Die alte Festung Durthang (Sindarin: Finstere Bedrängnis) steht im Schattengebirge, an der Westgrenze Mordors. Einst von den Königen Gondors zur Wacht über das Schattenland erbaut wurde Durthang nach der Großen Pest schließlich aufgegeben, als seine Besatzung in anderen Kriegen benötigt wurde. Die Festung bewachte einen kleinen, versteckten Pass nach Ithilien, der als Abkürzung auf dem Weg nach Mordor genutzt werden konnte. Nachdem die Wacht Gondors geendet hatte stand Durthang viele Jahre leer, bis Mordor wieder in Saurons Hände fiel. Zunächst war es ähnlich wie der Turm von Cirith Ungol weiter im Süden ein einfacher Wachposten an den Grenzen Mordors, der Eindringlinge fern und Flüchtlinge drinnen halten sollte, bis Sauron schließlich die Festung und das kleine Tal an dessen Spitze sie thront einem seiner treusten Diener zum Sitz gab: Azulzîr, der damalige Herr der Schwarzen Númenorer, der Bâr n'Adûnâi (Herr der West-Menschen) in der Sprache Númenors genannt wurde. Er war der erste Fürst von Durthang, welches von den Adûnâi schon bald Aglarêth (Glorreiche Festung) getauft wurde. Azulzîrs Erben, die Menschen des Haus Balákar, scharten einige der wenigen verbliebenen Schwarzen Númenorer im Tal von Durthang um sich um die alte Blutlinie der Arûwanâi (Menschen der Königspartei Númenors) rein und langlebig zu halten. Denn zuvor hatten die Nachfahren der Kolonisten von Númenor zumeist an den Küsten südlich von Umbar gelebt und sich dort auch mit den Menschen von geringerer Abkunft vermischt. In Durthang bildete sich nun eine Enklave der Schwarzen Númenorer, die in den Rängen von Saurons Armee schon bald großes Ansehen genossen.
Im Jahr 3001 des Dritten Zeitalters standen zwei hochgewachsene Gestalten auf dem obersten Balkon Durthangs, der ihnen einen spektakulären Blick über die Ebene von Gorgoroth im Südosten bot. Die untergehende Sonne des Westens im Rücken hielten die beiden fest den Blick auf das Kernland Mordors gerichtet. Es waren ein Mann und eine Frau und keiner der beiden sprach auch nur ein Wort. Die Frau - Lôminzil - hielt ein Neugeborenes auf dem Arm, das friedlich schlief. Der Mann - Varakhôr - hatte den Arm um ihre Schulter gelegt. Gerade war er zum zweiten Mal Vater geworden. Gemeinsam stellten die beiden sich dem Blick ihres Dunklen Herrschers, der alles sah und alles durchschaute. Noch immer sprachen sie nicht, warteten auf etwas: auf eine Reaktion. Sie wussten nicht ob überhaupt etwas geschehen würde. Es war in Durthang Tradition geworden, Kinder unter Saurons Blick zu stellen, doch zumeist verlief das Ritual ohne eine Antwort ihres Gebieters. So ließen die beiden ein letztes Mal ihren Blick über die Aschenwüste Gorgoroths schweifen und wollten sich gerade abwenden, als mit unerwarteter Wucht der ferne Schicksalsberg ausbrach; und Rauch und Feuer voller Wut in die Luft schleuderte. Auch wenn es Zufall gewesen sein mochte nahmen sie es als Zeichen von Saurons Gunst, neigten das Haupt in Richtung des Dunklen Turms und begaben sich dann ermutigten Herzens wieder ins Innere der Festung.
