Cyneric aus der Stadt (http://modding-union.com/index.php/topic,25849.msg465249.html#msg465249)
Das Gespräch mit Morrandir war kurz gewesen. Cyneric hatte sich bei ihr, die sie für seinen Auftrag in Rhûn die kommandierende Befehlshaberin war, offiziell zurückgemeldet und hatte sich eine Rüge dafür anhören müssen, dass er zugelassen hatte, dass Fürst Radomir ermordet worden war. Diese Rüge war natürlich nur für etwaige Lauscher bestimmt gewesen. Während Morrandir ihn kritisiert hatte, hatte sie ihm ein beschriebenes Stück Papier zugeschoben, auf dem ein einziger Satz gestanden hatte:
Gut gemacht; Belohnung heute Abend.
Cyneric hatte mit den Fingern versucht, die Form des Brunnens Anntírad nachzuzeichnen, und Morrandir hatte verstanden, was er wollte. Die Schattenläuferin hatte ausdruckslos genickt und ihm damit bestätigt, dass sein Wunsch sich endlich erfüllen würde und er einen weiteren Blick in den geheimnisvollen Brunnen in den Tiefen des Untergrunds von Gortharia werfen durfte.
Die Wachschicht, die er wenig später außerhalb des Haupteingangs des Palastes geschoben hatte, war Cyneric beinahe unerträglich lange vorgekommen. Er hatte es kaum noch ausgehalten, darauf zu warten, endlich die Stufen der gewundenen Treppe hinab zu steigen, die zu der verborgenen Höhle führten, in der sich der Brunnen der Schattenläufer befand.
Als die Sonne hinter den hohen Dächern Gortharias versunken war, war es schließlich beweit gewesen. Ryltha - gehüllt in die eng anliegende schwarze Tracht der Schatten - hatte Cyneric am Palast abgeholt und ihn durch das Gewirr der Straßen Gortharias bis zu dem versteckten Eingang in den Untergrund geführt. Und eine halbe Stunde später hatten sie die finstere Halle erreicht, die von vier mit bläulich leuchtenden Lampen versehen, massiven Säulen getragen wurde und in deren Zentrum sich die mystisch schimmernde Wasseroberfläche Anntírads befand.
"Willkommen," sagte Morrandir beinahe tonlos. Sie stand mit Salia auf der gegenüberliegenden Seite des Wassers und ihr blasses Gesicht war zum Großteil unter ihrer dunklen Kapuze verborgen. Eine weitere, hochgewachsene Gestalt war undeutlich im Schatten zwischen den beiden Säulen hinter Morrandir zu erkennen. Cyneric vermutete, dass es sich dabei um Merîl, die geheimnisvolle Anführerin der Schattenläufer handelte.
"Du hast deinen Auftrag wie von uns gefordert erfüllt," fuhr Morrandir fort, ohne eine Spur von Emotion zu zeigen.
"Gut gemacht, Cyneric!" fügte Ryltha enthusiastisch hinzu.
Salia blieb stumm. Vermutlich haben sie ihr schon wieder diese verdammte Flüssigkeit eingeflößt, dachte Cyneric.
"Nimm nun deine Belohung in Anspruch. Blicke in den Brunnen und konzentriere dich auf das, was du zu sehen erhoffst. Téressa, das Wasser bitte."
Bei diesen Worten regte sich Salia und trat an den Rand des Beckens. Aus einer kleinen, silbernen Schale goss sie eine bläulich schimmernde Flüssigkeit auf die Wasseroberfläche Anntírads, was leichte Wellen erzeugte.
"Nun mach schon," drängte Ryltha. "Der Effekt hält nicht ewig an."
Cyneric fühlte sich merkwürdig. So lange hatte er auf genau diesen Augenblick gewartet, doch nun, da es soweit war, zögerte er. Was, wenn ihm der Brunnen etwas zeigen würde, das er nicht würde sehen wollen? Was, wenn sein kleines Mädchen tot war? Er schluckte und suchte Salias Blick. Doch anstatt dort Ermutigung oder gar Trost zu finden, fand er nur Leere in ihren Augen.
Morrandir räusperte sich dezent. Da endlich gab sich Cyneric einen Ruck und kniete sich an den Rand des Wassers. Die Wasseroberfläche hatte sich inzwischen beruhigt und war stumm und schwarz geworden.
