Aus der Sicht Eayans, des Schattenfalken
Ein vergessener Poet aus den längst vergangenen Tagen, als Harad ein gewaltiges, grünes Königreich gewesen und anstelle der großen Wüste in seinem Herzen eine fruchtbare Graslandschaft gelegen war, hatte einst Worte in Stein meißeln lassen, die vielen Gelehrten in den Bibliotheken und Archiven der Herrscher des Südens als Grundstein der haradischen Kultur ansehen.
"Wo Wasser ist, ist auch Blut. Ein Fluss gleicht einer Vene, und ein See einem schlagenden Herzen. Wenn wir unser Land erhalten wollen, müssen wir zum Wasser blicken."
Eayan, der diese Worte gut kannte, verzog das Gesicht, als sie ihm einfielen, während er seine lange, gebogene Dolchklinge aus der Kehle seines letzten verbliebenen Feindes zog. Grimmig blickte er nach Süden, wo eine aufgewirbelte Staubwolke anzeigte, wohin der Rest des Überfalltrupps geflohen war, nachdem ihre Aufgabe abgeschlossen war. Eayan war zu spät eingetroffen, um sie an ihrem Vorhaben zu hindern, und er verfluchte sich dafür. Er hätte es kommen sehen müssen.
Feuchtigkeit umspülte seine Füße und er spuckte verächtlich aus. Der Großteil der Wasservorräte des Malikatsheeres war vergossen worden und das wertvolle Nass versickerte nun zwischen den Sanden der Harduin-Ebene. Auch andere Vorräte waren gestohlen oder vernichtet worden.
"Sie müssen gewusst haben, dass wir ihren Hinterhalt bemerkt haben," sagte Edrahils ruhige Stimme. Eayan, der den Gondorer mittlerweile kannte, vernahm keinen Vorwurf in Edrahils Stimme, nur Bedauern. Dennoch gab er sich selbst die Schuld für das Fiasko, das Qúsays Heer ereilt hatte. Dabei hatte alles so vielversprechend ausgesehen. Sie hatten die Reiterei des Malikats in zwei Schwadronen aufgeteilt, die die hohen Dünen zu beiden Seiten der Straße umrunden und den im Hinterhalt lauernden Truppen des Sultanats in den Rücken fallen sollten. Dann würde das Heer Qúsays durch die sich öffnenden Lücke vorstoßen und den Feind in die Flucht schlagen.
Anfangs war alles genau nach Plan verlaufen. Eayan, der sich den berittenen Gondorern an der südlichen Flanke angeschlossen hatte, aber am eigentlichen Angriff nicht teilgenommen hatte, hatte beobachtet, wie es den Reitern gelungen war, die Dünen ungesehen zu umrunden und mit Schwung auf die feindlichen Stellungen loszupreschen. Narissa war gemeinsam mit Edrahil etwas abseits vom Geschehen geblieben; Valion hingegen hatte sich gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester und dem jungen Prinzen von Dol Amroth an dem Angriff beteiligt, wie auch schon in der letzten Schlacht. Doch als die Feinde sich umgedreht und dem Ansturm mit Speeren begegnet waren, war anstelle eines raschen Sieges ein erbitteter Kampf entbrannt. Und noch etwas war Eayan aufgefallen: Er sah nirgendwo feindliche Reiter. Das Heer Sûladans, das zu beiden Seiten der Straße in den Dünen versteckt lag, bestand ausschließlich aus Kriegern, die zu Fuß kämpften; von Männern auf Pferden, Kamelen oder gar Mûmakîl war nichts zu sehen. Eine finstere Vorahnung überkam Eayan in diesem Moment, und er hatte sein Pferd gewendet, und war zur Rückseite des Hauptheeres des Malikats geeilt.
Qúsay war kein unvorsichtiger Narr. Selbstverständlich hatte er seinen Vorratstross nicht unbewacht gelassen. Doch in Erwartung eines schnellen Sieges waren die Wachen bei den mit Proviant beladenen Karren, die nur langsam voran kamen, bei guter Laune und unvorsichtig. Eayan, der wie der Wind herangeprescht kam, traf zu spät ein. Die feindliche Reiterei hatte einen großen Bogen um die Flanken des Malikatsheeres geschlagen und war von Südwesten über die Verteidiger der Vorräte hergefallen. Der Widerstand war rasch niedergeschlagen und der Feind plünderte alles was greifbar war und vergoss oder vernichtete jenes, was sich nicht fortschleppen ließ. Als Eayan sich in den Kampf stürzte, waren viele der Reiter Sûladans schon dabei, mit ihrer Beute zu flüchten. Ihr Werk war getan und der Schaden war angerichtet worden. Eayan konnte nicht mehr tun als drei übermütige Haradrim daran zu hindern, das letzte große Wasserfass umzustürzen, indem er sie innerhalb einiger weniger Herzschläge einen nach dem anderen niederstreckte.