Das Kind - es war ein Mädchen - erhielt den Namen Azruphel, der in Númenor recht häufig gewesen war. Für eine in Durthang geborene Tochter der Adûnâi war er jedoch ungewöhnlich gewählt, denn er bedeutet übersetzt Meerestochter. Azruphel hatte eine für ihre Verhältnisse glückliche und friedliche Kindheit, so sehr wie dies innerhalb der Grenzen Mordors nun einmal möglich war. Das Tal von Durthang war für Orks und andere niedere Diener Saurons verboten, doch ab und zu wurden Trupps mit direkten Befehlen aus dem Dunklen Turm über den versteckten Pass zu Überfällen in Ithilien entsandt. So sah Azruphel zwar bereits in sehr jungen Jahren einige der Schrecken Mordors, jedoch nicht häufig genug um tatsächlich von ihnen in Angst versetzt zu werden. Außerdem machten ihre Eltern ihr klar, dass nahezu alles in Mordor auf ihren Befehl hören und auf ihrer Seite kämpfen würde. Balákars Erben stammten aus einer edlen Familie Númenors, hatten jedoch kein königliches Blut.
Die Erziehung einer hochgeborenen Tochter des Hauses von Balákar beinhaltete nicht nur grundlegende Dinge wie Lesen, Schreiben und Rechnen sowie das Verhalten zu Hofe und umfasste sowohl für Jungen als auch für Mädchen eine bereits im frühen Alter begonnene Kampfausbildung. Die Schwarzen Númenorer wurden oft von Sauron als Heerführer, Attentäter oder Elitekrieger in seinen Armeen eingesetzt und erhielten bei Kommandovergaben oft den Vorzug vor Uruks oder Orks. Es gab nicht viele Kinder in Durthang, da die Adûnâi nie zahlreich gewesen waren. Deshalb wurde Azruphel die meiste Zeit allein unterrichtet und hatte nur wenige Freunde. Sie erwies sich als gelehrig sowie recht geschickt im Kampf, vor allem im Umgang mit dem Schwert. Zur Enttäuschung ihres Vaters zeigte sie jedoch keinerlei Talent beim Erlernen der Dunklen Künste, die jene, die sich als würdig erwiesen, in Barad-dûr in der Gegenwart des Dunklen Herrschers selbst perfektionieren konnten. Der damalige Bâr n'Adûnâi, Dolguzagar, war ein Meister darin geworden und wurde seither als "Mund des Großen Gebieters" bezeichnet. Azruphel hingegen erwies sich hierfür als nicht empfänglich, worüber sie eine geteilte Meinung hatte: Einerseits lastete die Tatsache schwer auf ihr, ihre Eltern enttäuscht zu haben, doch andererseits misstraute sie bereits damals jenen, die die dunklen Künste praktizierten. Ihr waren direkte Konfrontationen lieber.
Azruphel wurde zu striktem Gehorsam erzogen und war ein folgsames und lernfreudiges Kind. Ihr Wissensdurst stieg weiter an, als sie älter wurde. Allerdings stand sie teilweise im Schatten ihres sieben Jahre älteren Bruders Balakân, dem Erben von Aglarêth, bis er schließlich nach Osten geschickt wurde um erste Kriegserfahrungen zu machen und zu lernen, was es heißt, ein Kommando zu führen. Azruphel rückte nun mehr in den Mittelpunkt der Gesellschaft Durthangs, auch wenn ihr Vater damals noch nicht den Titel des Bâr n'Adûnâi trug. Diese Aufmerksamkeit brachte ihr mit fünfzehn Jahren den Beinamen "Bêlkali" ein, was "strahlende Jungfrau" bedeutet, denn sie beherrschte bereits damals die Kunst, jederzeit ein Lächeln aufsetzen zu können - ob es nun ein echtes war oder nicht. Bei all den Intrigen und Verschwörungen denen sie damals bereits begegnete war ihr dieses Talent behilflich. Um dem Treiben bei Hofe ab und an zu entkommen begann sie, immer wieder kleine Streifzüge durch das Durthang umgebende Gebirge zu unternehmen, da sie mehr über die Welt außerhalb des Tals herausfinden wollte. Als sie sich einmal zu weit entfernte und den Weg zurück vor Mitternacht nicht wiederfand verbot ihr ihr Vater das Verlassen des Tals, nachdem ein eilig entsandter Suchtrupp sie schließlich entdeckt hatte. Pferde verwendeten die Adûnâi selten, da die wenigen Pferde in Mordor für die Ringgeister und die obersten Anführer wie Saurons Mund vorbehalten waren und da die Pferde in Durthang nicht genügend Nahrung finden würden um dauerhaft dort zu leben.
