„Willkommen," sagte Herion, der auf seinem Sitz im Inneren der runden Halle Platz genommen hatte, in der er einst auch Córiel, Jarbeorn und Vaicenya bei ihrem ersten Besuch in Gan Lurin empfangen hatte. "Ich bin froh, dass meine treuen Boten wohlbehalten zurückgekehrt sind, und freue mich über euren Erfolg, meine Freunde." Er nickte Melvendë freundlich zu, ehe er Fürstin Nénsilmë ansah. "Und ich bin froh, dich nach so langer Zeit wieder hier in Gan Lurin willkommen zu heißen, werte Nénsilmë."
Diese erwiderte den Blick, doch ihre Miene blieb hart. "Es waren nicht deine Worte, die mich überzeugten, mein Volk zurückzulassen," antwortete sie und warf einen Seitenblick auf Rástor, der neben ihr stand.
"Dann habe ich dein Eintreffen also ihm zu verdanken?" schlussfolgerte Herion, ehe er die rechte Hand auf seine Brust legte, um sich vorzustellen. "Ich bin Herion von den Hwenti, Wortführer von Gan Lurin."
"Mein Name ist Rástor, Vériarian von Nurthaenar," antwortete Rástor mit wohltönender Stimme. "Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Meister Herion. Euer Aufruf an die Stämme Palisors liegt auch mir auf dem Herzen, denn eine gute Freundin hieß mich, einen ganz ähnlichen Weg zu beschreiten. Unser Volk, die Gilthandi, lebten lange Zeit im Verborgenen, doch nun ist der Moment gekommen, in dem wir uns mit unseren einstigen Verwandten vereinen müssen, um die Bedrohung durch den Sternendrachen gemeinsam zu überstehen." Er verneigte sich und breitete die Arme in Richtung seiner beiden Begleiter aus. "Dies sind Alcôr und Caelîf, zwei meiner Begleiter. Da ich selbst bald nach Nurthaenar zurückkehren werde, werden diese beiden die Gilthandi vertreten und mit meiner Stimme sprechen, bis sich die Anführer der Stämme an der heiligen Stätte versammeln werden. Ich bitte Euch daher, Herion: Nehmt Alcôr und Caelîf in die Reihen Eurer Gesandten auf."
Herion wirkte erstaunt, aber auch erfreut. "Gerne gebe ich Eurem Gesuch statt, Vériarian Rástor. Alcôr und Caelîf sollen mit jenen gehen, die ich zu den Kinn-lai zu entsenden gedenke."
Nénsilmë verschänkte die Arme vor der Brust. "Mach dir keine Mühe, Herion. Bei den Kinn-lai werden deine Worte auf taube Ohren stoßen. Ihre Hitzköpfigkeit und Sturheit ist uns nur zu gut bekannt."
Bei diesen Worten geriet die Menge von Zuschauern, die sich im hinteren Teil der Halle gesammelt hatten, in wachsende Unruhe, bis sich eine dunkelblonde Elbin grob nach vorne drängte. Sie trug eine Rüstung, auf deren Brustpanzer ein stilisierter Stern mit einem roten Rubin im Zentrum prangte. Unter dem Arm hielt sie einen Helm, den sie offenbar vor Kurzem noch getragen hatte. "Hochmütige Worte von der Anführerin der treulosen Cuind," fauchte sie. "Ich habe nichts anderes von jenem Stamm erwartet, der es einst als Erster wagte, die Pflicht des Schutzes von Ayáninvë zu vernachlässigen!"
Dieser Ausbruch löste einen Aufruhr aus. Elben schrien wild durcheinander und standen kurz davor, aufeinander loszugehen. "Wer ist dieses respektlose, vorlaute Kind?" hörte Melvendë die Herrin der Cuind rufen, und auch die Antwort konnte sie mit einiger Mühe durch das Chaos hören: "Ich bin Telumenáryeldë, Tochter des großen Telumenáro! Und ich sage dir, stellvertretend für alle Kinn-lai: Wir brauchen weder dich noch deinen Stamm von Verrätern!"
