Valion, Valirë, Erchirion, Lóminîth und Gilvorn aus Nan Faerrim (http://modding-union.com/index.php/topic,35025.msg464228.html#msg464228)
Je weiter die fünf Reiter nach Norden kamen, desto unwegsamer wurde das Gelände. Das Tal von Nan Faerrim war abgelegen, und nur mit einem ausgetretenen Weg mit dem Rest von Anfalas verbunden, der sich jenseits des großen Torbogens rasch nach Süden in Richtung Maerost wendete. Nach Norden hin gab es weder Weg noch Straße. Und im Gegensatz zum Flachland von Anfalas waren die Pinnath Gelin durchzogen von Hügeln und flachen Erhebungen, die mit hohem Gras bedeckt und von vereinzelten Bäumen bewachsen waren. Arandol, Sitz der Herren dieses Außenlehens von Gondor, war mit einer gepflasterten Straße mit dem Rest des Reiches verbunden, doch diese führte in östlicher Richtung entlang des südlichen Randes des Weißen Gebirges. Valions Reisegruppe befand sich im Augenblick noch mehrere Tagesreisen südlich von Arandol - mitten in der Wildnis.
Sie ließen die Pferde im schnellen Trab gehen, damit die Tiere sich nicht zu rasch erschöpften oder in Gefahr gerieten, im schwierigen Gelände zu stürzen. Gilvorn ritt meistens voraus, da er sich in der Gegend am besten auskannte. Die Zwillinge hatten Nan Faerrim in ihrer Kindheit zwar einige Male besucht, doch sie waren während dieser Besuche nur selten jenseits des Tales ausgeritten. Die Jagdgründe der Herren von Nan Faerrim lagen westlich und südlich des Tales, wo lichte Wälder standen und das Gelände anzusteigen begann, denn dort lag der westlichste Arm des Weißen Gebirges; eine von vielen Schluchten und Höhlen durchzogene Bergregion. Gilvorn, der ursprünglich aus Lossarnach stammte, hatte seit seiner Ankunft in Nan Faerrim viele Streifzüge durch die umliegenden Lande unternommen, zumeist im Auftrag seines neuen Herrn. Deshalb fiel es nun ihm zu, den kürzesten Weg nach Arandol zu finden.
Gegen Mittag des zweiten Tages seit ihrem Aufbruch von Nan Faerrim rastete die Gruppe im Schatten eines großen Apfelbaumes, der in einer kleinen Senke zwischen zwei Hügeln stand. Noch trug der Baum eine Krone voller vielfarbiger Blätter, doch einen Teil davon hatte er bereits verloren, denn der Herbst schritt voran und der Winter nahte.
Valion lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm und genoss die Strahlen der Mittagssonne, die seine Nasenspitze wärmten. Er schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die Eile, die sie seit ihrem Aufbruch von Dol Amroth angetrieben hatte, wenigstens für ein paar Minuten zu vergessen. Lóminîth hatte ihren Kopf auf seinen Schoß gebettet und schien sich ähnlich zu fühlen. Sanft strich Valion ihr durch das nachtschwarze Haar und spürte, wie die feinen Härchen an ihrem Nacken sich bei der Berührung aufstellten und leicht erzitterten. Es fühlte sich gut an.
“Nicht aufhören,” wisperte Lóminîth und schloss ebenfalls die Augen.
“Wir können nicht ewig hier sitzen bleiben, so schön das auch wäre,” gab Valion ebenso leise zurück, während seine Finger ihr Werk fortsetzten.
“Ich weiß, ich weiß. Doch manchmal wünschte ich mir dennoch, es gäbe all diese... Verpflichtungen und Aufgaben nicht. Manchmal wünschte ich mir, wir könnten all das einfach hinter uns lassen. Uns ein Schiff nehmen und weit fort von hier fahren.”
“So verlockend das auch klingt...” setzte Valion an, doch Lóminîth legte ihm einen Finger auf den Mund.
“Lass mir die Illusion. Wenigstens noch für ein paar kostbare Minuten.”
