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Eregion / Krone gegen Einsamkeit I
« Letzter Beitrag von Curanthor am Gestern um 21:49 »Faelivrin war umringt von Leibwachen, hinter ihr konnte Mathan den roten Haarschopf von Valena ausmachen. Keine Pfeile flogen von den Mauern, um den Angriff auf Ivyn zu erwidern. Die Erste hatte gebieterisch die unverletzte Hand gehoben. Er wusste auch warum. Es war unklar, was ihre Feinde tun würden, wenn es jetzt zum offenen Kampf käme. Rasch blickte er wieder zu seiner Tochter, die entschlossen auf sie zuschritt. Ihre Leibwachen trugen Schilde, doch er bezweifelte, ob sie gegen Pfeile schützten, die selbst Ivyn nicht abwehren konnte.
Als die beiden Gruppen zusammenkamen musste er an sich halten, Faelivrin nicht an den Schultern zu packen. Er spuckte etwas Blut aus. „Bist du verrückt geworden?“, fuhr er seine Tochter an und sein Blick huschte zu Adrienne, „Was denkst du…“ Er verstummte, als Amante ihm eine Hand auf die Schulter legte und leise sagte, dass er sich anhören sollte, was sie entschieden hatte.
Faelivrin blickte kurz nachdenklich zur Mauer. „Ich weiß was du denkst, aber wenn ich mich dem hier verweigere…“ Sie wandte ihren Kopf besorgt zu Elestora „Bin ich mir sicher, werden sie ihr noch mehr wehtun.“ Seine Tochter blickte ihm wieder ernst in die Augen, „Und ich würde Schwäche zeigen. Eine Schwäche, die ich mir nicht leisten kann. Die Stämme haben gerade erst angefangen zueinander zu finden. Ich kann und will das nicht zunichtemachen indem sie das Vertrauen in mich verlieren. Meine Führung anzweifeln. Mich selbst anzweifeln. Denn dann werden wir uns nie zusammenschließen können.“
Mathan knirschte mit den Zähnen. Er wusste genau was sie meinte. Sein Blick ging zu Ivyn, die den schwarzen Pfeil gerade aus Elestoras Schulter zog. Das Mädchen weinte unablässig, ihre Schultern blieben aber still. Dann zog die Erste das Geschoss aus ihrer Hand, die zuvor festgenagelt war.
„Gut“, erklang die Stimme Lormornions und alle wandten sich ihm zu, „Die ehrenwerte Herrscherin hat zugestimmt.“
Mathans Hand umklammerte sein Schwert und alles in ihm brannte darauf dem Kerl den Kopf abzutrennen. Doch der gespannte Bogen des Schlächters weiter hinten hielt ihn davon ab.
„Langsam verlieren wir unsere Geduld…“, warnte der Axtträger und der Schlächter wippte auf den Zehen hin und her, „Wir haben unseren Streiter ausgewählt. Es scheint, wir waren noch nicht… überzeugend genug.“ Er wandte nur kurz den Kopf zur Seite. „Linuro.“
Dutzende Stimmen riefen durcheinander, doch der Pfeil sirrt los. Hoch in die Luft stieg er. Ivyn schirmte die verwundete Elestora erneut mit ihrem Körper. Faelivrins Leibwache hob die Schilde über ihren Köpfen. Nammanor stolperte nach vorn als Adrienne sich endlich von ihm losriss. Valena sprang vor und umklammerte die junge Frau. „Adrienne!“ rief sie, „bleib hier.“ Ihre Stimme zitterte. „Ich erinnere mich. Du bist von Gondor. Aus dem Kerker. Ich-…“ Ihre Stimme erstarb.
Plötzlich wurde es still. Mathan musste nicht hinsehen, wollte es nicht erblicken. Der Pfeil hatte sein Ziel gefunden. Adrienne erstarrte mitten in der Bewegung. Er sah ihre weit aufgerissenen Augen. Ihr Mund bewegte sich, doch bis auf ein leises Wimmern kam kein Ton hervor. Valena erschrak sichtlich, ihre Hände erschlafften.
„Der nächste Pfeil trifft sein Herz“, verkündete die kühle Stimme Lormornions bedrohlich, „Ash goth shulûkatulûk, agh krithatulûk. Erhebe dich.“
Mathan schmerzten die Worte in den Ohren. Die umstehenden Elben verzogen alle die Gesichter. Durch die zusammengekniffenen Augen sah er Adrienne erneut wanken. Ihre Hand wanderte zitternd zu ihrem Schwert. Neben ihm wandte sich Isanasca ganz langsam zu seiner Schülerin und zog ihre Klinge zur Hälfte aus der Scheide. „Wenn du das tust“, wisperte sie dabei tonlos, „Wirst mich zum Feind haben, so wahr ich hier stehe.“
Mathan tanzten erneut Sternen vor den Augen und er knurrte leise vor Schmerzen. „Isa“, murmelte er nur mahnend.
Adrienne packte den Griff und zog langsam blank. „Nicht... ich“, hauchte sie, „Ich kann… nicht anders.“ Mit gezogenem Schwert wandte sie sich um. Die dunklen Rändern unter den Augen nass vor Tränen. Ihr Gesicht eine Grimasse zwischen Schmerz, Wut und Trauer. Dann wandte sie sich ab. Steif wie eine Marionette stak sie zu dem Platz hinüber, wo er und Isansca erst vor kurzem gegen Alcarúsa gekämpft haben.
