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Das Schicksal Mittelerdes (RPG) => Die Welt von Mittelerde => Weit-Harad => Thema gestartet von: Fine am 15. Jan 2017, 01:22

Titel: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Fine am 15. Jan 2017, 01:22
Narissa, Elendar, Serelloth und Aerien aus der Burg des Silbernen Bogens (http://modding-union.com/index.php/topic,34223.msg452209.html#msg452209)


Einen Tag nach ihrem Aufbruch von der verborgenen Burg des Silbernen Bogens begann sich die Landschaft grundlegend zu verändern. Elendar, der sich gut in der Gegend auskannte, erklärte Aerien, Narissa und Serelloth, dass sie die fruchtbare Ebene des Harduin erreicht hatten, dem wassereichsten Fluss des großen Landes das in Gondor Harad genannt wurde. Der Strom war an einigen Stellen sogar breiter als der Anduin und war bis nach Qafsah, Sûladans Residenzstadt, von Hochseeschiffen befahrbar. Er mündete weit im Südwesten in den Golf von Kerma und machte Sûladans Reich zu einem der grünsten Gebiete südlich der Wälder Ithiliens. Je näher sie der Stadt Qafsah kamen, desto belebter wurde das Land. Elendar trug die Rüstung eines haradischen Kriegers im Dienste des Sultanats und auf seinem Rücken prangte gut sichtbar die rote Schlange Sûladans. Bisher hatte dies ausgereicht, um der Gruppe eine ungestörte Reise zu ermöglichen. Dennoch waren sie übervorsichtig und reisten meist nur bei Nacht - eine Tatsache, auf die sich Elendar und Narissa bereits in der ersten Minute seit ihrem Aufbruch geeinigt hatten. Sie waren in den frühen Morgenstunden des Tages nach Serelloths Ankunft aufgebrochen und hatten dank ihres leichten Gepäcks bereits viele Wegstunden zurückgelegt. Man konnte Serelloth vieles vorwerfen, doch das Mädchen war eine erfahrende Wanderin der Wildnis und beschwerte sich nicht ein einziges Mal über die harte Geschwindigkeit, die Elendar vorgab.

In einem kleinen Dorf auf halbem Weg zwischen Ain Salah und Qafsah machten sie eines Tages Rast. Vor Sonnenuntergang würden sie nicht weiterreisen, und bis dahin würden noch mehrere Stunden vergehen. Aerien lehnte nachdenklich an dem kleinen Brunnen in der Mitte des Dorfs und hielt die Wasserschläuche der Gruppe, während Narissa sie eilig befüllte. Von Elendar und Serelloth war nichts zu sehen. Wieder einmal hatten sich die beiden heimlich davongestohlen.
"Sie sind wirklich nicht sehr subtil, die beiden," kommentierte Narissa und ließ den Eimer mit einem lauten Klatschen zurück in den Brunnen fallen.
"Ist das etwa Eifersucht, die ich da höre?" fragte Aerien lächelnd und blickte ihre Freundin prüfend an, doch diese winkte ab.
"Unsinn," gab sie ungehalten zurück. "Ich habe keine Gefühle für Elendar."
"Also wärst du jetzt lieber in Bayyins zärtlichen Schreiberarmen," neckte Aerien und handelte sich einen festen Schlag gegen den Oberarm ein.
"Rede so weiter und ich zaubere dir mit Ciryatans Dolch auch so eine Gesichtsverschönerung ums Auge, wie sie mir dein Vetter verpasst hat," drohte Narissa.
"Danke, kein Bedarf," wehrte Aerien lachend ab.

Während sie die frisch gefüllten Wasserschläuche verstaute beobachte Aerien die nachdenkliche Narissa, die nahezu regungslos nach Nordwesten starrte. Nach Nordwesten, wo Qafsah lag. Ein ungewisses Schicksal erwartete sie. Narissa hatte ihr erzählt, dass sie zuletzt mit zehn Jahren in der Stadt gewesen war, doch die Tatsache, dass Sûladan in ganz Harad nach ihr suchen ließ verhieß nichts Gutes. Es grenzte beinahe an Torheit, sich so in die Höhle des Löwen zu wagen. Doch Aerien wusste, dass der Entschluss ihrer Freundin feststand: sie würde ihre Mutter retten, oder bei dem Versuch sterben. Und Aerien würde mit aller Kraft versuchen, Letzteres zu verhindern.

"Reiter nähern sich!" rief Elendar, der gerade zwischen zwei Häusern aufgetaucht war, dicht gefolgt von Serelloth, die ihre grüne Kapuze aufsetzte und den Langbogen aus seiner Halterung an ihrem Sattel löste und kampfbereit in der Hand hielt. Karab schnaubte und riss an der Leine, mit der Aerien ihn angebunden hatte, und auch Narissas Grauwind ließ ein leises Wiehern hören. Eayan hatte das Ross von seinen Nachforschungen im Norden mitgebracht, wollte jedoch nicht verraten, wo er es gefunden hatte und woher er wusste, dass es Narissa gehörte. Dennoch hatte sie sich über Grauwinds Rückkehr gefreut.
"Nicht, Serelloth," gab Elendar dem Mädchen zu verstehen dass er nicht vorhatte, zu kämpfen. "Wir bleiben außer Sicht. Vielleicht suchen sie ja gar nicht nach uns."
Eilig zerstreute sich die Gruppe und jeder führte sein Pferd am Zügel weg vom Brunnen, zwischen die ärmlichen Häuser des Dorfes. Zu ihrem Glück sollte Elendar Recht behalten. Eine große Gruppe von ungefähr einem Dutzend schwer bewaffneter haradischer Reiter rauschte durch das Dorf und wurde nicht einmal langsamer als sie in Richtung Qafsah weitergaloppierten.
"Wir müssen noch vorsichtiger sein," befand Elendar als sich die vier Reisenden wieder zusammenfanden. "Wir hatten Glück, dass ich die Reiter gesehen habe, als ich..." er brach verlegen ab.
"Als du den Geschmack von Serelloths Zunge geprüft hast," beendete Aerien den Satz für ihn.
Elendar blickte ertappt zu Boden, und Serelloth ließ ein verlegenes Kichern hören.
"Er hat aber Recht," sagte Narissa scheinbar ungerührt. "Ich schätze, dass der Krieg viele von Sûladans Ressourcen vebraucht, aber er wird immer genug Leute haben, um uns zu jagen. Wir dürfen nicht riskieren, seine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen bis wir es nach Qafsah geschafft haben."
Sie warteten noch einige Minuten ab, dann sattelten sie auf und setzten ihren Weg fort.

Am Tag darauf kamen sie gegen Mittag zum ersten Mal in Sichtweite des Harduins. Auf der Reise von Ain Séfra, auf den Spuren Narissas, war Aerien zu weit westlich geritten, um den Fluss zu überqueren, doch nun lag er wie ein breites, blaues Band inmitten der grünen Ebene vor ihr. "So viel Wasser," flüsterte sie und fühlte sich erneut an den Anduin erinnert, den sie mit Beregond bei der Flucht aus Minas Tirith mit der orkischen Fähre überquert hatte.
"Er ist die Lebensader Harads," erklärte Elendar. "Und Sûladan hat ihn fest unter seiner Kontrolle."
"Solange er Qafsah besetzt hält kontrolliert er auch das Wasser," schlussfolgerte Narissa. "Und wenn er das Wasser kontrolliert, kontrolliert er auch die Stämme, die davon abhängig sind."
"Ganz genau," sagte Elendar.

Sie ritten nun am Fluss entlang, wo einer der vergangenen Herrscher dieses Landes eine Straße angelegt hatte, die offenbar in westlicher Richtung von Qafsah nach Umbar führte. Obwohl sie erst nach Einbruch der Dunkelheit weiterreisten war die Straße belebter als Aerien erwartet hatte.
"Das liegt am Krieg," kommentierte Elendar. "Sûladan tauscht ständig Botschaften mit seinen vielen Getreuen aus, während er in seinem Palast sitzt und Pläne schmiedet."
Je näher sie an Qafsah heran kamen, desto häufiger sahen sie Soldaten mit dem Abzeichen der Schlange. Offenbar zog Sûladan eine beträchtliche Streitmacht zusammen. Sie hörten Gerüchte von einem Angriff auf Umbar, denn anscheinend hatte es in der Stadt einen Aufstand gegeben, bei dem der amtierende Fürst gestürzt und zur Flucht gezwungen worden war. Aerien fragte sich, ob vielleicht Ta-er as-Safar dafür verantwortlich gewesen war.
Am siebten Tag seit ihrem Aufbruch aus dem Versteck Eayans und seiner Verbündeten tauchten am Horizont schließlich die Turmspitzen einer großen haradischen Stadt auf, deren Sandsteinmauern gelb in der frühen Morgensonne glänzten. Die Stadt war von mehreren Oasen umgeben, die vom nahen Fluss gespeist wurden. Narissa, die ein kleines Stück vorausgeritten war, blieb stehen als die Stadt in Sicht kam.
"Es hat sich kaum verändert," sagte sie leise.
"Das ist nicht deine Heimat, Narissa," flüsterte Elendar eindringlich. "Deine Heimat ist die Insel."
Sie wandte ihm den Kopf zu. "Ich weiß," sagte sie mit fester Stimme.
"Finden wir deine Mutter und sehen dann zu, dass wir so schnell wie möglich wieder verschwunden," meinte Aerien. "Ich weiß ja nicht wie es euch geht, aber ich möchte nur so viel Zeit wie notwending in Sûladans Machtsitz verbringen."
"Geht uns allen so," antwortete Elendar.
Sie gaben ihren Pferden die Sporen und ritten im lockeren Tempo auf die Stadt zu.
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 15. Jan 2017, 22:48
Als sie noch etwa eine Meile von den Mauern der Sultansstadt entfernt waren, zog sich Narissa ihre Kapuze über den Kopf, um ihre auffälligen weißen Haare zu verbergen. "Ich hätte sie wirklich vorher färben sollen...", sagte sie leise vor sich hin, und lenkte Grauwind an den Straßenrand, wo sie ihr Pferd zügelte. Aerien brachte ihr Pferd neben ihr zum Stehen, und Serelloth und Elendar, die hinter ihnen geritten waren, hielten ebenfalls an. "Es wäre mir lieber, wenn ihr in der Stadt nicht meinen richtigen Namen benutzen würdet", sagte sie, und Aerien nickte. "Wenn er den falschen Personen zu Ohren kommt, wäre das schlecht", meinte sie, und meinte damit eindeutig Suladân selbst.
"Und wie sollen wir dich dann nennen?", fragte Serelloth dazwischen, und Narissa zögerte einen Moment. Sie hatte sich bereits während der Reise Gedanken darüber gemacht, doch kein Name war ihr richtig erschienen. Doch jetzt hatte sie das Bild eines schlanken, schwarz-weißen Vogels vor Augen. "Wie wäre es mit...Tuilin."
"Schwalbe. Schön", sagte Aerien. "Ich glaube, er passt zu dir.  Ich schätze, ich sollte vielleicht auch als Azruphel vorgestellt werden, falls jemand fragt..."
Narissa wollte gerade ihr Pferd wieder antreiben, als eine ihr vage bekannt vorkommende Stimme sie von der Seite ansprach: "Verzeiht, hättet ihr vielleicht einen Augenblick Zeit?" An eine Palme neben der Straße gelehnt stand ein einzelner, in helle Gewänder gehüllter Mann, dessen Gesicht ebenfalls unter einer Kapuze verborgen war. Unwillkürlich fragte Narissa sich, was er alles gehört - und gesehen - hatte. Woher konnte sie wissen, ob Suladân keine verborgenen Posten an den Eingängen zur Stadt aufgestellt hatte, um alles Kommen und Gehen zu beobachten? "Was wollt ihr?", fragte sie misstrauisch, und zog unauffällig ihre Kapuze zurecht. "Geld?"
Unter der Kapuze des Mannes leuchteten zwei helle blaue Augen auf - ungewöhnlich für einen Haradrim. "Nur ein Gespräch mit euch und euren... interessanten Gefährten."
Neben Narissa legte Aerien die Hand auf den Schwertgriff, doch Narissa rührte sich nicht. "Also schön. Sprecht", forderte sie ihn auf. "Nicht hier - hier gibt es zu viele Augen und Ohren, für die nichts davon bestimmt ist." Nun tastete auch Narissa nach dem Griff ihres Dolches, denn die ganze Angelegenheit roch stark nach einer Falle, als der Mann den Kopf neigte, und leise sagte: "Mae govannen, meldis."
Eine unglaubliche Erleichterung durchströmte Narissa, während Aerien sich auf ihrem Pferd vorbeugte und ungläubig fragte: "Hat er gerade..."
"Allerdings", bestätigte Narissa und saß ab. Sie nahm Grauwinds Zügel, und sagte zu dem Mann, dessen Gesicht noch immer im Schatten seiner Kapuze verborgen war: "Geh voran."