Schließlich gelang es Herion mit großer Mühe, den Saal wieder zur Ruhe zu bringen. Nénsilmë und Telumenáryeldë, bei der es sich tatsächlich noch um eine relativ junge Elbin handelte, starrten einander wütend an, bis Rástor sich geschickt mit seinen Leuten zwischen die Streithähne manövrierte und ihnen so für den Augenblick die Sicht aufeinander nahm.
"Bitte beruhigt euch," bat Herion. "Wir können uns Streit und Uneinigkeit nicht leisten, wo der Schatten des Drachen so drohend über uns hängt. Nur gemeinsam können wir diese Gefahr für ganz Palisor abwenden."
"Das sehe ich ebenso," stellte Telumenáryeldë heftig klar. "Aber ich weiß, dass ihr scheitern werdet, wenn ihr die dort zu unseren Axan schickt."
"Sind damit die Ratsmitglieder der Kinn-lai gemeint, die den Fürsten deines Volkes wählen?" fragte Rástor mit Interesse nach.
"So ist es," sagte Telumenáryeldë. "Sie werden nicht mit Worten zu überzeugen sein, sondern mit Taten. Sie respektieren Stärke."
"Unzivilisierte Barbaren," hörte Melvendë die Fürstin der Cuind murmeln. Doch Nénsilmë ergriff nicht das Wort, sondern schien abzuwarten, was Herion tun würde. Dieser lehnte sich langsam in seinem Stuhl zurück. "Nun, junge Telumenáryeldë, du kennst deine Leute hier am besten. Würdest du dich bereit erklären, meine Gesandten nach Amon Yúla zu begleiten? Eine ortskundige Führerin wäre ihnen gewiss von großer Hilfe."
Die junge Kinn-lai reckte stolz das Haupt. "Das werde ich," versprach sie. "Sie dürfen ruhig mit mir kommen, wenn ich heimkehre. Solange die richtigen Leute dafür ausgewählt werden." Der Seitenhieb gegen Nénsilmë war nur allzu offensichtlich.
"So sei es," antwortete Herion, ohne auf den Spott einzugehen. "Vaicenya, Nénsilmë und ich werden hier in Gan Lurin bleiben, um Vorbereitungen für die Zusammenkunft der Stammesführer im Heiligtum von Ayáninvë zu treffen, während Lathiawen mit einigen anderen zu den Zwergen aufbrechen sollte, um ihnen von den Ereignissen zu berichten. Auch sie sind wichtige Verbündete, die wir in unserem Kampf gegen den Drachen nicht außer Acht lassen sollten. Alcôr, Caelîf und... Melvendë: euch drei würde ich bitten, mit unserer jungen Freundin hier zu ihrem Stamm gehen und die Kinn-lai überzeugen, sich dem Treffen anzuschließen. Ihr hattet bei den Cuind Erfolg und ich vertraue darauf, dass ihr mit Telumenáryeldës Unterstützung auch die Ohren der Kinn-lai erreichen könnt. Vatharon hingegen wird erneut zu den Kindi im fernen Süden reisen. Ich schlage vor, dass wir alle den kommenden Abend und die Nacht nutzen, um morgen ausgeruht aufbrechen zu können. Mögen all jene Fahrten von Erfolg gekrönt sein."
Der Saal des Ältesten von Gan Lurin leerte sich langsam. Jarbeorn sprach noch einige Zeit leise mit Herion, während Melvendë geduldig darauf wartete, dass der Beorninger das Gespräch beendete. Als er schließlich zur ihr herübergeschlendert kam, sah sie ihm im Gesicht an, dass er eine wichtige Entscheidung getroffen hatte.
"Meister Herion hat mich gebeten, mit Lathiawen zu den Zwergen zu gehen," sagte Jarbeorn.
"Und weshalb erzählst du mir das, als bräuchtest du meine Erlaubnis dazu?" neckte sie ihn.
"So ist es nicht gemeint, Stikke," erwiderte Jarbeorn schmunzelnd. "Es ist nur so... wir sind nun so lange gemeinsam unterwegs gewesen, seitdem ich dich aus diesem seltsamen Teich im Goldenen Wald gezerrt habe. Und nun führen unsere Wege in gegenüberliegende Richtungen."
"Ist das etwa Trennungsangst, die ich da heraushöre?" trieb sie ihren Spott auf die Spitze.