Déorwyn, dachte er. Zeig mir meine Tochter.
Sieben kleine, kaum sichtbare Lichtpunkte erschienen in der Mitte des Brunnens. Einer nach dem anderen verloschen sie, doch die Schwärze kehrte nicht zurück. Stattdessen erschien ein Bild auf dem Wasser; zunächst unscharf, doch dann immer deutlicher. Ein von Hügeln durchzogenes, teilweise bewaldetes Land, das von einem breiten Fluss begrenzt wurde. Als der Fluss näher kam, sah Cyneric, dass in seiner Mitte ein anmutiges Schiff stromaufwärts fuhr, von einem günstigen Wind angetrieben. Eine dunkelhaarige Gestalt hockte auf der Bugspitze des Bootes, doch Cynerics Blick wurde vom Hauptdeck angezogen. Dort stand ein blondes Mädchen, den Blick nach vorne gerichtet. Seine Tochter, daran gab es keinen Zweifel. Gerade wendete sie den Blick ab und drehte sich zu jemandem um, der Cyneric bekannt vorkam. Spitze Ohren, hellbraunes Haar...
Herr Oronêl? Er war sich nicht sicher, ob er seinen Augen trauen konnte. Die Erinnerung an den Elben kehrte zurück, den er vor vielen Monaten in Aldburg kennen gelernt hatte, und der ihm die Obhut des Mädchens Irwyne anvertraut hatte. Für einen Augenblick schweifte Cyneric ab und hielt inne. Ich frage mich, wie es Irwyne wohl ergangen ist. Ich hoffe, dass es Antien und Finelleth gelungen ist, sie wohlbehalten nach Bruchtal zu bringen...
"Sieh hin, oder du wirst deine Gelegenheit verpassen," riss ihn Morrandir scharf aus seinen Gedanken.
Und tatsächlich war das Wasser wieder beinahe vollständig dunkel geworden, nur noch der blonde Haarschopf von Cynerics Tochter stach aus der Finsternis hervor. Rasch konzentrierte er sich darauf und wisperte leise ihren Namen.
Die Wasseroberfläche erhellte sich wieder, doch diesmal zeigte sie ein anderes Bild. Wieder war ein breiter Fluss zu sehen, doch er durchfloss ein Tal, das zwischen einem großen Wald und einer gewaltigen Gebirgskette lag. Inmitten des Flusses und von ihm an beiden Seiten umströmt ragte ein mächtiger Felsen in die Höhe. Cyneric beobachtete, wie seine Tochter durch das flache Wasser der Furt rings um den Felsen sprang. Sie wirkte ausgelassen und fröhlich. Und sie war nicht alleine. Eine kleine Gruppe folgte ihr durch die Furt hindurch. Doch Cynerics Sichtfeld war zu weit entfernt, als dass er einen von Déorwyns Gefährten hätte erkennen können. Erneut glaubte er Oronêl zu sehen, doch es hätte genausogut ein anderer Elb mit ähnlicher Haarfarbe sein können.
Das Bild verschwamm und an seine Stelle trat ein gewaltiges Felsmassiv, das vor einem dunklen Himmel aufragte. Weiter und weiter hinauf schwang sich die Sicht, die sich Cyneric bot, entlang der Felsenklippe und hinauf bis zu dem schmalen Kamm, der sich an der Spitze befand. Cyneric sah seine Tochter dort stehen, umringt von grimmigen Gestalten in grauen Gewändern, die Bogen und Schwerter gezogen hatten. Doch sein Blick wurde augenblicklich von einer weiteren Erscheinung angezogen. Dort, nur wenige Schritte von Déorwyn entfernt, stand niemand anderer als der Weiße Zauberer persönlich.
Saruman! Cyneric war entsetzt. Er konnte nur zusehen, wie der verhasste Zauberer seine Tochter am Arm packte und mit sich zog.
"Nein!" entfuhr es ihm. Verzweifelt versuchte er, das Bild irgendwie zu verändern, doch stattdessen verdunkelte sich die Oberfläche Anntírads und blieb diesmal schwarz.
Sie ist Saruman in die Hände gefallen, dachte Cyneric entsetzt. Nein, das muss eine Täuschung sein. Der Zauberer würde sich nicht mit ihr abgeben. Oder etwa doch? Gewiss hatte er Wichtigeres zu tun. Aber der Brunnen zeigte stets die Wahrheit...