Nammanor trat vor und Faelivrin in den Weg. „Herrin, ich muss Euch dringendst davon abraten. Das Mädchen ist mehr als sie zu sein scheint. Das spüre ich ganz deutlich.“
„Das bewirken ihre Worte“. Ivyns Stimme ließ sie überrascht aufblicken. Sie war mit Elestora zu ihnen getreten. Das Elbenmädchen trug einen seidigen Verband, den Arm in einer Schlinge und suchte fluchtartig Schutz zwischen den Gardisten. „Ich warnte Amarin davor, doch…“ Sie verstummte und schüttelte den Kopf, „Der Pfad ist betreten. Nun müssen wir damit leben.“
Faelivrin ließ sich ihren Pfeil und Bogen geben. Sie trug ihre Rüstung aus schwarzem Leder und Metallverstärkung. Einer ihrer Gardisten reichte ihr einen Speer. Es war Halarîns alte Waffe. „Meine Herrschaft soll nicht mit dem Blut von Unschuldigen befleckt sein. Genauso wenig werde ich Adriennes Entschlossenheit mit Füßen treten oder noch jemanden in Gefahr bringen. Ich bin es ihr schuldig und…“ Sie wechselte einen langen, bedeutungsschwangeren Blick mit Isanasca, „Vielleicht gibt es noch einen Funken Hoffnung in der Sache, mit dem niemand rechnet. Zur richtigen Zeit.“
Die Kronprinzessin zögerte kurz, dann rammte sie ihr Schwert wieder zurück in die Scheide und wandte sich abrupt ab. Mathan mied den Blick zu Acharnor als er ihrem wehenden Umhang nachblickte. Valena zupfte ihm am Arm und er neigte sich zur ihr. Leise flüsterte sie ihm zu, dass sie Adrienne schon einmal getroffen hatte. Es war in Gondor, in der Hauptstadt zur Zeit der ersten Besetzung.
Mathan gab ihr ein Zeichen zu warten und zog Faelivrin noch einmal an der Schulter und in eine kurze, aber enge Umarmung. „Du weißt, was du da tust?“, fragte er so leise in ihr Ohr, dass nur sie ihn verstehen konnte.
„Finuor wartet auf mich, wenn der Plan nicht aufgeht“, wisperte sie zurück.
Also hatte sie einen Ausweg gefunden. Mathan atmete angestrengt aus, dann lösten sie sich voneinander. „Tötet euch nicht gegenseitig“, murmelte er, „Sie hat sehr viel gelernt. Und du… bist, naja.“
„Verbesserungswürdig im Nahkampf, ich weiß“, grinste Faelivrin flüchtig und schüttelte sacht den Kopf, „Galgenhumor steht mir nicht.“ Sie räusperte sich, „Istime hat einen Brief, wenn…“
„Ich verstehe.“ Er zwang sich zu einem gequälten Lächeln, „Gib auf dich acht.“ Dann gab er äußerst widerwillig den Weg frei.
Valena kaute auf ihrer Lippe. Stand es ihr zu sich einzumischen? Sie hatte erst gar nicht darüber nachdenken wollen, die Zeit im Kerker war zu schwierig. Zu schmerzhaft. Die beiden Geschwister, die sie dort kennengelernt hatte… es war erst ein paar Jahre her. Sie hatte sie anfangs nicht erkannt… aber jetzt? Den Gesichtsausdruck hatte sie schon einmal gesehen. Immer dann, als die Schergen in Schwarz Adrienne geholt haben – bevor sie so genannt wurde. Jetzt wusste sie auch wer diese Leute waren. Zumindest erklärte das die Vorliebe für… wie nannten sie es immer? Experimente für den Dunklen Herrn. Sie selbst wurde damals von ihnen meist ignoriert. Valena hatte sich immer schäbig gefühlt, Erleichterung zu verspüren, wenn jemand anderes als sie ausgewählt worden wurden. Und Adrienne wurde oft geholt. Immer wenn sie wiederkam, erkannte sie niemanden, bis auf ihren Bruder. Ihr Blick ging zu dem Jungen auf dem Stein. Der Bruder, dem gerade ein Pfeil in der Brust steckte.
Sie biss die Zähne zusammen. Die Elbenkönigin schritt würdevoll zu dem Kampfplatz, einen gespannten Bogen in der Hand. Valena schielte zu ihrem Schwertmeister. Mathan hatte die Lippen zu dünnen Strichen zusammengepresst. In seinen grasgrünen Augen lag eine Mischung aus kaum beherrschtem Zorn und Sorge. Sie beschloss niemals seine Missgunst zu erregen.
Er bemerkte ihren Blick und sagte, dass sie nachher sprechen könnten. Seine Stimme war ungewöhnlich erstickt, angespannt. Sie konnte ihn verstehen, wünschte sich aber mehr tun zu können. Valena nickte knapp und blickte über die Schulter. Die Stille machte ihr zu schaffen. Es waren so viele Leute anwesend, doch niemand sprach ein Wort. Die gesamten Verteidigungsanlagen waren besetzt mit hunderten von Elben. Auf der Torburg tummelte sich das Königshaus, Verbündete und Freunde ihres Schwertmeisters, doch bis auf das gelegentliche Knirschen von Steinchen unter ihren Stiefeln war es still. Kurz meinte sie in der Ferne ein merkwürdiges Geräusch gehört zu haben. So, als ob ein großer Elch röhrt, nur deutlich tiefer, bedrohlicher. Valena schüttelte den Kopf und fixierte sich wieder auf das was vor ihr lag.
