Schneller als eine Schlange versetzte der Bandit Edrahil einen Hieb gegen sein gutes Bein, und der Herr der Spione taumelte nach hinten. Valion war völlig überrascht worden, und ehe seine Reflexe einsetzen konnten war Mustqîm bereits aufgesprungen und an der Hintertür. Valirë reagierte schneller, doch Mustqîm duckte sich unter ihrem Schlag hinweg, riss die Tür auf und war hindurch. Als Valion wenige Sekunden später versuchte, ihm zu folgen, musste er feststellen, dass der Bandit die Tür von außen verriegelt hatte.
"Verdammt!" fluchte er und eilte mit schnellen Schritten zur Vordertür.
"Mach dir keine Mühe, er ist längst über alle Berge," sagte Edrahil, die Stimme voller Müdigkeit und Enttäuschung. Der Spion sah nicht gut aus. Valion hatte ihn noch nie so erlebt. Irgendwie hatte Mustqîm es geschafft, Edrahil aus der Fassung zu bringen und ihn unaufmerksam werden zu lassen.
"Edrahil?" fragte Valirë mit Verwunderung und Sorge. "Was ist los mit Euch? Geht es Euch gut?" Sie trat heran und nahm Edrahils Arm, doch er riss sich grob los.
"Lass mich," zischte er. "Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Es wird nicht wieder vorkommen."
"Das hoffe ich sehr," sagte eine neue Stimme. Sie fuhren herum und fanden Minûlîth im Türrahmen der Vordertür stehen. Die Adelige trug ein tiefrotes Kleid und war offenbar allein. "Denn obwohl euer wertvoller Gefangener entkommen ist setze ich nach wie vor große Hoffnungen in euren Erfolg, meine Freunde."
"Was soll das heißen?" fragte Edrahil misstrauisch.
"Es heißt, dass sich eine Gelegenheit ergeben hat," antwortete Minûlîth und durchquerte den Raum. "Eine Gelegenheit, die viel zu gut ist, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen."
"Wovon sprecht Ihr?" wollte Valirë wissen.
Minûlîth zog ein aufgerolltes Pergament hervor und ließ es auf den Tisch fallen, auf dem noch immer der Wassereimer stand, den Edrahil vor kurzem verlangt hatte. Valion rollte sie auf und las vor:
An die wohlgeschätzte Herrin Minûlîth von Haus Minluzîr,
Ich, Hasael, der Fürst von Umbar und Scheich der Quahtan, habe die große Ehre, am 12. Tag dieses Monats das Fest der Meereswinde zu feiern. Wie Ihr wisst ist dies seit vielen Jahren Tradition in Umbar und als Fürst dieser großartigen Stadt fällt es mir zu, Traditionen wie diese zu erhalten und zu pflegen. Erwartet ein üppiges Banket, nur die edelsten Gäste, und allerlei Tanz und Unterhaltung für erlesene Geschmäcker. Möge dieses Fest alle bisherigen Feste übertreffen!
gez. Hasaël bin Qasim bin Abdul-Abbas al-Quahtani-Qasatamiyun, Fürst von Umbar, Scheich der Quahtan und Erbe Quasatamirs.
Edrahil schnaubte verächtlich. "Bis auf die Unterschrift hat Hasael das niemals selbst verfasst. Würde er diesen Ton auch nur anzuschlagen zu versuchen würde er wohl daran ersticken."
"Ich sehe, Ihr habt bereits die Bekanntschaft unseres ehrwürdigen Fürsten gemacht," kommentierte Minûlîth amüsiert.
"Dieses Fest," warf Valirë ein, "welche Gelegenheit bietet es uns?"
"Einen einfachen Weg ins Innere des Palastes, die perfekte Ablenkung, und die Möglichkeit, Hasael und seine wichtigsten Verbündeten auf einen Schlag aus dem Weg zu räumen," erklärte Minûlîth triumphierend. "Und das ist noch nicht alles."
"Was noch?" fragte Edrahil kurzangebunden. Seine schlechte Laune schien von Augenblick zu Augenblick zu verfliegen.
"Ich habe erfahren, wo eure verschwundene Prinzessin ist," enthüllte die Adelige und lächelte.