"Bist du sicher, dass du weißt was du tust, N... Tuilin?", fragte Aerien im Flüsterton. Sie führte ihr Pferd ebenfalls am Zügel neben sich, während sie dem geheimnisvollen Mann zwischen zwei Sanddünen hindurch weg von der Straße folgten. "Er könnte uns geradewegs in eine Falle locken."
"Das glaube ich nicht", erwiderte Narissa lächelnd. "Ich denke er, dass er dir einen deiner sehnsüchtigsten Träume erfüllen wird."
"Hm", machte Aerien, und strich ihrem Pferd im Gehen über den Hals. "Gib es zu, du hast Spaß daran mich im Ungewissen zu lassen."
"Allerdings", gab Narissa lachend zu. Seit sie die Burg des Silbernen Bogens verlassen hatten, hatten sie Zweifel geplagt, doch für den Moment waren sie verschwunden. Sie umrundeten einen letzten sandigen Hügel, und Narissa erkannte die Oase, die vor ihnen lag, sofort wieder. Der Anblick verschaffte ihr gemischte Gefühle - Freude, über das kommende, und Trauer bei dem Gedanken an den Tag, als sie zum ersten und letzten Mal hier gewesen war. Die letzten Worte, die ihre Mutter zu ihr gesagt hatte, hallten in ihrem Kopf wieder: Ich komme dich bald holen.
"Nein...", flüsterte sie beinahe unhörbar vor sich hin. "Ich hole dich."
Um den von Palmen und niedrigen Büschen umstandenen Teich gruppierten sich mehrere Zelte, es mussten ungefähr ein halbes Dutzend sein. Beinahe erwartete Narissa von zwei Männern mit Krummschwertern angehalten zu werden, doch stattdessen wandte sich ihr Führer zu ihnen um, und setzte die Kapuze ab. Sein Gesicht war ernst, und hatte sich seit ihrer letzten Begegnung kein bisschen verändert.
"Mae govannen, Níthrar", sagte Narissa leise, und warf sich dann in seine Arme, als wäre sie noch immer ein kleines Mädchen, dass gerade seine Eltern verloren hätte. Níthrar strich ihr sanft über den Rücken, und hinter ihnen zog Aerien scharf die Luft ein, als eines seiner Ohren, die etwas spitzer zuliefen als bei Menschen, sichtbar wurde. Nach einem kurzen Moment des Schweigens löste sich Níthrar aus ihrer Umarmung, strich sanft mit dem Daumen über ihre Narbe, und sagte dann: "Bevor ich anfange - willst du mich vielleicht vorstellen?"
"Aber gerne", sagte Narissa übermütig, und deutete eine Verbeugung an. Alle Sorgen, die ihren Geist in den vergangenen Tagen beherrscht hatten, waren verschwunden. "Dies sind Aerien, eine tapfere Kriegerin aus... dem Norden und eine gute Freundin - eine sehr gute - Serelloth, eine Waldläuferin aus Ithilien, und Elendar bin Yulan, von dem ich dir bereits erzählt hatte."
"Und der anscheinend nicht so tot ist wie gedacht", meinte Níthrar lächelnd, bevor Narissa fortfuhr: "Und dies ist Níthrar von den Heimatlosen... mein ältester Freund, könnte man sagen, der immer für mich da war."
"Wenn du ihn gelassen hast...", sagte Níthrar leise, was den anderen freilich entging. "Ihr seid... ein Elb?", fragte Aerien, und wirkte dabei ein wenig atemlos. "Einer der Eldar?"
"Ja und nein", erwiderte Níthrar. "Ich bin einer der Quendi, doch meine Vorfahren schlossen sich dem Zug nach Westen nicht an, sondern zogen es vor, in Mittelerde zu bleiben."
"Ich habe noch nie zuvor einen Elben gesehen", sagte Aerien langsam, und Níthrar lächelte schief. "Nun, das glaube ich. Menschen eurer Herkunft begegnen selten Angehörigen meines Volkes." Aerien machte ein Gesicht, als wäre sie von einem Hammerschlag getroffen worden, und Níthrar winkte schnell ab. "Genug davon. Zunächst würde ich gerne ein paar mehr oder weniger unfreundliche Worte mit Narissa wechseln." Er wandte sich Narissa zu. "Allein, oder dürfen sie dabei sein? Deine Entscheidung." Narissa errötete, und war froh, dass die Kapuze, die sie noch immer trug, es einigermaßen verbarg. Dennoch erwiderte sie: "Meinetwegen kannst du es gleich hier tun."
"Also schön." Níthrar verschränkte die Arme, und atmete tief durch. "Was, bei allen Sternen hast du dir dabei gedacht, mir davonzulaufen? Du und Bayyin, ihr wart in Sicherheit!"
"Davonlaufen?", warf Elendar ein. "Aber ich dachte... du hast doch erzählt, ihr wärt getrennt worden, als Suladâns Männer euch gefunden hatten."
Narissa trat von einem Fuß auf den anderen, und blickte beschämt zu Boden. "Nun... das entsprach vielleicht nicht ganz der Wahrheit. Er wollte uns nicht weiter nach Arandirs Reisebericht suchen lassen, also haben wir uns eines Tages, als er nicht im Lager war... davongeschlichen und sind nach Umbar gegangen."
"Nach Hadors Tod war ich derjenige, der für dich verantwortlich war. Wie soll ich dich beschützen, wenn du vor mir davonläufst?" Es war nicht zu übersehen, dass Níthrar wütend war, doch wie berechtigt sein Zorn auch sein mochte, Narissa würde nicht kampflos aufgeben.
"Die einzige, die für mich verantwortlich ist, bin ich selbst", erwiderte sie, und blickte ihm fest in die ungewöhnlich blauen Augen. "Ich kann auf mich selbst achtgeben."
"Das sehe ich", gab Níthrar kalt zurück, und Narissas Hand fuhr unwillkürlich hinauf zu ihrem Gesicht. "Ist das in Umbar geschehen?"
"In Ain Salah", antwortete Narissa unwillig. "Das war ein Mann namens Karnûzir."
"Ein Verwandter von euch?", fragte Níthrar an Aerien gewandt, die dem Austausch bislang stumm gelauscht hatte, und seine Stimme war noch immer kalt. "Ein Vetter", erwiderte Aerien. Ihr wahr sichtlich unwohl bei der Sache, als sie hinzufügte: "Aber ich habe nichts mit ihm zu tun und..."
"Aerien selbst hat mich auf ihr Pferd gehoben, und unter Einsatz ihres eigenen Lebens in Sicherheit gebracht. Wir können ihr vertrauen, und zwar bedingungslos", sprang Narissa ihrer Freundin bei.
Einen langen Augenblick betrachtete Níthrar sie schweigend, bis schließlich der Zorn in seinen Augen erlosch, und er seufzte. "Verzeiht mein Misstrauen, Aerien. Narissa, ich würde gerne erfahren, was geschehen ist, seit wir uns das letzte Mal sahen - und zwar alles. Und ganz besonders interessiert mich, was euch hierher führt, in die Höhle des Löwen. Oder vielleicht besser, in die der Schlange."
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 16. Jan 2017, 15:15
Wenig später saß die Gruppe auf niedrigen Hockern im Schatten der Palmen rund um eine erloschene Feuerstelle.
"Es sind weniger Leute hier als letztes Mal", sagte Narissa, und ließ den Blick durch das kleine Lager schweifen. "Wir sind in die ein oder andere Schwierigkeit geraten", antwortete Níthrar, und seufzte traurig. "Wir hatten Verluste."
"Hm", machte Narissa nur. Verluste waren in diesen Zeiten für alle Feinde Suladâns wohl unumgänglich, und trotzdem stimmte der Gedanke an die gefallenen Nomaden traurig. Sie waren im Gegensatz zu ihrem Anführer normale Menschen aus allen Winkeln Harads, die ihre Heimat aus dem ein oder anderen Grund verlassen und sich Níthrar angeschlossen hatten. Daher nannten sie sich die Heimatlosen, und obwohl Narissa nur wenig Zeit unter ihnen verbracht hatte, hatte sie sie gern.
"Dazu kommen wir später", meinte Níthrar später. "Zunächst erzähl mir alles, was seit unserer letzten Begegnung geschehen ist."
So begann Narissa zu erzählen, wie sie sich gemeinsam mit Bayyin nach Umbar durchgeschlagen hatte, von ihrer Begegnung Edrahil und der Reise nach Aín Sefra. Dieser Teil war allen Anwesenden neu, auch wenn sie Aerien zumindest Teile davon bereits erzählt hatte. Als sie zu Aín Sefra kam, ergänzten Aerien und Serelloth hin und wieder das ein oder andere Detail. Elendar lauschte der Geschichte stumm und aufmerksam, zeigte allerdings keine Überraschung als Narissa ein wenig beschämt erzählte, wie sie Aín Sefra überstürzt verlassen hatte, nachdem sie von Aeriens Herkunft erfahren hatte. Vermutlich hatte Serelloth sich nicht zurückhalten können, und ihm davon erzählt.
Als Narissa von ihrer Zeit in Abels Händen berichtete, wurde ihre Stimme leiser und stockend, bis sie Aeriens tröstende Hand auf ihrer Schulter spürte. Während sie sprach, loderte in Níthrars Augen ein Zorn, der größer war als alles, was sie bei ihm zuvor gesehen hatte, und als sie zu dem Punkt kam, als Aerien und sie die Burg des Silbernen Bogens erreicht hatten, hob er die Hand. "Ich habe noch nie zuvor von diesem Kopfgeldjäger gehört", sagte er. "Aber wenn ich ihm begegne, denn wird er leiden."
"Und er wird es genießen, fürchte ich", meinte Narissa bitter, bevor sie weitersprach. Sie beschrieb die Burg des Silbernen Bogens absichtlich möglichst vage, denn auch wenn sie Níthrar bedingungslos vertraute, hatte Eayan sie doch gebeten, die Position der Burg geheim zu halten. Als sie die Träume erwähnte, die sie nach Qafsah geführt hatten, spannte Níthrar sich sichtlich an.
"Narissa, Herlenna ist tot", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "So schwierig das auch ist, wir müssen es akzeptieren."
"Müssen wir das?", fragte Narissa, und beugte sich leicht vor, die Fäuste auf den Knien. "Ist es nicht viel leichter, einfach anzunehmen, dass sie tot ist? Denn ansonsten haben wir es jahrelang versäumt, wenigstens zu versuchen ihr zu helfen."
"Wenn... wenn es auch nur die kleinste Möglichkeit geben würde, dass sie... noch am Leben wäre...", sagte Níthrar langsam, und schien mit jedem Wort zu kämpfen, bevor er aufblickte und Narissa direkt und fest in die Augen sah. "Ich hätte alles getan, um ihr zu helfen."
"Es gibt diese Möglichkeit", erwiderte Narissa leise und eindringlich. "Níthrar, was ich gesehen habe ist die Wahrheit... das spüre ich."
"Vielleicht solltest du dich fragen, woher diese Träume kamen", warf Aerien ein. "Wer sie geschickt hat und... zu welchem Zweck."
"Zu welchem Zweck?", brauste Narissa auf, atmete tief durch und fuhr dann ruhiger fort: "Damit ich meiner Mutter helfe. Wozu sonst?"
Aerien erwiderte nichts, doch Narissa konnte den Zweifel in ihren Augen sehen. Denselben Zweifel, den sie selbst verspürte und tief begraben hatte. Sie räusperte sich, und wandte sich dann wieder Níthrar zu. "Also, nachdem ich alles erzählt habe, bist du an der Reihe."
"Nun, ich denke, das ist nur gerecht", antwortete er, und stocherte abwesend mit einem dünnen Ast in der Asche des Feuers herum. "Nachdem du und Bayyin uns davongelaufen wart, haben wir einige Zeit versucht, eure Spur aufzunehmen. Vergeblich, denn Hador hat dich offenbar wirklich gut ausgebildet." In seiner Stimme schwang etwas wie wehmütiger Stolz mit. "Als schließlich klar wurde, dass wir euch nicht in der Wildnis finden würden, beschlossen wir nach Umbar zu gehen. Wir sind allerdings nie dort angekommen", beantwortete er Narissas unausgesprochene Frage. "Wir hatten einige Zusammenstöße mit Hasaels Truppen, und da ich mich in der Gegend nicht sehr gut auskennen, beschlossen wir schließlich, nach Qafsah zu ziehen."
"Warum hierher?", fragte Narissa dazwischen. "Hier ist es kein bisschen weniger gefährlich als in Umbar."
"Das nicht", erwiderte Níthrar, und zuckte mit den Schultern. "Einerseits aus Gewohnheit, um den Sultan zu beobachten - auch wenn es niemanden mehr gibt, dem wir Bericht erstatten könnten - und andererseits aus irgendeinem merkwürdigen Gefühl... einer Vorahnung, dass es dich ebenfalls hierher ziehen könnte."
"Darin hast du dich nicht getäuscht", meinte Narissa mit einem aufmunternden Lächeln. "Ich bin froh, dass du hier bist."
"Und ich nicht, dass du hier bist", gab Níthrar zurück, doch er erwiderte das Lächeln. "Da ich vermute, dass du in die Stadt gehen wirst, egal was ich dazu zu sagen habe - lass mich helfen." Er blickte zum Himmel auf, an dem die Sonne hoch stand. "In der Mittagszeit ist wenig Betrieb am Tor, und man wird schnell gesehen. Wenn der Abend hereinbricht, werde ich euch zu meiner Kontaktperson in der Stadt bringen, und bis dahin..." Níthrar machte eine ausholende Geste, die das ganze kleine Lager umfasste. "Mein Heim ist das eure."
Titel: Ein ungewöhnlicher Elb
Beitrag von: Fine am 16. Jan 2017, 18:59
Aerien saß mit dem Rücken zum Lager der Heimatlosen auf der Spitze einer Düne und starrte auf das blaue Band des Harduin hinaus, das sich in der Ferne vor ihr durch die Mischung aus gelben, grünen und braunen Flecken zog, aus denen die Ebene in der Qafsah lag bestand. So habe ich mir meine erste Begegnung mit einem der Eldar nicht vorgestellt, dachte sie und ertappte sich dabei, dass sie wirklich schlechte Laune hatte. Während ihrer Reise von der Burg des Silbernen Bogen bis nach Qafsah war ihr der Grund immer weniger sinnvoll erschienen, und als nun auch der Elb Níthrar, der sich als enger Vertrauter Narissas herausgestellt hatte, Narissa gegenüber seine Zweifel geäußert hatte, hatte Aerien sich in ihrer Meinung bestärkt gefühlt. Doch nun hatten Narissa und Níthrar sich in eines der Zelte zurückgezogen, offenbar um über private Dinge zu sprechen, und Elendar und Serelloth waren ebenfalls verschwunden. Aerien zog Lóminzagar aus dem Futter und begann, die Klinge mit dem kleinen Schleifstein zu schärfen, der am Griff befestigt war. Dabei wanderten ihre Gedanken zurück zu dem, was Eayan am Abend vor ihrem Aufbruch gesagt hatte. Qafsah bedeutet den Tod...

Ein ferner Schrei aus der Luft zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ein Raubvogel zog am Himmel über der Ebene seine Kreise, offenbar auf der Suche nach Beute. Aerien beobachtete, wie der Vogel mit einem Mal zum Sturzflug ansetzte und mit seinen Krallen zielgenau ein Kaninchen erwischte. Mit einem weiteren, triumphierenden Schrei trug er seine Beute davon.
Wenn das irgend eine Bedeutung haben soll, dann wohl keine gute, dachte Aerien düster. Zwar kam sie sich nicht wirklich wie ein Kaninchen vor, dennoch konnte sie nicht verstehen, wie die Heimatlosen so nahe an der Stadt Sûladans lagern konnten ohne ständig in Furcht vor einem Angriff zu leben. Zwar hatte Níthrar aufmerksame Wachen aufstellen lassen, doch Aerien bezweifelte, dass diese das Lager rechtzeitig warnen könnten wenn ein Trupp Reiter in vollem Tempo angreifen würde.
Vielleicht hoffen sie darauf, dass Sûladan Wichtigeres zu tun hat, überlegte sie. Womöglich haben sie damit sogar recht. Immerhin macht Qúsay gegen ihn mobil. Doch so ganz mochten ihre Sorgen nicht schwinden. Narissa hätte ihre Haare wirklich färben können. Eayan hätte bestimmt ein Mittel auftreiben können, dachte Aerien. Das Tuch verdeckt viel zu wenig. Wenn wir entdeckt werden, ist es Narissas Schuld.

