Prolog
9. September, 999 V.Z.
Stille. Kein einziges Geräusch durchbrach die endlosen Weiten der Steppe im Norden von Rhûn. Die Sterne standen klar am Himmel und funkelten wie Kristalle. Gerade hatte ein neuer Tag begonnen.
Der Schein Ithils beleuchtete einen hohen Schatten, einen Turm aus schwarzem Stein, der einsam aufragte. Er war fast einhundert Schritt hoch, und oben endete er mit einem hohen, spitzen Dach. Wie eine Nadel stach er in die Luft, denn er war nicht sehr breit. Seine Außenseite war glatt, mit keinem Zeichen versehen, und er hatte auch keine Tür. An seinem Fuß war er umringt von acht glatten, runden Steinen, ebenfalls schwarz, die in unregelmäßigen Abständen dort lagen.
Dann kam ein Wind auf. Es war nur ein sanfter Hauch, aber er brachte das Grasmeer zum wogen. Es war ein warmer Wind zuerst, doch dann wurde es kalt, unnatürlich kalt für eine Nacht in Rhûn. Der Wind wurde rasch stärker, nun rauschte das Gras. Schneidende Kälte lag jetzt in der Luft, und dann begann ein Wispern.
Mit dem Wispern kamen die Schatten. Zuerst war es nur einer. Er erschien aus dem Nichts, auf einem flachen Hügel im Osten des Turmes. Er hatte keine Form, nicht einmal eine Farbe, aber er war dort.
Nur ein gnadenloses Augenpaar glitzerte kalt. Er näherte sich dem Turm, bewegte sich schnell und lautlos voran. Im Süden begann die Luft zu wirbeln, ein kleiner Sandsturm bildete sich, und auch der Sandsturm hatte Augen. Er raste auf den Turm zu, schnell wie der Wind, gefolgt von einem Pferd ohne Reiter dessen Augen brannten wie Feuer.
Aus dem Norden ertönte ein schreckliches Seufzen, und das Wispern wurde lauter. Ein weiteres Augenpaar erschien, ohne Körper, doch leises Klagen war zu hören wie ferne Musik. Die Augen schwebten langsam in Richtung des Turmes. Das nächste Augenpaar, aus dem Südwesten, war umgeben von den tiefsten Schatten, und die Sterne wurden verdunkelt. Zuletzt, mit einem grässlichen Knacken, erschien eine Figur im Norden, ein mannshoher Schneesturm, und das Land unter ihr gefror. Die Erscheinung setzte sich langsam in Bewegung, und wurde schneller, je näher sie dem Turm kam.
Alle Gestalten blieben stehen, jede vor einem der Steine. Dann zogen Wolken vor den Himmel, in Sekunden geschah was sonst Stunden dauerte, nur der Mond schien noch schwach.
Im Westen leuchtete kurz ein goldenes Licht am Horizont, und zwei Gestalten raten aus dem Licht, wie als wären sie weit entfernt, doch in Wahrheit standen sie dicht vor dem Turm. Eine war nur grünes, entsetzliches Licht, in welchem Augenpaare aufblinkten, die andere ein schmaler, dunkler Strich von Dunkelheit ohne Augen, und als diese letzte Gestalt erschien legte sich der Wind. Das Wispern verstummte, und das Klagen der Augen aus dem Norden war kaum noch zu hören.
Als beide Gestalten den Turm erreicht hatten, wurde der Mond plötzlich schwarz. Die Umgebung war jetzt nur noch beleuchtet von schwachem, grünem Licht und den feurigen Augen des schattenhaften Pferdes.
Plötzlich ertönte ein entsetzlicher Schrei, von solcher Bosheit, dass die Erde selbst zu erzittern schien.
Im Westen türmte sich ein Schatten auf, schwarz wie die zeitlose Finsternis, wie eine Woge aus Nacht. Heraus trat ein Schatten, der, so unmöglich es schien, noch dunkler war, wie die Definition von Dunkelheit. Fürchterliche Augen voller Bosheit brannten mit kalter Flamme in seinem Gesicht, und er war in einer flüssigen Bewegung beim Turm angekommen, als würden Raum und Zeit sich ihm beugen.
Der Schatten aus dem Osten trat nun vor, und es schien, als würde er den schwarzen Stein zu seinen Füßen berühren. Darauf erschienen feurig leuchtende Zeichen, und sie bildeten einen Namen: Khamûl.
Als nächstes war der zweite Schatten an der Reihe, und Sand strich über den Stein,
bevor ein weiterer Name geschrieben wurde: Ji Indûr.
Weitere folgten: Das Pferd stieß ein Schnauben aus, und der Name Ûvatha loderte auf.
Mit einem leisen Seufzen erschien der Name Ren, und nach einer Bewegung des Schattens im Südwesten war auf seinem Stein Hôarmûrath zu lesen. Der Name Angamarth erschien nicht in Feuer, sondern in tiefstem blau wie ein gefrorenes Meer. Grünes Licht entzündete rote Flammen, sie bildeten den Namen Akhôrahil.
Als letztes stand auf einem Stein Adûnaphel, doch die Schrift war nicht leuchtend, stattdessen gedämpft.
Dann trat der letzte der Neun vor, und von Westen kommend legte er eine Hand auf den Turm. Eine Öffnung erschien, wie ein schwarzes Loch, und er trat ein. Hinter dem Loch leuchtete ein schwaches, fahles Licht auf. Es beleuchtete Waffen. Lanzen, Schilde, Streitkolben, Bögen und Äxte lagen auf dem Boden, doch die Gestalt achtete ihrer nicht. Schnell glitt sie eine Treppe von hunderten Stufen empor, durch die Dunkelheit, bis sie in der Spitze ankam, im einzigen anderen Raum des Turmes. Dort war kein Licht, aber trotzdem erkannte der Schatten was dort in Waffenständern und an der Wand aufgereiht war: Rüstungen aller Arten, aus schwarzem Metall oder aus Mithril, Helme mit grässlichen Fratzen als Visier, doch am Wichtigsten: Neun Schwerter, Neun Dolche und Neun schwarze Mäntel.
In der Mitte des Raumes lag ein schwarzes Kästchen auf dem Boden. Die Gestalt näherte sich und es zerfiel zu nichts. Dort wo das Kästchen gewesen war, lagen nun, besetzt mit Edelsteinen, neun goldene Ringe.