"Lothíriel? Wo ist sie?" fragte Valion, doch er ahnte die Antwort bereits.
"Sie ist in Hasaels Palast," stellte Edrahil fest.
Minûlîth nickte bestätigend. "Gut erkannt, Meister Edrahil. Eine meiner Dienerinnen hat sie gesehen. Es geht ihr gut, keine Sorge. Doch am Tag nach dem Fest soll sie zu Sûladan gebracht werden. Ich fürchte, dort wird es ihr weniger gut ergehen...."
"Das werden wir verhindern," sagte Valion entschlossen. "Aus genau diesem Grund kamen meine Schwester und ich nach Umbar. Wir werden Lothíriel retten."
"Da hast du verdammt Recht, kleiner Bruder," stimmte Valirë zu.
"Sehr gut, sehr gut," lobte Minûlîth. "Eure Entschlossenheit ist anregend, meine Lieben. Doch wir werden einen guten Plan brauchen, um alle unsere Ziele am Tag des Festes zu erreichen."
"'Wir', Herrin Minûlîth?" fragte Edrahil und betonte das Wort sehr deutlich. "Was macht Euch zu unserer Verbündeten?"
"Ich will Hasaels Sturz ebenso sehr wie Ihr," gab die Adelige zurück. "Wenn auch aus anderen Gründen."
"Ehrlich gesagt wundert mich das," fuhr Edrahil fort. Die Müdigkeit und Verwundbarkeit waren von ihm abgefallen und er hatte wieder ganz zu seinem ruhigen und überlegenen Selbst zurückgefunden. "War es nicht Euer eigener Vater, der die Flotte von Umbar in der zweiten Schlacht um Dol Amroth anführte? Entstammt Ihr nicht einer Familie von Schwarzen Númenorern? Wieso solltet ihr uns, euren Feinden aus Gondor, helfen wollen?"
Für einen winzigen Augenblick sah Valion so etwas wie echte Überraschung in Minûlîths Augen aufblitzen. Sie machte einen unmerklichen Schritt rückwärts, doch gleich darauf fing sie sich wieder und schien ihre Zuversicht zurückzugewinnen.
"Ich will ehrlich mit Euch sein, Edrahil," setzte sie an.
"Das würde ich sehr wertschätzen, meine Dame," kommentierte dieser.
Minûlîth seufzte leise. "Ich weiß, dass das wahrscheinlich schwer zu glauben sein wird, doch meine Schwester und ich folgen nicht dem Weg unserer Vorfahren. Mein Vater hingegen tat dies mit Leidenschaft. Wir hatten uns schon seit Langem entfremdet. Er war kaum noch daheim, sondern fast nur noch auf See, und verbrachte die letzten Jahre in Pelargir. Er überließ mir schon vor vielen Jahren das große Erbe unserer Familie und sagte, dass er sich in Gondor das doppelte unseres Vermögens holen würde. Ich bin froh, dass er sein Ende fand, ohne dieses Versprechen wahr gemacht zu haben."
Valirë legte Minûlîth mitfühlend einen Arm um die Schulter, doch die Adelige blickte nur Edrahil an. "Ich weiß, dass Ihr durch Korsaren, wie mein Vater einer war, alles verloren habt. Dennoch müsst Ihr mir glauben. Ich habe gute Absichten. Thorongil hat das erkannt, und er hat mir vertraut. Die Zwillinge vertrauen mir - ich sehe es in ihren Augen. Und wenn Ihr Hasael stürzen, Lothíriel retten und Euren Sohn wiederfinden wollt, bitte ich euch inständig, mir ebenfalls zu vertrauen. Es steht zu viel auf dem Spiel um es nicht zumindest zu versuchen. Ich lege mein Schicksal in Eure Hände, Edrahil. Ich bin alleine hergekommen. Ihr könnt mich gefangen nehmen oder töten, und auf eigene Faust versuchen, das Fest für Eure Zwecke zu nutzen. Doch selbst wenn Ihr mir nicht glaubt, denkt an die Vorteile - ich kann euch ungesehen ins Innere bringen und eure Feinde ablenken. Mit mir habt ihr größere Chancen als ohne mich."
Sie holte tief Luft. "Also frage ich Euch, Edrahil von Belfalas: Werdet Ihr mir vertrauen?"