Valion schwieg und gab ihr, was sie wollte. Er ließ seinen Blick etwas ziellos umher schweifen. Gilvorn stand ganz in der Nähe und spannte gerade die Sehne seines Langbogens neu auf. Erchirion und Valirë nutzten die Rast für ein Übungsgefecht, und ihre Klingen blitzten in der hellen Sonne auf, während sie sich wieder und wieder umkreisten und nach einer Lücke in der Verteidigung ihres Gegners suchten.
“Sieh nur,” sagte Lóminîth kurz darauf und deutete träge schräg aufwärts. “Dort scheint jemand zu wohnen, mitten in dieser einsamen Wildnis.”
Valion folgte ihrem Blick, der den nahen Hügel hinauf bis zu dessen grüner Spitze ging. Dort standen mehrere Bäume nahe beieinander, die bereits den Großteil ihrer Blätter verloren hatten. Dadurch wurde etwas sichtbar, das sich in der Krone des zentralen Baumes befand: Eine Art Platform mit einem hölzernen, geschwungenen Dach, auf der mehrere Personen Platz finden konnten. Lóminîth kam auf die Beine und ergriff Valions Hand, ihn mit sich ziehend. “Ich möchte es mir ansehen,” sagte sie und ihre Stimme war von Neugierde und Wissensdurst erfüllt. Dies kam selten genug vor, weshalb Valion beschloss, sich ihr nicht in den Weg zu stellen. Auch wenn er wusste, dass die Zeit drängte, kam er zu dem Schluss, dass ein paar Minuten nicht ausschlaggebend sein würden. Er folgte seiner Verlobten den Hügel hinauf.
Oben angekommen stellten sie fest, dass jemand hier offenbar einen kleinen Garten zwischen den Bäumen angelegt hatte. Ein ausgetretener Weg führte zwischen überwachsenen Beeten hindurch bis zum breiten Stamm des zentralen Baumes, von dem eine Strickleiter herab hing. Ehe Valion etwas sagen konnte, war Lóminîth bereits hinauf geklettert, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Er hoffte, dass sie nicht geradewegs in eine Falle getappt waren.
Durch ein kreisrundes Loch in der Plattform, die aus festem, aber dünnem Holz bestand, erreichte Valion den Wohnbereich - denn danach sah es eindeutig aus. Die ebene Fläche bot mehr Platz, als er erwartet hatte. An den breiten Stamm lehnte ein kleines, verziertes Regal und ein besonders dicker Ast, der senkrecht in die Höhe ragte, stützte eine hölzerne Konstruktion, die für Valion wie ein nach hinten offener Schrank aussah. Am Rand der Plattform, der nach Westen ging, standen ein flacher Tisch, dessen Beine fest mit dem Boden der Plattform verwachsen waren, sowie ein kleiner Hocker. Valion konnte sich gut vorstellen, dass der Bewohner dieses Ortes hier gesessen hatte und... ja, was eigentlich getan hatte?
Lóminîth fand die Antwort darauf. In dem kleinen Regal fand sie Tinte, Feder und einige angestaubte Schriftrollen. “Wer auch immer hier lebt... er scheint sich für einen Poeten zu halten,” kommentierte sie. “Hier, hör’ dir das mal an:”
O Tal des Gesangs, gerahmt in Blau,
O Gold’ner Wald, inmitten von Grau,
O Reich ohne König, der im Meer verschwand,
O selbstlose Heimat, o Lórinand!
Sie trug das Gedicht mit ernster Stimme vor, doch als sie geendet hatte, zog ein belustigter Ausdruck über Lóminîths Gesicht. “Wirklich sehr melancholisch,” kommentierte sie.
“Gibt es dort vielleicht noch etwas Nützliches zu finden, oder nur noch mehr von diesem Gekritzel?” wollte Valion wissen.