Von den Angriffen der Streitkräfte Mordors auf den Westen während des Ringkriegs bekam Azruphel nur wenig mit. Durthang lag weit abseits der Aufmarschgebiete der Orks, die sich hauptsächlich am Morannon und in Minas Morgul sammelten. Auch wurde der versteckte Pass in jenen Tagen nicht mehr genutzt, da Ithilien nach der Eroberung der Osthälfte Osgiliaths im Jahr 3018 in Mordors Hand gefallen war und sich die Armeen freier durch den Morgul-Pass bewegen konnten.
An den Kriegen in Gondor nahmen nur wenige Schwarze Númenorer teil, da Sauron die Orks unter den direkten Befehl der Ringgeister stellte. Von den Nazgûl wurde erwartet, dass sie den vollständigen Sieg davontragen würden. Für den Gegenangriff der Gondorer auf das Schwarze Tor wurden dann jedoch die meisten Krieger Durthangs einberufen und standen unter dem Kommando von Dolguzagar, Saurons Mund. Die Schlacht am Schwarzen Tor endete mit den Sieg Mordors und der Dunkle Herrscher erlangte gleichzeitig den Ring zurück, wovon jedoch die meisten Adûnâi nichts wussten. Da sie Menschen waren standen sie nicht unter dem direkten Einfluss Saurons wie ihn die Orks, Uruks und Trolle spürten. Azruphel war froh als sie vom Sieg über Gondor und Rohan hörte, denn über jene Reiche wusste sie nur, dass sie sich unrechtmäßig dem Befehl Saurons widersetzt und gegen ihn rebelliert hatten. Sie freute sich, dass die Kämpfe nun enden würden.
Nach der Schlacht am Schwarzen Tor wurde Saurons Mund mit einer starken Streitmacht nach Rohan entsandt und eroberte es. Er nahm seinen Sitz in Isengard und wurde zu Saurons Statthalter über die unterdrückten Rohirrim. Seinen Platz als Truchsess Barad-dûrs nahm Azruphels Vater Varakhôr ein, was sie mit Stolz erfüllte. Nach einem halben Jahr holte er sie zu sich in den Dunklen Turm, was sie zunächst in freudige Aufregung versetzte. Endlich konnte sie Durthang verlassen und einen neuen Ort entdecken. Der Abschied von ihrer Mutter fiel ihr jedoch nicht leicht, denn Lôminzil hatte sie stets unterstützt und ermutigt, noch mehr zu lernen und zu erforschen. Die Reise über die Hochebene von Gorgoroth war erfüllt von neuen Eindrücken, denn selbst die verödetete Aschenebene bot viele Anblicke, die Azruphel noch nie gesehen hatte. Schließlich erreichte sie den Dunklen Turm, der sich als größer und grausamer erwies, als sie angenommen hatte. Ihr Vater nahm sie in Empfang und ließ ihr einen aus mehreren Zimmer bestehenden Bereich einrichten, der weit weg von den Folterkammern lag. Sie verbrachte ihre Zeit nun mehr in Büchern, die sie aus der kleinen Bibliothek von Durthang mitgebracht hatte, die die Geschichte Mittelerdes beschrieben. Ihr Interesse galt vor allem ihrem eigenen Volk, dem der Nachfahren von Númenor. Doch bei allem was sie tat spürte sie stets im Hintergrund die Gegenwart des Dunklen Herrschers, der seit der Rückforderung des Meisterrings mit jedem Tag einen Teil seiner alten Stärke zurückerlangte.
