Harad schließt? Es ist der Griff des Schattens, und Narissa wurde geboren, um ihn zu bekämpfen!"
"Ihr werdet sie nicht bekommen!", sagte Níthrar gefährlich leise. Plötzlich blitzte ein Dolch in seiner Hand, und er setzte ihn Elyana an die Kehle. "Verschwinde!"
In Elyanas Augen loderte nun wieder das Feuer, dass Narissa früher an diesem Tag im Zelt der Weissagerin gesehen hatte, doch sie wehrte sich nicht und erwiderte nur: "Nun gut, ich gehe. Aber eines Tages wird sie doch zu uns gehören, ganz egal was du tust, Narr." Dann wandte sie sich um, und verließ das Zelt.
Níthrar ließ den Dolch verschwinden, und wandte sich wieder Narissa zu, die die ganze Zeit still dagesessen hatte.
Er kauerte sich vor ihr nieder und nahm ihr Gesicht in beide Hände. "Es tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest, aber deine Mutter hat mich gebeten, dich zu beschützen. Und es tut mir auch Leid um Yaran, denn ich weiß, dass du ihn wie einen Vater geliebt hast."
Narissa blinzelte, und nun kamen die Tränen doch. Und wieder fand sie Trost in Níthrars Umarmung. "In einem hat Elyana Recht: Wir müssen hier fort."
Mit einem Ruck befreite Narissa sich: "Fortgehen? Aber Mutter hat doch gesagt, wir sollen warten..."
Níthrar blickte sie mitleidig an, und ihr wurde klar, das es sein musste. Trotzdem, sie musste es weiter versuchen! "Wenn wir fortgehen, wird sie mich nicht finden, und..."
Doch Níthrar unterbrach sie. "Wenn wir hierbleiben, werden Suladans Männer uns alle töten. Willst du das?" Ein Teil von ihr wollte es, wollte hier bleiben und sterben, damit sie bei Yaran, und vielleicht auch ihrer Mutter sein konnte, doch ein anderer Teil wusste, dass die beiden das nicht gewollt hatten, und dieser Teil wollte leben. Sie schüttelte zaghaft den Kopf. "Nein.", fuhr er sanft fort. "Das willst du nicht. Wir werden auch nicht einfach so davon rennen, sondern wir werden an einen Ort gehen, an dem sie uns finden kann."
"Was ist das für ein Ort?", fragte Narissa.
"Es ist eine Insel, südlich von hier, an der westlichen Küste. Dort lebt dein Großvater, und dort werden wir sicher sein."
3010 D.Z, Auf dem Weg nach Westen
Rings um Narissa breitete die sie große haradische Wüste aus. Sie war zuvor noch nie so weit von Qafsah entfernt gewesen - genauer gesagt, hatte sie die unmittelbare Umgebung der Stadt noch nie verlassen. Sie saß hinter Níthrar auf seinem Pferd, der Rest der Gruppe auf Kamelen. Zu Anfang ihrer Reise hatte sie auch versucht, auf einem solchen Tier zu reiten, doch einerseits war ihr in der Höhe schwindelig geworden, und andererseits wurde ihr von dem ständigen Schaukeln speiübel. Also hatte Níthrar, der als einziger ein Pferd ritt, sie notgedrungen hinter sich gesetzt.
In der Woche, die sie jetzt schon unterwegs waren, waren sie nur wenigen Menschen begegnet, zumeinst Händlern, aber hin und wieder auch Kundschaftern der Wüstenstämme. Bei jeder dieser Begegnungen war das Misstrauen, dass die anderen ihrer Gruppe entgegen brachten, spürbar, selbst für Narissa. Einmal hatte sie Níthrar gefragt, warum alle, die ihnen begegneten, sie so misstrauisch ansahen, und er hatte geantwortet: "Das liegt nicht an uns persönlich, aber je weiter Suladans Macht wächst, und je fester er seinen Griff um dieses Land schließt, desto misstrauischer werden auch die Menschen." "Das verstehe ich nicht.", hatte Narissa geantwortet. "Nein, wie solltest du auch. Aber eines Tages, wenn du älter bist, und die Menschen besser kennengelernt hast, dann kannst und wirst du es verstehen."
Sie waren zumeist nur in der Abend- und Morgendämmerung unterwegs, denn tagsüber brannte die Sonne glühendheiß vom Himmel, so dass es beinahe unmöglich war, weiter zu reiten, und nachts wurde es klirrend kalt.
Zu diesen Zeiten schlugen sie ein provisorisches Lager auf, wenn sie Glück hatten, bei einer Oase, wenn nicht, dann im Schatten einer Düne. Dann verkrochen sie sich in den Zelten, bis sie weiterreisen konnten. Während der Zeit im Zelt überkam Narissa oft Heimweh, und Sehnsucht nach ihren Eltern. Zu diesen Zeiten glaubte sie kaum ertragen zu können, was geschehen war, und mehr als nur einmal wollte sie aus dem Zelt rennen, Níthrars Pferd stehlen, und zurück nach Qafsah reiten. Doch immer war Níthrar bei ihr, und er ließ es nicht zu. Stattdessen versuchte er sie zu trösten, und erzählte ihr Geschichten.
Diese Geschichten waren verschiedenster Art: Mal waren es Dinge, die er selbst erlebt haben wollte, mal erzählte er von Geschehnissen in der Geschichte Harads, die lange zurücklagen. Dabei hörte Narissa zum ersten Mal in ihrem Leben von der versunkenen Insel Númenor, weit im Westen, und dem Land der Seekönige im Norden: Gondor. Aber er erzählte auch von Umbar, und den Korsaren die dort lebten, und von den vielen Stämmen Harads, die in langen Jahren dem dunklen Herrscher dienten. Es war diese Punkt, an dem Narissa zweifelte, und als sie an diesem Abend ihr Lager aufgeschlagen hatten und sich in die Zelte zurück gezogen hatten, fragte sie Níthrar: "Wenn früher alle Menschen in Harad den Dunklen Herrscher angebetet und ihm gedient haben, warum kommt er dann nicht einfach, und fordert, dass sie es wieder tun? Warum muss Suladan für ihn die Stämme einen?"
Níthrar, der gerade gedankenverloren einen kurzen Dolch geschliffen hatte, blickte erstaunt auf, und erwiderte: "Das ist eine kluge Frage, Narissa, und ich kann dir keine sichere Antwort darauf geben. Ich kenne die Beweggründe des Dunklen Herrschers nicht, und ich weiß auch nur wenig über seine Pläne. Dennoch kann ich einiges vermuten. Du erinnerst dich doch noch daran, wie ich dir von Númenor erzählt habe, und seinem Untergang? Wie Sauron nach Mittelerde zurück floh, und Elendil und seine Söhne die Reiche im Exil gründeten?"