Der Sprecher der Schwarzen Schufte musste nichts großartig ankündigen. Valena spürte, dass hier sich Bekannte, vielleicht sogar Freunde im Kampf mit blanken Waffen gegenüberstanden. Die Elbenkönigin trug eine starre Maske der Gleichmut. Adrienne hingegen war offen wie ein Buch. Ihr Gesicht war verzerrt vor Widerwillen und erzwungener Entschlossenheit. Sie klammerte sich an jeden kleinen Strohhalm ihren Bruder zu retten. Ihr einzig lebender Verwandter, wie Valena mittlerweile herausbekommen hatte. Sie fühlte sich Adrienne auf eine traurige Art verbunden. Ihr war auch niemand mehr geblieben. Sie biss die Zähne zusammen und fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Ein Knoten bildete sich in ihrem Hals.
Mathan massierte den Griff des Schwerts und schob es widerwillig in die Scheide. Die Hand krampfhaft um den kühlen Stahl umklammert. Er hasste den Anblick, der sich ihm bot. Seine Tochter spannte ihren Bogen und lockerte die Pfeile in ihren Köchern. Seine Schülerin wirbelte ihr Schwert prüfend umher und kontrollierte ein letztes Mal die Riemen ihrer Rüstung. Adrienne hatte den Mund verkniffen und ging in Angriffshaltung. Seine Tochter legte einen Pfeil an die Sehne.
Lormornion holte scheinbar Luft und trat vor, doch Faelivrins Geschoss eröffnete den Kampf. Adrienne hatte kurz die Augen geschlossen. Sie flogen offen und ihre Klinge beschrieb einen silbrigen Halbkreis. Seine Schülerin zuckte einmal kurz den Kopf zur Seite, als ob eine Fliege oder ein Insekt sie am Ohr belästige würde.
Faelivrin hatte bereits den nächsten Pfeil auf der Sehne. Ihre Form war perfekt. Mathan meinte in ihren Augen eine Spur Mitleid schimmern zu sehen. Der Ausdruck wich höchster Konzentration, dann legte sie einen zweiten Pfeil dazu.
Adrienne trug keinen Helm, ihre halb geflochtenen Haare hingen ihr teilweise wirr im Gesicht. Die frische Wunde in ihrem Gesicht ergab ein eigenwilliges Muster, immer wenn sie die den Mund verzog, wie sie es so oft tat. Ihr Schwert und Füße waren in der defensiven Drei-Viertel Haltung, die er ihr gelehrt hatte. Perfekt um den Pfeiltanz zu tanzen. Eine Technik gegen mehrere Schützen. Man erfasste jede mögliche Flugbahn und tanzte um diese herum, das Schwert schlug dabei einen schützenden Schild an den Stellen, die man nicht ausweichen konnte. Halarîn hatte stets mehr als fünf Pfeile aus Adriennes gepolsterter Gambeson ziehen müssen – zumindest am Anfang.
Dann begann es. Faelivrin eröffnete mit zwei Pfeilen auf einmal. Brust und Bauch. Seine Schülerin wich zur Seite aus und schlug den dritten Pfeil aus der Flugbahn. Ihre Füße glitten beinahe über den Boden. Der Vierte streifte ihre Wange und hinterließ eine feine, rote Furche. Adrienne druckte sich unter Doppelfeil fünf und sechs. Ihr Schwert pariert den siebten auf ihrem Bein zuzufliegend.
„Der Kampf sieht recht ausgeglichen aus“, murmelte Nammanor angespannt neben ihm.
„Beide halten sich zurück“, raunte er mit flacher Stimme zurück und spuckte wieder etwas Blut aus, „Faelivrin ist eigentlich noch schneller. Und Adrienne hat bisher noch nicht die Distanz überwunden.“
Der Ritterkommandant fluchte leise, „Das ist doch alles…“
Er verstummte als Adrienne sich aus einem kleinen Hagel aus Pfeilen gegenübersah. Faelivrin hatte zu dem Köcher an der Hüfte gewechselt und schoss nun Pfeil um Pfeil in einer einzigen, fließenden Bewegung. Mathan stellte fest, dass seine Tochter noch besser geworden war. Doch auch Adrienne drehte und tanzte erstaunlich anmutig auf dem Kampfplatz, ihr Schwert sang mit jedem Pfeil, den sie parierte. Doch hin und wieder wurde es extrem knapp oder ein Pfeil schrammte über die stählerne Rüstung. Seine Schülerin arbeitete sich Schritt für Schritt vor, machte aber dann wieder einen Satz zurück. Er wusste, dass Faelivrin auf sie wartete. Es war ihre Art Respekt entgegenzubringen. Und Adrienne legte eine ungewohnte Beherrschung an den Tag. Früher hätte sie so schnell es geht den Abstand verringert, doch scheinbar erinnerte sie sich an seine Warnung, dass Bogenschützen auch auf kurzer Distanz gefährlich sein konnten – besonders die agil gebauten. Und er wusste, dass seine Tochter sehr agil war, selbst für Elben. Adrienne hatte trotz ihrer schlechten geistigen Verfassung große Fortschritte gemacht. Kurz runzelte er die Stirn. War da ein Knurren in der Ferne gewesen?