Zu ihrem zwanzigsten Geburtstag am 4. April 3021 ließ ihr Vater sie zu sich in seine Halle rufen. Anschließend schickte er die Diener weg, bis sie nur noch zu zweit in dem großen Raum waren.
"Du hast einen wichtigten Punkt in deinem Leben erreicht," sagte Varakhôr bedeutsam. "Auf Yôyazân und unter den Arûwanâi war es Brauch gewesen, dass Frauen mit dem zwanzigsten Lebensjahr als heiratsfähig angesehen werden. Du bist kein Kind mehr, Tochter. Dies ist der Moment, an dem sich dein Schicksal entscheidet, welches der Große Gebieter für dich vorgesehen hat." Azruphel wurde etwas unwohl bei dieser Aussage, auch wenn sie sich nach außen hin nichts anmerken ließ. Eigentlich wollte sie ihren eigenen Weg gehen und ihre Berufung selbst wählen. Ihr Vater holte ein reich verziertes Kästchen hervor und öffnete es. Darin befand sich eine Halskette aus schimmerndem Silber mit einem Anhänger in der Form eines fünfzackigen Sterns. "Der Stern von Akallabêth", sagte ihr Vater als er ihr die Kette um den Hals legte. Das Metall fühlte sich seltsam kühl auf ihrer Haut an.
"Dies ist eines der wichtigsten Erbstücke unseres Hauses," erklärte er. "Es wurde einst von Ancalimë, der ersten Regierenden Königin von Númenor getragen. Über deine Ahnherrin Adûninzil entkam es dem Untergang und fällt nun dir zu. Denn du bist Balákarêth, die Erbin eines großen Hauses, und du bist mir wichtiger als alle Schätze auf Erden."
Zu Tränen gerührt schlang sie die Arme um ihn. Gleich darauf fasste sie sich wieder und nahm die korrekte Haltung an. "Habt Dank, Vater," sagte sie demütig, doch mit einem echten Lächeln im Gesicht.
In der folgenden Zeit erwachte ihr Interesse an der Geschichte der Númenorer umso mehr. Sie sammelte alle Berichte und Geschichtsbücher, derer sie habhaft werden konnte. So erfuhr sie von der Trennung der Arûwanâi und der Nimruzîri, der Männer des Königs und der Elbenfreunde. Die Elben wurden in den Texten stets negativ dargestellt, was sie verwunderte. Der Untergang Númenors wurde als Verbrechen der Herren des Westens angesehen und die Exilreiche Arnor und Gondor als verblendet und fehlgeleitet. Azruphel suchte immer weiter, fand jedoch nie den Grund für die Spaltung ihres Volkes. Betroffen las sie über die Kriege zwischen Gondor und dem Reich von Umbar, aus dem ihre Großmutter stammte. Sie wünschte sich nicht selten, in einer anderen Zeit zu leben, und zwar zur Blütezeit Númenors, als ihr Reich alle Küsten der bekannten Welt bereiste und sie ein geeintes, starkes Volk gewesen waren. Sie konnte jedoch stets nur das lesen, was aus der Sicht der Schwarzen Númenorer geschrieben worden war. Gerne hätte sie einen Gegendarstellung aus Gondor oder Arnor erhalten. Sie konnte nicht verstehen, was zum Bruderkrieg der Númenorer geführt hatte. Erste Zweifel an der moralischen Richtigkeit des Handelns der Arûwanâi kamen ihr, als sie von Ar-Zimraphel las, der letzten Königin Númenors. Diese war von Ar-Pharazôn zur Frau genommen und in Zimraphel unbenannt worden, obwohl sie offenbar zu den Nimruzîri gehört hatte. Zuvor hatte sie den elbischen Namen Míriel getragen. Aus den Aufzeichnungen Adûninzils, ihrer Vorfahrin, die eine Zofe Míriels gewesen war erfuhr sie, dass die Halskette mit dem Stern von Akallabêth vor dem Untergang zuletzt von der Königin getragen worden war.