Narissa nickte. Diese Geschichte hatte ihr gefallen, obwohl sie so traurig war.
Níthrar fuhr fort: "Sehr gut. Für einige Zeit hatten die Elben und Menschen des Nordens Frieden, doch nicht lange darauf griff der Dunkle Herrscher sie erneut an. So schlossen sie das Letzte Bündnis von Elben und Menschen, und stellten sich dieser Bedrohung. Viele Schlachten wurden damals geschlagen, und viele edle und berühmte Elben und Menschen wurden getötet. Doch am Ende besiegte das Bündnis Sauron, und vernichtete ihn nahezu vollständig. Nur sein Geist entkam, und für lange Jahrtausende war er keine Bedrohung mehr.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Haradrim ihn als Gott verehrt und ihm gedient, doch mit den Jahren gerieten diese Bräuche immer mehr in Vergessenheit. Zwar führten sie noch oft Krieg gegen Gondor, doch schon bald nicht mehr im Namen Saurons, sondern nur um ihres eigenen Wohlstandes Willen. Jetzt ist der Dunkle Herrscher zurückgekehrt, doch alleine kann er Mittelerde nicht unterwerfen - er braucht Verbündete, zumindest vorerst. Deshalb hat er Suladan auf seine Seite gezogen und lässt ihn die Stämme Harads unter einer Führung einen."
Erst jetzt bemerkte Narissa, dass sie vor Spannung beinahe den Atem angehalten hatte. Das war noch interessanter, als alle Geschichten über Númenor! Sie holte Luft, und wollte Níthrar gerade fragen, ob er nicht mehr über das Letzte Bündnis erzählen könnte, oder über die Kriege der Haradrim mit Gondor in den Jahren danach, oder über das Verschwinden des Glauben an Sauron, oder... doch Níthrar, der die Gefahr erkannt hatte, hob die Hand und meinte: "Nein, ich denke, ich habe dir für heute genug erzählt. Du wirst alles früher oder später erfahren, aber nun brauche ich eine Pause."
"Aber...", setzte Narissa an, und Níthrar seufzte ergeben. "Na gut, aber nur eine Frage, in Ordnung?"
Narissa überlegte fieberhaft, und strich sich über das inzwischen gewachsene weiße Haar. Wofür sollte sie diese eine Frage verwenden? Dann fiel ihr etwas ein: "Die Sieben Schwestern! Kannst du mir noch etwas über sie erzählen?" Für einen kurzen Augenblick hatte sie das merkwürdige Gefühl, dass Níthrar ihrem Blick nervös auswich - aber warum sollte er das tun? Dann räusperte er sich, und begann: "Die Sieben Schwestern also... Nun, wie du weißt, brauchen die meisten Menschen etwas, an das sie glauben können. Ich weiß nicht, wann und wo der Glaube an die Sieben Schwestern entstanden ist, aber es ist sehr lange her - kurz nach Saurons Fall, oder sogar noch davor, vermute ich. Da du bereits mit einer vom Bund gesprochen hast, wirst du die Geschichte der Sieben Schwestern wohl bereits kennen. Unter den Menschen, die daran glaubten, bildete sich bald eine Gruppe, die sich der Bund der Sieben Schwestern nannte. Sie schwangen sich bald zu Führern dieser Religion auf, und auch wenn sich der Glaube an die Sieben Schwestern nie weit genug verbreitete, um wirklich wichtig in Harad zu werden, waren die Mitglieder des Bundes doch bedeutende Personen. Elyana, die dir bereits begegnet ist, ist ein Mitglied des Bundes... eine Schwester, wie sie sich selber nennen. Ich weiß nicht, ob es auch Brüder unter ihnen gibt, zumindest bin ich noch nie einem begegnet.
Ich bin mir sicher, du möchtest wissen, warum sie dich Kind der Zeit genannt hat, oder?"
Narissa nickte, eifrig. Sie musste wissen, warum diese Frau sie für so besonders hielt - und warum ihre Eltern sterben mussten... Bevor sie den Gedanken fortführen und in Tränen ausbrechen konnte, fuhr Níthrar fort.
"Jene, die an die Schwestern glauben, glauben auch, dass in Zeiten, in denen ihre Gläubigen in großer Gefahr sind, jemand geboren wird, der von den Schwestern auserwählt ist. Diese Personen sind ihrer Meinung nach immer durch besondere Merkmale gekennzeichnet: Sechs Finger an einer Hand, ein Feuermal, oder eben weiße Haare bei einem Kind. All das sind für sie Zeichen, dass es sich bei einer Person um ein Kind der Zeit, wie sie diese Auserwählten nennen, handelt. Sie sind ihr Leben lang auf der Suche nach einem der Auserwählten.
Natürlich ist nichts von alledem wahr. Was wahr ist, ist dass die Mitglieder des Bundes Menschen mit besonderen Merkmalen suchen, und diese in ihrer Verblendung für Auserwählte halten. Sie nehmen sie mit - oder versuchen es zumindest - und versuchen sie, für den Kampf gegen das Dunkel auszubilden. Dann schicken sie sie los, alleine, und von vornherein dem Untergang geweiht. Noch niemals hat es jemandem Gutes gebracht, vom Bund als Auserwählter erkannt zu werden."
"Ich hoffe du weißt, dass du dem armen Mädchen Lügen erzählst, Níthrar.", kam es vom Zelteingang.
Beide fuhren so schnell mit den Köpfen herum, dass Níthrars Halswirbel knackten, und dort, in der Öffnung des Zeltes, die Sterne hinter sich, stand Elyana, ein Schwert in der Hand.
3010 D.Z., Irgendwo in der Wüste von Harad
Níthrar stieß einen Fluch in einer Sprache aus, die Narissa zwar nicht verstand - doch der Tonfall war eindeutig. Blitzschnell war er auf den Beinen und hatte auch plötzlich den Dolch in der Hand, den er vorhin noch geschärft hatte.
"DU! Was willst du hier? Und wie kommst du überhaupt hier her? Wie hast du uns gefunden?", stieß er hervor.
"So viele Fragen...", meinte Elyana. "Aber keine davon ist von Belang. Wie auch immer es geschehen sein mag, Suladans Schergen sind euch auf den Fersen. Sie wissen, wo ihr seid, und sie kommen."
Abermals stieß Níthrar einen Fluch aus, und griff nach seinem Schwert, dass an der Zeltwand lehnte. Bei der Erwähnung Suladans lief Narissa ein Schauer über den Rücken, und auf einmal packte sie die Angst
Sie musste an den Tag ihrer Flucht aus Qafsah denken, an Yaran und ihre Mutter, und Elyanas plötzliches Auftauchen in Níthrars Lager um sie zu warnen, genau wie jetzt. Vielleicht irrte Níthrar sich, und sie war doch nicht so schlecht?