Mathan verfolgte angespannt und voller Sorge drei weiterer solcher Abläufe, bis Adrienne erneut mit dem Kopf zur Seite ruckte, als ob etwas an ihrem Ohr sie irritierte. Plötzlich brach sie aus ihrem Muster aus. Sie rollte sich nach vorn, genau als Faelivrin nach ihrem Köcher griff. Den nächsten Pfeil parierte sie sogar mit der Parierstange – etwas, dass selbst er nicht versuchen würde. Dann standen die beiden Frauen sich das erste Mal gegenüber. Adrienne hob ihr Schwert. Faelivrin hatte kaum noch Pfeile in ihrem Köcher, doch lenkte sie den Schlag mit der metallenen Seite ihres Kurzbogens ab und machte einen großen Satz nach hinten. Dabei schoss sie einen weiteren Pfeil ab. Seine Schülerin setzte mit gesenktem Kopf nach. Das Geschoss löste den hinteren Teil ihres Zopfs, doch sie wurde nicht langsamer. Faelivrin ergriff den Speer. Adrienne drehte ihren Körper leicht ein und die spitze Klinge sauste haarscharf an ihrem Brustharnisch vorbei. Ihr Schwert beschrieb einen silbernen Bogen und seine Tochter wirbelte den Speer herum und blockte mit der stumpfen Seite. Mit einer fließenden Bewegung sauste die Spitze wieder hinab, diesmal auf die ungedeckte Schulter. Den Konter sah Adrienne bereits kommen und machte einen halben Schritt zurück. Ihr Blick wurde düsterer. Ein brutaler Hagel auf Schlagen prasselte auf Faelivrin nieder. Mathan merkte, dass ihre Angriffe immer stärker wurden. Seine Tochter geriet in die Defensive. Er presste die Kiefer zusammen.
„Wundervoll“, rief Lormornion und applaudierte über die angespannte Stille, „Dûmp-shakhbûrz bûrz-goth, rûkh-ghâsh krimpatul. Dein Schlaf ist vorüber, Rúntulëa“
Mathan bemerkte sofort, wie Adrienne aus dem Rhythmus geriet. Ihr nächster Schlag ging fehl. Faelivrins Konter hingegen traf. Ihr Speer bohrte sich in das Kettenhemd knapp neben der Achsel, zwischen Brustharnisch und Schulterpanzer. Er konnte noch sehen, wie seine Tochter versuchte den Schwung aus den Stich zu nehmen, doch war es zu spät. Valena neben ihm sog scharf die Luft ein. Auch er selbst musste sich zwingen zuzusehen. Adrienne wurde herumgerissen und ging zu Boden.
„Bogenschützen!“, Ivyns erzürnte Stimme hallte laut wieder, „Bringt ihn zu schweigen, wenn er noch einmal diese widerwärtige Sprache ausspricht.“
„Ich glaube-…“
Ein urzeitliches Brüllen, dass bis in Mark und Bein ging durchfuhr sie alle. Die Schwarzen Schlächter blickten scheinbar verwirrt auf und sprangen auf die Füße. Überall wurden Waffen gezogen. Valena fluchte und griff nach ihrem Speer.
Adrienne rappelte sich auf und schien nichts bemerkt zu haben. Sie setzte zu einem Stich an. Faelivrin hatte gerade den Kopf gewendet und sah die Gefahr aus dem Augenwinkel kommen. Ihr Speer zuckte hoch. Dann durchfuhr sie ein kleines Zucken. Ein winziger Augenblick herrschte Stille. Adriennes Schwert trat blutverschmiert aus Faelivrins Rücken aus. Die beiden Frauen blickten sich perplex an. Mathan sah den Pfeil aus dem Bein seiner Tochter ragen und etwas in seinem Kopf platzte. Bevor er losbrüllen oder sprinten konnte, trampelte ein gewaltiger Löwe durch sein Blickfeld. Das Tier verfehlte ihn nur knapp. Isansca auf dem Rücken, wutentbrannt eine Lanze schleudernd auf die flüchtenden Schwarzen Schlächter. Sein eigener Schrei ging in dem gewaltigen Brüllen des Löwen unter, der die Feinde vor sich hertrieb, zusammen mit vier nicht minder großen Artgenossen.
Zusammen mit Ivyn und Amante stürzte Mathan an Faelivrins Seite, die auf die Knie gesunken war. Adrienne fiel klirrend das blutverschmierte Schwert aus den zitternden Händen. Ihr Blick war leer. Tränen liefen ihr unablässig über das Gesicht. Mathan hatte aber nur Augen für seine Tochter. Ein dünner Faden Blut lief ihr aus dem Mundwinkel. Sie schaute zu ihnen, dann lächelte sie.
„Sieht… gar nicht so schlimm aus“, keuchte sie, als sie in Ivyns Arme sank, „Es war… der Pfeil. Nicht … die Kleine. Sagt Isa…“ Ihre Augenlieder flatterten, „Sagt Isa das… sagt…“
Die Erste kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, „Genug jetzt. Spare deine Kräfte.“ Sie wandte sich an Nammanor, „Bringt mir eine Trage, rasch.“ Dann nickte sie zu ihm, „Halarîn darf hiervon nichts erfahren, hörst du? Kein Wort“ Sie richtete sich auf und winkte sie die Elben heran, die gerade aus dem Tor strömten, darunter die erwartete Trage, die Nammanor bereits in Empfang nahm. Eilig begann sie die Blutung zu stoppen und die schwer verletzte Königin auf die Trage zu hieven.
Etwas knurrte in großer Entfernung und Mathan blickte auf. Ein kleinere Löwe war auf dem Weg nach Norden erschienen setzte sich, als ob er Wache hielt. Jemand packte ihn an der Schulter. Er blickte in das blasse Gesicht von Aéd, der ihn mit Sorge und Mitleid musterte.
„Ich habe eine Ahnung wie Ihr Euch fühlt“, begann er etwas unbeholfen, „Und auch ich verspürte diesen Zorn als mein Vater fiel.“ Er nickte in sein Gesicht, „Und sie ist eine starke Frau – das hat sie von Euch. Und ihr habt gute Heiler.“ Er starrte ihn einen langen Moment an, „Ihr solltet ebenfalls zu einem Heiler."
Mathan atmete gepresst aus. „Mir geht es gut. Später…“ Er stockte als ihm wieder der blutüberströmten Anblick seiner Tochter, in den Sinn kam, „Ich kann nicht dabei sein, wenn sie sie behandeln. Und es gibt jetzt wichtigeres als mich.“
Sein Blick fiel auf Adrienne. Sie kauerte auf den Knien neben dem Stein und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Ein zweiter Pfeil steckte in den leblosen Körper vor ihr. Sein Hals schnürte sich noch weiter zu.