Mit einem beinahe geräuschlosen Aufprall ließ sich Narissa neben ihr in den warmen Sand fallen und schlug die Beine übereinander. Sie schien in bester Stimmung zu sein. "Níthrar hat gesagt, dass er uns noch vor Sonnenuntergang in die Stadt bringen kann. Ich kann es kaum erwarten," redete sie munter drauflos und schien Aeriens kritische Miene gar nicht zu bemerken. "Zuerst müssen wir in Sûladans Palast eindringen und die Verliese durchsuchen. In meinem Traum habe ich die Zelle gesehen, in der er meine Mutter gefangen hält. Je schneller wir dort sind, desto besser. Und wenn wir sie gefunden haben, dann ..."
"Hörst du eigentlich, was du da sagst?" unterbrach Aerien mit unterdrücktem Zorn in der Stimme. "Das ist vollkommener Wahnsinn, Narissa. In Sûladans Palast eindringen? Weil das in Ain Séfra so gut geklappt hat?" Narissa hatte ihr erzählt, dass sie den Einbruch in Marwans Residenz hatte aufgeben müssen als der Majles begonnen hatte.
"Wir schaffen das schon," gab Narissa zurück. "Du kannst ja hier warten, wenn es dir zu gefährlich ist. Ich werde meine Mutter nicht im Stich lassen."
"Narissa," begann Aerien eindringlich. "Eayan und dieser Níthrar haben es dir ja auch schon gesagt, aber ich wiederhole es gern: Du weißt nicht, woher dieser Traum kommt. Es gibt... in Mordor etwas, das sich die Dunklen Künste nennt. Viele von meinem Volk beherrschen sie. Ich - zum Leidwesen meines Vaters - nicht." Sie sprach nicht gern darüber und das hörte man ihrer Stimme auch an, doch Aerien zwang sich, der skeptischen Narissa weiter davon zu erzählen was sie wusste. "Diese Art von... Begabung stammt vom Dunklen Herrscher. Vielleicht hast du schon einmal von einem Mann namens Dolguzagar gehört, dem Düsterschwert. Er stieg dank der Dunklen Künste so weit im Ansehen des Großen Gebieters auf dass er irgendwann als Saurons Mund bekannt wurde und zum Statthalter von Barad-dûr ernannt wurde. Und eine seiner Begabungen erlaubte es ihm... falsche und irreführende Träume hervorzurufen."
Narissas Hand fuhr hinab in den Sand und ließ ihn gegen Aeriens Beine spritzen. "Wage es ja nicht," sagte sie leise und gefährlich. "Meine Träume sind wahr. Eayan hat es bestätigt."
"Nein, hat er nicht," widersprach Aerien. "Er war ebenfalls der Meinung, dass all dies ein Werk des Feindes ist. Erkennst du denn nicht, dass wir gar nicht hier sein sollten? Wir sollten zur Insel gehen, oder nach Umbar, oder..."
Doch Narissa ließ sie nicht ausreden. Sie sprang auf. "Ich habe sie gesehen!" schrie sie. "Und ich werde sie retten!"
Jetzt kam auch Aerien auf die Beine und packte Narissa am Arm. "Das ist Irrsinn, Narissa! Wir hätten niemals herkommen dürfen!"
"Lass - mich - los!" schrie Narissa und versetzte Aerien einen festen Stoß, der sie nach hinten taumeln ließ.
"Du sture Ziege!" rief Aerien wütend. "Siehst du denn nicht dass jeder, dem etwas an dir liegt, dich aufhalten will, weil wir Angst um dich haben?"
"Dann geh doch heim nach Mordor wenn du so viel Angst hast!" knurrte Narissa. "Ich habe dich sicher nicht gebeten mir hierher zu folgen."
Aerien taumelte rückwärts, schwer getroffen von Narissas harten Worten. "Ich bitte dich, Narissa," stieß sie hervor während sich ihre Kehle zuschnürte. "Bitte sei vernünftig und lass uns von hier verschwinden."
"Ich gehe nicht ohne meine Mutter," stellte Narissa klar. "Wenn du gehen willst, dann geh. Niemand hier hält dich ab. Aber versuch nie mehr, mich von der Rettung meiner Mutter abzubringen." Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging mit großen Schritten in Richtung des Lagers davon. Aerien sank auf die Knie, ratlos, verletzt, und mehr als nur durcheinander.

Eine Hand legte sich auf ihren Rücken. Aerien wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie blickte auf und sah den Elben Níthrar vor sich, der in die Hocke gegangen war und sie mit einem prüfenden Blick betrachtete. Doch in seinen tiefblauen Augen schimmerte auch ein Funken von Mitleid.
"So ist sie schon immer gewesen," sagte er leise.
"Du... hast gehört was geschehen ist? Was wir... einander an den Kopf geworfen haben?"
"Oh, das haben alle in einem Umkreis von hundert Metern gehört," sagte Níthrar lächelnd. "Narissa kann sehr laut werden, wenn sie will."
"Es tut mir Leid, was geschehen ist," presste Aerien hervor.
"Sieh mal einer an. Eine Adûnâ(1) mit Gewissensbissen. Ich hoffe, Narissa behält recht damit, dass sie dir vertraut. Denn solltest du sie verraten... werde ich dich jagen. Und wenn ich dich finde, werde ich dich töten."
Aerien hielt seinem stählernen Blick stand. "Dazu wird es nicht kommen," sagte sie entschlossen. "Wir wollen beide dasselbe: Narissa von diesem Irrsinn abbringen."
"Das wird uns nicht gelingen," antwortete Níthrar traurig. "Wenn sie sich etwas so fest in den Kopf gesetzt hat wird sie nicht davon abweichen. Wir müssen uns den Folgen ihrer Entscheidung wohl oder übel stellen."
"Wenn wir sie vielleicht fesseln und von hier wegschaffen könnten..." Aerien merkte schon während sie den Satz sagte, dass diese Idee wohl kaum zu einem guten Ende führen würde. Selbst wenn es ihnen gelingen würde, Narissa sicher von Qafsah wegzuschaffen würde sie doch bei der ersten Gelegenheit wieder losziehen um ihre Mutter zu retten.
Níthrar schüttelte den Kopf und betrachtete Aerien einen anhaltenden Moment lang. "Du bist wirklich ein seltsames Mädchen," sagte der Elb.
"Und du bist nicht wie ich mir die Eldar vorgestellt habe," gab Aerien zurück.
"Mein Volk hatte nie viel mit jenen zu tun, die die Große Reise antraten," erwiderte Níthrar. Dann fixierten seine blauen Augen, in denen sie Sternenlicht zu sehen glaubte, Aeriens Pupillen und er schien direkt durch sie hindurch zu blicken und alle ihre Masken zu durchschauen. "Du ... hast wirklich und endgültig mit Mordor gebrochen," stellte er schließlich fest.
Es war keine Frage gewesen, doch Aerien antwortete trotzdem: "Ja, das habe ich. So gerne Narissa es offenbar gerade sehen würde... ich kehre nicht nach Mordor zurück."
"Zumindest nicht als Dienerin des Dunklen Herrschers," sagte Níthrar. "Es mag sein, dass Narissa einst den Pfad beschreitet, den ihr Vorfahr entdeckt hat. Wenn du wirklich ihre Freundin bist, wirst du sie dabei begleiten und beschützen."
"Das werde ich, falls es diesen Weg wirklich gibt," meinte Aerien. "Und wenn sie mich noch so oft beschimpft."
"Gib ihr Zeit," riet Níthrar. "Ihr Zorn verraucht schnell. Aber versuche nicht wieder, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie muss selbst sehen, dass sie falsch liegt."
"Ich hoffe, sie erkennt es früher als später," sagte Aerien.

Der Elb erhob sich und ließ Aerien allein auf der Spitze der Düne zurück. Sie seufzte tief und ließ gedankenverloren Sand durch ihre Finger rinnen. Ihre Sorgen waren nicht weniger geworden, doch immerhin konnte sie sich jetzt darauf einstellen, das Wagnis, das Narissa vorhatte, tatsächlich anzugehen. Sie würden also in Sûladans Machtsitz eindringen und nach einer Frau suchen, die wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben war. Aerien atmete tief durch und begann, Pläne zu schmieden.



(1) adûnâisch "West-Mensch, Dúnadan"
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 17. Jan 2017, 16:49
Narissa saß mit dem Rücken an eine Palme gelehnt, und blickte nach Westen, wo die das grün der Oasen und der Flussebene in der Ferne immer weniger wurde und schließlich ganz in die große Wüste von Harad überging. Sie wünschte sich fort von Qafsah, weit, weit fort von hier.
Als die Sonne allmählich zu sinken begann und der Abend näher rückte, erhob sie sich schließlich schweren Herzens. Der Zorn, den sie auf Aerien verspürt hatte, war beinahe ganz verraucht, denn im Inneren wusste sie sehr genau, dass ihre Freundin sich nur das Beste für sie wünschte und ihr Dinge wie vorhin nicht aus einer Laune heraus sagen würde. Bevor sie in die Stadt aufbrachen, würde sie das klären müssen.
Narissa durchquerte mit langsamen Schritten das Lager, und stieg auf die Spitze der Düne hinauf, auf der Aerien noch immer saß. Sie setzte sich neben sie, und stupste Aerien sanft gegen die Schulter.
"He", sagte sie zaghaft. "Es tut mir Leid, was ich vorhin gesagt habe. Ich weiß ja, dass ihr euch nur Sorgen um mich macht, also... kannst du mir verzeihen?"
"Warum?", fragte Aerien, und blickte stur geradeaus. "Du hast mir sehr klar gemacht, dass du mich nicht dabei haben willst."
"Das war doch nicht so gemeint", erwiderte Narissa, und zog mit ihrem Zeigefinger schmale Linien durch den festen Sand. "Ich... Du bist meine Freundin. Meine einzige wirkliche. Natürlich möchte ich dich dabei haben."
"Wirklich", sagte Aerien, und ihre Stimme klang bitter. Als sie Narissa das Gesicht zuwandte, erschrak diese vor der Härte ihres Gesichtsausdrucks. "Und ich dachte, du sähest mich am liebsten wieder in Mordor." Das lief kein bisschen so, wie Narissa es sich vorgestellt hatte, und Aeriens Sturheit machte sie zornig.
"Ja, vielleicht tue..." Sie unterbrach sich als sie bemerkte, was sie da sagte, und blickte beschämt zu Boden. "Tut mir leid, ich wollte nicht. Beim Baum des Königs, ich bin wirklich schlecht im Entschuldigen."
"Allerdings", erwiderte Aerien, doch ihre Stimme klang nicht mehr so kalt wie zuvor, und als Narissa aufsah erkannte sie, dass die Härte aus dem Gesicht ihrer Freundin gewichen war. "Ich hoffe, dass du nicht mehr allzu oft Gelegenheit bekommst, es zu üben."
"Das hoffe ich auch", meinte Narissa, und lächelte zaghaft. "Ich werde das Wort Mordor nicht mehr in den Mund nehmen - jedenfalls nicht in dem Zusammenhang. Für mich kommst du nicht mehr aus Mordor, sondern aus dem Westen."
Einen Augenblick schwiegen beide, und sahen beide gedankenverloren in Richtung Qafsah. Dann stieß Aerien Narissa plötzlich mit der Schulter an und fragte: "Narissa?"
"Hm?"
"Es tut mir leid, dass ich dich eine Ziege genannt habe."
Narissa musste unwillkürlich grinsen. "Ich hatte es schon fast wieder vergessen", sagte sie. "Und außerdem... vielleicht hätte ich mir noch viel schlimmere Namen gegeben, an deiner Stelle."
"Hmm...", machte Aerien, und fragte dann: "Du wirst dich wirklich nicht davon abbringen lassen, oder?"
Narissa schüttelte den Kopf. "Nein. Ich werde alles tun, was notwendig ist um meiner Mutter zu helfen." Sie begrub die Zweifel erneut tief unter einem Berg der Entschlossenheit.
"Dann hatte ich zumindest mit dem stur recht", sagte Aerien, und ihr Mundwinkel zuckten. "Und ich werde nicht mehr versuchen, dich aufzuhalten... sondern stattdessen zusehen, dass du wenigstens überlebst."
Narissa öffnete den Mund, doch im selben Moment sprach hinter ihnen Serelloth aus, was sie selbst sagen wollte: "Dann kann ja nichts mehr schief gehen."
Aerien und Narissa fuhren herum, und Aerien funkelte das Mädchen böse an. "Hast du gelauscht?"
Serelloth zuckte mit den Schultern. "Nur das Ende. Níthrar schickt mich, wir wollen aufbrechen - und ihr wart so ins Gespräch vertieft, dass ich nicht anders konnte." Narissa kam auf die Füße und streckte Aerien die Hand entgegen, die diese ohne zu zögern ergriff. "Es wurde allerdings auch Zeit, dass ihr fertig werdet", redete Serelloth munter weiter.
"Also dann... auf nach Qafsah", sagte Narissa, als Aerien ebenfalls aufgestanden war, und diese erwiderte etwas weniger enthusiastisch: "Auf nach Qafsah."
Während sie die Düne hinabgingen, hörte Narissa Serelloth leise zu Aerien sagen: "Hast du sie wirklich eine Ziege genannt?"

Narissa, Aerien, Níthrar, Serelloth und Elendar nach Qafsah (http://modding-union.com/index.php/topic,34322.msg452379.html#msg452379)


Verlinkung ergänzt
Titel: Richtig oder falsch
Beitrag von: Fine am 22. Jan 2017, 23:15
Narissa, Aerien und Serelloth aus Qafsah (http://modding-union.com/index.php/topic,34322.msg452557.html#msg452557)


Serelloth lag wie tot am Ufer der kleinen Pfütze, während Narissa mit finsterem Blick hinter einem Dornbusch hervorspähte und zurück in die Richtung aus der sie gekommen waren starrte. Und Aerien stand vor einer Entscheidung. Sie sah, dass ihre beiden Begleiterinnen Trost und gutes Zureden brauchten, doch Aerien war allein und konnte nur zu einer der beiden gehen. Hin- und hergerissen saß sie am unteren Rand der kleinen Senke, in die sie sich geschleppt hatten, und wusste nicht, was sie tun sollte. Die Wunde an ihrem Bein hatte endlich aufgehört zu bluten, doch der pulsierende Schmerz, der aus dem Schnitt unterhalb ihrer Brust drang war stetig stärker geworden und nahm ihr die Konzentration und die Fähigkeit, klare Gedanken zu fassen. Sie spürte förmlich, wie ihr die Zeit davonlief. Sie zwang sich zu einer Entscheidung und stemmte sich mühsam auf die Beine. Narissa nahm die Bewegung wahr und drehte den Kopf in Aeriens Richtung, einen schwer zu deutenden Ausdruck auf dem Gesicht. Aerien formte mit den Lippen die Worte Ich bin gleich bei dir, und schleppte sich dann in Serelloths Richtung. Doch Narissa wandte sich ab und Aerien sah die Enttäuschung, die für einen kurzen Augenblick über das Gesicht ihrer Freundin huschte, und ihr Herz sank. Die Entscheidung war gefallen.