Lóminîth lachte. “Nun, ich fürchte, hier ist bis auf... Gekritzel nicht mehr viel zu finden.” Sie drehte eines der vergilbten Blätter um und hielt es so hin, dass Valion sehen konnte, was darauf gezeichnet war: Das Antlitz einer Frau, die in die Ferne blickte. Sie kam Valion nicht bekannt vor. Um ihren Hals hing ein Medaillon mit einem Baum darauf. Soweit Valion erkennen konnte, war es nicht der Weiße Baum von Gondor. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
“Ich frage mich, wer hier wohl lebt - oder gelebt hat. Es kommt mir so vor, als wäre derjenige, der diesen Ort erschaffen hat, viele Tage nicht mehr hier gewesen,” überlegte Lóminîth.
Valion dachte einen Augenblick darüber nach, bis ihm eine Geschichte aus seiner Kindheit einfiel. “Meine Mutter erzählte meiner Schwester und mir einst von einem Märchen, das in Anfalas und in den Pinnath Gelin die meisten Kinder kennen. Darin geht es um einen etwas merkwürdigen Einsiedler, der irgendwo inmitten der Wildnis des Hügellandes lebt und hin und wieder eines der Dörfer in der Nähe aufsucht, um den Menschen Weisheit und Glück zu bringen.”
Lóminîth machte ein skeptisches Gesicht. “Und du glaubst, wir haben das Zuhause dieses... Einsiedlers gefunden?”
“Die meisten Geschichten haben einen wahren Kern,” meinte Valion. “Ich verstehe nur nicht, wieso dieser Ort wirkt, als wäre er erst vor einigen Monaten verlassen worden. Meine Mutter hörte das Märchen von ihrer Mutter, und so weiter. Die Geschichte ist mehrere Jahrhunderte alt. Also entweder gibt es mehrere von diesen Einsiedlern, oder der Kerl hat es irgendwie geschafft, dem Tod zu entgehen.”
Lóminîth schien das nicht zu überzeugen. “Ich weiß nicht, Valion. Dieser Ort kommt mir weder magisch noch märchenhaft vor. Hier hat eindeutig jemand gelebt, der real war, und der... nun, eigenwillige Gedichte geschrieben hat. Ich glaube, der geheimnisvolle Einsiedler, der all diese Jahrhunderte überstanden hat, war einer vom Älteren Volk.”
“Es gibt keine Elben in Gondor,” widersprach Valion.
“Vielleicht nur keine, von denen du weißt,” entgegnete Lóminîth. Und dann erinnerte sie ihn an die Elben, die nun die Tore Dol Amroth bewachten, und an Ladion, der in der Schlacht in Morthond die Bogenschützen befehligt hatte.
“Vielleicht hast du Recht,” meinte Valion nachdenklich. “Doch welcher Elb würde sich an diesem Ort niederlassen? Hier gibt es... nichts.”
“Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob meine Theorie stimmt.”
“Wir haben keine Zeit, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Wir haben uns schon zum lange hier aufhalten lassen.”
Lóminîth ergriff seine Hand. “Ja, du hast Recht. Wir müssen weiter. Doch ehe wir gehen...” Sie zog ihn heran, und küsste ihn.
Lóminîth nahm die Gedichte und Zeichnungen mit, die sie in der Baumbehausung des Einsiedlers gefunden hatten. Sie verriet ihre Gründe dafür nicht. Valion ließ sie gewähren - welchen Schaden konnte es schon anrichten, wenn sie einige wertlose Schriftrollen mitnahm?
Die Reisegruppe setzte sich wieder in Bewegung, und der junge Gilvorn übernahm erneut die Führung. Gegen Abend stellten sie fest, dass sie inzwischen die höchsten der Hügel der Pinnath Gelin hinter sich gelassen hatte, und wieder in etwas flacheres Gebiet kamen. Sie standen am Rande der Ebene, die sich zwischen dem Weißen Gebirge im Norden und den grünen Hügeln im Süden erstreckte. Nun würden sie schneller voran kommen. Sie beschlossen einstimmig, bis zum Einbruch der Dunkelheit die Pferde zum Galopp anzutreiben um etwas Zeit gut zu machen. Valion schätzte, dass sie am späten Vormittag des nächsten Tages ihr Ziel, die Stadt Arandol, erreichen würden.