Kerry stolperte sehr nachdenklich durch die Straßen von Ost-in-Edhil. Anastorias hatte sich angeboten, sie noch zurück zu Farelyës Haus zu begleiten, doch als sie eine Straßenkreuzung überquert hatten, waren sie mitten in eine Patrouille der Stadtwache geraten und hatten einander aus den Augen verloren. Der hochgewachsene Manarîn hatte ohnehin ein Tempo vorgelegt, bei dem die erschöpfte Kerry nicht mehr Schritt halten konnte. Ihre Gedanken waren erfüllt von der Sorge um Adrienne und von der Angst über das, was sie gerade miterlebt hatte. Dass ein uraltes Wesen Besitz von ihrer Freundin ergriffen haben sollte, war schwer vorstellbar für Kerry, aber laut den Elben bestand an dieser These kein Zweifel. Kerry fürchtete sich. Was wenn sie die Nächste war, die von einer solchen Kreatur verschlungen wurde? Konnte man sich gegen so etwas wehren? Oder war man derlei Dingen hilflos ausgesetzt? Sie wusste es nicht, und das frustrierte sie.
Als sie nach einiger Zeit vor Farelyës Häuschen angekommen war, fielen ihr die seltsamen Dinge ein, die die Cuventai-Elbin zuvor gesagt hatte. Farelyë hatte von einem Wesen gesprochen, das älter war als die Welt selbst. Ob sie damit dieses Ding gemeint hatte, das von Adrienne Besitz ergriffen hatte? Kerry beschloss, Farelyë direkt darauf anzusprechen. Vielleicht würde sie einen Weg finden, um Adrienne zu helfen.
Im Haus angekommen fand sie jedoch anstelle von Farelyë nur Arwen vor, die so aussah, als wäre sie ebenfalls gerade eben erst dort angekommen.
"Ah, Kerry," begrüßte Elronds Tochter sie mit einem Lächeln. "Dich suche ich. Dies bat man mich, dir zu bringen." Sie zog einen versiegelten Brief hervor und reichte ihn an die überraschte Kerry weiter.
"Ein Brief für mich? Von wem stammt er?" fragt sie nach, und setzte sich an den Tisch, der im Raum stand.
Arwen trat neben sie. "In den Verliesen befindet sich ein junger Dúnadan namens Helluin. Er hatte den Brief von einem gewissen Wolfskönig bei sich und gab ihn mir. Eigentlich wollte er, dass ich ihn Halarîn gebe, aber der Name auf dem Umschlag spricht für sich, nicht wahr?"
Kerry ließ den Umschlag wie vom Donner gerührt sinken. "Helluin ... ist hier?" entfuhr es ihr und sie starrte Arwen mit offenem Mund an.
"Es scheint mir, dass du ihm bereits begegnet bist," sagte Arwen und hob die Augenbrauen. "Ich weiß nicht, ob die Wachen dich zu ihm lassen würden. Doch dieser Brief schien ihm wichtig zu sein. Vielleicht solltest du ihn erst einmal lesen. Doch eines noch: Helluin bat darum, dass seine Mutter nicht erfährt, dass er hier in der Stadt ist."
Kerry spürte ihr Hände zittern, Arwens Worte drangen kaum noch zu ihr durch. Ein Brief von Helluin an mich, dachte sie und spürte, wie ihre Wangen sich erwärmten. Und er ist hier, in Ost-in-Edhil! Sie brach das Siegel und zog das Pergament im Inneren mit etwas Mühe hervor, dann entfaltete sie es auf dem Tisch vor sich und begann zu lesen.
Kerry,
Ich befinde mich auf dem Weg zurück ins Herz von Dunland, um mit den Stammesführern über das Bündnisangebot der Manarîn zu beraten. Wenn alles glatt läuft, werde ich in einer knappen Woche selbst nach Ost-in-Edhil kommen, um mit der Königin - deiner Schwester - zu verhandeln. Ich weiß von einer gewissen Isanasca, dass du ebenfalls dort bist. Es ist einige Zeit vergangen, seitdem wir uns im Dorf des Schildstammes getrennt hatten und du mit Oronêl in Richtung Norden aufgebrochen bist. Ich hatte viel Zeit um nachzudenken und ich habe mit deinem Freund Rilmir gesprochen. Es ist nicht fair dir gegenüber, dir meine Entscheidung auf diesem Wege mitzuteilen, weshalb ich dich eindringlich bitten möchte, in Ost-in-Edhil auf meine Ankunft zu warten. Du bist mir zu wichtig um dir nicht Auge in Auge zu sagen, wozu ich mich entschlossen habe.
~ Aéd
Kerry stützte ihr Gesicht mit beiden Händen ab, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt. Das Chaos in ihrem Kopf war nun endgültig vollkommen, so sehr, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Helluin war hier, in Ost-in-Edhil, und auch Aéd war nun hierher unterwegs. Dazu kam das Chaos rings um Adrienne, und die unausgesprochenen Dinge, die zwischen ihr und Kerry noch offen waren. Sie bleib eine lange Zeit regunglos so sitzen, während sie Arwen auf und abgehen hörte. Die Elbin schien ihr glücklicherweise Raum zu geben, um über die Nachricht in Ruhe nachzudenken. Schließlich verschwand Arwen, und Kerry stellte erschrocken fest, dass es Nacht geworden war. Von draußen fiel etwas Mondlicht herein. Wie lange hab' ich hier gesessen? fragte sie sich und schüttelte den Kopf, dann las sie Aéds Brief noch einmal durch.