"Serelloth," wisperte sie und strich vorsichtig über den Rücken des Mädchens, das sich starr vor Trauer zusammengerollt hatte. Und als Serelloth die Berührung spürte kam Bewegung in sie. Ehe Aerien reagieren konnte hatte die Waldläuferin sich in ihre Arme gepresst und barg ihr Gesicht an Aeriens Schulter. Aerien setzte sich vorsichtig und nahm Serelloth tröstlich in den Arm, die nun zu schluchzen begann. Es war eine völlig neue Erfahrung für Aerien, die nie mit solchen Emotionen konfrontiert geworden war, doch offenbar genügte es, dass sie für Serelloth einfach nur da war und das Mädchen im Arm hielt. Die Tränen flossen und flossen, bis Aerien glaubte, dass sich bald ein zweiter Teich bilden würde.
"Schsch," machte sie und strich Serelloth sachte durchs Haar. "Du musst dich wieder beruhigen." Sie hatte Serelloth bisher immer fröhlich, abenteuerlustig, mutig und aufgeweckt erlebt, doch nun zeigte sich eine ganz andere Seite an Damrods Tochter - eine verletzliche und tieftraurige Seite, die so gar nicht zu dem Bild passte, das Aerien zuvor von ihr hatte. "Wir sind jetzt in Sicherheit," versuchte sie weiter, Serelloth zu beruhigen, deren Tränen tatsächlich zu versiegen schienen. Die Waldläuferin hatte den Kopf in Aeriens Schoß gelegt und ließ zu, dass Aerien sie sanft am Kopf streichelte.
"E-Elendar," stotterte sie und ihre Augen wurden wieder feucht.
"Er ist jetzt an einem besseren Ort," sagte Aerien leise.
"Warum musste er sterben?" fragte Serelloth verbittert.
Aerien schluckte. Darauf hatte sie keine Antwort. "Narissa sagte, er hat tapfer gekämpft."
"Narissa," wiederholte Serelloth, und unterdrückte Wut flackerte in ihrem Blick auf. "Sprich nicht von ihr. Sie ist... verantwortlich."
"Nicht doch," warf Aerien ein, aber Serelloth schien in Fahrt zu geraten.
"Wir sind nur ihretwegen hier," giftete sie und ihre Stimme wurde lauter. "Sie hat uns in dieses Chaos geführt!"
Narissa war das Geschrei natürlich nicht entgangen, und sie kam herüber. Serelloth sprang auf und tippte ihr wütend mit dem Finger vor die Brust. "Du bist schuld an Elendars Tod!" rief sie aufgebracht.
"Serelloth, ich..." begann Narissa mit schuldbewusster Stimme, doch das Mädchen ließ sie nicht ausreden.
"Du hast ihn getötet!" schrie Serelloth, nun völlig außer sich.
"Nein, das war Abel," warf Narissa ein.
"Und Narissa hat ihn dafür getötet," wies Aerien auf Abels gerechtes Schicksal hin.
Serelloth akzeptierte jedoch keine Ausreden. "Du weißt, dass ich recht habe," zischte sie und schubste Narissa grob weg, die in den warmen Sand stürzte. "Ich muss... ich kann sie nicht mehr sehen," stieß Serelloth schwer atmend hervor und schnappte sich ihren Bogen. "Ich will sie nicht mehr sehen."
"Serelloth, so warte doch!" rief Aerien und stolperte hinter dem Mädchen her. "Wo willst du denn hin?"
"Weg," war die einzige Antwort die Serelloth ihr gab, ehe sie in Richtung des Flusses davonrannte.

Aerien brach erneut in die Knie und sofort war Narissa bei ihr und half ihr auf, zog sie zurück in die Senke. Arm in Arm sanken sie erschöpft neben dem Tümpel in den Sand. Narissa sprach kein Wort, doch Aerien konnte deutlich sehen, dass sie sich die Schuld an all dem gab.
"Elendar und Serelloth kannten die Gefahr," versuchte sie es dennoch mit Trost. "Sie sind dir trotzdem gefolgt."
"Ich hätte auf meinen Instinkt hören sollen, und allein gehen sollen," stieß Narissa hervor. "Ihr drei hättet beim Silbernen Bogen bleiben sollen."
"Du wärst doch alleine nicht weit gekommen," warf Aerien ein.
Narissa schüttelte den Kopf. "Ich hätte einen Weg gefunden. Einen Weg, bei dem niemand durch meine Taten in Gefahr gebracht wird. Bei dem niemand stirbt."
"Du weißt, dass das nicht stimmt," sagte Aerien leise. "Und du weißt, dass ich dir gefolgt wäre, wenn du es geschafft hättest, heimlich aus der Vulkanburg zu fliehen."
Daraufhin blieb Narissa einen langen Moment stumm und atmete hörbar ein- und aus. "Ich weiß," gab sie schließlich zu. "Und... ich bin froh, dass du hier bist."

Erneut folgte ein langer Moment des Schweigens. In Aerien tobten widerstreitende Gefühle. Hauptsächlich war sie froh, noch am Leben zu sein - und dass Narissa nichts zugestoßen war. Sie machte sich Sorgen um Serelloth, und hoffte, das Mädchen würde nicht versuchen, etwas Dummes zu tun. Und dann gab es da ein großes Thema, das wie eine dicke Wolke in der Luft über den beiden jungen Frauen stand, während die Sonne langsam in Richtung des westlichen Horizonts wanderte. Doch noch wagte Aerien nicht, darüber zu sprechen. Sie genoss es, an Narissas Brust gelehnt dazuliegen und ihren Arm um sich zu spüren. Es half ihr, die Schmerzen zu verdrängen.
"Das mit deiner Mutter tut mir ... so sehr leid," sagte sie schließlich, so sanft sie konnte. "Ich kann mir nicht vorstellen wie es sein muss, ein Elternteil zu verlieren - schon gar nicht auf diese Art und Weise."
"Sie hat all die Jahre auf mich gewartet," flüsterte Narissa. "Nur, um mich noch ein einziges Mal zu sehen, bevor sie... geht."
"Ich weiß, dass das vielleicht kein großer Trost ist... aber ich bin mir sicher, es geht ihr besser, dort wo sie jetzt ist," sagte Aerien langsam und bedacht.
Narissa schniefte verdächtig und nickte. "Es ist ein Trost," bestätigte sie, klang aber dennoch nicht wirklich glücklich.

Als Aerien Narissas Hand spürte, die vorsichtig über ihre schwarzen Haare tastete, sie sachte beiseite strich und schließlich an Aeriens Wange verharrte wurde ihr bewusst, dass sie noch immer keine klaren Gedanken über die Sache gefasst hatte. Und als Narissas Gesicht vor ihrem eigenen erschien, mit einer ungestellten Frage in den Augen, senkte Aerien traurig den Blick.
"Was ist los?" fragte Narissa leise, mit Sorge in der Stimme.
"Ich..." begann Aerien, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.
"Sag es mir," forderte Narissa sanft. "Was auch immer es ist." Ihr Gesicht war jetzt ganz nahe.
Aerien biss sich auf die Unterlippe. Sie spürte deutlich, was ihr Herz ihr sagte, aber Angst, Verstand und Vorsicht brachten alle gute Argumente dagegen vor. Narissa schien ihre Anspannung zu spüren und strich ihr mit der Hand über die Wange; abwartend, geduldig, aber dennoch erwartungsvoll.
"Es ist... diese ganze Sache," begann Aerien. "Ich weiß nicht, wann es angefangen hat. Du... du weißt ja, ich habe in solchen Dingen keine Erfahrung. Ich... weiß einfach nicht mehr, was richtig und was falsch ist."
"Richtig oder falsch?" wiederholte Narissa fragend. "Denkst du, es geht hierbei um richtig oder falsch?"
"Ich... weiß es nicht," gab Aerien zu.
"Wenn es sich für dich nicht richtig anfühlt, dann hättest du etwas sagen sollen, als ich dich geküsst habe," stellte Narissa klar. "Ich dachte eigentlich, inzwischen sollte klar sein, wo wir stehen."
"Klar? Überhaupt nichts ist klar!" sagte Aerien etwas zu heftig und rückte ein Stück von Narissa ab, löste sich aus ihrer Umarmung. Der Blick, den Narissa ihr zuwarf riss eine tiefe, blutende Wunde in Aeriens Herz.
Narissa zog die Augenbrauen zusammen, ein deutliches Zeichen für Verärgerung. "Ich verstehe dich nicht, Aerien," sagte sie und stand auf. Sie blickte mit einem seltsamen Gesichtsausdruck auf Aerien herab. "Du solltest wissen, was ich fühle. Deutlicher kann ich nicht werden. Wenn du das nicht willst - wenn du es wegwerfen willst - dann tu es. Aber tu es bewusst. Entscheide dich. Ich werde warten - aber nicht ewig." Damit stand sie auf und kehrte wieder zu ihrer Position am Rand des Gebüsches zurück. "Wenn du einigermaßen ausgeruht bist, brechen wir auf," sagte sie noch, ehe sie wieder in einen Zustand der brütenden Nachdenklichkeit verfiel.
Aerien sackte in sich zusammen. Alles war schief gelaufen. Sie hätte den Mund halten sollen und es einfach geschehen lassen sollen, aber nein, sie hatte ja unbedingt darüber reden müssen - und alles kaputt gemacht. Narissa hatte sie vor eine eindeutige Wahl gestellt, doch Aerien sah sich nicht imstande, diese in ihrem jetztigen Zustand zu treffen. Sie wusste nicht, ob sie jemals soweit sein würde. Sie umklammerte ihre pochende Wunde und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ - sowohl der körperliche, als auch der seelische.

Und so fand Níthrar sie schließlich, der ihre Pferde mit sich führte. Von Serelloth war jedoch nichts zu sehen - sie war ganz offensichtlich verschwunden. Narissa und Aerien fragten nicht, wie Nithrar sie gefunden und von den Geschehnissen erfahren hatte sondern ließen sich in den Sattel helfen und wiesen ihre Pferde einfach an, dem Elben zu folgen. Aerien wagte es nicht, Narissa auch nur anzusehen. Auf dem Weg zur Oase der Heimatlosen hielt sie die Augen fest auf den Boden gerichtet und war froh, dass die Heilerin der Heimatlosen, die sich um sie kümmerte, ein eigenes Zelt besaß, in dem Platz für Aerien war während sie behandelt wurde. Ihre Beinverletzung war relativ simpel zu verarzten und wurde rasch genäht, doch die Wunde an ihrem Unterleib schien schlimmer zu sein, weshalb die Heilerin ihr anbot, sie mit einem besonderen Duftstoff zu betäuben, sodass sie von der Arbeit der Heilerin an ihrem Inneren nichts mitbekam. Aerien stimmte dankbar zu und empfing den Schlaf und das Vergessen mit offenen Armen.
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 23. Jan 2017, 15:55
Der nächste Morgen kam klar und noch angenehm kühl, doch Narissa wusste dass es heiß werden würde, sobald die Sonne stieg. Sie hatte in der Nacht - oder was davon übrig gewesen war - kaum geschlafen. Sobald die Heilerin ihre Arbeit beendet hatte, hatte sie sich neben Aerien gesetzt und eine zeitlang ihr schlafendes Gesicht betrachtet. Alle Wut, die sie am gestrigen Abend verspürt hatte, war verschwunden, und nur ein merkwürdiges Gefühl der Leere zurückgeblieben. Sie hatte Aerien ihr Herz bloßgelegt, jedes einzelne Gefühl gegeben, und Aerien hatte... was eigentlich getan? Was Aerien gefühlt und gedacht hatte, blieb ihr ein Rätsel.
Schließlich war sie selbst in einen kurzen, aber traumlosen Schlaf gefallen, und noch vor Sonnenaufgang wieder erwacht. Nun saß sie mit dem Rücken an einer Palme und blickte über die Straße und den Fluss hinweg nach Osten, wo die Sonne langsam höher stieg.
"Herlenna ist nun also wirklich... tot", sagte Níthrar, der neben ihr saß, mit brüchiger Stimme. Narissa nickte stumm, doch es kamen keine Tränen mehr. Sie hatte genug um ihre Mutter geweint, und obwohl sie sie noch immer fürchterlich vermisste, war es nun nicht so viel anders als vorher. In gewisser Weise war es sogar besser, denn sie wusste, dass ihre Mutter vor ihrem Tod Frieden gefunden hatte, und nicht gelitten hatte. Níthrar wirkte dafür tief erschüttert. "Ich habe natürlich seit langem damit gerechnet", meinte er. "Aber es jetzt wirklich zu hören ist... schwer."
"Du hast mir einmal erzählt, du hättest ihr angeboten sie zu heiraten, als sie schwanger war", sagte Narissa langsam. "Aber du bist ein Elb, und sie war ein Mensch."
Níthrar lächelte traurig. "Wir suchen uns nicht aus, wen wir lieben. Ich habe ihr Geschichten erzählt, von Beren und Lúthien, von Tuor und Idril... Doch Herlenna liebte mich auf ihre eigene Weise, als Freund oder Bruder. Ich habe sicherlich Fehler gemacht", erzählte er. "Wir hatten Streit, wenn ich sie bedrängt habe. Doch irgendwann, noch vor ihrem Verschwinden, habe ich beschlossen, es zu akzeptieren. Meine Liebe zu bewahren und nicht vergiften zu lassen - denn sie schuldete mir nichts."
"Hm", machte Narissa, und zog mit dem Zeigefinger gerade Linien in den Sand. "So einfach ist das also?"
Níthrar schüttelte den Kopf, und lachte leise. "Nein, einfach ist es nicht. Aber es lohnt sich es zu versuchen, denn ansonsten vergiftet es jedes Gefühl, das man hat, und man liebt niemals wieder."
Narissa erwiderte nichts, sondern spielte weiter mit dem Sand zwischen ihren Fingern. Einen Augenblick herrschte Schweigen, bis Níthrar sagte: "Ist das nicht eure Freundin Serelloth?" Narissa sprang auf, legte die Hand über die Augen und sah Serelloth mit schnellen Schritten die Straße überqueren und in ihre Richtung kommen. Als sie heran war, sagte Narissa zaghaft: "Serelloth, ich..." Doch das Mädchen schien sie nicht zu hören, sondern eilte wortlos an ihr vorbei, in das Lager hinein.
"Sie hasst mich", meinte Narissa erschüttert, und Níthrar, der sich ebenfalls erhoben hatte, schüttelte den Kopf. "Nicht wirklich. Sie ist wütend auf dich, und gibt dir die Schuld an allem was geschehen ist, aber echter Hass... sieht anders aus."
Seine Worte trösteten Narissa nur wenig, denn sie wusste, dass Serelloth Recht damit hatte, ihr die Schuld zu geben. Seit sie die Burg des Silbernen Bogens verlassen hatten, war ihr Leben eine einzige Kette an Fehlentscheidungen gewesen. "Entschuldige mich", murmelte sie Níthrar zu, und ging mit schnellen Schritten davon.
Als sie in der Nähe des Zeltes, in dem Aerien geschlafen hatte, ankam, blieb sie hinter einem dichten Gebüsch stehen. Aerien war wach, und sprach leise mit Serelloth, doch laut genug, dass Narissa jedes Wort verstehen konnte.
"Ich werde nach Gondor zurückgehen", sagte Serelloth gerade entschlossen. "Und du solltest mit mir kommen. Wir könnten jemanden wie dich wirklich gebrauchen, und... hier gibt es doch nichts mehr für dich. Kein Grund hierzubleiben."
Narissa biss die Zähne zusammen, und spürte ihren Atem schneller gehen, während sie auf Aeriens Antwort wartete. Schließlich meinte diese: "Mit meinem Bein werde ich so schnell keine weiten Strecken zurücklegen können", und Narissas Herz sank. Das klang ganz so, als wäre die Entscheidung bereits gefallen, doch dann fuhr Aerien fort: "Und außerdem... bin ich mir nicht sicher, dass es keinen Grund gibt, hierzubleiben."
"Ach, nun komm schon", sagte Serelloth bitter. "Narissa hat kein Problem damit, Freunde in den Tod zu schicken."
"So ist es nicht, und das weißt du auch", gab Aerien leise zurück. "Sie..." "Schön", unterbrach Serelloth sie kurzerhand. Für einen Augenblick glaubte Narissa, das Mädchen würde in Tränen ausbrechen. "Dann gehe ich eben alleine." Sie drehte auf der Stelle um, und stürmte zwischen den Zelten davon. Aerien blieb alleine zurück, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht war so verzweifelt, dass Narissa am liebsten aus ihrem Versteck gestürzt wäre und sie umarmt hätte - doch eine Hand auf ihrer Schulter hielt sie zurück.
"Es gehört sich nicht, seine Freunde zu belauschen", sagte Níthrar vorwurfsvoll, und Narissa spürte, wie sie errötete. "Ich konnte nicht mit ihnen reden", sagte sie hilflos. "Und... ich bin mir nicht einmal sicher, wer noch mein Freund ist."
Níthrar schüttelte den Kopf, und sagte: "Ich werde Serelloth ein Stück begleiten... aufpassen, dass ihr nichts geschieht."
"Du gehst fort?", fragte Narissa überrascht, und Níthrar antwortete: "Allerdings. Ich habe beunruhigende Gerüchte von meinen Verwandten weiter im Osten gehört, und ich muss dem nachgehen - vielleicht brauchen sie meine Hilfe. Aber zuvor werde ich dafür sorgen, dass die junge Serelloth heile in freundlichen Gebieten ankommt."
"Danke", wisperte Narissa, und Níthrar nickte langsam. "Ich tue das nicht nur für sie, sondern auch für dich - ich kann mir kaum vorstellen, was für Schuldgefühle du dir machen würdest, wenn ihr etwas zustoßen würde. Und nun..." Er deutete in die Richtung, in der Aerien vor ihrem Zelt saß, und mit leerem Blick auf den kleinen Teich in der Mitte der Oase starrte. "Geh zu ihr. Und ich hoffe, du hast etwas gelernt."

