Am folgenden Tag wurde Kerry von der Sonne geweckt, die durch das offene Fenster schien. Sie hatte ausgesprochen gut geschlafen und von den Elben geträumt, die sie am Vortag kennen gelernt hatte. Es war die erste Nacht seit Fornost gewesen, in der Kerry nicht gefroren hatte. Irwyne im Bett nebenan schlief noch immer friedlich und Kerry war froh, dass das Mädchen es unbeschadet aus Fornost hierher geschafft hatte und gleich Freunde gefunden hatte. Sie streckte sich und gähnte, wovon Irwyne schließlich aufwachte und Kerry blinzelnd ansah.
"Wie spät ist es?" fragte das rohirrische Mädchen verschlafen und setzte sich auf.
"Ich weiß es nicht," gab Kerry wahrheitsgemäß zu. "Der Morgen ist auf jeden Fall schon recht alt."
"Dann sollten wir frühstücken, bevor es noch später wird," schlug Irwyne vor. Und genau das machten sie dann auch.
Von Amrothos fehlte jede Spur. "Er macht oft längere Spaziergänge alleine," erklärte Irwyne. "Ich denke es hat... mit der Sache zu tun, die ihm passiert ist."
"Welche Sache denn?" fragte Kerry neugierig, doch Irwyne druckste ein wenig herum und sagte schließlich: "Das musst du Oronêl fragen."
"Also gut, dann sei eben geheimniskrämerisch," gab Kerry zurück. "Bist du etwa heimlich bei Gandalf in die Lehre gegangen, während ich im Norden unterwegs war?"
"Selbst schuld, wenn du dich einfach so entführen lässt," konterte Irwyne. "Du hättest mit mir ein paar entspannte Tage am Strand haben können anstatt dir in der Eiswüste die Ohren abzufrieren."
Kerry wollte schon zu einer schnippischen Erwiderung ansetzen, da fiel ihr etwas ein. "Es gibt hier einen Strand?" fragte sie.
Irwyne nickte lächelnd. "Komm, ich bringe dich hin. Es ist ... wirklich etwas Besonderes, vor allem, wenn du noch nie am Meer gewesen bist. Ich habe sehr gestaunt als Amrothos mich zum ersten Mal dorthin gebracht hat."
Ehe sie das Haus verließen entdeckten die Mädchen ein Paket in der Nähe des Ausgangs, auf dem in Elbenrunen "Für Tante Ténawen" geschrieben stand. Als Kerry es öffnete fand sie darin drei Kleider, die nur von Nivim stammen konnten, sowie eine weitere Notiz:
Damit du etwas Auswahl hast. Die Schuhe passen zu allen dreien. Nivim.
"Wie schön!" rief Irwyne bewundernd.
"Du darfst dir gerne eines ausleihen," bot Kerry großzügig an. "Ich muss mich sowieso für das Kleid aus Fornost revanchieren."
Die Mädchen zogen sich rasch um. Kerry wählte ein hellgrünes Kleid mit kurzen, runden Ärmeln, das nur bis zu ihren Knien ging, denn sie wollte unbedingt zumindest die Füße ins Wasser des Meeres stellen. Irwyne hingegen trug ein dunkelrotes Kleid mit hohem Kragen, das dieselbe Länge aufwies.
"Nivim hat wirklich an alles gedacht," stellte Kerry fröhlich fest.
Sie verließen die Stadt durch das südliche Tor und kamen durch den Wald, der vom Großteil der Galadhrim bewohnt war. "Ich komme sehr gerne hierher," erzählte Irwyne. "Es ist beeindruckend, was sie in der kurzen Zeit alles erbaut haben. Es erinnert mich an Lothlórien... auch wenn es hier keine goldenen Blätter gibt."
Über ihren Köpfen verliefen mehrere gespannte Seile, die Platformen in den Baumkronen miteinander verbanden. Scheinbar mühelos liefen die Waldelben darauf hinüber, und Kerry wurde beinahe schwindlig vom Hinsehen.
"Wie machen sie das nur?" fragte sie.
"Es sind Elben," gab Irwyne achselzuckend zurück. "Und diese Elben sind in den Bäumen zuhause."
"Ja, das sehe ich," sagte Kerry. "Aber ich bin froh, dass Círdans Volk normale Häuser gebaut hat... ich bin mir nicht sicher, ob ich schwindelfrei bin."
Irwyne lachte leise. "Du gewöhnst dich nach einiger Zeit daran. Das war bei mir auch so."
"Jedenfalls bin ich froh, dass die Galadhrim hier eine neue Heimat gefunden haben," fuhr Kerry fort.
"Nichts kann für sie Lothlórien ersetzen," stellte Irwyne klar. "Aber es ist besser, als im Flüchtlingslager in Aldburg, wo sie vorher lebten. Hier sind sie sicher vor den Schrecken des Krieges."