Die Geschichte von Míriel weckte ihr Interesse an den Elbensprachen und insbesondere am Sindarin, was sie jedoch geheim hielt. Sie wusste, dass der hohe Rang ihres Vaters sie nicht schützen würde wenn jemand heraus fände, dass sie mit den Dúnedain des Westens sympathisierte. Auf mehreren Umwegen kam sie tatsächlich an ein altes Wörterbuch für Sindarin, mit dessen Hilfe sie heimlich versuchte, die Sprache zu erlernen. Da ihr Vater ihr verbot, bis auf wenige Besuche nach Durthang den Dunklen Turm zu verlassen, wuchs ihr Durst nach Wissen immer weiter während die Zeit verging. Wie gerne hätte sie eine Reise nach Gortharia oder Umbar in die verbündeten Reiche von Rhûn und Harad unternommen, doch Varakhôr wollte nichts davon hören. Seiner Meinung nach war seine einzige Tochter in seiner Nähe am besten aufgehoben. Seit seinem Aufstieg zum Bâr n'Adûnâi nach dem Tod Dolguzagars beim Fall Isengards im Sommer 3021 war ihm die Sicherheit seiner Familie noch einmal deutlich wichtiger geworden.
Im Winter 3021 wurde Azruphels Vater auf Befehl der Ringgeister nach Dol Guldur entsandt und übergab die Befehlsgewalt an Gothmog, den Statthalter von Minas Morgul. Azruphel verblieb im Dunklen Turm um auf seine Rückkehr zu warten. Er hätte sie am liebsten mitgenommen, befand jedoch dass sie in Barad-dûr sicher sein würde. Sie begann nun, den Turm weitläufiger zu erkunden als sie es zuvor getan hatte, da ihr Vater sie nun nicht mehr daran hindern konnte und es Gothmog nicht zu kümmern schien, was sie tat. Der neue Truchsess hatte genug andere Dinge, die seine Zeit in Anspruch nahmen. Insbesondere hatten es Azruphel die großen Waffenschmieden angetan und sie verbrachte nun wieder mehr Zeit mit Schwertkampfübungen. Ihre Fähigkeiten im Kampf verbesserten sich stetig. Auf ihrem Weg zurück zu ihren Räumen lagen die Verliese, die die meiste Zeit über leer gestanden hatten. Die meisten Gefangenen aus dem Westen wurden in Nurn als Arbeitssklaven eingesetzt. Doch eine der schweren Eisentüren war seit ihrer Ankunft im Turm stets geschlossen gewesen. Schließlich fand sie über Umwege heraus, wer dort gefangen gehalten wurde und beschloss nach langem Hin und Her, ihm einen Besuch abzustatten. Sie wollte noch immer eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bruderkriegs der Númenorer. Unter dem Vorwand, eine Befragemethode ihres Vaters zu testen und zu verbessern bekam sie ungestörten Zugang und einen Schlüssel zur Zelle. Hinter der ersten Tür lagen zwei weitere, sodass kein Ton nach draußen dringen konnte. Mit angehaltenem Atem betrat sie den kleinen, finsteren Raum.
Sie entzündete eine Kerze und stellte sie in die Mitte der Zelle auf den Boden. Dann überprüfte sie, ob die Türen vollständig geschlossen waren und setzte sich schließlich neben die kleine Flamme auf den Boden. Noch war keine Reaktion des Gefangenen zu sehen. Er lehnte sitzend mit dem Rücken gegen die ihr gegenüberliegende Wand und seine Gestalt war in Schatten verhüllt. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Würde er ihr Adûnâisch überhaupt verstehen? Ihr Sindarin war bei weitem nicht gut genug, um damit eine Unterhaltung zu führen.
Doch glücklicherweise kam er ihr zuvor. "Sauron sind offenbar die Folterknechte ausgegangen wenn er nun Mädchen wie dich schickt," erklang seine raue Stimme im akzentfreien Adûnâisch.
