Die Avalosse glitt über das klare Wasser Belegaers, noch immer flankiert von den beiden Avari-Kriegsschiffen. Es war am Nachmittag des Tages nach ihrem Aufbruch von Mithlond, und Kerry stellte fest, dass sie schlechte Laune hatte. Missmutig stand sie am Heck des Schiffes, beide Arme auf die Reling gelegt und den Kopf abgestützt, und starrte auf die schäumende Fahrspur hinaus, die das Schiff hinter sich her zog. Es ist wirklich ungerecht, dachte sie.
Kerry war früh am Morgen von Mathan geweckt worden, der ihr die Decke weggezogen hatte und sie ohne vorheriges Frühstück zu weiteren Übungen gezwungen hatte. Und obwohl Kerry durchaus die Absicht dahinter verstand und tief drinnen wusste, dass Mathan sich nur wünschte, dass seine Tochter sich wehren konnte wenn es drauf ankam, war es dennoch so, dass Kerry sich auf eine Art wünschte, er würde sie einfach in Ruhe lassen. Natürlich sagte sie das nicht offen, doch Mathan und Halarîn entging die Veränderung in Kerrys Laune und Verhalten nicht lange. Und so kam es schließlich so weit, dass sie den Übungsstab widerspenstig zu Boden warf und weitere Trainingseinheiten verweigerte.
"Ténawen," sagte Mathan streng, jedoch mit einem sanften Unterton. "Versteh doch, dass ich das nur tue, weil ich dich nicht verlieren will, so wie ich meinen Bruder verloren habe."
Kerry wusste natürlich, dass er es auch genau so meinte, aber ihre Emotionen waren in diesem Augenblick stärker. Sie war davon gestürmt und hatte Mathan stehen lassen.
Und so stand sie nun dort und der Fahrtwind verwehte ihr Haar, das sie gerade offen trug. Sie wünschte sich, ein Talent für den Kampf zu haben - dann würde sie nicht üben müssen und ihre Eltern müssten sich keine Sorgen machen. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit in Rohan. Damals hatte größtenteils Frieden in der Riddermark geherrscht und nur Jungen waren ab einem gewissen Alter zu Kriegern ausgebildet worden - von den Mädchen hatte man erwartet, dass sie beschützt wurden und sich nicht selbst verteidigen mussten. Abgesehen von einigen wenigen Schildmaiden hatten nur wenige Frauen Rohans zur Waffe gegriffen.
Kerry seufzte. Sie fragte sich, wo ihr Vater wohl gerade war - ihr ursprünglicher Vater. Irwyne hatte Kerry erzählt dass er sich auf einer geheimen Mission im fernen Rhûn befand. Kerry hoffte, dass er Erfolg haben und bald nach Rohan zurückkehren würde. Denn dann gäbe es vielleicht die Möglichkeit, ihn wiederzusehen. Sie stellte sich das Wiedersehen vor und stellte fest, dass sie nur wenige Fragen hatte: Wo bist du gewesen, was ist dir widerfahren, weshalb kehrtest du nicht nach Hochborn zurück. Ein Teil von ihr hatte noch immer nicht recht verstanden, dass ihr Vater tatsächlich noch am Leben war. Und ein anderer Teil fürchtete, er könnte sie aufgegeben oder sogar vergessen haben.
Ohne dass sie richtig verstand weshalb, ging sie langsamen Schrittes in die kleine Kabine, die sie sich mit Adrienne teilte. Die junge Frau war nicht da als Kerry eintrat - stattdessen wartete Halarîn dort auf sie, auf Kerrys Bett sitzend.
"Morilië," begann sie. "Dein Vater will dich nicht quälen, das verstehst du doch, oder? Er ist um deine Sicherheit besorgt."
"Amil, ich wünschte wirklich, ich wäre eine Kämpferin, so wie nésa, aber ich bin's nicht," erwiderte Kerry traurig. "Ich will nicht, dass ihr euch Sorgen um mich machen müsst. Aber ich kann das einfach nicht, ich habe kein Talent dafür. Und trotz meines Namens... bin ich keine Elbin."
Halarîn zog sie zu sich in eine enge Umarmung. Sie strich Kerry tröstlich über den Kopf und sagte: "Geduld, mein Schatz. Du wirst es lernen. Mathan ist ein ausgezeichneter Lehrer; auch wenn er mit Menschen kaum Erfahrung hat..."
"Ich bin nicht gut genug," antwortete Kerry. "Sogar Adrienne ist besser als ich."
