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« Letzter Beitrag von Eandril am Gestern um 20:29 »
Nur langsam kehrte Narissas Bewusstsein zurück. Sie spürte Wasser um sich herum und einen Druck auf ihrer Brust, der das Atmen mühsam machte. Blinzelnd öffnete sie die Augen, und nur langsam schälten sich Umrisse ihrer Umgebung aus der Dunkelheit, schwach beleuchtet von einem grünlichen Flackern irgendwo über ihr.
Ihr ganzer Körper schmerzte. Die Wunde in ihrer Seite pochte leise vor sich hin, ihr Hinterkopf fühlte sich an, als wäre er gespalten worden, und in ihren Schläfen hämmerte ein dumpfer Schmerz - doch sie lebte. Das war schon mehr, als Narissa erwartet hatte. Vorsichtig bewegte sie Arme und Beine, die lose im Wasser trieben und zog scharf die Luft ein, als ein heißer Schmerz ihre linke Schulter durchzuckte. Staub und Rauch in der Luft ließen sie husten, was die Lage nicht gerade besser machte. Als die Schmerzen sich etwas gelegt hatten, bewegte sie die linke Schulter vorsichtig erneut - es tat zwar höllisch weh, doch weniger, als wenn sie gebrochen wäre.
Nachdem sie festgestellt hatte, dass sie einigermaßen beweglich war, versuchte Narissa sich ein wenig zu orientieren. Sie trieb in dem Kanal, der Qafsahs Palast mit Wasser versorgte, glücklicherweise mit dem Gesicht nach oben, aber mit dem Oberkörper eingeklemmt zwischen den Gitterstäben hinter sich und einem großen Trümmerstück, dass offenbar aus der Decke herausgebrochen war. Durch das Loch in der Decke sah sie, dass der Palast noch immer in Flammen stand - also bestand die Möglichkeit, dass ihre Bewusstlosigkeit nicht allzu lange angedauert hatte.
Im selben Augenblick bröckelte ein weiteres Stück der Decke ab, und stürzte mit einem Platschen nicht weit von ihr entfernt ins Wasser. Sie konnte hier nicht bleiben und abwarten, bis jemand sie fand. Doch wie konnte sie hier herauskommen?
Langsam, um sich so viel Schmerz wie möglich zu ersparen, griff Narissa mit der Rechten hinter sich, und rüttelte ein wenig an dem Gitter in ihrem Rücken. Vielleicht hatte sich die Verankerung ein wenig gelockert... Und tatsächlich ließen sich die Metallstäbe ein wenig nach hinten drücken. Staub rieselte von oben auf ihre Haare herab.
"Kein anderer Ausweg...", murmelte Narissa vor sich hin und biss die Zähne zusammen. Mit aller verbliebenen Kraft drückte sie die Füße gegen die Trümmer vor sich und presste den Rücken gegen die Gitterstäbe. Über ihrem Kopf hörte sie ein leises Knirschen, mehr Staub rieselte von oben herab, und das Gitter bewegte sich ein wenig nach hinten - doch nicht weit genug. Narissa holte tief Luft, und drückte erneut, fester. Sie spürte ihre Beine zittern, und vor Anstrengung wurde ihr schwarz vor Augen... doch mit einem Mal gab das Mauerwerk, das das Gitter hielt, nach. Die Gitterstäbe lösten sich aus ihrer Verankerung, der Druck in ihrem Rücken verschwand und plötzlich ihres Halts beraubt stieß Narissa sich kräftiger als sie geplant hatte nach hinten ab. Für einen Moment tauchte sie unter Wasser und stieß sich dabei schmerzhaft die verletzte Schulter am Grund des Kanals, bevor sie reflexartig wieder an die Wasseroberfläche tauchte. Vor Schmerz tanzten helle Pünktchen vor ihren Augen, doch mit einem Beinschlag ließ sie sich gutes Stück weiter nach hinten treiben. Dem ohnehin schwer getroffenen Mauerwerk hatte ihre Befreiung den letzten Rest gegeben, und mit einem Krachen stürzte der Durchgang zum Palast in sich zusammen. Die durch die herabstürzenden Steine ausgelöste Welle spülte Narissa noch ein Stück weiter nach hinten, unter der Brücke auf der sie den bewusstlosen Wächter zurückgelassen hatte - vor einer Ewigkeit - hindurch. Mit einiger Mühe hielt sie sich über der Oberfläche, bis sich das Wasser beruhigt hatte, und zog sich dann hustend am Beckenrand ins Trockene.