Aéd atmete tief aus. „Verflucht.“,
Valena ließ ihren Speer fallen und rannte zu Adrienne, „Ariennor!“
Als die beiden Gruppen zusammenkamen musste er an sich halten, Faelivrin nicht an den Schultern zu packen. Er spuckte etwas Blut aus. „Bist du verrückt geworden?“, fuhr er seine Tochter an und sein Blick huschte zu Adrienne, „Was denkst du…“ Er verstummte, als Amante ihm eine Hand auf die Schulter legte und leise sagte, dass er sich anhören sollte, was sie entschieden hatte.
Faelivrin blickte kurz nachdenklich zur Mauer. „Ich weiß was du denkst, aber wenn ich mich dem hier verweigere…“ Sie wandte ihren Kopf besorgt zu Elestora „Bin ich mir sicher, werden sie ihr noch mehr wehtun.“ Seine Tochter blickte ihm wieder ernst in die Augen, „Und ich würde Schwäche zeigen. Eine Schwäche, die ich mir nicht leisten kann. Die Stämme haben gerade erst angefangen zueinander zu finden. Ich kann und will das nicht zunichtemachen indem sie das Vertrauen in mich verlieren. Meine Führung anzweifeln. Mich selbst anzweifeln. Denn dann werden wir uns nie zusammenschließen können.“
Mathan knirschte mit den Zähnen. Er wusste genau was sie meinte. Sein Blick ging zu Ivyn, die den schwarzen Pfeil gerade aus Elestoras Schulter zog. Das Mädchen weinte unablässig, ihre Schultern blieben aber still. Dann zog die Erste das Geschoss aus ihrer Hand, die zuvor festgenagelt war.
„Gut“, erklang die Stimme Lormornions und alle wandten sich ihm zu, „Die ehrenwerte Herrscherin hat zugestimmt.“
Mathans Hand umklammerte sein Schwert und alles in ihm brannte darauf dem Kerl den Kopf abzutrennen. Doch der gespannte Bogen des Schlächters weiter hinten hielt ihn davon ab.
„Langsam verlieren wir unsere Geduld…“, warnte der Axtträger und der Schlächter wippte auf den Zehen hin und her, „Wir haben unseren Streiter ausgewählt. Es scheint, wir waren noch nicht… überzeugend genug.“ Er wandte nur kurz den Kopf zur Seite. „Linuro.“
Dutzende Stimmen riefen durcheinander, doch der Pfeil sirrt los. Hoch in die Luft stieg er. Ivyn schirmte die verwundete Elestora erneut mit ihrem Körper. Faelivrins Leibwache hob die Schilde über ihren Köpfen. Nammanor stolperte nach vorn als Adrienne sich endlich von ihm losriss. Valena sprang vor und umklammerte die junge Frau. „Adrienne!“ rief sie, „bleib hier.“ Ihre Stimme zitterte. „Ich erinnere mich. Du bist von Gondor. Aus dem Kerker. Ich-…“ Ihre Stimme erstarb.
Plötzlich wurde es still. Mathan musste nicht hinsehen, wollte es nicht erblicken. Der Pfeil hatte sein Ziel gefunden. Adrienne erstarrte mitten in der Bewegung. Er sah ihre weit aufgerissenen Augen. Ihr Mund bewegte sich, doch bis auf ein leises Wimmern kam kein Ton hervor. Valena erschrak sichtlich, ihre Hände erschlafften.
„Der nächste Pfeil trifft sein Herz“, verkündete die kühle Stimme Lormornions bedrohlich, „Ash goth shulûkatulûk, agh krithatulûk. Erhebe dich.“
Mathan schmerzten die Worte in den Ohren. Die umstehenden Elben verzogen alle die Gesichter. Durch die zusammengekniffenen Augen sah er Adrienne erneut wanken. Ihre Hand wanderte zitternd zu ihrem Schwert. Neben ihm wandte sich Isanasca ganz langsam zu seiner Schülerin und zog ihre Klinge zur Hälfte aus der Scheide. „Wenn du das tust“, wisperte sie dabei tonlos, „Wirst mich zum Feind haben, so wahr ich hier stehe.“
Mathan tanzten erneut Sternen vor den Augen und er knurrte leise vor Schmerzen. „Isa“, murmelte er nur mahnend.
Adrienne packte den Griff und zog langsam blank. „Nicht... ich“, hauchte sie, „Ich kann… nicht anders.“ Mit gezogenem Schwert wandte sie sich um. Die dunklen Rändern unter den Augen nass vor Tränen. Ihr Gesicht eine Grimasse zwischen Schmerz, Wut und Trauer. Dann wandte sie sich ab. Steif wie eine Marionette stak sie zu dem Platz hinüber, wo er und Isansca erst vor kurzem gegen Alcarúsa gekämpft haben.