"Das bedeutet nichts," sagte Halarîn. "Niemand erwartet von dir, dass du von heute auf morgen zur besten Kämpferin Mittelerdes wirst. Jeder fängt klein an und arbeitet sich langsam voran."
Daraufhin schwieg Kerry, und einige Minuten später erhob sich ihre Mutter und sagte: "Ich glaube, du brauchst jetzt ein wenig Zeit für dich. Denke darüber nach, was ich dir gesagt habe, und vergiss eines nie: dein Vater und ich lieben dich sehr, Morilië. Egal, was geschieht."
Halarîn ging und ließ Kerry mit ihren Gedanken zurück. Kerry wusste natürlich, dass Halarîn recht hatte, aber irgendetwas hielt sie noch immer davon ab, in den Übungen einen Liebesbeweis Mathans zu sehen. Irgendetwas ließ ihr Herz kalt werden und brachte sie dazu, sich noch eine längere Zeit in ihrem Bett zu verkriechen als sie ursprünglich vorgehabt hätte. Und dann fiel ihr Blick auf ihre Tasche, die in einer der Ecken des kleinen Raumes stand. Sie stand auf und ging hinüber, ohne wirklich zu wissen, weshalb. Kerry griff hinein und fand schließlich das kleine, metallene Kästchen. Sie nahm es heraus und legte sich wieder auf das Bett. Einige Minuten betrachtete sie den Gegenstand nachdenklich. Öffne es niemals, hatte der geheimnisvolle Unbekannte gesagt, der es ihr gegeben hatte. Doch Kerry war gerade nicht in der richtigen Laune dafür, Anweisungen zu befolgen, die sie nicht verstand. Also hob sie den Deckel des Kästchens vorsichtig an, und... fand einen silbernen Ring im Inneren vor, der mit einem funkelnden Rubin verziert war. Feine Elbenschrift war in ihn eingraviert. Das Schmuckstück übte eine seltsame Anziehungskraft auf Kerry aus. Sie nahm es heraus und hob es ins Licht. Wie schön er ist, dachte sie mit einer Faszination, die sie selbst überraschte. Als sie ihn gerade auf den Ringfinger ihrer linken Hand stecken wollte fiel Kerry auf, dass das Kästchen nicht leer war. Neugierig zog sie das kleine Pergament hervor, dass neben dem Ring gelegen hatte und entrollte es.
Herrin Galadriel,
Ich danke Euch von Herzen für Euren freundlichen Rat. Ich habe Lindon bereist, den letzten Überrest des versunkenen Beleriands, und bin in mich gegangen. Ihr habt meinen inneren Zwist deutlich gespürt und womöglich auch die Ursache dafür gesehen, doch hier und heute möchte ich sie aus freiem Willen offenlegen.
Ich, Maethor Camlagwann von den Mírdain, schmiedete einst einen der Ringe der Macht - einen der Neun Ringe, die den Menschen gegeben wurden. Und während der Schlacht um Lothlórien erlangte ich meinen Ring zurück, als Glorfindel seinen Träger niederstreckte. Der Fürst der Ringgeister existiert dennoch weiter - eine der vielen Fakten, die ich noch nicht verstehe. Doch ich weiß, was Ihr mir raten würdet. Der Ring muss vernichtet werden. Ich weiß, dass es das Richtige ist. Aber ich kann es nicht tun. Es ist wie mit Fëanor und den Silmaril. Ich bringe es nicht über mich, das Werk meiner Hände zu zerstören. Deswegen sende ich Euch den Ring, mitsamt dieser Nachricht. Ich bin mir sicher, Ihr findet jemanden, der nach Eregion geht und die Tat vollbringt, zu der ich nicht imstande bin. Ich hoffe, Ihr könnt meine Gründe verstehen.
Unterzeichnet war die Nachricht mit Elbenrunen, die Kerry nicht entziffern konnte, sowie einem runden, alt aussendenden Siegel. Nachdenklich faltete sie das Pergament wieder zusammen und legte den Ring zurück ins Kästchen. Er wollte dieses Ding an Frau Galadriel übergeben, dachte sie. Aber warum nur hat er ihn dann mir gegeben? Erwartet er von mir, dass ich ihn zerstöre? Ihr fiel eines besonders auf: Maethor hatte keinen Grund dafür genannt, dass der von ihm geschmiedete Ring zerstört werden musste. Kerry verstand seine Entscheidung daher umso weniger. Warum etwas so hübsches vernichten? Sie beschloss, das Kästchen bis auf weiteres geheim zu halten und sich erst in Eregion mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Maethors kleiner, unscheinbar wirkender (aber dennoch sehr schöner) Ring wirklich zerstört werden müsste...