"He! He du! Hilf mir!" Die seltsam gedämpfte Stimme gehörte zu dem Wächter, den sie gefesselt auf der Brücke hatte liegen lassen. Er lag noch immer dort, erkannte Narissa in der beinahe vollständigen Dunkelheit. Sie kam mühevoll auf die Füße, und humpelte auf die Brücke, einen Dolch in der Hand. Einen Augenblick zögerte sie. In ihrem derzeitigen Zustand hätte selbst ein einzelner übereifriger Wächter leichtes Spiel mit ihr. Doch eigentlich war es jetzt egal, Sûladan war tot. Also beugte sie sich herab, kämpfte einen Anfall von Schwindel nieder, und durchschnitt die Fesseln des Wächters.
"Raus hier, schnell", sagte sie. "Ich weiß nicht, wie lange die Decke noch hält."
"Natürlich, ja", erwiderte er, rappelte sich auf und rieb sich die sicherlich tauben Handgelenke. "Was ist überhaupt passiert?" Seine Stimme war noch immer seltsam dumpf, und nur langsam wurde Narissa klar, dass es gar nicht an ihm lag. In ihren Ohren ertönte auch dauerhaft ein leises Klingeln, dass sie erst jetzt bewusst wahrnahm. Der Lärm der Explosion musste auch ihr Gehör ein wenig mitgenommen haben. Sie ging nicht auf die Frage des Mannes ein, sondern wandte sich einfach ab und ging so schnell sie konnte - was nicht sehr schnell war - in die Richtung, in der sie den Ausgang vermutete.
Oben in der Stadt herrschte Chaos. Menschen hasteten in Panik auf den Straßen hin und her, und im Norden erkannte Narissa hinter den Häusern ein bedrohliches Glühen. Der Palast musste noch immer in Flammen stehen. Trotz allem sog sie dankbar die kühle Nachtluft ein. Trotz allem war sie am Leben, trotz allem hatte sie Erfolg gehabt. Hinter trat der Wächter ins Freie. "Ich frage nicht, was du dort unten zu suchen hattest", hörte sie seine Stimme wie durch tiefes Wasser. "Aber ich danke dir, dass du mich befreit hast. Wer weiß, wann mich jemand gefunden hätte." Offensichtlich war ihm nicht klar, dass er seine prekäre Situation ihr überhaupt erst zu verdanken gehabt hatte... Narissa antwortete nicht und wandte sich auch nicht zu ihm um, sondern nickte nur knapp. Zum ersten Mal, seit sie den Palast betreten hatte, drängte sich Yana wieder in ihre Gedanken, und augenblicklich verschwand jeder Anflug eines Hochgefühls über ihren Erfolg. Sie wandte sich um, und ging langsam aber zielstrebig in Richtung von Yanas Haus davon. Dieses Mal war es ihr gleich, wer sie sah - in den Gassen herrschten ohnehin ein derartiges Chaos und Durcheinander, ausgelöst durch die Zerstörung des Palastes, dass niemand ihr auch nur einen zweiten Blick schenkte. Der Wächter rief noch irgendetwas hinter ihr her, doch sie hörte gar nicht mehr richtig hin. Die Bilder der Geschehnisse im Palast wurden verdrängt durch Bilder von Yana, wie sie hochschwanger auf ihrem Bett lag, und seltsamerweise auch von Yana, wie Narissa sie als Kind in Erinnerung hatte. Die Worte, die die Hebamme Safina ihr zum Abschied mitgegeben hatte, tauchten immer wieder auf, doch sie schob sie jedes Mal wieder zur Seite. So wichtig Yana auch war, in dieser Nacht war das Schicksal von Qafsah und vielleicht ganz Harad entschieden worden. Yana würde das ebenfalls verstehen.