Níthrar zog jetzt sein Schwert und wandte sich Narissa zu. "Bleib auf jeden Fall im Zelt, geh nicht nach draußen, bis ich oder einer meiner Leute dich holen kommen. Hast du verstanden?" Narissa nickte verängstigt, und sofort drehte er sich wieder zu Elyana um. "Weißt du wie viele es sind, wie sind sie ausgerüstet?" Elyana blickte ungeduldig und antwortete: "Ich weiß nur, dass es genug sind um euch Schwierigkeiten zu machen, und dass sie bald hier sein werden. Also wäre es vielleicht besser, wenn du deine Leute bereit machst." Níthrar blickte sie noch einen Moment zornig an, dann verließ er das Zelt.
Als sie mit Narissa allein war, ließ Elyana sich auf ein Knie herabsinken und blickte Narissa ins Gesicht. "Hab keine Angst, kleines Kind der Zeit. Die Schwestern werden dich vor allen beschützen, die dir Böses wollen - oder die dich nur für ihre eigenen Zwecke benutzen wollen."
Was meinte sie damit jetzt wieder, fragte Narissa sich. So wie es sich anhörte, sprach sie nicht nur von Suladan und seinen Dienern, sondern auch von - ja, von wem eigentlich? Außerdem war irgendetwas an Elyanas Augen merkwürdig... wieder schien dieses seltsame Feuer, dass sie bereits im Lager der Wahrsager und auch in Níthrars Lager bemerkt hatte. Doch bevor sie etwas sagen konnte, hatte Elyana sich schon wieder erhoben, und das Zelt verließ.
Eine merkwürdige Stille senkte sich über das Lager. Für einen Moment hörte sie noch, wie Níthrar draußen leise Befehle gab, auch wenn sie nicht verstehen konnte, was er sagte. Sie drückte sich in eine Ecke des Zeltes, bis ihr klar wurde, dass die Zeltwände sie keineswegs schützen würden, und sie also am denkbar ungünstigsten Ort war. Also verließ sie ihre Ecke und kroch leise, denn in der allgemeinen Stille erschien ihr jeder Laut zu viel, in die Mitte des Zeltes.
Kaum war sie dort angekommen, brach rund herum der Kampf los. Männer schrien, und Klingen schlugen klirrend gegeneinander.
Noch nie zuvor hatte Narissa einen solchen Kampf erlebt, auch wenn sie nur hörte, was vor sich geht. In Qafsah waren zwar Straßenschlägereien oder auch Schlägereien in Schenken nichts ungewöhnliches gewesen, doch das hier war anders. Hier kämpften Menschen, die sich töten wollten, nicht nur dem anderen eine Abreibung verpassen. Und das alles ihretwegen wie ihr plötzlich klar wurde. Bislang hatte sie nicht darüber nachgedacht, aber warum sollte Suladan sie verfolgen lassen, wenn nicht ihretwegen? Sie war Herlennas Tochter, und sie war die einzige aus Yarans Familie, die aus Qafsah entkommen war. Auf einmal stiegen ihr Tränen in die Augen, doch sie wischte sie trotzig weg. Sie würde nicht weinen, und sie würde sich nicht selbst bemitleiden!
In eben diesem Augenblick hörte sie Níthrar draußen rufen: "Verdammt, Elyana, was tust du?" Dann schlugen in unmittelbarer Nähe des Zeltes Klingen in rascher Folge aufeinander. Was war geschehen? Narissa wusste, sie musste es herausfinden, also schluckte sie ihre Angst herunter - oder versuchte es zumindest, denn sie fürchtete sich immer noch - und kroch zum Zelteingang. Dort schob sie die Plane ein kleines Stück zur Seite und blickte nach draußen.
Da es dunkel war, konnte sie nur wenig erkennen, doch direkt vor ihr kämpften zwei Gestalten miteinander, und voller Schrecken erkannte sie Elyana und Níthrar. Wieso kämpften sie miteinander, sie waren doch offensichtlich auf der selben Seite!
Nur für einen winzigen Augenblick wandte Níthrar den Blick zu Seite und sah sie, doch das genügte, um ihn abzulenken. Plötzlich hatte Elyana die Überhand, und drängte ihn mit schnellen Schwertschlägen zurück. Schon blutete er aus mehreren Wunden.
"Verflucht, Narissa, geh wieder hinein! Diese Verräter dürfen dich nicht bekommen!" Mit einem wuchtigen Schlag prellte Elyana ihm das Schwer aus der Hand, und setzte ihm die eigene Klinge an die Kehle.
"Wir sind keine Verräter. Wir sind nur gekommen, um uns das zu holen, was uns zusteht."
"Ihr seid Feinde des Dunklen Herrschers, ebenso wie wir, und doch bekämpft ihr uns! Begreift doch, genau das ist es, was es Suladan erleichtert, ganz Harad für den Dunklen Herrscher unter seiner Knute zu vereinen!", erwiderte Níthrar. "Es gibt mehr als nur einen Weg, ihn zu bekämpfen."
Elyana schüttelte bedauernd den Kopf, und immer noch brannte in ihren Augen das wahnsinnige Feuer. "Nein, es gibt nur einen einzigen Weg, den Weg der Sieben Schwestern. Das kannst du nicht verstehen, denn zu dir haben sie nie gesprochen. Dein Tod ist bedauerlich, doch es lässt sich nicht ändern, denn du bist blind für die Wahrheit."
Sie nahm das Schwert von Níthrars Hals, und holte aus, doch Narissa, die inzwischen ganz aus dem Zelt getreten war, handelte blitzschnell. Sie wusste nicht, warum sie es tat, doch in diesem Moment erschien es ihr das richtige. Sie packte eine Hand voll Sand, und schleuderte ihn Elyana ins Gesicht. Für einen winzigen Moment nur war sie geblendet, doch das genügte Níthrar.
Er ließ sich sofort fallen und entging so ihrem Schlag, packte Elyanas Füße und riss sie zu Boden. Dann zog er seinen Dolch, den er noch immer am Gürtel trug, und setzte ihn nun ihr an die Kehle.
"Danke.", sagte er nur, ohne sich Narissa zuzuwenden. Dann meinte er zu Elyana: "Wo sind deine Schwestern jetzt? Du hast verloren, sie es ein, und sie können dir nicht helfen. Narissa hat sich entschieden, und sie hat die Wahl für die Vernunft getroffen, nicht für den Wahnsinn der Schwestern."