Nammanor trat vor und Faelivrin in den Weg. „Herrin, ich muss Euch dringendst davon abraten. Das Mädchen ist mehr als sie zu sein scheint. Das spüre ich ganz deutlich.“
„Das bewirken ihre Worte“. Ivyns Stimme ließ sie überrascht aufblicken. Sie war mit Elestora zu ihnen getreten. Das Elbenmädchen trug einen seidigen Verband, den Arm in einer Schlinge und suchte fluchtartig Schutz zwischen den Gardisten. „Ich warnte Amarin davor, doch…“ Sie verstummte und schüttelte den Kopf, „Der Pfad ist betreten. Nun müssen wir damit leben.“
Faelivrin ließ sich ihren Pfeil und Bogen geben. Sie trug ihre Rüstung aus schwarzem Leder und Metallverstärkung. Einer ihrer Gardisten reichte ihr einen Speer. Es war Halarîns alte Waffe. „Meine Herrschaft soll nicht mit dem Blut von Unschuldigen befleckt sein. Genauso wenig werde ich Adriennes Entschlossenheit mit Füßen treten oder noch jemanden in Gefahr bringen. Ich bin es ihr schuldig und…“ Sie wechselte einen langen, bedeutungsschwangeren Blick mit Isanasca, „Vielleicht gibt es noch einen Funken Hoffnung in der Sache, mit dem niemand rechnet. Zur richtigen Zeit.“
Die Kronprinzessin zögerte kurz, dann rammte sie ihr Schwert wieder zurück in die Scheide und wandte sich abrupt ab. Mathan mied den Blick zu Acharnor als er ihrem wehenden Umhang nachblickte. Valena zupfte ihm am Arm und er neigte sich zur ihr. Leise flüsterte sie ihm zu, dass sie Adrienne schon einmal getroffen hatte. Es war in Gondor, in der Hauptstadt zur Zeit der ersten Besetzung.
Mathan gab ihr ein Zeichen zu warten und zog Faelivrin noch einmal an der Schulter und in eine kurze, aber enge Umarmung. „Du weißt, was du da tust?“, fragte er so leise in ihr Ohr, dass nur sie ihn verstehen konnte.
„Finuor wartet auf mich, wenn der Plan nicht aufgeht“, wisperte sie zurück.
Also hatte sie einen Ausweg gefunden. Mathan atmete angestrengt aus, dann lösten sie sich voneinander. „Tötet euch nicht gegenseitig“, murmelte er, „Sie hat sehr viel gelernt. Und du… bist, naja.“
„Verbesserungswürdig im Nahkampf, ich weiß“, grinste Faelivrin flüchtig und schüttelte sacht den Kopf, „Galgenhumor steht mir nicht.“ Sie räusperte sich, „Istime hat einen Brief, wenn…“
„Ich verstehe.“ Er zwang sich zu einem gequälten Lächeln, „Gib auf dich acht.“ Dann gab er äußerst widerwillig den Weg frei.
Valena kaute auf ihrer Lippe. Stand es ihr zu sich einzumischen? Sie hatte erst gar nicht darüber nachdenken wollen, die Zeit im Kerker war zu schwierig. Zu schmerzhaft. Die beiden Geschwister, die sie dort kennengelernt hatte… es war erst ein paar Jahre her. Sie hatte sie anfangs nicht erkannt… aber jetzt? Den Gesichtsausdruck hatte sie schon einmal gesehen. Immer dann, als die Schergen in Schwarz Adrienne geholt haben – bevor sie so genannt wurde. Jetzt wusste sie auch wer diese Leute waren. Zumindest erklärte das die Vorliebe für… wie nannten sie es immer? Experimente für den Dunklen Herrn. Sie selbst wurde damals von ihnen meist ignoriert. Valena hatte sich immer schäbig gefühlt, Erleichterung zu verspüren, wenn jemand anderes als sie ausgewählt worden wurden. Und Adrienne wurde oft geholt. Immer wenn sie wiederkam, erkannte sie niemanden, bis auf ihren Bruder. Ihr Blick ging zu dem Jungen auf dem Stein. Der Bruder, dem gerade ein Pfeil in der Brust steckte.
Sie biss die Zähne zusammen. Die Elbenkönigin schritt würdevoll zu dem Kampfplatz, einen gespannten Bogen in der Hand. Valena schielte zu ihrem Schwertmeister. Mathan hatte die Lippen zu dünnen Strichen zusammengepresst. In seinen grasgrünen Augen lag eine Mischung aus kaum beherrschtem Zorn und Sorge. Sie beschloss niemals seine Missgunst zu erregen.
Er bemerkte ihren Blick und sagte, dass sie nachher sprechen könnten. Seine Stimme war ungewöhnlich erstickt, angespannt. Sie konnte ihn verstehen, wünschte sich aber mehr tun zu können. Valena nickte knapp und blickte über die Schulter. Die Stille machte ihr zu schaffen. Es waren so viele Leute anwesend, doch niemand sprach ein Wort. Die gesamten Verteidigungsanlagen waren besetzt mit hunderten von Elben. Auf der Torburg tummelte sich das Königshaus, Verbündete und Freunde ihres Schwertmeisters, doch bis auf das gelegentliche Knirschen von Steinchen unter ihren Stiefeln war es still. Kurz meinte sie in der Ferne ein merkwürdiges Geräusch gehört zu haben. So, als ob ein großer Elch röhrt, nur deutlich tiefer, bedrohlicher. Valena schüttelte den Kopf und fixierte sich wieder auf das was vor ihr lag.
Der Sprecher der Schwarzen Schufte musste nichts großartig ankündigen. Valena spürte, dass hier sich Bekannte, vielleicht sogar Freunde im Kampf mit blanken Waffen gegenüberstanden. Die Elbenkönigin trug eine starre Maske der Gleichmut. Adrienne hingegen war offen wie ein Buch. Ihr Gesicht war verzerrt vor Widerwillen und erzwungener Entschlossenheit. Sie klammerte sich an jeden kleinen Strohhalm ihren Bruder zu retten. Ihr einzig lebender Verwandter, wie Valena mittlerweile herausbekommen hatte. Sie fühlte sich Adrienne auf eine traurige Art verbunden. Ihr war auch niemand mehr geblieben. Sie biss die Zähne zusammen und fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Ein Knoten bildete sich in ihrem Hals.
