In der Hoffnung, dass Amrodin ihn am Inhalt von Edrahils Brief teilhaben lassen würde, blieb Valion einen Schritt neben Edrahils Stellvertreter stehen und beobachtete, wie General Hilgorn schnellen Schrittes den Palast verließ. Noch kannte er den Mann nicht lange genug um sich ein Bild von ihm zu machen, doch Valions erster Eindruck war, dass Hilgorn jemand war, der seine Pflichten und Aufgaben sehr ernst nahm - vielleicht sogar eine Spur zu ernst. Wir werden sehen, dachte er. Es hatte ihm nicht gefallen, dass Hilgorn derjenige gewesen war, der Lóminîths Loyailtät Gondor gegenüber in Frage gestellt hatte. Zwar war er sich selbst noch nicht hundertprozentig über die Absichten seiner Verlobten sicher, doch Valion konnte sich dennoch nicht recht vorstellen, dass Minûlîths Schwester ihn oder den Fürsten von Dol Amroth verraten würde, nachdem ihre Heimat von den Dienern Hasaels in Brand gesteckt worden war.
Als er sich gerade abwenden wollte erfüllten sich seine Hoffnungen, denn Amrodin hielt ihn am Arm zurück. "Dies betrifft auch Euch," sagte er und hielt Valion den geöffneten Brief hin, der ihn eilig überflog.
Amrodin,
1. Bitte sende einen der Gelbflaggen-Vögel nach Süden aus, sobald du kannst. Ich habe mit der Erlaubnis des Turmherren eine gelbe Flagge an der Spitze des Turms anbringen lassen - der Vogel wird also seinen Weg zu mir finden. Sicherlich hat Imrahil sogleich einen Kriegsrat einberufen nachdem Lothíriel sicher heimgekehrt ist. Wir müssen unsere Korrespondenz wieder verstärken. Jetzt, da ich mich nicht mehr im Untergrund Umbars verstecken muss, kann ich mich wieder mehr um die Belange in Gondor kümmern und einen regelmäßigeren Kontakt führen. Bitte schreibe mir, was beim Kriegsrat berichtet und entschieden wurde, und ob es der Prinzessin gut geht.
2. Entsende so bald es geht drei fähige Diener nach Linhir. Die Gerüchte aus den besetzten Gebieten, die aus Nah-Harad und Harondor bis an mein Ohr in Umbar gedrungen sind, sind besorgniserregend. Und nun, da sich die Frontlinie aufgrund der Rückeroberung des Ethirs erneut verschoben und verkompliziert hat, ist es umso wichtiger, einige zusätzliche wachsame Augen auf Mordor zu haben. Bitte nimm auch erneuten Kontakt mit den Waldläufern in Ithilien auf, wenn sie noch nicht aufgespürt und vernichtet worden sind. Sie sollen ihre Ressourcen darauf verwenden, herauszufinden, was Saurons Kommandanten planen. Wir müssen wissen, wie sicher die Grenze momentan ist.
3. Falls du einen detaillierten Bericht über meine Aktivitäten in Umbar benötigst, wende dich an Valion. Er hat den Großteil davon miterlebt und besitzt kein allzu schlechtes Gedächtnis. Allerdings hat er einen gewissen Hang zu Übertreibungen, hake also sorgfältig nach, falls dir Unstimmigkeiten auffallen. Trotz meiner anfänglichen Zweifel haben Valion und seine Schwester sich als fähige, zuverlässliche Verbündete erwiesen. Wenn Valion gewillt ist, dir in weiteren Aufgaben behilflich zu sein, nutze seine Fähigkeiten weise. Und bitte händige den Zwillingen den Inhalt von Kästchen V/V E Nr. 22 aus - sie haben es sich verdient.
4. Mit großer Enttäuschung musste ich vernehmen, dass es dir nicht gelungen ist, Lothíriels Entführung zu verhindern. Viel Ärger hätte uns erspart bleiben können wenn du aufmerksamer gewesen wärst. Lass es dir eine wichtige Lektion sein und sei nie mehr so unaufmerksam! Wenn du mehr Leute brauchst um die Überwachung lückenlos zu gewährleisten, sprich mit dem Fürsten, und er wird sie dir gewähren. Da er sicherlich nicht möchte, dass Lothíriel erneut entführt wird, solltst du bei ihm auf offene Ohren stoßen.
5. Rege beim nächsten Kriegsrat an, ein Schiff mit Vorräten nach Tol Thelyn zu schicken. Ich empfehle dafür Veantur, der Kapitän der Súlrohír ist. Er kennt den Weg und sein Schiff ist eines der schnellsten. Die Turmherren sind wichtige Verbündete für mich und bieten uns ungeahnte Möglichkeiten in Harad, denn die Ausbildung, die die Krieger Tol Thelyns erhalten, ist wirklich äußerst beeindruckend. Wir sollten ihnen jede Hilfe zukommen lassen, die uns möglich ist.
6. Finde heraus, ob die Gerüchte über separatistische Bewegungen in Arandol stimmen. Fürst Elatan scheint sich nicht bewusst zu sein, dass es in seiner eigenen Familie Subjekte zu geben scheint, die größere Ambitionen haben, als gut für sie ist. Wir können jetzt wirklich keinen fehlgeleiteten Putschversuch gebrauchen.
7. Wenn es die Lage zulässt, lasse die Verteidigungen in Pelargir ausspähen. Ich glaube, dass sich uns dort eines Tages eine Möglichkeit eröffnen könnte, nun, da wir drei mögliche Angriffspunkte haben: Von Linhir, vom Ethir, und von Ithilien aus. Ich bin mir sicher, dass die Stadt zu retten wäre, wenn Sauron nicht dieses Druckmittel hätte.