Bevor Elyana antworten konnte, hörte Narissa ein merkwürdiges Zischen, und plötzlich spürte sie einen dumpfen Schlag in ihrer rechten Schulter, der sie zu Boden riss. Sofort war Níthrar bei ihr, und untersuchte den Pfeil, der dort steckte.
Nun traten ihr doch Tränen in die Augen, doch diesmal waren es keine Tränen der Angst, sondern des Schmerzes. Dann zog Níthrar den Pfeil mit einem Ruck heraus, und sie konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken. Er strich ihr über die Stirn und flüsterte: "Entschuldigung." Plötzlich kniete auch Elyana neben ihr, und Níthrar fuhr sie an: "Waren das auch deine Leute? So werdet ihr sie eher töten, als sie mitzunehmen!" Elyana schüttelte nur den Kopf. "Nein, das waren Suladans Leute. Sie kommen tatsächlich, doch ich hoffte, mit euch fertig zu sein, bevor sie das Lager erreichen."
Zum dritten Mal an diesem Abend fluchte Níthrar, doch diesmal dauerte es irgendwie länger, bis die Worte bei Narissa ankamen. "Ich..." brachte sie noch hervor, doch dann versagte ihre Stimme.
"Gift.", stieß Elyana hervor. "Bastarde. Es gibt nur einen Weg, sie zu retten, und der gefällt mir nicht. Nimm sie und dein Pferd, und reite zur Insel. Ich werde mit meinen und deinen Leuten hierbleiben und dir den Rücken freihalten."
Narissa hörte zwar die Worte, doch sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
"Aber..."
"Nichts aber. Du hast es selbst gesagt: Tot nützt sie den Schwestern auch nichts, da sehe ich sie lieber in euren Händen. Aber vergiss nie, dass sie den Schwestern gehört, ganz gleich, was geschieht. Jetzt geh!"
Ohne ein weitere Wort hob Níthrar Narissa hoch, zumindest glaubte sie, dass es Níthrar war, denn allmählich verschwamm alles vor ihren Augen. Für einen Moment schien auch der Kampflärm verstummt zu sein, doch dann drehte sich alles, und ihr Bewusstsein erlosch.
Dritter Teil: Im Zeichen des Baumes
3010 D.Z., Eine Insel im Westen
Ich heiße Narissa bint'Herlenna. Den Namen meines leiblichen Vaters kenne ich nicht, aber eigentlich ist auch Yaran mein wirklicher Vater. Vor ein paar Wochen wurden meine Eltern von Suladan gefangen genommen, und getötet.
Narissa stockte, denn irgendetwas schien ihr die Kehle zuzuschnüren. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel, und tropfte auf das Papier, verwischte die Tinte.
Sie lies die Feder fallen, und wollte gerade das Gesicht in den Händen vergraben, als sich plötzlich eine fremde Hand um die ihre schloss. Erschreckt blickte sie auf, denn sie hatte sich allein in dem Raum gewähnt.
Neben dem kleinen Tisch, an dem sie saß, stand plötzlich eine großgewachsener Mann, mit ebenso weißen Haaren wie sie selbst. Er sah alt und dennoch kraftvoll aus - beinahe königlich, und irgendetwas an ihm erinnerte Narissa an ihre Mutter.
Der Mann kniete sich neben sie, sodass ihre Gesichter auf einer Höhe waren, und sagte dann: "Ich bin Hador Dúnadan. Deine Mutter war meine Tochter, also bin ich dein Großvater."
Narissa erwiderte nichts, sondern blickte ihn nur stumm an. Hador seufzte, und fuhr fort: "Ach ja, man hat mir erzählt, dass du seit deinem Erwachen geschwiegen hast. Wenn es daran liegt, dass du uns nicht vertraust, dann ist das sehr klug von dir, denn man sollte möglichst niemandem vertrauen, bevor man ihn nicht besser kennt. Aber ich denke, du schweigst aus einem anderen Grund, oder?"
Narissa zögerte, denn sie wusste nicht, wie sie diesen Mann, der behauptete, ihr Großvater zu sein, einschätzen sollte. Doch dann nickte sie langsam. Auch wenn sie selbst gar nicht so genau wusste, warum sie nicht sprechen konnte, war das doch nicht der Grund.
"Das, was dir in der letzten Zeit widerfahren ist, war wohl ein bisschen zu viel für dich, hm?", fragte Hador nun. "Ich denke, du musst dich dessen nicht schämen. Es wäre wohl zu viel für jeden Menschen, der ein Herz besitzt gewesen."
Wieder musste Narissa an ihre Eltern denken, und schon wieder stiegen ihr diese verdammten Tränen in die Augen. Trotzig wollte sie sie wegreiben, doch Hador hielt ihre Hände fest. "Nein, es ist keine Schande, um seine Eltern zu weinen. Auch ich habe geweint, als ich vom Tod meiner Tochter erfahren habe.", meinte er. "Aber der erste Verlust ist immer der schlimmste."
"Ich... ich vermisse sie nur so sehr." Jetzt war es passiert, sie konnte doch noch sprechen. Über Hadors von feinen Falten durchzogenes Gesicht huschte ein Ausdruck der Erleichterung. "Ich vermisse sie auch, Kleine. Ich vermisse sie auch." Mit einem Mal fühlte Narissa sich hier sicher, geborgen, und als ihr Großvater die Arme ausbreitete, ließ sie sich ohne Zögern hineinfallen.
Einige Zeit später...
"Wo sind wir hier eigentlich?", fragte Narissa, "Und warum sehe ich dich jetzt erst? Was ist mit Níthrar, und warum hast du so einen komischen Namen?" Ihr Großvater lächelte amüsiert, und sagte: "So viele Fragen auf einmal... Nun, wo soll ich anfangen? Das wichtigste zuerst, denke ich. Níthrar geht es gut. Er ist so lange hiergeblieben, bis sicher war, dass du überleben wirst, und keinen wirklichen Schaden von dem Pfeil davon getragen hast. Jetzt ist er bereits wieder auf dem Weg nach Quafsah, denn er will zunächst seine Gefährten suchen, und dann die Stadt weiter beobachten. Wir müssen nämlich wissen, was Suladan vor hat.
Was deine anderen Fragen angeht, so hängen die Antworten sehr eng zusammen: Ich bin jetzt erst hier, weil ich zum Zeitpunkt deiner Ankunft gerade bei einem befreundeten Stamm der Nomaden zu Gast war. Meine Frau - deine Großmutter - gehörte zu ihnen. Als ich hörte, dass Níthrar dich hergebracht hat, bin ich sofort aufgebrochen.
