Es vergingen noch drei Tage, bis die Heiler des Silbernen Bogens Aeriens Wunden schließlich für geheilt erklärten. Währenddessen erzählte ihnen Ta-er as-Safar von den Ereignissen in Umbar bis zu Hasaels Sturz, denn nach der Flucht des Fürsten hatte sie ebenfalls die Stadt verlassen, seine Spur jedoch nicht weiter verfolgen können. Erstaunt lauschten Aerien und Narissa der Geschichte von Edrahil von Dol Amroth, der sich als derselbe Edrahil herausstellte, der Narissa einst nach Ain Séfra geschickt hatte.
"Ich bin übrigens sehr dankbar, dass dieser Edrahil dir den Auftrag gab, Qúsay zu überprüfen," flüsterte Aerien ihrer Freundin zu und stupste sie verliebt an.
"Das bin ich auch," erwiderte Narissa.
Ta-er hatte die Unterbrechung natürlich sofort bemerkt und runzelte die Stirn. "Wenn ihr nicht hören wollt, was ich euch erzähle, gibt es durchaus Dinge, mit denen ich meine Zeit besser verbringen könnte," kommentierte sie.
"Ist schon gut," sagte Aerien entschuldigend. "Wie hat es Edrahil nur geschafft, dass der mächtige Hasael von Umbar gestürzt werden konnte?"
"Mit List und den richtigen Verbündeten," fuhr Ta-er fort. "Er hatte Hilfe von einigen mutigen Adeligen aus Gondor und von einer einflussreichen Dame aus Umbar selbst, die Minûlîth hieß."
"Minûlîth?" wiederholte Aerien. "Von Haus Minluzîr?"
"Ja - kennst du sie etwa?" fragte Ta-er zurück.
"Meine Großmutter stammt aus Umbar, aus Haus Minluzîr," erklärte Aerien. "Und der Herr von Haus Minluzîr, Lord Azgarzîr, war einige Male in Durthang zu besuch. Erst dieses Frühjahr erhielt mein Vater den Bericht, dass Azgarzîr beim Angriff auf Dol Amroth gefallen sei, und seiner ältesten Tochter Minûlîth sein gesamtes Erbe hinterlassen hatte. Man hat sich sogar bereits nach einem passenden Gemahl für sie umgesehen."
"Offenbar hat ihr das nicht gefallen," kommentierte Narissa grinsend. "Also hat sie sich auf Edrahils Seite geschlagen, um ihren fiesen Verwandten in Mordor ein Schnippchen zu schlagen."
"Den Eindruck machte sie auf mich nicht," erwiderte Ta-er ungerührt. "Sie wirkte eher wie jemand, der zu seinen Überzeugungen steht. Ich kenne Meister Edrahil nicht sonderlich gut, aber ich bin mir sicher, er hat ihr sein Vertrauen nicht leichtfertig geschenkt."
"Wahrscheinlich hat sie gar nicht genau genug hingesehen," flüsterte Narissa und erntete einen missbilligenden Blick von Ta-er sowie ein Kichern von ihrer Freundin.
"Wie ging es dann weiter?" fragte Aerien und zwang sich wieder ernst zu werden, auch wenn Narissa es ihr nicht leicht machte.
"Nun, dass die Assassinen Salemes den Palast des Fürsten angriffen und dadurch die Rebellion in Umbar auslösten, habe ich ja bereits erzählt, " fuhr die Kriegerin fort. "Als ich mich nach Hasaels Sturz an seine Fersen heftete, dauerte es kam eine Meile bis ich feststellte, dass ich verfolgt wurde. Diese Schlangen hatten die Tore überwacht und nur darauf gewartet, dass ich mich ihnen zeigte, nach denen ich ihnen knapp beim Angriff auf den Palast entwischt bin."
"Und weil du sie abschütteln musstest, konntest du Hasael nicht weiter jagen?" vermutete Narissa.