"Ich bin kein Mädchen mehr," antwortete sie ruhig. "Und ich bin nicht hier, um Euch zu foltern. Ich möchte nur mit Euch sprechen."
Der Mann schien belustigt zu sein. "Das ist alles?" antwortete er. "Oh, das würde ich nur zu gerne glauben. Doch dies ist der Dunkle Turm, und hier sind Absichten niemals leicht zu erkennen."
Sie verschränkte die Arme. Irgendwie hatte sie sich das Ganze einfacher vorgestellt. Sie hatte eine einfache Frage und verlangte eine einfache Antwort. Dennoch sah ihr diese Handlungsweise eigentlich nicht ähnlich, da sie Fremden zunächst meist misstraute. Umso stärker war ihr Hunger nach Wissen in jenem Moment.
"Ihr müsst mir nicht antworten," sagte sie im neutralen Tonfall. "Ihr müsst mir auch nicht glauben. Aber hört mich wenigstens an. Und dann entscheidet, was Ihr damit anfangen wollt."
Der Gefangene zeigte ein leichtes Nicken das sie als Aufforderung deutete, ihr Anliegen vorzutragen. Und so erzählte sie diesen Mann, den sie noch nie zuvor getroffen hatte, ihre Geschichte. Wer sie war und wie sie nach Barad-dûr gekommen war. Und dass sie großes Interesse an der Geschichte der Númenorer hatte. Schließlich stellte sie die entscheidende Frage: "Ich muss mehr wissen über die Geschichte der Erben Númenors. Ich kenne nun die Seite der Arûwanâi gut, doch ich vermute dass sie nur die halbe Wahrheit enthält. Ihr habt gewiss großes Wissen darüber. Was sagt Ihr also? Werdet Ihr mir Eure Sichtweise darlegen?"
Der Mann erhob sich schwerfällig und kam langsam ins Licht. Selbst in seinem jetztigen Zustand konnte sie sehen oder spürte vielmehr, dass er von königlicher Abkunft war. Ein fast erloschener Glanz schien in seinen Augen zu schimmern. "Du weißt, wer ich bin?" sagte er leise, als er sich ihr gegenüber niederließ.
"Ihr seid der oberste Heerführer des Westens, oder Ihr wart es zumindest, bis zu Eurer Gefangennahme."
"Ich bin Arûkân, der Erbe Nimruzîrs. Und das ist alles, was du momentan wissen musst." Er fixierte einen Moment ihre Halskette und sank dann zurück in die Schatten. "Lies über die letzte Trägerin dieser Kette, meine unerwartete Besucherin. Lies ihre Geschichte bis zum Ende und denke gut darüber nach. Dann kehre zurück und ich werde dir vielleicht mehr erzählen."
Mehr sagte er nicht und so ging sie schließlich, ohne eine Antwort erhalten zu haben. Gemischte Gefühle begleiteten sie in den nächsten Tagen als sie Míriels Geschichte erneut las. Sie war die Tochter Ar-Inzîladuns gewesen, dem vorletzten König Númenors, der als letzter einen elbischen Namen getragen hatte: Tar-Palantír. Doch Pharazôn war der nächste (und letzte König) geworden. Er entstammte ebenfalls der königlichen Linie, denn sein Vater war Inzîladuns Bruder. Sie stutzte als sie sich an Ancalimë erinnerte. Eigentlich war es in Númenor seit der ersten Regierenden Königin Sitte gewesen, dass das älteste Kind den Thron erbte, unabhängig vom Geschlecht. Warum also war Pharazôn König geworden und nicht Míriel? Sie las weiter in den alten Texten und legte sich ihre Gedanken zurecht, bis sich ihre Vorstellungen gefestigt hatten.