"So scheint es wohl," sagte Eayan frustriert, als Edrahil neben ihm aus dem Sattel glitt. "Wir haben Sûladan unterschätzt, und haben teuer für diese Torheit bezahlt."
"Nun, wenn ich mich nicht sehr irre, liegt der Harduin-Fluss nicht weit von hier," sagte Edrahil ruhig. "Durst werden wir zumindest nicht leiden müssen."
"Das mag sein, doch es verbleiben kaum Trinkschläuche und Fässer, um das Wasser aufzubewahren," erwiderte Eayan. "Ein Rückzug nach Ain Salah wird uns nun kaum möglich sein. Und ohne große Nahrungsvorräte bleibt für eine langwierige Belagerung Qafsahs kaum Zeit."
"Hm," überlegte Edrahil. "Aber ob Qúsay einen riskanten Sturmangriff auf die Mauern in Erwägung zieht? Ich bezweifle es. Nach allem, was ich gesehen habe, ist selbst die laufende Schlacht noch nicht gewonnen. Und wer weiß, wieviele Männer noch ihr Leben lassen müssen, ehe wir gen Qafsah vorrücken können."
Eayan schwieg. Er erwog bereits, sich auf eigene Faust in die Stadt Sûladans zu schleichen und Qúsays Krieger hineinzulassen, ehe ihm einfiel, dass die großen Tore der Stadt sich nur von zwei oder mehr Männern gemeinsam öffnen ließen, so schwer waren die eisernen Fallgatter, die den Zugang verhinderten.
Die Schlacht hatte in den frühen Morgenstunden begonnen, und als die Sonne am Mittag ihren höchsten Stand erreicht hatte, endete das Blutvergießen. Sûladans Kriegern war ein geordneter Rückzug gelungen, indem sie die vorbereiten Sandlawinen entlang der Straße auslösten und in dem Chaos des aufgewirbelten Staubs durch die sandigen Dünen in Richtung Qafsahs abmarschierten. Pferde und Kamele scheuten, als der Sand mit lautem Getöse abrutschte, und einige Reiter sanken ein, als sich die Dünen unter ihren Reittieren auflösten. Qúsay, der die nördliche Flanke persönlich in die Schlacht geführt hatte, gelang es, einen Teil seiner Reiter zusammenzuhalten, doch nach einer kurzen Verfolgung der Flüchtenden ließ er sie wieder anhalten. Sie waren zu wenige, um das Heer Sûladans ernsthaft zu bedrohen, denn immer wieder hatten die in einigermaßen ordentlichen Reihen marschierenden Speerträger kehrt gemacht, um Qúsays heranstürmenden Reitern entgegenzutreten. Es war keine wilde Flucht; Sûladans Heer war nicht gebrochen worden. Qúsays Krieger hatten sich den Weg nach Qafsah freigekämpft, aber der Preis war hoch gewesen.
"Das ist eine ziemliche Zwickmühle," sagte Valion, als er einige Zeit nach der Schlacht zu Eayan und Edrahil stieß und von den Verlusten der Vorräte erfuhr. Narissa, die anfangs noch gut gelaunt gewirkt hatte, verzog ebenfalls das Gesicht. Doch Eayan glaubte, der jungen Frau anzusehen, dass sich ein Gedanke in ihrem Kopf zu bilden begann, denn sie war ungewöhnlich still und fiel, so untypisch es auch für sie war, niemandem ins Wort.
"Wir können weder zurück nach Ain Salah reiten, wo nur Wüste und Durst auf uns warten, noch in aller Ruhe Qafsah einschließen und belagern," fuhr Valion fort. "Und wenn wir nicht diesen Fluss zur Linken hätten, müssten wir wohl schon ab morgen mit ständigem Durst leben."
"Nun, noch bleiben uns Möglichkeiten," sagte Edrahil. "Es sind nicht viele, aber geschlagen sind wir noch nicht."
"Ein Sturmangriff ist zum Scheitern verurteilt," befand Eayan. Er kannte Qafsahs Mauern und wusste, dass sie beinahe so stark wie die númenorischen Wälle Umbars waren. "Am Fluss wachsen zwar einige Bäume, aber um ausreichend Belagerungswaffen zu bauen, gibt es bei Weitem nicht genügend Holz. Ganz zu schweigen davon, dass das Heer abgesehen von Wasser nur noch über einen kleinen Rest Vorräte verfügt, und ich mir sicher bin, dass die Lagerhallen in Qafsah gut gefüllt sein dürften."
"Ein Rückmarsch entlang des Flusses wäre eventuell denkbar," meinte Edrahil. "Doch da kämen wir äußerst langsam voran, so abseits der Straßen."
"Und wären leichte Beute für Sûladans Reiter," fügte Valion hinzu.
Sie verfielen in nachdenkliches Schweigen. Eayan musterte Narissa, die schließlich den Kopf hob und dem Blick des Schattenfalken begegnete. Er sah die Entschlossenheit in ihren grünen Augen aufleuchten und wusste, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte.
"Ich habe einen Vorschlag," sagte Narissa.