"Gut erkannt," lobte Ta-er. "Wäre ich nur nicht so an meinem Auftrag gehindert worden! Umbar wäre frei geblieben. Denn wenn die Berichte stimmen, kehrte Hasael binnen zehn Tagen in die Stadt zurück - an der Spitze eines Sultanats-Heeres. Ich hoffe, Edrahil, Minûlîth und ihre Verbündeteten gelang die Flucht - Hasael wird ihnen gegenüber keine Gnade zeigen."
"Wie ich Edrahil kenne hat er für alles einen Plan geschmiedet," sagte Narissa zuversichtlich. "Bestimmt sitzt er irgendwo in Sicherheit und arbeitet schon an Hasaels nächstem Sturz."
"Nun, ich werde die Situation erst einschätzen können, wenn ich dort bin", sagte Ta-er. "Zu allererst werde ich jedoch nach Tol Thelyn gehen und herausfinden, ob die Gerüchte über das Auftauchen des Erben des Turms wahr sind."
"Und wenn sie wahr sind?" fragte Aerien.
"Dann werde ich ihm von dir erzählen, Narissa. Wenn du erlaubst," antwortete Ta-er, und Narissa stimmte nickend zu.
Einen Tag nach Ta-ers Aufbruch saßen Narissa und Aerien in der warmen Mittagssonne oben auf den Zinnen der Burg und blickten nach Norden, in Richtung Ain Salahs.
"Ich kann den Moment immer noch nicht ganz fassen," sagte Narissa schwärmend. "Da stehe ich in dieser furchtbaren Arena drei Mördern gegenüber, und dann... das nächste was ich sehe, bist du, Aerien, die wie ein Rachegeist aus den Lüften herabsteigt und mich rettet."
Aerien errötete. "Nun hör schon auf. Ich war da, weil es schade um dein freches Mundwerk gewesen wäre. Jemand musste Abel und Karnûzîr ja davon abhalten, es für immer zum Schweigen zu bringen, und ich hatte gerade Zeit."
"Soso," erwiderte Narissa. "Du bist dir also sicher, dass du nicht da warst, weil du bereits bis über beide Ohren verliebt warst?"
"N-nein", gab Aerien wenig überzeugend zurück. "Aber Elyana...." erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund.
Schlagartig wurde Narissa todernst. "Elyana?" hakte sie nach. "Was hat sie mit all dem zu tun?"
Aerien blickte beschämt zu Boden. "Sie hat mich in der Nacht, nach dem du abgehauen bist, besucht." Sie schüttelte sich als sie sich daran erinnerte, wie Elyana sie mit ihrer Klinge bedroht hatte. "Sie ist wirklich eine unheimliche Frau. Jedenfalls sagte sie, du wärst in großer Gefahr, und ich müsste dich retten."
"Also kamst du nur wegen ihr," stellte Narissa enttäuscht fest.
"Nein, nein!" beeilte Aerien sich zu sagen. "Ich wusste doch nicht, was ich tun solte. Du hattest.. du hattest gesagt, du willst mich nie wieder sehen."
"Das war ein Fehler," gab Narissa zu. "Aber dennoch... "
Aerien seufzte tief. "Seitdem du und Grauwind die Straße entlang verschwunden sind wollte ich euch folgen. Aber deine Worte und meine Vorsicht hielten mich zurück. Elyana hat mir geholfen, beides zu überwinden."
"Hmpf," machte Narissa, doch Aerien sah, dass sie nicht mehr sauer war. "Immerhin eine gute Sache, für die sie verantwortlich ist."
"Wer ist sie wirklich?" fragte Aerien. "Sie wirkte sehr... geheimnisvoll. Sie sprach ständig in Rätseln."
"Ja, das passt zu ihr", brummte Narissa. "Sie ist besessen von mir. Sie war sogar bei meiner Geburt dabei. Ständig redet sie davon, dass ich etwas ganz Besonderes bin und ein großes Schicksal vor mir habe."