Mathan massierte den Griff des Schwerts und schob es widerwillig in die Scheide. Die Hand krampfhaft um den kühlen Stahl umklammert. Er hasste den Anblick, der sich ihm bot. Seine Tochter spannte ihren Bogen und lockerte die Pfeile in ihren Köchern. Seine Schülerin wirbelte ihr Schwert prüfend umher und kontrollierte ein letztes Mal die Riemen ihrer Rüstung. Adrienne hatte den Mund verkniffen und ging in Angriffshaltung. Seine Tochter legte einen Pfeil an die Sehne.
Lormornion holte scheinbar Luft und trat vor, doch Faelivrins Geschoss eröffnete den Kampf. Adrienne hatte kurz die Augen geschlossen. Sie flogen offen und ihre Klinge beschrieb einen silbrigen Halbkreis. Seine Schülerin zuckte einmal kurz den Kopf zur Seite, als ob eine Fliege oder ein Insekt sie am Ohr belästige würde.
Faelivrin hatte bereits den nächsten Pfeil auf der Sehne. Ihre Form war perfekt. Mathan meinte in ihren Augen eine Spur Mitleid schimmern zu sehen. Der Ausdruck wich höchster Konzentration, dann legte sie einen zweiten Pfeil dazu.
Adrienne trug keinen Helm, ihre halb geflochtenen Haare hingen ihr teilweise wirr im Gesicht. Die frische Wunde in ihrem Gesicht ergab ein eigenwilliges Muster, immer wenn sie die den Mund verzog, wie sie es so oft tat. Ihr Schwert und Füße waren in der defensiven Drei-Viertel Haltung, die er ihr gelehrt hatte. Perfekt um den Pfeiltanz zu tanzen. Eine Technik gegen mehrere Schützen. Man erfasste jede mögliche Flugbahn und tanzte um diese herum, das Schwert schlug dabei einen schützenden Schild an den Stellen, die man nicht ausweichen konnte. Halarîn hatte stets mehr als fünf Pfeile aus Adriennes gepolsterter Gambeson ziehen müssen – zumindest am Anfang.
Dann begann es. Faelivrin eröffnete mit zwei Pfeilen auf einmal. Brust und Bauch. Seine Schülerin wich zur Seite aus und schlug den dritten Pfeil aus der Flugbahn. Ihre Füße glitten beinahe über den Boden. Der Vierte streifte ihre Wange und hinterließ eine feine, rote Furche. Adrienne druckte sich unter Doppelfeil fünf und sechs. Ihr Schwert pariert den siebten auf ihrem Bein zuzufliegend.
„Der Kampf sieht recht ausgeglichen aus“, murmelte Nammanor angespannt neben ihm.
„Beide halten sich zurück“, raunte er mit flacher Stimme zurück und spuckte wieder etwas Blut aus, „Faelivrin ist eigentlich noch schneller. Und Adrienne hat bisher noch nicht die Distanz überwunden.“
Der Ritterkommandant fluchte leise, „Das ist doch alles…“
Er verstummte als Adrienne sich aus einem kleinen Hagel aus Pfeilen gegenübersah. Faelivrin hatte zu dem Köcher an der Hüfte gewechselt und schoss nun Pfeil um Pfeil in einer einzigen, fließenden Bewegung. Mathan stellte fest, dass seine Tochter noch besser geworden war. Doch auch Adrienne drehte und tanzte erstaunlich anmutig auf dem Kampfplatz, ihr Schwert sang mit jedem Pfeil, den sie parierte. Doch hin und wieder wurde es extrem knapp oder ein Pfeil schrammte über die stählerne Rüstung. Seine Schülerin arbeitete sich Schritt für Schritt vor, machte aber dann wieder einen Satz zurück. Er wusste, dass Faelivrin auf sie wartete. Es war ihre Art Respekt entgegenzubringen. Und Adrienne legte eine ungewohnte Beherrschung an den Tag. Früher hätte sie so schnell es geht den Abstand verringert, doch scheinbar erinnerte sie sich an seine Warnung, dass Bogenschützen auch auf kurzer Distanz gefährlich sein konnten – besonders die agil gebauten. Und er wusste, dass seine Tochter sehr agil war, selbst für Elben. Adrienne hatte trotz ihrer schlechten geistigen Verfassung große Fortschritte gemacht. Kurz runzelte er die Stirn. War da ein Knurren in der Ferne gewesen?
Mathan verfolgte angespannt und voller Sorge drei weiterer solcher Abläufe, bis Adrienne erneut mit dem Kopf zur Seite ruckte, als ob etwas an ihrem Ohr sie irritierte. Plötzlich brach sie aus ihrem Muster aus. Sie rollte sich nach vorn, genau als Faelivrin nach ihrem Köcher griff. Den nächsten Pfeil parierte sie sogar mit der Parierstange – etwas, dass selbst er nicht versuchen würde. Dann standen die beiden Frauen sich das erste Mal gegenüber. Adrienne hob ihr Schwert. Faelivrin hatte kaum noch Pfeile in ihrem Köcher, doch lenkte sie den Schlag mit der metallenen Seite ihres Kurzbogens ab und machte einen großen Satz nach hinten. Dabei schoss sie einen weiteren Pfeil ab. Seine Schülerin setzte mit gesenktem Kopf nach. Das Geschoss löste den hinteren Teil ihres Zopfs, doch sie wurde nicht langsamer. Faelivrin ergriff den Speer. Adrienne drehte ihren Körper leicht ein und die spitze Klinge sauste haarscharf an ihrem Brustharnisch vorbei. Ihr Schwert beschrieb einen silbernen Bogen und seine Tochter wirbelte den Speer herum und blockte mit der stumpfen Seite. Mit einer fließenden Bewegung sauste die Spitze wieder hinab, diesmal auf die ungedeckte Schulter. Den Konter sah Adrienne bereits kommen und machte einen halben Schritt zurück. Ihr Blick wurde düsterer. Ein brutaler Hagel auf Schlagen prasselte auf Faelivrin nieder. Mathan merkte, dass ihre Angriffe immer stärker wurden. Seine Tochter geriet in die Defensive. Er presste die Kiefer zusammen.