In diesem Augenblick kehrten Elea und Finjas zurück. Wo sie gewesen waren wusste Kerry nicht, aber beide sahen so aus, als hätte ihnen die Auszeit gut getan. "Hier riecht es gut," stellte Elea mit einem kleinen Lächeln fest, als sie in das Esszimmer trat und Kerry entdeckt hatte.
"Ähm, das ist Eintopf," erklärte Kerry. "Es ist noch ungefähr die Hälfte übrig, bedient euch doch."
Finjas schien sich das nicht zweimal sagen zu lassen, und er marschierte direkt in die Küche hinüber, um für sich und Elea je eine große Schüssel zu füllen. Die Dúnadan hingegen setzte sich Kerry gegenüber an den Tisch und musterte sie nachdenklich. "Was liest du da, Kerry?" fragte sie schließlich.
"Ein Brief von... einem guten Freund," sagte Kerry. "Arwen hat ihn mir gebracht, sie bekam ihn von Hellu...." Hastig schlug sie die Hände vor den Mund und starrte Elea an. Arwen hatte ihr doch noch eingeschärft, dass Helluin seine Anwesenheit hatte geheimhalten wollen, insbesondere vor seiner Mutter. Ob sie...? dachte Kerry, doch ihre Gedanken kamen nicht weit.
"Helluin?" fragte Elea mit leiser Stimme. "Er hat dir diesen Brief gebracht?"
Kerry konnte Elea nicht anlügen. Sie wurde rot, und sagte schuldbewusst: "Ich ... bin gebeten worden, es dir nicht zu verraten, aber... wieder einmal habe ich meinen Mund nicht halten können..." gab sie kleinlaut zu. "Helluin ist hier, in Ost-in-Edhil. Sie halten ihn in den Verliesen gefangen, die Elben. Arwen ist bei ihm gewesen..."
"Dann ist der Brief von ihm? Darf ich ihn sehen?"
"Nein, er ist nicht von Helluin, aber... du darfst ihn trotzdem sehen," sagte Kerry leise und schob Elea das Pergament hinüber.
Die Dúnadan überflog den Text und blickte dann nachdenklich zu Kerry auf. "Das scheint eine recht private Angelegenheit zu sein," sagte sie.
"Oh, ich, ähm... n-naja, eigentlich suche ich schon länger jemanden, mit dem ich darüber reden kann..." gab Kerry zu.
"Wenn du dich mir anvertrauen möchtest, dann bin ich für dich da, meine Liebe," sagte Elea sanft, doch Kerry konnte eine gewisse Unruhe in ihren Augen sehen. "Doch zuerst muss ich Helluin sehen. Du verstehst das bestimmt."
Kerry nickte, doch sie war hin- und hergerissen. Beinahe hätte sie es gewagt, Elea zu bitten, sie mitzunehmen. Doch etwas hielt sie davon ab. Du bist nur eine Außenstehende. Dich zwischen Mutter und Sohn zu drängen... das wäre nicht angebracht.
„Würdest du gerne mitkommen?“ fragte Elea die verdutzte Kerry.
„Ähm, also wenn ich darf, dann sehr gerne!“ beantwortete sie die Frage hastig und versuchte sich ihre Erleichterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
„Ich habe da so meine Zweifel, dass man euch zwei in die Verliese lassen wird,“ merkte Finjas an, der mittlerweile seinen Eintopf leer gegessen hatte. „Diese Elben sind nicht unbedingt von der vertrauensseligen Sorte.“
Elea dachte einen Augenblick nach. „Wir sollten nach der Dame suchen, die uns hierher gebracht hat. Ihr Wort scheint bei den Elben hier einiges an Gewicht zu haben. Sicherlich wird sie uns helfen.“
Kerry wusste gleich, wen die Dúnadan damit meinte. „Das ist eine gute Idee! Fangen wir doch gleich am Tor mit der Suche nach Farelyë an!“
Sie warfen sich ihre Umhänge über und zogen los. Unterwegs sprachen sie nur wenig, denn Kerry war viel zu aufgeregt um einen klaren Gedanken zu fassen. Glücklicherweise brauchten sie nicht allzu lange, bis sie Farelyë gefunden hatten - sie stöberten die Elbin in der nähe der Stallungen am Nordtor auf. Als Farelyë gehört hatte, worum es Elea und Kerry ging, erklärte sie sich sofort zur Hilfe bereit.
„Ich denke, ich kann die Wachen überzeugen, euch in die Verliese zu lassen,“ sagte sie und lief voran. „Solange ich für euch bürge, dürfte es keine Probleme geben.“
Diese Annahme stellte sich als korrekt heraus. Die Wachen sprachen mit Farelyë in einem ziemlich komplexen Dialekt, den Kerry kaum verstand, doch schließlich durften sie die Verliese betreten. Elea ging sofort hinein, doch als Kerry ihr folgen wollte, hielt Farelyë sie mit dem Arm auf.
„Was soll denn das?“ wollte Kerry verwundert wissen.
„Dies ist eine Sache zwischen Helluin und seiner Mutter,“ sagte Farelyë und klang wie so oft so, als wüsste sie über alle möglichen Dinge Bescheid, die sie eigentlich überhaupt nicht wissen konnte. „Warte hier.“
Verdutzt und etwas verloren blieb Kerry stehen und kam sich etwas nutzlos vor. Sie fror, weshalb sie über die Schwelle der Verliese trat, aber weiter hinab zu gehen wagte sie nicht. Als sie die Ohren spitzte, hörte sie leise und undeutlich die Stimme von Elea zu ihr herauf dringen... und dann eine zweite, ihr ebenfalls vertraute Stimme.
Helluin. Er war also wirklich hier...