Sie erreichte den kleinen Hof hinter Yanas Haus, der im Chaos der Stadt wie eine Oase der Ruhe erschien. Langsam schleppte Narissa sich die Treppe hinauf, stieß die Tür auf und sah sich Auge in Auge mit Safina, die ein in Tücher gewickeltes Bündel in den Armen hielt. Die Hebamme ließ einen undeutbaren Blick von Kopf bis Fuß über Narissa wandern. Mit einem Mal wurde Narissa sich vollständig bewusst, wie sie aussehen musste. Ich habe schon schlimmer ausgesehen, wollte sie sagen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Einerseits, weil es vermutlich eine Lüge gewesen wäre - jedenfalls hatte sie sich noch nie derartig zerschlagen gefühlt, nicht einmal in Abels Gefangenschaft - andererseits, weil ihr endlich klar wurde, was Safina in den Armen hielt.
Die Hebamme streckte ihr das Bündel entgegen. "Hier. Ihr kommt gerade rechtzeitig." Mehr aus Reflex als aus Absicht nahm Narissa das Kind vorsichtig in die Arme, auch wenn ihre verstauchte Schulter heftig dagegen protestiert. Sie verdrängte den Schmerz so gut es ging. "Und jetzt geht aus dem Weg."
Mit Mühe raffte Narissa ein paar klare Gedanken zusammen. "Wieso? Wo wollt ihr so eilig hin?"
"Eine Amme holen, natürlich. Die Mutter..." Die Hebamme unterbrach sich, und ihre eigentlich harten Gesichtszüge wurden für einen Augenblick weich. Sie legte Narissa eine Hand auf die Schulter, zum Glück auf die unverletzte rechte. "Macht euch nicht zu viele Vorwürfe." Sie schob Narissa sanft zur Seite, und eilte die Treppe hinunter in die Nacht.
Narissa blieb wie angewurzelt auf dem obersten Treppenabsatz stehen, das sich leicht regende Neugeborene noch immer in den Armen. Mit einem Mal schien erneut ein Stein auf ihrer Brust zu liegen, und sie hatte Schwierigkeiten, Atem zu holen. Nur langsam sammelte sie genug Überwindung, die Türschwelle zu übertreten.
Drinnen hing ein metallischer Geruch in der Luft, den Narissa augenblicklich erkannte. Yana lag ein einem Bett aus Blut, das Gesicht tödlich blass, doch sie hatte die Augen geöffnet und lächelte schwach, als sie Narissa ins Zimmer trat. "Du siehst furchtbar aus", sagte sie leise. Narissa blinzelte ein paar Mal rasch, und zwang sich dazu, das Lächeln einigermaßen glaubhaft zu erwidern. Ohne zu Zögern ließ sie sich auf der Bettkante nieder, ohne auf die blutgetränkten Laken zu achten. Es war viel Blut, fiel ihr auf.
"Schätze schon", erwiderte sie knapp, und wandte den Blick von Yana ab und auf das winzige Gesicht des Neugeborenen in ihren Armen. Inzwischen hatte es die Augen geschlossen und schien zu schlafen. "Ein Junge", erklärte Yana mit schwacher Stimme. "Ach, Narissa... ich hätte nicht gedacht, dass es so furchtbar sein würde." Narissa wischte verstohlen eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel, weiterhin unfähig, Yana anzusehen. "Aber wenn ich ihn ansehe... dann war es das alles wert."
"Hast du... hast du schon einen Namen ausgesucht?" Narissa spürte, wie Yanas Hand ihre umschloss. Die Hand war eiskalt.
"Ich dachte an Níthrar. Er hat... mir die Hoffnung erhalten, in den langen Jahren. Aber ich... meinst du, es wäre ihm recht?"
"Es wäre ihm eine Ehre", erwidert Narissa flüsternd, und fühlte eine Träne von ihrer Nasenspitze tropfen. "Da bin ich mir sicher."
Einen Augenblick schwiegen beide. Weitere Tränen tropften lautlos auf die Tücher, in die der kleine Níthrar eingewickelt war.