Und wo wir hier sind: Wir befinden uns auf der Insel des Sonnenuntergangs, wie sie genannt wird. Sie liegt vor der Westküste von Harad, aber nicht weit von der Küste entfernt. Das Gebäude, in dem wir uns befinden, ist der Weiße Turm, Heimat der Dúnedain von Harad. Soll ich dir ihre Geschichte erzählen?"
Narissa nickte. "Ja, ich möchte sie hören." "Gut.", erwiderte Hador zufrieden. "Nur so kannst du verstehen, wer wir sind, und woher wir kommen. Du hast schon von Númenor und seinem Untergang gehört, nehme ich an?" Narissa nickte erneut. "Sehr gut."
Als die Könige von Númenor immer machtgieriger wurden, spaltete sich die Bevölkerung der Insel in zwei Hälften: Die Getreuen, und die Männer des Königs. Aus den Getreuen wurden später, nach Númenors Untergang, die Dúnedain von Mittelerde. Die meisten der Dúnedain lebten im Norden, in den Königreichen Gondor und Arnor, doch einige hatten die Insel schon vor Elendil und seinen Gefolgsleuten verlassen.
Diese wurden von einem Mann namens Ciryatan angeführt, der ein Nachkomme der Fürsten von Eldalonde war. Cirytan segelte mit seinem Gefolge nach Mittelerde, unter der Herrschaft Tar-Palantirs, des vorletzten Königs von Númenor, ein Bürgerkrieg auf der Insel ausbrach. Sie erreichten Mittelerde
im Süden, und segelten die Küste Harads entlang nach Norden, bis sie eine Insel vor der Küste entdecken, die ihnen gut als Siedlungsort erschien.
Dort ließen sie sich nieder, und erbauten in der Mitte der Insel einen weißen Turm. Vom Krieg der Númenorer gegen Sauron wurden sie nicht berührt, und auch nicht von Saurons Gefangenschaft in Númenor. Doch nach Númenors Untergang sandten sie Späher nach Norden, um herauszufinden, ob noch andere Getreue die Katastrophe überlebt hatten. So trafen sie schließlich bei Pelargir auf die Getreuen aus Elendils Gefolge. Zwar schworen die Dúnedain aus Harad Elendil nicht die Treue, doch einige von ihnen kämpften mit ihm im Krieg des Letzten Bundes gegen Sauron.
Auch nach diesem Krieg pflegten sie noch lange freundschaftliche Beziehungen zu Gondor, bis die Königslinie in Gondor ausstarb. Danach brach der Kontakt, der auch vorher schon immer weniger geworder war, endgültig ab. Mit den umliegenden Stämmen der Haradrim pflegten die Dúnedain gute Beziehungen, und bald vermischten sie sich mit ihnen, denn anders hätten sie nicht überleben können.
Bald aber wurden die Dúnedain des Turmes, oder die Dúnedain von der Insel, wie sie sich auch nannten, zu einer ernsthaften Kraft in Harad. Denn irgendwann begann der Fürst der Insel, ausgewählte Untertanen zu Spionen und Assassinen auszubilden, eine Tradition die seitdem gepflegt wird. So ausgebildet, waren sie in der Lage, das immer schwächer werdende Gondor heimlich zu unterstützen, in dem sie verhinderten, dass die Haradrim sich geschlossen gegen Gondor wandten. Einige Zeit nach dem Ende der Königslinie sandte der Fürst auch wieder Agenten nach Gondor, die den dortigen Dúnedain Informationen über ihre Feinde zuspielte. Das letzte Mal geschah das, als Dírar, Bruder des Hador, der gerade Fürst der Insel geworden war, dem großen Hauptmann Thorongil wichtige Informationen über den Hafen von Umbar gab, und bei dem darauffolgenden Angriff ums Leben kam.
"Dieser Dírar war mein Bruder. Und als ich von seinem Tod hörte, weinte ich, doch andererseits war ich froh, denn in Thorongil haben wir niemand anderes als den letzten Erben der Könige gefunden. Ihn müssen wir unterstützen, und um jeden Preis beschützen, denn er ist die größte Hoffnung für die Menschheit. Sag mir Narissa, willst du den Weg gehen, den auch deine Mutter und ich vor dir gegangen sind, und uns dabei helfen? Willst du dich von uns ausbilden lassen?"
Es war eine schwere Entscheidung, aber eine, die Narissa in einer Sekunden fällen konnte.
"Das will ich, denn nur so kann ich irgendwann vielleicht Suladan töten." Hador blickte sie traurig an, und das überraschte sie. Sollte er sich nicht eigentlich freuen, dass sie sein Angebot angenommen hatte?
"Ach Narissa, willst du wissen, wer dein leiblicher Vater ist? Níthrar hat es mir erzählt." Und obwohl sich bei diesen Worten eine dunkle Ahnung über ihr Herz legte, und sie die Wahrheit eigentlich gar nicht wissen wollte, blickte Narissa ihrem Großvater in die Augen und nickte.
"Dein leiblicher Vater ist niemand anders... als Suladan selbst."
Am nächsten Tag begann ihre Ausbildung.
3010-3021 D.Z., Die Insel
In den folgenden Jahren war Narissa sehr beschäftigt. Ihr Ausbildung begann damit, dass sie verschiedene Sprachen - Sindarin, die Sprachen mehrerer wichtiger haradischer Stämme, sowie die Sprachen von Rhûn und Khând - lernte, oder, falls sie sie bereits kannte, verbesserte. Natürlich wurden ihr auch die jeweiligen Schriften beigebracht, und nebenher lernte sie viel über die Gebräuche und Traditionen der jeweiligen Völker.
Zunächst war sie ungeduldig, und konnte sich nicht vorstellen, wie ihr dieses Wissen später einmal nützen sollte. Sie sprach mit ihrem Großvater darüber, und dieser erwiderte auf ihre Klagen: "Stell dir vor, du bist deinem Ziel nach Khând gefolgt, ohne zu wissen, wie die Leute dort denken, ohne ihre Sprache zu verstehen. Du würdest nur auffallen, und wärst obendrein noch vollkommen hilflos. In so einer Situation ist es vollkommen egal, wie gut du mit Waffen umgehen kannst, oder wie gut du schleichst, kletterst und rennst. Wenn du auffällst, und wenn du dich nicht verständigen kannst, bist du verloren - und dann meistens auch bald schon tot."
Von da an lernte sie mit größerem Eifer, zumal an ihrem elften Geburtstag auch ihre körperliche Ausbildung begann.
Zunächst sorgte ein zäh aussehender Haradrim, der sich Narissa als Yulan vorstellte, dafür, dass sie körperlich überhaupt in der Lage war, ihrer Ausbildung gewachsen zu sein. Nach ihrer Verwundung auf der Flucht und den Wochen der Genesung war sie nämlich nicht in der Lage, größere körperliche Anstrengungen zu unternehmen.