Narissa setzte sich neben Aerien auf den warmen Erdboden. "Ich..." begann sie, und brach sofort wieder ab, unschlüssig, was sie eigentlich sagen wollte. Schließlich begann sie von neuem: "Es tut mir Leid, was ich gesagt habe." Sie hatte begriffen, was Níthrar ihr mit seiner Geschichte hatte sagen wollen, doch leicht war es nicht. "Ich hätte dich nicht unter Druck setzen dürfen. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, und ich werde... werde so lange warten, wie nötig."
Sie schwieg einen Moment, während sie nach den richtigen Worten suchte. "Und auch wenn du... Wenn du zu einer Entscheidung kommst, die mir nicht gefällt..." Narissa unterbrach sich erneut, und blickte Aerien fest in die Augen, Grün in Grau. "Du wirst immer meine Freundin bleiben, Aerien Bereneth. Egal was geschieht."
Titel: Eine Entscheidung
Beitrag von: Fine am 23. Jan 2017, 23:34
Egal was geschieht... wenn es nur wirklich so einfach wäre, dachte Aerien und sie musste den Blick von Narissas Augen abwenden, konnte ihr nicht mehr ins Gesicht blicken. Nicht, weil sie es nicht wollte - sondern gerade darum. Sie konnte Narissa nicht in die Augen blicken, denn was sie dort las, forderte etwas von ihr ein, das sie noch nicht vollständig geben konnte. Sie seufzte tief und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie fühlte sich wie bei einem Balanceakt auf einem wackelnden Seil: wenn sie zu weit zumachen würde, würde sie Narissa von sich stoßen, und selbst obwohl diese ihr gesagt hatte, dass sie Freundinnen bleiben würden, egal was geschehen würde.... es würde nicht dasselbe wie zuvor sein. Das war einige der wenigen Sachen von denen Aerien ganz genau wusste, dass sie nicht wollte dass es dazu kam. Doch auf der anderen Seite lauerte Ungewissheit. Liebe war etwas, das Aerien nicht kannte - abgesehen von der Liebe ihrer Mutter zu ihr. Und sie musste sich eingestehen, dass sie Angst hatte - Angst, verletzt zu werden, sich Narissa zu öffnen und dann sitzen gelassen zu werden. Ihre Unerfahrenheit in diesen Dingen ärgerte Aerien, und sie hielt sie davon ab, sich vertrauensvoll fallen zu lassen.

Sie spürte, dass Narissa auf eine Antwort wartete; zwar geduldig und stumm, aber dennoch mit einer gewissen Erwartung.
"Ich hätte nicht gedacht, dass Liebe so kompliziert sein kann," sagte Aerien wahrheitsgemäß, mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen.
Narissa sagte: "Was meinst du damit?"
"Oh, Narissa. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Kannst du - " sie stockte, doch dann rang sie sich durch das zu sagen, was in ihr war und an die Oberfläche drängte. "Halt mich einfach. Halt mich fest, damit ich nicht falle... Ich fühle mich nämlich, als würde ich fallen, schneller und schneller, ohne dass der Abgrund jemals endet."
Und Narissa kam der Aufforderung ohne Widerstand nach, nahm Aerien in die Arme und drückte sie fest an sich. Aerien vergrub den Kopf an Narissas Schulter und schloss die Augen, während die Sonne langsam immer wärmere Strahlen auf die beiden herabsandte. Sie versuchte, nicht nachzudenken, und einfach den Moment des Friedens zu genießen, und nach kurzer Zeit gelang es ihr tatsächlich.

"Ich würde dir gerne sagen, dass du mich nicht unter Druck setzt," begann Aerien schließlich, nachdem eine Ewigkeit des Schweigenes verstrichen war. Sie spürte ihr eigenes Herz klopfen und ebenso Narissas, in deren Schoß Aerien ihren Kopf inzwischen gebettet hatte. Sie suchte den Blick von Narissas grünen Augen, die fragend auf Aerien herabblickten. "Aber so ist es nicht. Du bist.... unglaublich. Du machst Dinge mit mir, von denen ich nicht weiß, ob ich sie aushalten kann ohne platzen zu müssen. Ich sage nicht, dass das Gefühl, dass du mir gibst, nicht schön ist. Ganz im Gegenteil. Aber ich fürchte, dass mein Herz davon zerspringen könnte."
"Das verstehe ich, aber teilweise auch wieder nicht," antwortete Narissa leise.
"Nein, du verstehst es nicht," fuhr Aerien fort. "Du bist halbwegs normal aufgewachsen, in einer Familie, die dich liebte, und später hattest du eine ganze Insel nur für dich und einen Großvater, der dir die Welt zeigte. Du konntest Liebe kennenlernen, durftest Fehler machen und daraus lernen. Dieses Privileg hatte ich nicht. In Mordor... gibt es kein Verzeihen. Nur Bestrafungen." Langsam zog sie ihren linken Stiefel aus und drehte den Fuß so, dass Narissa die Sohle sehen konnte - und das rote Auge, das darin eingebrannt worden war. "Das ist die einzige körperliche Narbe, die man mir für meine Fehler verpasst hat," sagte Aerien leise. "Die anderen... sind seelisch. Meine... Schönheit sollte nicht gemindert werden." Sie seufzte lange und tief.
Narissa fuhr mit großen Augen über die Sohle und machte ein ersticktes Geräusch. "Das... hat dir deine Familie angetan?" fragte sie leise.
"Das - und andere Dinge, von denen ich gerade nicht sprechen will," gab Aerien zu. Auf eine Art und Weise tat es gut, mit jemandem darüber zu sprechen, die dieses Wissen nicht irgendwie gegen sie einsetzen würde.
"Das ist schrecklich, Aerien", flüsterte Narissa und strich Aerien sachte über die Wange, und Aerien ließ es geschehen. Noch immer fühlte sie sich bei Narissa geborgen und angenommen, trotz all dem was passiert war und was sie gesagt hatte.
"Vielleicht," fuhr Aerien fort. "Vielleicht sind Erlebnisse wie diese der Grund, weshalb ich... so im Widerstreit mit mir selbst stehe. Diese...Sache überfordert mich." Es auszusprechen half ihr ein wenig, und sie setzte den Satz fort. "Jede Minute die ich mich damit auseinander setze bereitet mir große Anstrengungen."
"Dann solltest du eine Entscheidung fällen," schlug Narissa zaghaft vor.
"Ich weiß... du hast recht, aber... " Welche Entscheidung ist die richtige? hatte Aerien sagen wollen, doch kurz bevor sie es aussprach spürte sie etwas in ihr aufsteigen, etwas aus ihrem Herzen, das ihre Gedanken Lügen strafte. Tief drinnen wusste sie bereits, welche Entscheidung die Richtige war. Es würde nur noch eine Weile dauern, bis ihr Verstand das auch akzeptieren würde.
"...aber?" hakte Narissa nach.
Aerien atmete tief durch und stemmte sich dann aus der liegenden Position hoch. Sie führte Narissas Hand an ihr Herz und sagte: "Da drinnen steckt schon die Entscheidung, aber es wird Zeit brauchen, bis es hier oben ankommt und angenommen wird." Sie zeigte bei den letzten Worten auf ihre Stirn. Die einfachen Worte, die sie gewählt hatte, drangen langsam in ihren Verstand ein und halfen ihr dabei, weiterzusprechen. "Wenn wir das tun... wenn wir eine Beziehung eingehen.... dann werde ich etwas Zeit brauchen, um damit klar zu kommen. Ich weiß jetzt, dass ich es sehr möchte, aber du musst Geduld haben... und ich hoffe, das kannst du."
Narissa schwieg und verschiedene Emotionen huschten über ihr Gesicht. Schließlich nickte sie und ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
Aerien holte tief Luft. "Dann... weißt du jetzt, wie ich fühle," sagte sie und nahm Narissas Hand. Noch einen letzten Augenblick verharrte Aerien, blickte tief in Narissas Augen und überwand ihre letzten Zweifel. Und küsste Narissa, vorsichtig und mit pochendem Herzen.
"Bring mich ans Meer," flüsterte sie kurz darauf. "Nach all dem was geschehen ist möchte ich nur für einige wenige Tage Ruhe und Frieden haben... mit dir. Bring mich ans Meer, hörst du?" forderte Aerien.
Narissa nickte. "Ich verspreche es dir."

Als sie sich von Níthrar verabschiedet hatten und zusahen, wie der Elb in nördlicher Richtung davonritt sprachen Narissa und Aerien eine zeitlang darüber, was als nächstes zu tun sei.
"Wir sollten Yana aus der Stadt schaffen," schlug Narissa vor.
"Und wir müssen Eayan... die Nachricht von Elendars Tod überbringen," ergänzte Aerien schweren Herzens.
"Vielleicht kann er helfen, einen sicheren Ort für Yana zu finden," überlegte Narissa.
"Dann holen wir sie und bringen sie zu Ta-er as-Safars Burg," entschied Aerien.
"Und danach bringe ich dich ans Meer," vollendete Narissa die Planung.

Einer der Heimatlosen bot sich an, Yana eine Nachricht zu schicken. In der Stunde, in der sie auf Yanas Antwort warteten, machten sich Narissa und Aerien abreisefertig und sattelten ihre Pferde. Und als sie sahen, dass der zurückkehrende Bote nicht allein war, hatten sie beide wieder ein Lächeln im Gesicht. Immerhin hat sie es sicher aus der Stadt heraus geschafft, dachte Aerien und freute sich über diesen kleinen Erfolg.
"Nissa, bist du sicher, dass deine Freunde mir helfen können?" fragte Yana unsicher, die ihre wenigen Habseligkeiten mit sich trug.
Narissa lud die Sachen auf Grauwinds Rücken und nickte zuversichtlich. "Der Mann, zu dem wir dich bringen, hat großen Einfluss. Er wird etwas für dich finden. Mach dir keine Sorgen."
Und so ritten sie am späten Nachmittag los, diesmal ohne Eile, um nicht aufzufallen. Sie ließen Qafsah und all die schrecklichen Ereignisse zurück und lenkten ihre Pferde in südwestlicher Richtung auf Ain Salah und die dahinter verborgene Burg des Silbernen Bogens zu.