"Das kann nicht alles gewesen sein," wandte er sich an die Schattenläufer. "Wieso zeigt mir der Brunnen nicht mehr?"
"Stelle nicht den Brunnen infrage," antwortete Morrandir streng. "Du hast gesehen, was du gesehen hast. Es ist keine Lüge in Anntírads Weisheit. Was du gesehen hast, ist bereits eingetreten. Du kannst es nicht verändern."
"Aber das hilft mir nicht weiter, meine Tochter zu finden! Ich wüsste nicht einmal, wo ich nach Saruman suchen sollte, wenn er sie tatsächlich in seiner Gewalt haben sollte. Er könnte längst überall sein!"
"Tut mir Leid für dich, Cyneric", erwiderte Ryltha. "Vielleicht hast du bei deinem nächsten Blick in den Brunnen mehr Glück..."
Cyneric ballte die Hände zu Fäusten. Oh, ich weiß ganz genau, was hier gespielt wird, dachte er wütend. Ihr haltet mich hin, weil ihr mich braucht. Ihr könnt es euch nicht leisten, mich gehen zu lassen. Und ihr habt den Brunnen so beeinflusst, dass er mir keinen eindeutigen Hinweis darauf gegeben hat, wo mein kleines Mädchen ist. Ich hätte es ahnen sollen und mich niemals mit euch Schlangen einlassen sollen!
Von diesen Gedanken drang nichts nach außen. Er wusste es besser, als es sich mit den Schattenläufern zu verscherzen. Cyneric hatte gesehen, wie tödlich Ryltha und Salia bereits waren. Um wieviel gefährlicher war da wohl erst Morrandir, von Merîl selbst ganz zu schweigen?
"Téressa," sagte Morrandir leise. "Bring ihn zurück zum Palast."
Salia trat vor und nahm Cynerics Hand, ohne etwas zu sagen. Dann setzte sie sich in Richtung der Treppe in Bewegung, und ihm blieb nichts Anderes übrig, als ihr zu folgen.
Kurz vor dem oberen Ende der Treppe blieb Salia ohne Vorwarnung stehen, sodass Cyneric fast in sie hineingelaufen wäre.
"Was ist los?" wollte er wissen.
"Shhh!" machte sie und drehte sich zu ihm um, den Finger auf die Lippen gelegt. Sie beugte sich vor und schien angestrengt auf irgend etwas zu lauschen, das Cyneric nicht hören konnte. Schließlich legte Salia sogar ihr Ohr an die oberste Stufe, ehe sie zufrieden nickte.
"Sie sind fort. Wir können zurückgehen."
"Zurückgehen? Wie meinst du das?"
Der Blick, den Salia ihm nun zuwarf, hatte nichts mehr mit der Leere gemein, die er zuvor in ihren Augen gesehen hatte. Er sagte vielmehr: Wie beschränkt bist du eigentlich?
"Sie haben dich reingelegt. Und das wird immer so weitergehen. Du wirst niemals etwas Nützliches im Brunnen sehen, solange sie es nicht wollen. Deswegen müssen wir jetzt die Dinge selbst in die Hand nehmen."
"Wie das? Ich dachte, du hast wieder von diesem unheimlichen Trank trinken müssen."
"Das haben sie gedacht. Doch gleich nach unserer Rückkehr in die Hauptstadt habe ich Rylthas Trankvorrat gegen Wasser ausgetauscht. Ich habe brav meine Medizin genommen, aber sie hat nicht gewirkt! Und ich muss schon sagen, ich habe ihnen die Wirkung dennoch geradezu meisterlich vorgegaukelt."
"Das hast du in der Tat," lobte Cyneric. Dann blickte er den Weg zurück, den sie gekommen waren. "Bist du sicher, dass sie nicht mehr dort unten sind?"
"Ganz sicher kann man sich bei Merîl nie sein. Aber Ryltha und Morrandir sind definitiv weg. Sie haben den Geheimgang zum Palast benutzt, denn heute findet eine Besprechung der wichtigsten Heerführer statt, die sie nicht verpassen können, ohne ihren Rang zu verlieren. Ich habe die Glocke am Turm des Palastes vorhin bereits läuten hören. Wenn sie nicht zu spät gekommen sind - und Morrandir kommt nie zu spät - dann sind sie bereits dort. Komm jetzt, ehe die Gelegenheit verstreicht."