Erbarmungslos ließ Yulan sie immer wieder weitere Strecken auf der Insel laufen, und später, als sie seine Aufgaben dann mühelos erfüllte, lud er ihr vor dem Laufen alle möglichen Gegenstände auf den Rücken. "Vielleicht wirst du irgendwann in die Situation kommen, dass du schwer beladen jemanden verfolgst, und dann wirst du mir dankbar sein.", schnauzte er sie an, als sie sich eines Tages unbedacht über die Sandsäcke beschwerte, die er ihr auf die Schultern gelegt hatte.
Zum Laufen kamen bald auch weitere Disziplinen, in denen Yulan sie ausbildete. Sie lernte das Erklettern von Bäumen, Felsen und Gebäuden sowie Schwimmen und Tauchen. Neben diesen Tätigkeiten lernte sie weiterhin ihre Sprachen, und dazu kamen bald auch die Geschichte und Geographie von Harad, Gondor und Khând. In der Geschichte von Gondor unterrichtete sie ihr Großvater persönlich, und als sie sich auch hier wiederum weigerte, den Sinn hinter diesem Wissen zu sehen, sagte er zu ihr: "Niemand kann wissen, wann und ob dieses Wissen jemals wichtig für die sein wird. Aber was hast du lieber: Du weißt etwas, aber kannst es niemals gebrauchen - Oder du es kommt irgendwann der Moment, da müsstest du eine bestimmte Sache wissen, die du nicht lernen wolltest, und darum scheiterst du?" Und wieder einmal musste Narissa, die inzwischen vierzehn war, sich ihrem Großvater geschlagen geben.
Mit ihrem fünfzehnten Geburtstag begann dann ihre Ausbildung mit verschiedenen Waffen. Schon bald zeigte sich, dass sie keinerlei Talent für den Umgang mit Schwertern, Äxten oder Speeren hatte. Auch in Bogenschießen war sie allerhöchstens mittelmäßig. Doch mit der Waffe, die eigentlich die klassische für sämtlich Attentäter und Spione war, war sie ein Naturtalent: Dem Dolch - oder besser gesagt, mehreren Dolchen.
Denn als sie immer besser mit einem Dolch wurde, sei es im direkten Nahkampf, im lautlosen Töten von hinten, oder im Werfen, gab ihre Ausbilderin ihr eines Tages einen zweiten Dolch in die andere Hand. Von da an fing sie eigentlich noch einmal ganz von vorne an, denn der Kampf mit zwei Dolchen unterschied sich wesentlich von dem mit einem einzigen. Als sie zwanzig wurde, war sie die beste Messerkämpferin, die auf der Insel je ausgebildet worden war.
An ihrem neunzehnten Geburtstag geschah jedoch etwas, dass ihr Leben entscheidend lenken sollte. An diesem Tag trafen nämlich zwei Dúnedain, die in der Stadt Aïn Séfra gewesen waren, auf der Insel ein, begleitet von einigen Haradrim. Sie berichteten, wie Suladan nach Aïn Séfra gekommen war, und vom dortigen Scheich verlangt hatte, sich seinen Heeren auf einem großen Feldzug gegen Gondor anzuschließen. Der Scheich, der kein Freund von Krieg und erst Recht kein Freund von Suladan war, hatte dessen Herrschaft über Harad nur murrend und zögerlich anerkannt, und seitdem nichts getan, um Suladan sein Treue zu zeigen. Auch jetzt zögerte er, und lehnte schließlich Suladans Verlangen ab. Da fiele Suladans Krieger plötzlich und ohne Vorwarnung über die Stadt her und töteten den Scheich, seine gesamte Familie, und jeden der sich ihnen in den Weg stellte.
Die Haradrim, die die beiden Dúnedain begleitete, waren Flüchtlinge aus Aïn Séfra, die nicht unter der Herrschaft Suladans leben wollten. Sie hatten die große Bibliothek in der Stadt besessen, und diese war bei Suladans Angriff den Flammen zum Opfer gefallen. Nur wenige Schriftrollen hatten sie retten können, und diese brachten sie mit auf die Insel.
3019 D.Z., Die Insel
Einige Tage nach der Ankunft der Flüchtlinge aus Aïn Séfra saß Narissa im Garten hinter dem Turm und blickte aufs Meer hinaus. Die Sonne brannte trotz der fortgeschrittenen Zeit heiß vom Himmel hinunter und so war sie dankbar für die kühle Brise, die vom Meer her wehte. Sie schloss für einen Augenblick die Augen und erlaubte ihrem Körper, sich nach einem weitern Tag harten Trainings wenigstens für kurze Zeit vollständig zu entspannen.
Sie hatte noch nicht lange so dort gesessen, nur wenige Herzschläge lang, als sie leise Schritte auf dem Gras hörte. Sie schlug die Augen auf, und sah, wie einer der Haradrim aus Aïn Séfra um den Turm herum kam. Als er sie auf der Bank sitzen sah, blieb er stehen und sagte: "Verzeiht, ich wusste nicht, dass hier schon jemand war. Ich wollte nicht stören." Zur Antwort rutschte Narissa auf der Bank ein Stück zur Seite und erwiderte: "Auf der Bank ist genug Platz für zwei, ihr könnt euch zu mir setzen." Sie blinzelte in der Sonne und betrachtete den Mann ein wenig genauer. Dafür, dass er einer der Bibliothekare aus Aïn Séfra sein musste war er ziemlich jung und sah auch einigermaßen gut aus - auch wenn Narissa sich dafür im Moment weniger interessierte. Viel interessanter war, was er zu erzählen haben könnte.
Ihr Gegenüber zögerte einen Augenblick, dann setzte er sich langsam auf die am weitesten von Narissa entfernte Stelle der Bank. Er räusperte sich, und sagte dann: "Vergebt mir, dass ich mich nicht bereits vorgestellt habe: Mein Name ist Bayyin ich bin - oder vielmehr, ich war - Bibliothekar in der großen Bibliothek von Aïn Séfra."
"Nun, soviel habe ich mir bereits gedacht. Sind alle Bibliothekare so umständlich wie ihr?", fragte Narissa spöttisch. Nach einem harten Tag voller erfolgreichem Training spottete sie oft und gern über alles mögliche, wie ihr Großvater ebenso oft und gern beklagte. Bayyin gab ein hervorragendes Opfer ab, denn er blinzelte nur überrascht und erwiderte: "Nein ich denke... ich wollte nur höflich..."