Eine halbe Stunde später ließen sie den Wald hinter sich und bogen nach rechts ab, zum Meer hin. Wenige Schritte weiter spürte Kerry, wie der Boden unter ihren Füßen weich wurde. Irwyne streifte bereits ihre Schuhe ab und bedeutete Kerry, es ihr gleich zu tun. Als Kerrys nackte Füße den Sand berührten, kam sie sich ein wenig wie im Winter vor. "Es fühlt sich an wie Schnee, aber es ist nicht kalt," sagte sie staunend.
"So etwas in der Art habe ich auch gesagt," meinte Irwyne. "Komm weiter! Bis zum Wasser ist es nicht mehr weit."
Und als die beiden Mädchen schließlich am Ufer des großen Golfes von Lindon standen und auf die Bucht hinausblickten, hinter der sich die endlosen Weiten Belegaers ausbreiteten, fühlte Kerry sich wie in einem Traum. Die warme Luft und die Sonne lagen angenehm auf ihrer Haut, und das ewige Rauschen der Wellen schuf eine wundersame Geräuschkulisse, die Kerry noch nirgendwo in Mittelerde erlebt hatte. Über ihren Köpfen rauschten zwei Möwen vorbei und Irwyne setze den ersten Fuß ins Wasser, das angenehm kühl war. Kerry, immer darauf bedacht, dass ihr Kleid nicht nass wurde, tat es ihr gleich.
"Das Wasser ist so klar," stellte sie staunend fest. "Und es gibt so viel davon. Wo ist es nur hergekommen?"
"Aus allen Flüssen dieser Welt," gab Irwyne die offensichtliche Antwort. "Alles Wasser fließt zum Meer. Jeder noch so kleine Bach findet eines Tages seinen Weg zum Ozean."
Kerry beugte sich hinab und tauchte ihre Hand in das klare Wasser. Eine Welle spritzte gegen ihren Arm, und etwas Wasser benetzte ihre Lippen. Als sie ihre Zunge benutzte, um es wegzulecken, weiteten sich ihre Augen überrascht. "Das ist ja ganz salzig!" rief sie und spuckte das Wasser aus.
"Du darfst es nicht trinken," mahnte Irwyne grinsend. "Amrothos hat mir erklärt, dass man draußen auf dem Meer schneller verdursten kann als inmitten von so mancher Wüste."
"Ich verstehe nicht, warum es so salzig ist," wiederholte Kerry, und nahm sich vor, ihre Eltern danach zu fragen.
Als sie an Mathan und Halarîn dachte, stellte sie fest, dass sie die beiden bereits vermisste. Doch der Strand und das Meer übten noch immer eine große Faszination auf Kerry aus.
"Lass uns ein wenig hier bleiben und die Sonne und das Meer genießen," schlug sie daher vor, und Irwyne stimmte fröhlich zu.
"Ich habe Amrothos eine Nachricht hinterlassen, damit er sich keine Sorgen um uns macht," erklärte sie.
"So," machte Kerry und suchte Irwynes Blick. "Was kannst du mir über ihn erzählen? Ist er wirklich der Sohn des Fürsten von Dol Amroth?"
"Der jüngste - Prinz Imrahil hat drei Söhne, und Amrothos ist der Einzige, der noch nicht verheiratet oder verlobt ist. Sein Bruder Erchirion hat offenbar eine ganz schlimme Braut erwischt - Amrothos hat erzählt, sie hätte mit ihrem Zwillingsbruder immer im Palast Streiche gespielt, als sie noch klein waren."
"Das klingt nach Spaß," fand Kerry, die sich ein wenig darüber wunderte, warum Irwyne gleich als erstes erwähnte, dass Amrothos noch keine Frau hatte. "Das sollten wir auch mal versuchen," fuhr sie dann fort.
Irwyne grinste. "Denkst du, wir könnten Oronêl und Finelleth einen schönen Streich spielen?"
"Wenn wir es gut anstellen, sodass sie es nicht herausfinden, bis es zu spät ist," antwortete Kerry mit einem verschwörerischen Gesichtsausdruck.
Eine Stunde oder zwei überlegten und planten die beiden Mädchen miteinander, tratschten über dies und das, genossen die Sonne und den Anblick des Meeres und die Ruhe, die ihnen an dem einsamen Strand vom Trubel der vollen Stadt nun vergönnt war. Kerry war seit einer langen Zeit wieder vollständig unbeschwert. So sorgenfrei hatte sie sich zuletzt bei der Feier in Fornost gefühlt, ehe Laedor diese jäh unterbrochen hatte. Und während der Vormittag langsam verstrich war sie so glücklich, wie seit dem Beginn des Krieges nicht mehr.