Edrahil.
Valion musste schmunzeln. Edrahil hielt sich in dem Brief an seinen Stellvertreter weder mit Gruß noch mit Abschiedsworten auf sondern schickte Amrodin einfach eine Reihe von Anweisungen, als wäre der Mann nichts als Edrahils verlängerter Arm, der von Tol Thelyn bis nach Gondor reichte. Und auf eine Art und Weise stimmte das ja auch.
Amrodin sagte: "Bitte folgt mir, Valion. Es geht um Edrahils Anweisungen, Euch betreffend." Er führte Valion in sein Arbeitszimmer, das wohl ursprünglich von Edrahil verwendet worden war, bevor dieser nach Umbar aufgebrochen war. Amrodin öffnete ein verstecktes Geheimfach in der Wand und zog ein Kästchen hervor, das mit den Namen Valions und seiner Schwester versehen war. Als Valion es öffnete, staunte er nicht schlecht. Darin befanden sich Beweise über nahezu alle Untaten, die er und Valirë im Laufe der Jahre verübt hatten, sowie schrifliche Aussagen von Zeugen und von Frauen, die Valion in seiner wilden Zeit hatte sitzen lassen. Er verstand nicht, warum Edrahil all diese Druckmittel nun einfach so aus der Hand gab.
"Es ist ein großer Vertrauensbeweis," erklärte Amrodin. "Es sieht ganz so aus, als ob es Meister Edrahil nicht länger für notwendig erachtet, Euch oder Eure Schwester zu erpressen."
"Welch große Ehre," kommentierte Valion.
Das Kästchen unter den Arm geklemmt machte er sich auf die Suche nach Lóminîth. Als er im Palast herumfragte, erfuhr Valion, dass seine Verlobte mit der Prinzessin in ihre Gemächer gegangen war. Dort angekommen klopfte er vorsichtig an, bis Lothíriel den Kopf durch die halb geöffnete Tür streckte.
"Du bist hier gerade nicht erwünscht," sagte sie mit einem ziemlich undamenhaften Grinsen. "Du hast ihre Gefühle verletzt, und ich hoffe, das weißt du."
"Es war nicht meine Absicht," beteuerte Valion. "Ich war einfach abgelenkt und habe nicht mehr daran gedacht, dass Lóminîth uns zum Palast begleitet hatte."
Die Tür wurde weit aufgerissen, und da stand Lóminîth, die Hände wütend in die Hüften gestemmt und ein zorniges Blitzen in den Augen. "So, du dachtest also, ich warte brav auf dem Schiff, bis der feine Herr sich dazu herablässt, mich abzuholen?"
"So war das nicht gemeint..." versuchte Valion die Lage zu entschärfen.
"So ist es aber angekommen," gab Lóminîth wütend zurück. "Du bist sofort zu deinem Fürsten gelaufen um bei ihm mit deinen Taten anzugeben und hast mich einfach stehen lassen! Nicht einmal deine Eltern hast du mir vorgestellt."
"Mein Vater fiel bei Pelargir," erklärte Valion, "und meine Mutter ist bei Faltharan in Anfalas. Ich werde ihr noch heute einen Brief schreiben und sie bitten, zu unserer Hochzeit nach Dol Amroth zu kommen."
Lóminîths Gesichtsausdruck wurde eine Spur sanfter. "Ich wusste nicht, dass dein Vater tot ist," sagte sie. "Aber wenn du dein Verhalten nicht änderst, weiß ich nicht, ob es tatsächlich eine Hochzeit geben wird."
"Nun sei' nicht so dramatisch, Lómi," mischte Lothíriel sich ein. "Er hat sich schon sehr gebessert seitdem er nach Umbar gereist ist. Wir machen folgendes: Du und ich, wir fädeln einfach ein weiteres Abenteuer für die Zwillinge ein, und wenn sie das bestanden haben, sind sie ganz genau so, wie wir sie haben wollen. Was hältst du davon?"
"Damit könnte ich mich anfreunden," antwortete Lóminîth. "Hast du schon eine Idee?"
"Augenblick mal," unterbrach Valion. "Meine Anweisungen kommen von Fürst Imrahil, von deinem Vater, Lothíriel, und..."
"Du wirst schon bald merken, dass hinter allen wichtigen Männern eine Frau steht, die in Wahrheit die Entscheidungen trifft," gab Lothíriel zurück.
"Da bin ich aber mal gespannt, was dieser Qùsay davon hält," mischte sich eine dritte Stimme ein. Es war Valirë, die in Lothíriels Gemach auf dem Balkon gestanden und ihre Klinge geschliffen hatte. Sie trug die Rüstung eines Schwanenritters von Dol Amroth. Valion fragte sich, woher seine Schwester sie wohl hatte, doch dann entschied er, dass er es eigentlich gar nicht so genau wissen wollte. "Was wird er wohl sagen, wenn du anfängst, ihm Vorschläge ins Ohr zu flüstern?"
"Er muss erst einmal seinen Krieg gewinnen," sagte Lothíriel daraufhin. "Jetzt, wo Hasael Umbar wieder kontrolliert, wird die Aufgabe ein ganzes Stück schwerer werden."
Valion wandte sich an Lóminîth. „Kannst du mir verzeihen?" fragte er hoffnungsvoll.
"Wir werden sehen," gab seine Verlobte zurück. "Frag mich das heute Nacht nochmal."