Sie presste sich an Cyneric vorbei und eilte einem Schatten gleich die steilen Stufen zurück hinab in die Dunkelheit des Untergrundes.
Zurück in der weiten Halle Anntírads angekommen verlor Salia keinerlei Zeit und kniete sich an den Rand des Beckens. "Zeig mir seine Tochter," forderte sie.
"Moment, was ist mit dem Wasser, das man darauf schütten muss?"
"Es ist nichts als eine Täuschung. Sie tun so als würde der Brunnen nur funktionieren, wenn man das Wasser darauf schüttet. Aber das ist Unsinn. Sie gaukeln dir vor, dass man den Brunnen nur mit ihrer Hilfe und mit einem geheimnsivollen Ritual benutzen kann. Aber das stimmt nicht."
"Noch eine Lüge," stellte Cyneric fest und kniete sich neben Salia. Angestrengt starrte er auf das Wasser, das sich bereits erhellte.
"Sieh mal einer an," murmelte Salia, als ein Bild erschien, das Cyneric bekannt vorkam. Erneut sah er Saruman, wie er die Hand nach seiner Tochter ausstreckte. Der Zauberer packte Déorwyn am Arm, doch diesmal gebot ihm jemand Einhalt. Eine der in Grau gekleideten Gestalten hielt den Zauberer mit unhörbaren Worten auf und tatsächlich ließ Saruman von Cynerics Tochter ab und verschwand kurz darauf aus dem Bild.
"Das... das ist der Erebor!" stellte Salia überrascht fest. "Der Rabenberg, genauer gesagt. Als Kind hat mich mein Vater einmal dorthin mitgenommen. Dort steht ein Aussichtsposten der Zwerge... nein, dort stand ein Aussichtsposten der Zwerge. Jetzt nicht mehr." Ihre Stimme hatte einen traurigen Klang angenommen.
"Dann ist mein kleines Mädchen also am Erebor?"
"Es scheint so," überlegte Salia. "Brunnen - zeig uns, wo Déorwyn in diesem Augenblick ist!"
Doch anstatt zu wechseln, wurde das Bild nur größer, während die sichtbaren Personen kleiner wurden. Die Spitze des Berges kam in Sicht und schließlich auch das Tal, das sich zwischen den beiden Bergflanken ausbreitete, die unterhalb der Spitze lagen.
"Ja, eindeutig der Erebor. Dazwischen liegt Thal... meine Heimat. Und deine Tochter ist definitiv dort."
"Dann werde ich nach Thal gehen," sagte Cyneric entschlossen. "Ich breche gleich nach dem Fest auf, das Herrin Bozhidar veranstaltet."
"Wieso nicht sofort? Du gehst das Risiko ein, dass die Schatten herausfinden, was wir getan haben."
"Ich habe eine Schuld gegenüber Lilja von den Stahlblüten," erklärte Cyneric. "Wenn ich die nicht begleiche, was wird dann aus Zarifa werden?"
"Ich glaube, die würde schon zurecht kommen," meinte Salia und hob die Schultern. "Aber es ist deine Entscheidung."
Cyneric nickte. "Es sind nur noch wenige Tage, bis das Fest beginnt. Ich werde tun, was die Stahlblüten von mir wollen, und dann breche ich nach Thal auf."
"Wenn du gehst, werde ich mit dir kommen", sagte Salia und sah sich vorsichtig um. "Ich muss mir nur noch eine passende Ausrede ausdenken."
"Dir wird bestimmt etwas einfallen. Doch zunächst..." Cyneric gähnte herzhaft. "Zunächst sollten wir von hier verschwinden, und dann brauche ich dringend ein weiches Bett. Es war ein langer Tag."
Während er Salia zurück an die Oberfläche folgte, nahm er sich vor, gleich am nächsten Tag nach Zarifa zu sehen. Er hoffte, dass es ihr im Haus der Stahlblüten einigermaßen gut ergangen war...
Cyneric auf die Straßen von Gortharia (http://modding-union.com/index.php/topic,25849.msg466630.html#msg466630)