Der Arme schien überhaupt nicht zu wissen, was er sagen sollte, und so unterbrach Narissa ihn kurzerhand. "Seid mir nicht böse.", sagte sie in besänftigendem Tonfall. "Mein Großvater klagt oft über meine spitze Zunge, und manchmal trifft sie völlig Unschuldige." Auch das sagte sie nicht ganz ohne Hintergedanken, denn mit "unschuldig" meinte sie eher " nicht in der Lage, sich zu wehren". Bayyin bemerkte das allerdings nicht, und so fragte sie: "Habt ihr irgendwelche interessanten Schriften in eurer großen Bibliothek?"
"Ihr meint wohl, hattet.", antwortete der Bibliothekar und sah zu Boden. In seinem Tonfall schwangen viel Bitterkeit und Trauer mit. "Die Bibliothek ist niedergebrannt als Suladan die Macht in Aïn Séfra übernahm - wir selbst haben sie den Flammen übergeben, damit das gesammelte Wissen nicht in die falschen Hände fällt." Schlagartig wurde Narissa ernst. Sie wusste selbst wie es war, seine Heimat und alles was einem wichtig war zu verlieren. Und jetzt war ihr auch klar, warum Bayyin so schwach auf ihre Provokation reagiert hatte - sie selbst war nach ihrer Ankunft auf der Insel in einem ähnlichen Zustand gewesen.
"Das tut mir leid.", sagte sie sanft. "Gibt es irgendein Buch, dass euch besonders am Herzen lag? Vielleicht könntet ihr mir davon erzählen."
"Nun ja..." Bayyin verschränkte nervös die Finger, atmete tief durch und blickte dann nach Westen aufs Meer hinaus, wo die Sonne allmählich sank. "Erst wenige Tage vor unserer Flucht habe ich eine alte Schriftrolle gefunden, an die ich seit unserer Ankunft hier dauernd denken musste. Es war ein Bericht, ein Reisebericht... von jemandem, der nach Mordor gereist und von dort zurückgekehrt war. Er nannte sich selbst Arandir vom Weißen Turm."
"Weißer Turm?" fragte Narissa, und schlug mit der flachen Hand auf die weißen Steine des Turms hinter sich. "Wie dieser hier?" Bayyins Erzählung hatte bereits jetzt ihr Interesse geweckt. Der Bibliothekar nickte. "Ich vermute tatsächlich, dass es sich um diesen Turm handelt. Der Name selbst ist eindeutig von der Art der Dúnedain, das würde also zusammenpassen. Dabei fällt mir ein... euer Name ist nicht von dieser Art, obwohl Meister Hador euer Großvater ist. Wie kann das sein?"
"Nicht jeder in unserer Familie trägt einen solchen Namen.", antwortete Narissa. "Und meiner... das ist eine lange Geschichte, die ich lieber nicht jetzt erzählen möchte. Erzählt mir lieber weiter von diesem Arandir."
"Verzeiht mir... eine Bibliothekarskrankheit, fürchte ich.", sagte Bayyin mit einem leichten Lächeln. "Jedenfalls berichtet Arandir, dass er gegen Ende des Zweiten Zeitalters nach Mordor gereist ist - also zu einer Zeit, als Sauron offenen Krieg gegen die Königreiche der Dúnedain führte. Er schreibt von einem unbewachten Pfad durch die südlichen Berger von Mordor, der nicht einmal dem Dunklen Herrscher selbst bekannt sein soll." Plötzlich war Narissas Mund trocken und ihr Herz begann schnell zu schlagen.
"Und steht in der Schriftrolle auch, wo man diesen Weg findet?" Der Bibliothekar schüttelte traurig den Kopf. "Nein, und selbst wenn: Ich habe diese Schriftrolle mit eigenen Händen ins Feuer geworfen. Wir konnte auf keinen Fall riskieren, dass sie Suladan in die Hände fällt."
"Nein, das verstehe ich. Aber begreift doch, wenn wir wüssten, wo dieser Pfad liegt... wir könnten ungesehen nach Mordor eindringen und..." "Und was tun?", unterbrach Bayyin sie. "Sauron töten?" "Ich weiß es nicht. Aber diese Information ist wichtig!", erwiderte Narissa. Sie sprang von der Bank auf, sodass ihre schulterlangen weißen Haare flogen. "Kommt, wir müssen zu meinem Großvater gehen. Ihr müsst ihm sofort davon erzählen, wenn ihr es noch nicht getan habt."
"Das habe ich tatsächlich nicht, Meister Hador war die letzten Tage sehr beschäftigt...", wandte Bayyin zögerlich ein. "Womit auch immer er beschäftigt ist, es wird warten müssen.", meinte Narissa energisch. "Das hier ist viel wichtiger."
Sie fanden den Herrn des Weißen Turms in seinem Arbeitszimmer unter dem Dach des Turmes vor, wo er an seinem Schreibtisch saß und Briefe schrieb. Narissa hielt sich nicht lange damit auf, ihn vorsichtig zu Fragen ob er Zeit für sie hätte, sondern sprach ihn direkt an: "Großvater! Wir haben etwas sehr wichtiges gefunden!"
Hador sah langsam von seinem Brief auf und antwortete: "Was auch immer es ist, es kann sicher noch einen Augenblick warten, oder nicht?"
"Nein, das kann es nicht." Narissa zog Bayyin vollständig in den kreisrunden Raum hinein. "Wir glauben, dass es einen geheimen Weg nach Mordor gibt, den nicht einmal Sauron selbst kennt." Hador sah wiederum von dem Brief auf, auf den sich sein Blick in der Zwischenzeit wieder gerichtet hatte, und erwiderte: "Wenn der Dunkle Herrscher diesen Weg nicht kennt, dann existiert er nicht."
Jetzt meldete sich Bayyin zu Wort: "Verzeiht, Meister Hador, aber ich denke ihr irrt euch. In der Bibliothek von Aïn Séfra gab es einen Bericht von Arandir vom Weißen Turm, in dem die Rede von einem solchen Weg ist. Allerdings schreibt er nicht, wo sich dieser Weg befindet, und die Schriftrolle ist mit der Bibliothek verbrannt." Nach diesen Worten schien Hador aufzumerken. "Es gab tatsächlich einmal einen Arandin, ein Bruder des Herrn des Weißen Turms am Ende des Zweiten Zeitalters. Er war für seine Reisen bekannt, wenn ich mich recht erinnere, aber ich weiß nichts von einer Reise nach Mordor." Er seufzte und fuhr dann fort: "Ich habe keinen Anlass an eurem Wort zu zweifeln, Bayyin. Durchsucht unsere Archive nach Reiseberichten von Arandir. Vielleicht gelingt es euch dabei ja, einen Hinweis auf einen solchen Weg zu finden. Diese Information wäre wirklich von unschätzbarem Wert..."