Jarbeorn lachte. "Auf gewisse Art und Weise hast du womöglich sogar recht," meinte er. "Vermutlich habe ich mich einfach zu sehr daran gewöhnt, dich an meiner Seite zu haben."
"Es ist ja kein Abschied für immer," meinte Melvendë beschwichtigend. "Wenn du bei den Zwergen gewesen bist, machst du dich auf den Weg nach Ayáninvë. Lathiawen kennt sicherlich den Weg dorthin. Dann treffen wir uns dort, wenn ich bei den Kinn-lai gewesen bin."
"Aber wehe du vermöbelst diesen Drachen ohne mich," warnte der Beorninger.
"Ich werde, so gut ich kann, damit auf dich warten, du riesiger, sentimentaler Bettvorleger," versprach sie grinsend.
Als die Sonne untergegangen war, beschloss Melvendë, einen kleinen Spaziergang durch das Dorf zu machen. Jarbeorn hatte beschlossen, nach Lathiawen zu suchen, während Vaicenya in Herions Halle geblieben war, um mit dem Ältesten über ihre bevorstehenden Planungen zu sprechen. Es waren zu dieser Tageszeit nur noch wenige Hwenti unterwegs. So kam es, dass Melvendë nach einiger Zeit, tief in Gedanken, plötzlich an einer kleinen Wiese am hinteren Rand des Dorfes stand, die von einer flachen Hecke sowie der Dorfpalisade begrenzt wurde. Als Melvendë interessiert näher kam, fielen ihr eine Vielzahl von flachen Steinen auf, in die eindeutig elbische Schriftzeichen eingraviert worden waren. Sie stellte fest, dass es sich dabei um Namen handelte, und verstand: Sie stand auf einer Art Friedhof, wo diejenigen der Hwenti, die zu Mandos' Hallen gegangen waren, ihre Körper zur Ruhe gelegt hatten.
Eine sanfte Brise strich durch Melvendës Haar, das sie ausnahmsweise offen trug. Beinahe war es ihr, als würde sie die sanften Stimmen derer, die fortgegangen waren, im Wind hören. Sie musste an die vielen Freunde denken, die sie einst in ihrem Leben vor der Ankunft der ersten Schatten gehabt hatte, und die sie bis auf Vaicenya und Tarásanë allesamt verloren hatte. Schwermütig hob sie den Blick zu den Sternen hinauf, die inzwischen herausgekommen waren und begann nach einiger Zeit des Schweigens, mit leiser Stimme ein Lied zu singen.
Von den Bergen herab durch die Wildnis der Wälder
fließt das klare Wasser im Waldfluss zum See,
Wo einst unter dem Licht der altehrwürd'gen Sternen
Unser Leben begann, als das Feuer ward jung
Sanfter Regen benetzt mein Haar
Eine Stimme erklingt, so hell und klar
Im Verborgenen einst ward ihr Lied erdacht
Als die Welt noch jung war und wir erst erwacht...
Ihre Stimme verhallte. Melvendës Hände waren ineinander verklammert, als sie sich langsam umdrehte. Dort, am Eingang des Friedhofes, stand jemand.
"Das war ein schönes Lied," sagte Caelîf etwas schüchtern.
Melvendë sollte eigentlich überrascht von seinem plötzlichen Auftauchen sein, doch sie war es nicht - den Grund dafür kannte sie nicht. "Tarásanë hat es einst zum ersten Mal gesungen," erzählte sie.
"Du meinst... die Herrin der Quelle?"
"Ja," antwortete sie. "Sie war... nein, sie ist mir eine teure Freundin."
Caelîf schwieg einen langen Augenblick. Dann schien er sich ein Herz zu fassen und sagte: "Ich bin froh, dass wir gemeinsam zu den Kinn-lai gehen werden. Denkst... denkst du, wir werden Erfolg haben?"
Melvendë musste lächeln. Irgendwie war es dem Jungen gelungen, ihren Schwermut mit seiner unschuldigen Frage zu vertreiben. "Wir werden das schon hinbekommen, Caelîf," sagte sie zuversichtlich. Ganz egal, wie schwer es werden mag."
Caelîf nickte. "Komm," sagte Melvendë. "Gehen wir zurück zu den Anderen. Ich habe noch die eine oder andere Frage an deinen Meister, ehe er nach Nurthaenar zurückkehrt."