„Wundervoll“, rief Lormornion und applaudierte über die angespannte Stille, „Dûmp-shakhbûrz bûrz-goth, rûkh-ghâsh krimpatul. Dein Schlaf ist vorüber, Rúntulëa“
Mathan bemerkte sofort, wie Adrienne aus dem Rhythmus geriet. Ihr nächster Schlag ging fehl. Faelivrins Konter hingegen traf. Ihr Speer bohrte sich in das Kettenhemd knapp neben der Achsel, zwischen Brustharnisch und Schulterpanzer. Er konnte noch sehen, wie seine Tochter versuchte den Schwung aus den Stich zu nehmen, doch war es zu spät. Valena neben ihm sog scharf die Luft ein. Auch er selbst musste sich zwingen zuzusehen. Adrienne wurde herumgerissen und ging zu Boden.
„Bogenschützen!“, Ivyns erzürnte Stimme hallte laut wieder, „Bringt ihn zu schweigen, wenn er noch einmal diese widerwärtige Sprache ausspricht.“
„Ich glaube-…“
Ein urzeitliches Brüllen, dass bis in Mark und Bein ging durchfuhr sie alle. Die Schwarzen Schlächter blickten scheinbar verwirrt auf und sprangen auf die Füße. Überall wurden Waffen gezogen. Valena fluchte und griff nach ihrem Speer.
Adrienne rappelte sich auf und schien nichts bemerkt zu haben. Sie setzte zu einem Stich an. Faelivrin hatte gerade den Kopf gewendet und sah die Gefahr aus dem Augenwinkel kommen. Ihr Speer zuckte hoch. Dann durchfuhr sie ein kleines Zucken. Ein winziger Augenblick herrschte Stille. Adriennes Schwert trat blutverschmiert aus Faelivrins Rücken aus. Die beiden Frauen blickten sich perplex an. Mathan sah den Pfeil aus dem Bein seiner Tochter ragen und etwas in seinem Kopf platzte. Bevor er losbrüllen oder sprinten konnte, trampelte ein gewaltiger Löwe durch sein Blickfeld. Das Tier verfehlte ihn nur knapp. Isansca auf dem Rücken, wutentbrannt eine Lanze schleudernd auf die flüchtenden Schwarzen Schlächter. Sein eigener Schrei ging in dem gewaltigen Brüllen des Löwen unter, der die Feinde vor sich hertrieb, zusammen mit vier nicht minder großen Artgenossen.
Zusammen mit Ivyn und Amante stürzte Mathan an Faelivrins Seite, die auf die Knie gesunken war. Adrienne fiel klirrend das blutverschmierte Schwert aus den zitternden Händen. Ihr Blick war leer. Tränen liefen ihr unablässig über das Gesicht. Mathan hatte aber nur Augen für seine Tochter. Ein dünner Faden Blut lief ihr aus dem Mundwinkel. Sie schaute zu ihnen, dann lächelte sie.
„Sieht… gar nicht so schlimm aus“, keuchte sie, als sie in Ivyns Arme sank, „Es war… der Pfeil. Nicht … die Kleine. Sagt Isa…“ Ihre Augenlieder flatterten, „Sagt Isa das… sagt…“
Die Erste kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, „Genug jetzt. Spare deine Kräfte.“ Sie wandte sich an Nammanor, „Bringt mir eine Trage, rasch.“ Dann nickte sie zu ihm, „Halarîn darf hiervon nichts erfahren, hörst du? Kein Wort“ Sie richtete sich auf und winkte sie die Elben heran, die gerade aus dem Tor strömten, darunter die erwartete Trage, die Nammanor bereits in Empfang nahm. Eilig begann sie die Blutung zu stoppen und die schwer verletzte Königin auf die Trage zu hieven.
Etwas knurrte in großer Entfernung und Mathan blickte auf. Ein kleinere Löwe war auf dem Weg nach Norden erschienen setzte sich, als ob er Wache hielt. Jemand packte ihn an der Schulter. Er blickte in das blasse Gesicht von Aéd, der ihn mit Sorge und Mitleid musterte.
„Ich habe eine Ahnung wie Ihr Euch fühlt“, begann er etwas unbeholfen, „Und auch ich verspürte diesen Zorn als mein Vater fiel.“ Er nickte in sein Gesicht, „Und sie ist eine starke Frau – das hat sie von Euch. Und ihr habt gute Heiler.“ Er starrte ihn einen langen Moment an, „Ihr solltet ebenfalls zu einem Heiler."
Mathan atmete gepresst aus. „Mir geht es gut. Später…“ Er stockte als ihm wieder der blutüberströmten Anblick seiner Tochter, in den Sinn kam, „Ich kann nicht dabei sein, wenn sie sie behandeln. Und es gibt jetzt wichtigeres als mich.“
Sein Blick fiel auf Adrienne. Sie kauerte auf den Knien neben dem Stein und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Ein zweiter Pfeil steckte in den leblosen Körper vor ihr. Sein Hals schnürte sich noch weiter zu.
Aéd atmete tief aus. „Verflucht.“,
Valena ließ ihren Speer fallen und rannte zu Adrienne, „Ariennor!“