"Aber du bist etwas Besonderes," sagte Aerien sanft. "Für mich."
Narissa lächelte errötend. Dann küsste sie Aerien lange und anhaltend.
Sie blieben noch einige Zeit an derselben Stelle sitzen und sprachen über einige belanglose Dinge, bis Narissa schließlich ein schiefes Lächeln aufsetzte. Ihre Hand tastete über Aeriens Rücken und löste den Pferdeschwanz, den Aerien eigentlich immer trug.
"Was soll das denn?" fragte Aerien, mit hellroten Wangen und halb empörten Gesichtsausdruck.
"Ich wollte nur sehen, wie dein Haar frei vom Wind bewegt wird," sagte Narissa, doch sie nahm die Hand nicht weg. Langsam und behutsam begann sie, Aeriens Nacken zu streicheln. Es fühlte sich gleichzeitig aufregend und elektrisierend an. Doch dann rutschte Aerien hastig ein Stück weg.
"Du," sagte sie drohend. "Du tust es schon wieder!"
"Ich weiß nicht, wovon du sprichst," gab Narissa unschuldig zurück.
"Du machst mich wahnsinnig!" rief Aerien, doch dann mussten sie beide lachen.
"Darauf setze ich," antwortete Narissa.
Als die Sonne bereits tief am fernen Horizont stand, erspähte Aerien einen Reiter, der zielstrebig auf den Vulkan zu kam. Narissa entdeckte ihn ebenfalls. Der Reiter trug gewöhnliche haradische Kleidung und führte eine seltsame, umwickelte Stange mit sich.
"Ob das einer von Eayans Kundschafter ist?" fragte sie ihre Freundin.
"Komm," schlug Narissa vor. "Gehen wir zum Tunnel und finden es heraus."
Am Tunnel angekommen bot sich ihnen ein eigentümliches Bild. Eayan und fünf seiner Wächter hatten den Reiter umzingelt, der abgesssen war und seinen Stab neben sich aufgestellt hielt. Daran hing eine gut sichtbare weiße Flagge.
"Was willst du hier, Schlange?" fragte Eayan gebieterisch. "Das Zeichen des Unterhändlers wird dich nur bedingt schützen. Unser Geheimnis wird gewahrt werden, dafür sorge ich."
"Ich bringe eine Botschaft von Saleme," sagte der Assassine überlegen, der sich nicht einschüchtern ließ. "Lest sie, und dann tut mit mir, was ihr tun müsst. Es wird keinen Unterschied machen."
Eayan nahm eine kleine Schriftrolle von dem Mann entgegen und überflog die Zeilen hastig und mit einem bestürzten Ausdruck im Gesicht. "Lasst ihn gehen," sagte er dann mit leiser Stimme.
"Aber Herr," begann einer der Wächter. "Er kennt unser Versteck!"
"Das tut Saleme auch," gab Eayan grimmig zurück. "Lasst ihn gehen. Wie er selbst schon sagte - es macht keinen Unterschied mehr."
Der Bote sprang auf sein Pferd und preschte in der Richtung davon, aus der er gekommen war. Eayan warf einen langen Blick zu Narissa hinüber, dann reichte er ihr Salemes Botschaft. Sie entrollte das Pergament, und Aerien las über ihre Schulter mit:
Eayan, alter Freund,
Ich weiß, wo du dich versteckst und ich weiß, wie viele Krieger dir auf deinem fehlgeleitetem Weg folgen. Es wird Zeit, dass diese Torheit beendet wird. Ich biete dir eine letzte Gelegenheit - um der alten Zeiten willen. Wenn ich zu dir komme, ergib dich und schließ dich mir wieder an. Dann werde ich vielleicht die Leben deiner Freunde verschonen. Entscheide dich schnell. Ich bin bereits auf dem Weg zu dir. Ich komme bald.
- Saleme
"Wir haben viel zu tun, und wenig Zeit," sagte Eayan grimmig.