März 3019 D.Z., Die Insel
In der folgenden Zeit bekam Narissa Bayyin nur noch selten zu Gesicht, denn der junge Bibliothekar verbrachte den Großteil seiner Zeit in den Archiven um mehr über Arandir herauszufinden. So konzentrierte sich Narissa voll und ganz auf ihr Training, das im Augenblick vornehmlich darin bestand, klettern zu üben. Dazu hatten die Dúnedain der Insel vor langer Zeit Mauern und Hindernisse bei einer steilen Felswand im Norden der Insel erbaut. Dort konnten ihre Lehrlinge das Klettern sowohl an Mauern als auch an Felswänden üben, denn beides barg unterschiedliche Herausforderungen.
Eines Abends saß Narissa erneut auf ihrer Lieblingsbank im Garten hinter dem Turm und entspannte sich von ihrer heutigen Aufgabe: Die Felswand mit nur einer Hand zu erklettern. Sie hatte gerade die Augen geschlossen, als sie sich nähernde leise Schritte hörte. Bayyin konnte es nicht sein, denn er ging viel lauter. Also... Sie öffnete die Augen und sah ihren Großvater lächelnd auf sich zukommen. In der Hand hielt er eine kleine Pergamentrolle, deren Siegel gebrochen war.
"Es gibt gute Nachrichten.", sagte Hador. "Vor neun Tagen griff der Dunkle Herrscher Minas Tirith an, und es gab eine große Schlacht, bei der seine Heere vollkommen geschlagen wurden. Zuvor wurde eine Flotte der Korsaren bei Pelargir vernichtet."
Narissa sprang auf die Füße und umarmte ihren Großvater. "Dann ist der Krieg als vorbei? Sauron wurde besiegt? Dann ist auch Suladans Position geschwächt, und wir können..."
"Langsam, Kind.", erwiderte Hador. "Sauron hat zwar eine fürchterliche Niederlage erlitten, aber er selbst war nicht dort und lebt noch. Und solange das der Fall ist, ist er auch nicht besiegt. Trotzdem werde ich morgen Nachricht zu unseren Leuten in Qafsah und Umbar senden, und neue Spione nach Aïn Séfra schicken. Wir müssen vorbereitet sein.
Hadors Vorsicht erwies sich als berechtigt.
Am folgenden Tag, es war der 25. März des Jahres 3019, hing Narissa um die Mittagsstunde gerade mitten in der Felswand an der sie Klettern übte, als sie plötzlich eine dunkle Ahnung überkam. Ihr wurde schwindelig, und ihre Arme begannen zu zittern. Selbst die Sonne schien plötzlich schwächer zu scheinen, obwohl keine Wolken zu sehen waren. Narissa klammerte sich an den Felsen fest, presste ihr Gesicht gegen die Wand und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Irgendetwas schreckliches war geschehen, und sie musste dringend mit ihrem Großvater darüber sprechen. Also lies sie sich langsam wieder an der Wand hinab anstatt das restliche Stück hinaufzuklettern. Unten angelangt lief sie sofort los in Richtung des Turmes, ohne auf die Rufe ihres Lehrers, sie solle zurückkommen, zu achten.
Nur wenig später stand Narissa an der Seite ihres Großvaters auf der Aussichtsplattform an der Spitze des Turms und blickte nach Norden. "Was denkst du könnte passiert sein?", fragte sie an Hador gewandt.
Ihr Großvater antwortete, den Blick immer noch starr nach Norden gerichtet: "Ich bin mir nicht sicher aber... Du hast es selbst bemerkt: Ein Schatten hat sich über die Welt gelegt, der vorher nicht zu spüren war. Es gibt nur ein Böses in Mittelerde, dass eine solche Macht besitzt - oder besessen hat."
"Sauron...", flüsterte Narissa, und erzitterte beim Klang dieses Namens.
"Ja. Ich fürchte, dass das Schlimmste eingetreten ist, was eintreten konnte - der Dunkle Herrscher hat seine Macht, seinen Meisterring wiedererlangt."
Narissa strich sich die vom Ostwind verwehten weißen Haare aus dem Gesicht und fragte: "Der Meisterring? Was ist das?"
"Ich habe dir von den Ringen der Macht erzählt, die von den Elben in Eregion geschmiedet wurden - drei für die Elben selbst, sieben für die Zwerge und neun für die Menschen. Aber es gibt noch einen, den der Dunkle Herrscher allein im Verborgenen geschmiedet haben soll. Wir haben nur wenig Informationen über diesen Ring, aber angeblich soll er von Isildur nach Saurons erstem Sturz am Ende des Zweiten Zeitalters vernichtet worden sein. Deshalb war der Dunkle Herrscher jetzt nur noch ein Schatten seiner früheren Macht, denn ein Großteil dieser Macht war an den Meisterring gebunden."
"Aber... wenn Isildur den Ring zerstört hat, wie kann Sauron ihn dann jetzt zurück bekommen haben?"
Hador lächelte bitter. "Das, meine liebe Narissa, ist eine gute Frage. Wie es aussieht hat Isildur den Ring keineswegs zerstört. Vielleicht ist er einfach nur verloren gegangen - aber dann hätte Sauron ihn früher gefunden. Nein, ich vermute dass irgendjemand den Meisterring nach Saurons Niederlage mit sich genommen hat, zu welchem Zweck auch immer. Auf welche Weise der Ring den Weg zurück in die Hand seines Meisters gefunden hat kann ich mir nicht vorstellen."
"Aber das ist doch auch nicht wichtig, oder?", warf Narissa ein. "Wichtig ist nur, dass wir jetzt kämpfen müssen, noch mehr als vorher. Wir müssen..." Jetzt wandte sich ihr Großvater ihr das erste Mal zu und legte ihr die Hand auf die Schulter.
"Nein, wir werden nichts dergleichen tun. Wenn das eingetreten ist was ich vermute, dann kann nichts und niemand, der sich Sauron in den Weg stellt, überleben. Ich werde Nachricht an all unsere Leute senden, die jetzt gerade in Harad unterwegs sind, und sie in die Sicherheit des Turmes zurückrufen."
"Aber das kannst du nicht tun - wir können uns doch nicht einfach verstecken, wenn wir eigentlich kämpfen sollten!"
"Narissa, ich habe meine Entscheidung getroffen, und du wirst sie nicht anzweifeln. Wir werden hier in Sicherheit sein und noch etwas weiter leben."
Narissa wollte noch etwas sagen, so leicht würde sie sich nicht geschlagen geben, doch in den Augen ihres Großvaters sah sie etwas, dass sie dort noch nie gesehen hatte: Angst.
An dieser Stelle verliert sich Narissas Spur für die nächsten zwei Jahre, bis sie schließlich in einer sehr bekannten Stadt an der Westküste von Harad wieder auftaucht...