Narissa, Aerien und Yana zur Burg des Silbernen Bogens (http://modding-union.com/index.php/topic,34223.msg452740.html#msg452740)
Titel: Lager an der Straße
Beitrag von: Fine am 15. Feb 2017, 20:52
Aerien mit Karnuzîrs Gruppe aus der Mehu-Wüste (http://modding-union.com/index.php/topic,34379.msg453667.html#msg453667)


Nach einem weiteren Tag des Ritts entlang der Straße zwischen Umbar und Qafsah schlugen sie wie gewohnt ihr Lager bei Einbruch der Nacht auf. Je weiter sie nach Osten kamen, desto unbekümmerter schien Karnuzîr zu werden. Sie waren nun ungefähr auf der Höhe von Aín Salah, das zu ihrer Rechten, im Süden der Straße lag, und schon tief in Suladans Gebiet. Zu ihrer linken, weit entfernt, verlief der Harduin. Es war noch immer warm, doch Azruphel wusste, dass es bis Mitternacht schnell abkühlen würde. Sie war dankbar dafür, in Karnuzîrs Zelt schlafen zu dürfen, auch wenn sie erwartete, weitere Berührungen über sich ergehen zu lassen. Er wusste genau, wo die Grenze lag und überschritt sie niemals - doch Azruphel bereitete sich innerlich bereits auf den Tag vor, an dem diese Einschränkung wegfallen würde.

"Ich finde, es wird Zeit, dass wir uns besser kennenlernen," sagte ihr Vetter ohne Vorwarnung und kam zu ihr herüber. Azruphel hatte sich auf ihre Schlafunterlage gelegt und ihm den Rücken zugekehrt, doch als er sich neben sie setzte schlang sie ihre Decke so eng sie konnte um sich und setzte sich auf. Sie blickte ihn fragend an.
"Du verstehst schon. Ich erzähle dir etwas von mir, und du erzählst mir etwas von mir. Wir hören einander zu, und finden heraus, wie es im Inneren des Anderen aussieht."
"Danke, kein Interesse," gab sie kalt zurück.
"Oh, aber ich bestehe darauf," erwiderte er mit einem bösen Lächeln. "Du kennst die Regeln." Keine Widerrede.
"Also schön," sagte sie seufzend. "Was möchtest du erzählen?"
"Du wirst anfangen, Belkali. Das ist übrigens ein wirklich gut gewählter Spitzname, muss ich schon sagen. Hast du etwas dagegen, wenn ich ihn mir ausleihe? Nein? Gut. Also, Belkali. Wie bist du an diesen Namen gekommen?"
Azurphel atmete tief durch. "Du weißt ja, was er bedeutet," sagte sie und begann.