Inzwischen hatten sie herausgefunden, dass der Gefangene nur aufgrund eines Zufalls in der Zelle in den Verliesen gewesen war. Normalerweise wurde er an der Spitze des Dunklen Turms gefangen gehalten. Dort war er angekettet worden. Hier würde es schwieriger werden, ungestört miteinander reden zu können, doch Azruphel konnte und wollte nicht warten. Also begab sie sich mit ihrer Antwort zur Spitze des Turms und schloss die Luke, die sich am oberen Ende der höchsten Treppe zur Turmspitze befand.
"Míriel war die rechtmäßige Königin, doch Pharazôn entriss ihr den Thron gegen ihren Willen," sagte sie in die Dunkelheit hinein, denn es war Nacht geworden
Es raschelte als Arûkân aufstand und ins Licht von Azruphels kleiner Lampe trat. "Gut erkannt," lobte er. Sein Bart verdeckte den unteren Teil seines Gesichts, doch sie glaubte den Anflug eines Lächelns auf seinem gezeichneten Gesicht zu erkennen. "Er nahm Míriel unrechtmäßig zur Frau und gab ihr den Namen Zimraphel, eine einfache Übersetzung ihres elbischen Namens. Da er der Anführer der Königspartei war und Míriels Vater den Getreuen angehört hatte hatte sie keinen Rückhalt bei der Mehrheit der Númenorer und der Thronraub wurde als berechtigt aufgefasst. Und so kam das Verhängnis über Númenor."
An diesem Tag sprachen sie noch lange Zeit miteinander und Azruphel erfuhr vieles über die Geschichte der Reiche Gondor und Arnor, die von den Elbenfreunden im Exil gegründet worden waren. Arûkân erklärte ihr die Abkunft ihrer Königshäuser vom Haus der Fürsten von Andúnië, welche ebenfalls königliches Blut hatten. "Die älteste Tocher Tar-Elendils, Silmariën, erbte den Thron nur deshalb nicht, weil das Gesetz damals noch nicht geändert worden war. Von ihr stamme ich ab." Azruphel erschien der Anspruch der Könige Gondors und Arnors damit gerechtfertigt zu sein, denn Pharazôn hatte keinen Erben hinterlassen.
An vielen Tagen ging sie nun für einige Stunden zu Arûkân auf die Turmspitze und erweiterte ihr Wissen über die Númenorer. Gothmog machte sie weis, das Vertrauen des Gefangenen zu gewinnen und ihm noch nicht verratene Geheimnisse zu entlocken. Gothmog bezweifelte ihren Erfolg, ließ sie jedoch gewähren, worüber sie sehr erleichtert war. Arûkân begann sie schließlich im Gebrauch des Sindarin zu unterweisen, nachdem sie ihn des öfteren darum gebeten hatte. Ihr Wörterbuch allein hatte ihr nicht den Fortschritt beim Erlernen der Sprache ermöglicht, den sie sich erhofft hatte. Es überraschte sie nicht, dass er die Elbensprachen problemlos beherrschte. Ihr Klang faszinierte sie und beinahe vergaß sie dabei die drückende Gegenwart des Dunklen Herrschers, der weiter an Stärke gewann.
"Wieso gab Pharazôn Míriel einen neuen Namen?" wollte sie eines Tages wissen.
"Die Elbensprachen waren unter seiner Regentschaft verboten," erklärte der Gefangene. "Die meisten der Getreuen hatten zwei Namen - Elendil und seine beiden Söhne Isildur und Anárion waren als Nimruzîr, Nilûbên und Ûrîthor bekannt."
"Habt Ihr ebenfalls einen elbischen Namen?" fragte sie neugierig, denn er hatte sich ihr mit einem adûnâischen Namen vorgestellt.
"Ich habe viele Namen in meinem Leben gehabt," antwortete er mit einem traurigen Klang in der Stimme. "Aufgewachsen bin ich als Estel, was "Hoffnung" bedeutet. Doch mein wahrer Name ist Aragorn, Arathorns Sohn. Zumindest war er das, bis der Schatten mir alles nahm. Jetzt bin ich nicht mehr als ein Echo meiner selbst." fügte er leise hinzu.