"Gib ihn mir einen Augenblick, sei so gut", sagte Yana schließlich. Als Narissa ihr ihren neugeborenen Sohn in die Arme legte, konnte sie nicht vermeiden, Yana ins Gesicht zu blicken. Yana blinzelte überrascht. "Du weinst", stellte sie fest. Sie blickte an sich hinunter, auf das blutgetränkte Bett. "Ah", machte sie leise, gleichzeitig ein Laut des Verstehens und der Überraschung. "Darum also bin ich so müde." Sie strich mit leicht zitternder Hand über den Kopf ihre Kindes. "Deswegen ist Safina gegangen." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Narissa nickte, die Lippen aufeinander gepresst und wollte sich abwenden, doch Yanas Hand schloss sich erstaunlich fest wieder um ihre und hielt sie zurück. Narissa spürte ihre Lippen zittern, und Yanas Gesicht verschwamm vor ihren Augen.
"Ich bin froh, dass du hier bist", sagte Yana leise. "Ich hätte gar nicht erst gehen sollen", stieß Narissa hervor, und schniefte. "Ich hätte... hätte... vielleicht wärst du..." Die Worte kamen nur stockend hervor. "Safina hat gesagt, ich würde... würde es vielleicht..."
"Schsch", machte Yana leise - wie eine Mutter, die ihr Kind beruhig. "Wenn Safina es nicht verhindern konnte, hättest du es auch nicht gekonnt." Sie atmete tief durch, und eine einzelne Träne lief aus ihrem linken Augenwinkel die blasse Wange hinab. "Du bist jetzt hier, und das bedeutet mir alles."
Narissa schloss für einen Moment die Augen, und wischte sich dann die Tränen fort. Doch es flossen neue. "Es ist nicht gerecht, Yana. Sûladan ist tot. Qafsah wird eine neue Zeit erleben, aber... es ist nicht gerecht. Es ist nicht gerecht, dass du es nicht erleben wirst. Dass du nicht erleben wirst, wie dein Kind..."
Yana wandte für einen Augenblick den Blick ab. "Nein", sagte sie, so leise, dass es beinahe ein Flüstern ist. "Es ist nicht gerecht, dass ich nicht erleben werde, wie mein Sohn aufwächst." Ihre Stimme wurde immer leiser. "Aber ich freue mich, dass die Welt in die er geboren wurde, vielleicht eine hellere sein wird." Sie blickte Narissa wieder direkt ins Gesicht, und ihre Augen waren klar. "Und wer weiß - vielleicht werden wir und eines Tages wiedersehen."
"Ja..." Narissa unterdrückte ein Schluchzen. Sie verstand nicht, wie Yana derart gefasst sein konnte. "Eines Tages sehen wir uns wieder. Und meine Mutter, und mein Vater... und deine Eltern... eines Tages." Sie schluckte mühsam. "Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich auf den Wachturm geklettert bin?"
Yana lächelte schwach. "Deine Mutter hatte schon wieder deine Haare geschnitten, und du warst wütend auf sie. Ich habe dir gesagt, dass du es nicht tun sollst."
"Ich wäre beinahe runtergefallen - mehr als einmal." Wider Willen lächelte Narissa durch die Tränen. "Mein Vater war so wütend, dass er mich verhauen hat. Das war das einzige Mal."
"Ich hatte recht, dass du es nicht tun solltest. Wie immer eigentlich. Weißt du noch, wie du einmal ein ganzes Salzfass in die Bierfässer im Gasthaus kippen wolltest?"
Sie sprachen weiter von den Erinnerungen ihrer gemeinsamen Kindheit, von Abenteuern die ihnen als Kindern groß und gefährlich erschienen waren, von Streichen, die sie geplant und gespielt hatten, von den anderen Kindern des Viertels und was aus ihnen wohl geworden war... Und langsam wurde Yanas Stimme immer leiser und leiser.
Und verstummte schließlich ganz.
Irgendwann kamen Safina und eine andere Frau. Sie sagten irgendetwas, doch Narissa hörte nicht zu. Sie blieb stumm auf der Bettkante sitzen und hielt weiterhin Yanas kalte Hand. Sie spürte Tränen in ihren Schoß tropfen, doch sie beachtete sie nicht weiter. Vage nahm sie war, dass die fremde Frau den kleinen Níthrar an sich nahm und mit ihm ins Nebenzimmer ging. Wieder sagte Safina irgendetwas, das sie nicht verstand, doch es war ihr egal. Sie blieb einfach an Yanas Seite sitzen. Stumm.