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Das schwarzsilberne Kleid fühlte sich seltsam auf ihrer Haut an. Zwar hatte Azruphel es schon bei anderen Anlässen getragen, doch dies war ein ganz besonderer Moment. Ihr offizieller Eintritt in den Hof des Fürsten stand bevor. Sie war fünfzehn, und äußerlich die Ruhe selbst, doch ihr Inneres schien in Flammen zu stehen. Die Lektionen ihrer Mutter erfüllten ihre Gedanken, doch da war noch etwas anderes, etwas, das ihr Vater ihr oft genug eingeschärft hatte: Sei auf alles vorbereitet. Und das war sie.
Als sie schließlich das Signal erhielt, trat sie hinter dem schweren Vorhang hervor, der den Durchgang in die große Halle verdeckt hatte. Langsam und anmutig stieg sie die große, leicht gebogene Treppe hinab und war sich bewusst, dass alle Augen auf ihr ruhten. Sie hatte ihr schönstes Lächeln aufgesetzt und spürte, dass es wirkte. Hier war sie, die Tochter des Herr von Durthang, und für einen Moment der Mittelpunkt der Gesellschaft der Schwarzen Númenorer. Jeden Schritt machte sie bewusst, langsam und vorsichtig, um ja nicht zu stolpern. Das würde in dieser Situation geradezu Selbstmord gleichkommen. Sie musste jetzt perfekt sein, und es schien ihr zu gelingen. Azruphel legte die letzten Stufen zurück und die Menge teilte sich, um sie durchzulassen. Am anderen Ende des Saals stand ihr Vater in voller Rüstung vor seinem erhöhten Sitz, über den in Stein das flammende Auge des Großen Gebieters gemeißelt war. Sie ging auf ihn zu und spürte seinen Stolz, auch wenn dieser nicht an seinem Gesichtsausdruck abzulesen war. Flankiert wurde er von zwei schweigenden Wächtern mit riesigen Hellebarden in den gepanzerten Händen. Azruphel kannte ihre Namen: Aglarân und Belzîkhor. Sie kannte die Namen von jedem im Saal; sie hatte sie in vielen Stunden des Lernens mühsam auswendig gelernt. Und nichts anderes wurde von ihr erwartet. Und als sie bei Varakhôr ankam legte ihr der Fürst der Adûnâi eine Hand auf die Schulter, ehe er sie herumdrehte und erneut der Menge präsentierte.
Mehrere lange Augenblicke geschah nichts. Dann jedoch trat ihre Großmutter zwischen den Anwesenden hervor und sagte: "Seht sie euch an. Die strahlende Jungfrau von Aglarêth. Belkali Azruphel!" Sie begann langsam zu klatschen, und einer nach dem anderen fielen die Adeligen mit ein.


~~~

"An diesem Tag wäre ich gerne dabei gewesen," sagte Karnuzîr. "Aber ich war auf einer Reise mit meinem Vater in den tiefen Süden. Du kannst es nicht wissen, da du Mordor bis vor Kurzem nie verlassen hattest, aber jenseits der Wüsten Harads liegen wilde Wälder, in denen seltsame Kreaturen hausen. Wir zogen durch den tiefen Dschungel auf der Suche nach einer verlorenen Stadt, in der unermessliche Schätze auf uns warten sollten. Doch als wir schließlich, nach vielen überstanden Gefahren und Abenteuern, die Ruinen der alten Stadt erreichten, war sie bereits vor langer Zeit geplündert worden. Damals habe ich gelernt, immer eine Alternative in der Hinterhand zu haben und auf alles vorbereitet zu sein, wie es dein Vater so gerne predigt. Er ist ein weiser und guter Anführer, dein Vater. Aber ihm fehlt die Grausamkeit seiner Vorfahren. Unserer Vorfahren. Furcht ist ein mächtiges Werkzeug. Furcht treibt Menschen an und bringt sie dazu, Dinge zu tun, die sie von sich nie für möglich gehalten hätten. Nicht, wahr, Azruphel?"
Sie gab ihm keine Antwort. Aber er hatte Recht: es war die Furcht über die Sicherheit ihrer Freunde, die Azruphel dazu brachten, ihr Leben aufzugeben und sich ihrem Schicksal zu fügen.
"Furcht ist eine Schwäche, die die Gerissenen ausnutzen können. Deswegen habe ich gelernt, furchtlos zu sein. Ich fürchte nichts, bis auf den Zorn des Großen Gebieters. Und dasselbe solltest du auch tun. Du kennst die Gesetze unseres Volkes besser als ich. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um dich vor dem Zorn Saurons zu schützen, indem ich deine Verrat als Täuschung und Infiltration des Feindes darstelle, aber du weißt ja, was die Orks so gerne sagen: Das Auge beobachtet uns. Und das ist nicht nur eine Redensart. Du warst im Dunklen Turm. Sauron regt sich. Er wird mit jedem Tag stärker. Bald schon wird er den Turm verlassen können. Und dann wird ihn niemand und nichts mehr aufhalten können. Spätestens dann wirst du froh sein, wieder auf seiner Seite zu stehen. Es ist deine Bestimmung."
Das war zu viel für Azruphel. Ehe sie sich davon abhalten konnte fuhr ihre Hand unter der Decke hervor und versetzte Karnuzîr eine schallende Ohrfeige. "Sprich nicht so!" zischte sie. "Du magst über mich verfügen können, durch die Furcht um jene, die mir teuer sind, aber du wirst niemals mein Herz bekommen, und Sauron erst recht nicht. Du spricht von Bestimmung? Ich zog aus, um mir mein eigenes Schicksal zu schaffen und meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Kannst du denn nicht sehen, dass Sauron der Untergang aller Menschen sein wird? Du bist ein Narr, Karnuzîr. Wie alle aus unserem Volk. Eines Tages werdet ihr es erkennen."
Karnuzîr funkelte sie wütend an. "Erhebe noch einmal die Hand gegen mich, und ich werde sie dir abschneiden," knurrte er. "Meine Geduld ist am Ende. Ich dachte, du hättest die Regeln unserer kleinen Abmachung verstanden."
"Das habe ich," gab sie zurück. "Ich werde dein, wenn du meine Freunde in Ruhe lässt und die Insel verschonst."
"Und dennoch gibst du mir Widerworte," stellte Karnuzîr klar. "Vielleicht sollte ich eine entsprechende Nachricht an Suladan hinterlassen, wenn wir nach Qafsah kommen..."
"Nein! Nein, tu das nicht," rief Aerien. "Es... wird nicht mehr vorkommen. Ich verspreche es."
Karnuzîr blickte sie prüfend an. Fast eine Minute betrachtete er sie schweigend bis er sagte: "Ich sehe, deine Mutter hat dir vieles beigebracht. Du bist sehr manipulativ. Eine Meisterin der Worte. Gut! Ich habe nichts anderes von dir erwartet. Doch das hört jetzt auf. Du wirst mir ehrlich gegenüber sein und nichts vor mir verbergen. Sag es!"
"Ich... werde dir stets ehrlich gegenüber sein und nichts vor dir verbergen," presste Azruphel leise hervor.
"Oh, Belkali. Das reicht nicht. Du musst es so meinen," sagte er gnadenlos. "Wiederhole es... und lass die Worte von Herzen kommen. Zeig mir, dass du es wirklich ernst meinst."
Azruphel schloss die Augen. Wie konnte sie Karnuzîr nur zufriedenstellen? Sie blickte ihm ins Gesicht und holte tief Luft. Dann wiederholte sie den Satz... und sprach zwar zu ihm, doch in ihrem Herzen meinte sie jemand anderen. Jemand, für dessen Sicherheit sie das alles tat. Jemand, der Azruphel wahrscheinlich aufgegeben hatte... doch sie, Aerien, würde diesen Jemand stets in ihrem Herzen bewahren, damit sie niemals vergaß, weshalb sie bei Karnuzîr bleiben musste. Das ist für dich, Rissa, dachte sie entschlossen und die Entschlossenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Karunzîr blickte sie zufrieden an. "Sehr gut," sagte er leise. "Und jetzt küss' mich."
Er beuge sich vor, und kam immer näher...
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 15. Feb 2017, 22:37
Narissa und Thorongil aus der Mehu-Wüste (https://modding-union.com/index.php/topic,34379.msg453690.html#msg453690)

Die Nacht war noch nicht lange hereingebrochen, als Thorongil sein Pferd anhielt, und Narissa wusste sofort, warum: Der leichte Geruch von Rauch lag in der Luft. Sie sah ihren Onkel fragend an, und dieser nickte. Beide saßen ab, führten ihre Pferde ein Stück nach links von der Straße und banden sie an Pflöcken, die sie tief in die Erde rammten, an.
"Keinen Laut, hörst du?", flüsterte Narissa Grauwind zu, und klopfte ihr sacht den seidigen Hals. Dann folgte sie Thorongil, der bereits langsam und unhörbar ein Stück in die Richtung gegangen war, aus der der Rauchgeruch heranwehte.
Etwa hundert Meter weiter sahen sie zwischen den niedrigen Bäumen und Büschen eines kleinen Wäldchens, die in dieser Gegend immer wieder neben der Straße wuchsen, den schwachen, flackernden Schein eines kleinen Feuers, und der Wind trieb leise Stimmen heran.
Narissa hatte ihr normales helles Hemd gegen ein schwarzes getauscht, unter dessen Kapuze sie ihre auffälligen Haare verstecken konnte, und auch Thorongil war so dunkel gekleidet, dass er in der Dunkelheit kaum zu sehen war. "Auf den Hügel", flüsterte ihr Onkel, und deutete in Richtung einer kleinen Anhöhe, die sich ein wenig nördlich von ihnen erhob und einen guten Blick auf das Lager ermöglichen würde.

Gemeinsam schlichen sie lautlos den Hang hinauf, und kauerten sich oben auf dem von der Hitze des Tages noch immer leicht warmen Boden nieder. Der Untergrund war sandig und mit kleinen Steinen übersät, doch sie waren nicht länger in der Wüste und hier wuchsen überall niedrige Grasbüschel, und auf den Felsen Flechten.
"Zwei Feuer", sagte Narissa leise. Der Wind kam aus Richtung Osten, wehte ihnen also ins Gesicht und würde ihre Worte nicht an das Ohr ihrer Feinde dringen lassen.
"Aber nur ein Zelt", erwiderte Thorongil. "Dort wird Karnuzîr sein, mit..."
"Ich weiß", schnitt Narissa ihm das Wort ab, bevor er den Namen sagen konnte. "Kannst du Wachen sehen?"
"Vier", sagte ihr Onkel nach einem kurzen Moment des aufmerksamen Beobachtens. "Einer hinter dem Zelt, einer davor, und zwei mit dem Gesicht zur Straße."
Narissa deutete auf den westlichen Rand der Büsche und meinte: "Und noch einer im Westen." Durch die Strecke, die sie im Dunkeln zurückgelegt hatten, hatten sich ihrer beider Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt, und Mond und Sterne schienen hell in dieser Nacht.
"Dann wird im Osten auch noch einer sein", vermutete Thorongil. "Das wären dann sechs."
"Ich nehme den im Westen und die beiden am Zelt", wisperte Narissa, und Thorongil nickte langsam. "Ich kann mich um die übrigen drei kümmern - und dann? Vielleicht sollten wir die Pferde holen, und..."
"Das ist keine Rettungsaktion", unterbrach Narissa ihn kalt. "Diese Menschen da unten? Sie müssen alle sterben, jeder einzelne."
"Und was ist mit..."
"Sie nicht - sofort", schränkte sie ein. "Das werde ich entscheiden, wenn... ich mit ihr gesprochen habe." Der Gedanke, mit Azruphel zu sprechen machte Narissa Angst, und jetzt, wo sie so nah war, war sie sich nicht länger sicher, ob sie sie töten konnte, falls es notwendig war.
"Solange wir die Schlafenden lautlos töten, können wir es schaffen", fuhr Narissa fort, und obwohl Thorongil erneut nickte konnte sie deutlich sehen, dass er nicht glücklich mit ihrem Plan war. Noch immer geduckt überprüfte er den Sitz seiner Waffen, und sagte dann: "Zähl langsam bis hundert. Dann greif an - lautlos, und schnell."

Als sie bei hundert angekommen war, schlich Narissa den nördlichen Hang des Hügels hinunter. Sie schlug einen Bogen, und näherte sich dann dem Lager von Nordwesten - sodass sie keinem der Wächter direkt entgegenlief, sondern im toten Winkel zwischen ihnen hindurch. Trotzdem huschte sie geduckt von Felsen zu Felsen, bis sie schließlich die ersten trockenen Büsche erreichte. Trotz der Dunkelheit bestand immer die Gefahr, gesehen zu werden, und in diesem Fall würde ihr ganzer Plan scheitern. Narissa entschied sich dazu, zuerst den Wächter im Norden, hinter dem Zelt zu erledigen. Der Mann war nicht besonders aufmerksam, sondern schien vielmehr dem Gespräch zu lauschen, dass aus dem Zelt hervor drang. Narissa wäre beinahe gestolpert, als sie die gedämpften Stimmen erkannte.
"Dann jedoch trat meine Großmutter aus der Menge hervor und sagte: Seht sie euch an. Die strahlende Jungfrau von Aglarêth. Belkali Azruphel! Sie begann langsam zu klatschen, und einer nach dem anderen fielen der Rest der Anwesenden mit ein."
Narissa versuchte nicht hinzuhören, während sie langsam und leise einen der Wurfdolche aus seiner Halterung zog, und zielte.
"An diesem Tag wäre ich gerne dabei gewesen. Aber ich war auf einer Reise mit einem Vater in den tiefen Süden", hörte sie Karnuzîr sagen, als ihr Messer ihre Hand verließ und sich mit einem beinahe unhörbaren dumpfen Aufschlag einen Herzschlag später in den Hals des Wächters bohrte. Sofort sprang sie vorwärts, fing den Körper des Mannes, der in seinem Schock nur einen kurzen gurgelnden Laut von sich gegeben hatte, auf und ließ ihn sanft zu Boden gleiten.
"Doch als wir schließlich, nach vielen überstanden Gefahren und Abenteuern, die Ruinen der alten Stadt erreichten, war sie bereits vor langer Zeit geplündert worden", fuhr Karnuzîr, der offenbar nichts gehört hatte, mit seiner Erzählung fort, und Narissa versuchte, nichts davon zu hören. Sie verstaute ihr Wurfmesser wieder, und huschte in westlicher Richtung davon, zur nächsten Wache. Karnuzîr und seine Cousine schienen sich ja bestens zu verstehen...

Der Mann, der weiter im Westen Wache stand war deutlich pflichtbewusster als sein verstorbener Gefährte. Er stand inmitten der Büsche und ließ den Blick immer langsam von Nordwesten nach Südwesten und zurück schweifen, Speer und Schild fest in den Händen. Vorsichtig schlich Narissa heran, immer darauf achtend, keinen am Boden liegenden Zweig zu zertreten und keine Büsche zu streifen. Sie hoffte, dass niemand aus dem Lager nach außen blickte, oder sich gerade in die Büsche schlug, um einem allzu menschlichen Bedürfnis nachzugehen.
Ohne Zwischenfall erreichte sie den Wächter, zog lautlos den kermischen Dolch und rammte dem Mann mit der Linken die Klinge in den Rücken, genau zwischen zwei Rippen hindurch ins Herz. Gleichzeitig schlang sie blitzschnell den rechten Arm um ihn und presste ihm die Hand fest auf den Mund. Der Mann stieß ein dumpfes Ächzen, das von ihrer Hand noch weiter gedämpft wurde, aus, und begann in sich zusammenzusinken. Er zuckte noch zwei Herzschläge lang krampfhaft mit den Beinen, und lag dann still, als Narissa ihn ebenso leise wie er gestorben war zu Boden gleiten ließ. Gerade, als sie den Dolch aus der Leiche zog, hörte sie vom Lager her eine leise Stimme: "Dharih?"
Narissa unterdrückte einen Fluch, und duckte sich hinter einen Busch. Sie hatte keine Zeit, die Leiche zu verstecken, und das Verschwinden eines der Wächter hätte ebenfalls Aufmerksamkeit erregt. Ihr blieb also nur eine Wahl.
Als der Neuankömmling keine Antwort bekam, fragte er misstrauisch: "Bist du da?" Er trat weiter zwischen die Büsche, und gerade bevor er die Leiche des Wächters erreichte, schlug Narissa zu. Sie hatte beide Dolche gezogen, rammte ihm den rechten in die Brust und den linken seitlich in den Hals. Die dunklen Augen des Mannes weiteten sich vor Schreck, doch bevor er einen Schrei ausstoßen konnte riss Narissa ihm den Dolch aus der Brust und schnitt ihm die Kehle durch, sodass nur ein ersticktes Glucksen daraus wurde, bevor er starb.
Sie wischte sich an der Kleidung des Mannes ein wenig Blut von der Hand. Er war unbewaffnet gewesen, also war er nicht gekommen um die andere Wache abzulösen, sondern hatte sich entweder erleichtern oder mit diesem reden wollen. Narissa konnte nur hoffen, dass der keinem der anderen Männer im Lager Bescheid gesagt hatte, dass er ging. Und selbst wenn ihn niemand vermisste, hatte sie doch keine Zeit zu verlieren, also schlich sie zurück, wieder auf das Zelt zu.

Glücklicherweise lagen die schlafenden Krieger ein wenig abseits vom Zelt - anscheinend legte Karnuzîr abgesehen von den beiden Wächtern Wert darauf, dass niemand ihn und seine Cousine belauschen konnte. Bei was auch immer sie taten.
"Oh, Belkali. Das reicht nicht. Du musst es so meinen", hörte sie Karnuzîrs verhasste Stimme, als sie von der Seite an das Zelt herankam. Im Inneren glaubte sie durch den Zeltstoff zwei Gestalten zu sehen, die sehr nah beieinander zu sein schienen, und trotz allem was geschehen war, versetzte es ihr einen schmerzhaften Stich. Sie zog erneut eines ihrer Wurfmesser.
"Wiederhole es... und lass die Worte von Herzen kommen. Zeig mir, dass du es wirklich ernst meinst."
Der Wächter vor dem Zelt starb auf die selbe Weise wie vor ihm der dahinter, und als er tot war, hörte Narissa ihre Stimme: "Ich... werde dir stets ehrlich gegenüber sein und nichts vor dir verbergen." Auch wenn Azruphel nicht wissen konnte, dass Narissa hier war, und mit Sicherheit nicht sie meinte, fühlte Narissa sich von den Worten seltsam angesprochen - und hielt es nicht länger aus.
"Sehr gut", entgegnete Karnuzîr leise. "Und jetzt küss' mich."
Auch wenn ihr Plan es eigentlich nicht vorsah, zog sie lautlos die Plane vor dem Zelteingang ein Stück zur Seite, und schlüpfte ins Innere. Karnuzîr saß mit dem Rücken zu ihr auf dem Boden, hatte eine Hand unter Azruphels Kinn gelegt, und näherte sich langsam ihrem Gesicht. Azruphel hatte die Augen geschlossen, genoss offenbar die Nähe ihres Vetters, und Narissa konnte nur mühsam einen Aufschrei unterdrücken.
Sie fiel hinter Karnuzîr auf die Knie, und legte ihm mit einer blitzschnellen Bewegung den blutbeschmierten Dolch an die Kehle.
"Ich würde das lassen... und ganz still sein", zischte sie ihm hasserfüllt ins Ohr, bevor er einen Laut von sich geben konnte. Abrupt zuckte Azruphel zurück und riss die Augen auf. In ihnen standen Schreck und Furcht. Narissa drückte den Dolch ein wenig fester gegen Karnuzîrs Hals und sagte leise: "Und wenn dir das Leben deines Vetters lieb ist, gibst du ebenfalls keinen Laut von dir."
Azruphel bewegte stumm die Lippen, wobei Narissa ihren Namen zu erkennen glaubte, und in ihre Augen trat für einen Herzschlag ein Ausdruck der... Erleichterung? Der Anblick genügte, um Narissa abzulenken, und Karnuzîr zog mit einem Ruck den Kopf hinter ihrem Dolch hervor. Er brachte sich dabei selbst einen Schnitt entlang des Halses bei, der zwar lang aber nicht tief war, und als er ihr den Kopf zuwandte, stand blanker Hass in seinen Augen - Hass, den Narissa erwiderte.
"Es war ein Fehler, alleine zu kommen", zischte er, und Narissa schüttelte den Kopf. "Wer sagt, dass ich alleine bin?" Von draußen ertönte ein schmerzerfüllter Schrei. Nur einen Herzschlag später wurde hinter ihr die Plane vor dem Zelteinang erneut zurückgeschlagen, und eine unbekannte Stimme sagte aufgeregt: "Herr Karnuzîr, ich glaube..." Es gab einen dumpfen Schlag und die Stimme brach ab. Als Narissa herumfuhr, sah sie die Leiche des Südländers zu Boden stürzen, während Thorongil sein Langschwert aus seinem Rücken zog.
"Du bist langsamer als ich, Nichte", sagte er, und wischte die blutige Klinge an der Zeltplane ab. "Andererseits...", fügte er mit einem Blick auf Azruphel und Karnuzîr, die beide mit schreckgeweiteten Augen zu ihm aufsahen, hinzu. "... ist das vielleicht auch verständlich."
Er wandte sich Karnuzîr zu. "Wir sind einander noch nicht begegnet - Thorongil, Hadors Sohn und Herr von Tol Thelyn." Karnuzîr öffnete den Mund, vielleicht um seine Wachen zu rufen, vielleicht um etwas zu entgegnen, doch Thorongil kam ihm zuvor: "Gebt euch keine Mühe, eure Männer sind tot. Sie schliefen tief und fest, und nur die letzten beiden haben etwas bemerkt."
Narissa, die inzwischen aufgestanden war, sah, wie Karnuzîrs Blick zwischen ihnen beiden und Azruphel hin und her irrte, und seine Hand gleichzeitig nach einem kleinen Beutel neben ihm tastete. Direkt bevor seine Finger den Beute erreichten, warf Narissa eines ihrer Messer, dass seine Hand am Boden festnagelte. Karnuzîr stieß einen Schmerzensschrei aus, und Narissa lächelte.
"Keine Wurfsterne für dich. Ich sagte doch, du hättest tot bleiben sollen." Dann trat sie ihm mit dem rechten Fuß brutal gegen die Schläfe, sodass sein Kiefer knackte und er sofort das Bewusstsein verlor. Es fühlte sich unglaublich gut an.
Das Lächeln verschwand von Narissas Gesicht, als sie Azruphel, die dem ganzen regungslos zugesehen hatte, anblickte. "Und nun zu dir..."
Thorongil hielt sie zurück, in dem er das Messer aus Karnuzîrs Hand zog, und den Bewusstlosen zum Zelteingang zog.
"Ich denke, ich lasse euch dafür lieber allein... und werde selbst ein kleines Gespräch mit Herrn Karnuzîr führen, sobald er erwacht ist..."

Als sie alleine waren, zog Narissa Ciryatans Dolch, und wischte das Blut der getöteten Wachen sorgfältig an Karnuzîrs verlassenem Schlaflager ab. Dann hielt sie Azruphel, die unwillkürlich zurückzuckte, die Spitze des Dolches unter das Kinn, und sagte mit kalter Stimme: "Rede. Sorgfältig, und gut. Überzeuge mich, dass er gelogen hat, denn sonst... werde ich dich töten." Erst bei den letzten Worten zitterte ihre Stimme ein wenig.
Titel: Die Konfrontation
Beitrag von: Fine am 16. Feb 2017, 00:09
Azruphel war mehr als nur durcheinander. Gerade noch war Karnuzîr direkt vor ihr gewesen, und im Begriff gewesen, das zu tun, vor dem es sie am meisten gegraut hatte: Sie zu küssen... denn das wäre nur ein Vorgeschmack auf viel schlimmere Dinge gewesen. Und im nächsten Moment war dort Narissa, die ihr gegenüber kniete und einen Dolch an ihre Kehle hielt. Narissa, der die Mordlust in den Augen glitzerte. Narissa, die Azruphel töten würde.
Das muss ein grausamer Traum sein, dachte Azruphel, die in Mordor schon von solcherlei Dingen gehört hatte.
"Du... du bist nicht hier," flüsterte sie leise und klammerte sich an diese Aussage, die in dieser dunklen Stunde als einzige noch Sinn ergab. "Das geschieht gar nicht... ich träume, und erwache bald, um mich den Schrecken des Tages zu stellen. Den Fängen Karnuzîrs. Aber... es ist gut so. Das ist mein Opfer. Damit du und Serelloth sicher sind. Es gab keine andere Möglichkeit, verstehst du?" Sie blickte in Narissas dunkle Augen, die sie unbarmherzig anstarrten. "Nein, natürlich verstehst du es nicht. Du bist ja gar nicht hier. Das ist nur die grausame Erinnerung an das, was hätte sein können... wäre nicht der Griff Mordors zu fest gewesen. Ich hätte wissen müssen, dass ich ihm niemals wirklich entkommen konnte. Und sieh nur, welches Leid ich durch mein selbstsüchtiges Verhalten über die gebracht hatte, von denen ich glaubte, sie wären meine Freunde. Ich habe... nichts als Schmerzen verursacht, Rissa... für dich, und für die Insel... und es tut mir so... endlos Leid."
Sie konnte nicht weitersprechen. Es war ihr egal, was geschehen würde. Dies war nur ein Traum. Wenn Narissa sie töten würde, würde sie nur erwachen. Also schob sie den Dolch mit ihrer Hand beiseite und wartete auf eine Reaktion, während ihre Augen vor unterdrückter Tränen zu brennen begannen.

~~~

"Es tut dir... Leid."
Narissa ließ den Dolch fallen, und blinzelte ein paar mal rasch. Sie hatte mit tränenreichen Entschuldigungen gerechnet, mit einem Schauspiel, um sie zu überzeugen, aber nicht... damit.
"Ich bin nicht hier?", fragte sie dann leise. "Ich habe gerade vier Menschen getötet, und mein Onkel viele mehr, damit ich hier sein kann - denn ich muss genau hier sein."
Und in diesem Moment wusste sie, dass sich eigentlich nichts geändert hatte - sie würde Aerien immer lieben, egal was geschah. Sie musste nur herausfinden, ob es Aerien wirklich gab, oder nur Azruphel.
"Und du träumst auch nicht. Spürst du?" Sie versetzte Aerien mit der rechten Hand eine Ohrfeige, und ein Schaudern überlief sie, als sie für einen winzigen Augenblick ihre Haut berührte. "Du hast mich allein gelassen. Du hast mich zweifeln lassen, dass... es jemals Wirklichkeit war. Ich wollte dich hassen, aber ich konnte... konnte es nicht", sagte Narissa stockend, langsam. "Ich konnte Aerien Bereneth nicht hassen."
Sie blickte Azruphel fest in die grauen Augen. "Du träumst nicht, dies hier ist die Wirklichkeit - mit all ihren Schrecken. Und jetzt sag mir die Wahrheit. Gibt es Aerien wirklich? Oder nur Azruphel von Aglarêth, die im Dienst Mordors steht? Wer bist du?"