Sie fühlte sich auf seltsame Art und Weise inspiriert und stellte endlich die Frage, die mehr als alles andere in ihrem Herzen brannte. "Dann sagt mir, Echo von Aragorn, wie ist es nur dazu gekommen? Wieso bekämpft sich unser Volk gegenseitig?"
"Kannst du den Grund nicht überall um dich herum spüren?" sagte er beinahe sanft. "Dieser Turm steht für den Tod aller Freiheit. Und der Tod war es, der die Númenorer ins Verderben führte. So besessen wurden sie vom ewigen Leben der Elben, dass sie es am Ende nicht mehr ertragen konnten, sterblich zu sein. Und dein Dunkler Herrscher hat ihr Schicksal besiegelt nachdem er den Verstand Pharazôns behext hatte."
"Also war der Große Gebieter verantworlich für den Untergang Númenors?" stellte sie entsetzt fest.
"Nenne ihn bei seinem Namen, Azruphel. Er ist Sauron, der Feind aller Menschen. Er hat den König zum Angriff auf Valinor angestiftet, der den Untergang nach sich zog. Die Große Rüstung, verstehst du?"
Und sie verstand in der Tat. Sie verstand, dass ihre Erziehung eine große Lüge gewesen und ihr Volk gemeinsame Sache mit seinem schlimmsten Feind machte. Sie richtete sich kerzengerade auf und fasste einen Entschluss,.
"Dieser Krieg muss enden," sagte sie mit fester Stimme. "Die Dúnedain müssen sich wieder vereinen. Sie haben Sauron schon einmal besiegt. Gemeinsam können sie es wieder tun."
Aragorn schaute zur ihr herüber und fixierte sie mit einem scharfen Blick. "Grundsätzlich hast du Recht," sagte er schließlich. "Doch glaube ich nicht, dass es dazu kommen wird. Zu lange schon währt der Bruderkrieg der Erben Númenors. Die meisten erinnern sich nicht einmal mehr an Frieden zwischen uns."
Doch ihr Entschluss stand fest. "Ich werde einen Weg finden. Ich muss!" Sie hielt inne, da sie nicht recht weiter wusste.
"Aerien," sagte Aragorn leise. "So lautet dein Name im elbischen. Du könntest ihn als Erinnerung an deine Entscheidung tragen."
Aerien. Ihr gefiel der Klang. Sie fühlte sich ermutigt und nickte. "Ja. Das ist es. Die Rache für Míriel, deren elbischer Name ihr genommen wurde," sagte sie dankbar und umarmte Aragorn. Lange Zeit saßen sie noch schweigend da bis Aerien schließlich aufstand.
"Ich werde nach Gondor gehen," erklärte sie, "und mein Wissen über Mordor und ... und über Sauron seinen Feinden anbieten. Ich habe gehört, dass die Menschen ihm noch immer Widerstand leisten."
Aragorn sprach ihr keinen Mut zu sondern wünschte ihr nur viel Glück. "Es hat mir gut getan, einen Lichtblick inmitten der tiefsten Finsternis gesehen zu haben," sagte er als sie zur Tür ging. "Geh mit meinen guten Wünschen und mit der Asche meiner Hoffnung, Aerien. Ich werde dir von hier oben zusehen, wenn es mir vergönnt ist."
Sie wusste noch nicht, wie sie das Schattenland verlassen würde oder wie sie die Anführer der Dúnedain im Westen dazu bringen könnte, ihr zu vertrauen. Sie wusste nicht, was vor ihr liegen und welche Gefahren sie erwarten würden. Sie wusste nicht, was ihr nächster Schritt sein würde.
Aber eines wusste sie: Irgendwie würde sie einen Weg finden, den vier Jahrtausende anhaltenden Bruderkrieg der Dúnedain zu beenden.