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"Ich bin Azruphel," sagte sie wahrheitsgemäß. "Das muss ich jetzt sein. Sonst wird er seine Drohungen wahr machen und dich und Serelloth töten und die Insel erneut mit Feuer überziehen. Ich muss mich damit abfinden, sein zu werden... für immer. Aerien war ein Traum... ich war naiv zu glauben, er könnte wahr sein. Aragorn hat mir diesen Namen gegeben, wusstest du das? Er hat an mich geglaubt. Es sollte die Rache für Míriel sein, die von ihrem Vetter den Namen Zimraphel erhielt, die Übersetzung ihres elbischen Namens ins Adûnâisch. Also schlug Aragorn vor, den Spieß umzukehren. Aus Azruphel würde Aerien werden. Und Bereneth? Das ist nur ein bedeutungsloser Name irgend eines uralten, längst ausgestorbenen Adelshauses aus Ithilien, den Beregond mir zur Tarnung gegeben hat. Oh Beregond... dein Misstrauen war von Anfang an gerechtfertigt. Und Damrod... was habe ich deiner Tochter nur angetan! Dieses Schicksal hab ich verdient."
Sie machte eine Pause. Narissa hatte den Dolch nicht wieder erhoben, doch Azruphels Wange brannte noch immer wie Feuer von der Ohrfeige. Das hatte sich echt angefühlt, aber... es konnte nicht wahr sein. Narissa konnte nicht hier sein.
Draußen hörte sie Karnuzîr schmerzerfüllt aufschreien. Ein weiterer Beweise für die Unwirklichkeit dieses Traumes. Ihr Cousin war viel zu gerissen, um sich einfach so erwischen zu lassen. Das war alles nichts weiter als Wunschdenken.
"Bitte," setzte sie wieder an, während Narissa sie schweigend betrachtete und unheilvoll drein blickte. "Bring es zu Ende. Ich will aufwachen. Das ist alles so unwirklich... Ich habe dich... ich meine, Rissa... viel zu tief verletzt, als dass sie hier sein könnte. Karnuzîr ist zu vorsichtig, und er hat zuviele Leute um sich herum. Das ist nur der letzte Funken der Hoffnung in mir, der sich aufbäumt, ehe er stirbt. Und je eher das geschicht, desto eher findet mein Schmerz ein Ende. Ich werde dieses Opfer auf mich nehmen... für dich. Damit du mich vergessen kannst und dein Leben in Frieden leben kannst. Das ist es wert... und deshalb muss ich jetzt Azruphel von Durthang sein. Ich habe mich selbst getäuscht, als ich mir gesagt hatte, ich könnte einfach so Aerien sein. Und wir beide haben dafür bezahlt..."

~~~

Narissa hob den Dolch auf, den sie fallen gelassen hatte, und drehte ihn schweigend in der Hand. Dann rammte sie ihn mit einer raschen Bewegung die Klinge bis zum Griff in den Boden.
"Rissa. Das klingt schön." Sie ergriff Aeriens Hand, obwohl diese kurz vor ihr zurück zuckte. Irgendwo in ihr war sie noch immer wahnsinnig wütend auf Aerien, über das, was sie getan hatte. Doch das Gefühl des Verrats war verschwunden, und mit ihm jeglicher Hass. Aerien war gerade sichtlich nicht in der Lage zu lügen, und so glaubte Narissa ihr jedes Wort.
Sie packte Aeriens Hand fester, und zog sie mit einem Ruck auf die Füße.
"Du willst, dass ich es zu Ende bringe?" Aerien nickte wie im Traum, und Narissa schüttelte den Kopf. "Nein, das werde ich nicht. Es gibt keinen Ausweg - weder für dich noch für mich. Diese Zeit wurde uns gegeben, und ganz egal welche Schrecken sie birgt... es ist alles wert. Jeden Schmerz, jede Furcht."
Ihr Kopf schwirrte vor Gedanken und Gefühlen. Sie war gekommen, um sich an Karnuzîr zu rächen - nein, viel mehr an Aerien, wenn sie ehrlich war. Und nun, was Aerien gesagt hatte... Alles was sie getan hatte, hatte sie getan um Narissa und ihr Volk zu schützen. Sie war so weit gegangen, sich selbst aufzugeben, alles was sie geworden war, und Narissa glaubte, sie nie zuvor so geliebt zu haben wie jetzt. Jeder Gedanke an Rache war vergangen, und sie wollte Aerien retten - doch wie es aussah, wollte diese gar nicht gerettet werden, vor sich selbst.
"Du musst nicht Azruphel von Durthang sein", wisperte sie. "Mir genügt Aerien - einfach nur Aerien." Sie beugte sich vor, und küsste Aerien sanft auf die Lippen.

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Die Berührung war es, die endlich zu Azruphel durchdrang und ihr wurde klar, dass dies vielleicht doch kein Traum war. "Du bist wirklich hier," sagte sie atemlos nachdem sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten.
"Natürlich bin ich das," antwortete Narissa ernst.
"Du kommst wirklich, um mich zu retten? Nach all dem, was ich..."
Narissa legte ihr einen Finger auf den Mund. "Schhh. Das war Karnuzîr, nicht du. Und wenn mich meine Ohren nicht täuschen, bekommt er von meinem Onkel gerade das, was er verdient. Willst du es dir ansehen?"
Doch da schreckte Azruphel zurück. "Nein," stieß sie hervor. "Nein, ich will ihn nicht sehen. Nicht jetzt. Jetzt und hier bist du die Einzige, die ich sehen will... Rissa. Wenn du bei mir bist, fühlt es sich richtig an, Aerien zu sein. Und wenn dir das genügt... dann genügt es mir auch."
Erneut küssten sie sich  Dann sagte Aerien: "Er ist einfach so auf der Insel aufgetaucht, und er hatte Serelloth dabei. Und die beiden seltsamen Gestalten, die ich in Qafsah belauscht hatte. Sie heißen Rae und Breyyad. Und dann befahl er mir, dir diese furchtbaren Dinge anzutun, dich auf die Lichtung zu locken, und... tatenlos daneben zu stehen, während er alles zerstörte, was hätte sein können. Ich musste es tun, sonst hätte er Serelloth sofort getötet... Oh Serelloth! Sag mir, dass sie überlebt hat!"
Und als Narissa nickte, fiel Aerien ein schwerer Stein von Herzen. "Ich bin so froh wie lange nicht mehr. Du bist hier und zumindest ein Teil des Schreckens scheint zu verblassen. Ich frage mich, wie du das nur machst."
"So," entgegnete Narissa und küsste Aerien erneut.


Narissa-Teile by Eandril
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 17. Feb 2017, 18:37
Als sie das Zelt verließen, mussten Narissa und Aerien über zwei Leichen hinwegsteigen - die eine war der Mann, den Thorongil getötet hatte, und die andere der Wächter, der zuvor Narissas Wurfmesser zum Opfer gefallen war.
"Bevor du mich falsch verstehst, ich bin immer noch furchtbar wütend auf dich - so sehr ich dich auch liebe", sagte Narissa, während sie den Blick über das Lager schweifen ließ. Überall lagen Karnuzîrs Begleiter herum, fast alle, ohne sich seit Beginn ihres Angriffs gerührt zu haben, doch sie schliefen nicht länger. Ohne Aeriens Hand loszulassen, fuhr Narissa fort: "Du hast einfach aufgegeben. Nicht gekämpft. Hattest du vor, dich einfach von ihm zurück nach Mordor bringen zu lassen, ihn dich heiraten und ihn in dein Bett zu lassen?"
"Ich wollte... euch beschützen. Ich dachte, wenn ich mich opfere, könnt ihr alle... in Frieden weiterleben", erwiderte Aerien tonlos. "Ich dachte du würdest..."
"... es verstehen?", kam Narissa ihr zuvor. "Ach, Aerien. Glaubst du, ich würde ohne dich einfach weiterleben können... und wollen?" Sie spürte sich selbst ob ihrer Worte ein wenig erröten, und im blassen Licht der Sterne schien es Aerien ebenso zu gehen.
Aerien blickte zu Boden. "Ich dachte, es wäre mein Schicksal. Auf ewig Mordor zu dienen, ob ich es will oder nicht." Sie blickte hinauf zu den Sternen, und Narissa hatte sie nie zuvor so schön gefunden wie in diesem Moment - so schön, und gleichzeitig so verletzlich, wie sie Aerien nicht einmal nach ihrer Begegnung mit dem Nazgûl in Qafsah gesehen hatte. Und sie begriff erst langsam, wie schrecklich und lähmend der Gedanke an eine Rückkehr nach Mordor, in Karnuzîrs Händen, für Aerien gewesen sein musste.
"Ich glaube nicht an Schicksal", sagte Narissa leise, aber eindringlich. "Elyana hat mir gesagt, mein Schicksal wäre es, dem Bösen gegenüber zu treten... dass ich von irgendwelchen mächtigen Wesen auserwählt wäre, dagegen zu kämpfen. Und ich tue es, ich kämpfe gegen den Sultan und gegen Mordor. Aber nicht, weil jemand es mir vorherbestimmt hat, sondern weil ich es so will. Karnuzîr hätte vielleicht gesagt, dein Schicksal ist es, seine Frau zu werden und Mordor zu dienen."
"Das hat er gesagt", warf Aerien leise ein. "Er hat gesagt, es wäre meine Bestimmung, und ich sollte froh darüber sein."
"Und ich könnte sagen, dein Schicksal ist es, für immer an meiner Seite zu bleiben, und gemeinsam werden wir gegen den Schatten kämpfen und ihn besiegen", entgegnete Narissa. "Aber auch das ist Unsinn. Du musst tun, was du willst, und nicht was andere als dein Schicksal ansehen. Uns ist nichts vorherbestimmt, wir müssen selbst für unsere Zukunft kämpfen, dass sie so wird, wie wir sie uns vorstellen."
Einen Augenblick schwiegen beide, und sahen stumm zu den Sternen hinauf. Schließlich fragte Aerien: "Dann glaubst du nicht... dass die Valar über uns wachen? Dass sie unser Schicksal lenken, im Kampf gegen Schatten? Und dass es sie wirklich gibt?"
Narissa zuckte mit den Schultern. "Ich weiß, dass es die Valar gibt - es gibt in Mittelerde immer noch solche, die sie gesehen und mit ihnen gesprochen haben. Aber ich glaube nicht, dass sie uns lenken und unser Schicksal bestimmen. Sie sind nicht mehr in dieser Welt, und wir sind auf uns allein gestellt... Allein gegen die Schatten, die seit Anbeginn der Zeit über dieser Welt liegen." Sie blinzelte einige Male rasch, während sie stockend weitersprach: "Er versucht uns zu überwältigen, zu trennen, und... auf seine Seite zu ziehen, aber... er kriegt uns nicht. Ich... lasse es nicht zu, ich..."
Aerien hatte ihre Hand losgelassen, und nun spürte Narissa Finger auf ihren Wangen, die sanft Tränen wegwischten.
"Du weinst", flüsterte Aerien, und trotz allem spürte Narissa ihre Mundwinkel unwillkürlich zucken. "Tu' ich gar nicht", widersprach sie, zog Aerien dann an sich, vergrub ihr Gesicht in den seidigen schwarzen Haaren, und hielt sie fest.
"Ich könnte es nicht ertragen, wenn du... erneut..."
"Ich weiß", erwiderte Aerien leise, und erwiderte die Umarmung dabei ebenso fest. "Ich werde immer bei dir bleiben, wenigstens in Gedanken. Und mein Herz wird immer dir gehören, Rissa."

Als Narissa sich schließlich beruhigt, und die Tränen versiegt waren, löste sie die Umarmung, und Aerien blickte ihr fest in die Augen.
"Danke", sagte sie. "Dafür, dass du mich zurückgeholt hast - gleich zwei Mal."
"Es war mir eine Freude", erwiderte Narissa, und brachte ein ehrliches Lächeln zustande. "Ich habe doch gesagt, ohne dich könnte ich nicht einfach weiterleben, also... musste ich es versuchen."
Sie folgte Aeriens Blick, der in Richtung Westen gewandert war. Dort lehnte Thorongil an einem niedrigen Baum, und neben ihm lag Karnuzîr regungslos am Boden. Gemeinsam gingen Narissa und Aerien zu ihm, und Narissa fragte mit einem knappen Nicken zu Karnuzîr: "Ist er tot?"
Thorongil schüttelte den Kopf. "Nein - allerdings geht es ihm im Augenblick nicht besonders gut. Er hat mir einige interessante Dinge verraten. Zwei von Suladâns Leuten, Rae und Breyyad, hatten sich vom Rest der Gruppe getrennt um direkt zu Suladân zu reiten?" Der letzte Teil war eindeutig an Aerien gerichtet, die bestätigend nickte.
"Ja. Sie sprachen davon, dass der Krieg nicht gut liefe, und dass Suladân sie brauchen würde."
"Und sie wissen über uns Bescheid", meinte Thorongil nachdenklich, und blickte beide dann scharf an. "Was mit Karnuzîr geschieht, überlasse ich euch. Ich kann verstehen, wenn ihr ihn sterben sehen wollt, und würde euch nicht zurückhalten - doch lebendig kann er uns vielleicht von größerem Nutzen sein."
Bei dem Gedanken, Karnuzîr am Leben zu lassen, schien die Narbe auf Narissas Wange zu brennen. Er hatte ihr so viel Schmerz verursacht, körperlich wie seelisch, dass der Gedanke, ihn nicht für seine Taten zu töten, unerträglich schien.
"Er sollte für seine Taten büßen", sagte sie langsam. "Wir sollten ihn..."
"... am Leben lassen", fiel Aerien ihr ins Wort, und einen Augenblick zweifelte Narissa an dem, was sie gehört hatte.
"Du willst ihn... am Leben lassen?", fragte sie ungläubig. Sie war sich sicher gewesen, dass Aerien mit diesem Kapitel so schnell wie möglich abschließen und Karnuzîr tot sehen wollte. Aerien antwortete mit gequältem Gesichtsausdruck: "Ich will ihn ebenso gerne töten wie du, glaub mir. Aber... dein Onkel hat recht. Er könnte lebendig von großem Nutzen sein, mit allem was er weiß."
"Aber...", begann Narissa ein wenig hilflos. "Nach allem, was er getan hat?"
"Nach allem, was er getan hat", bestätigte Aerien. "Und ist es nicht eine größere Strafe für ihn, zu sehen wie wir ihn benutzen um einen Vorteil gegenüber seinen beiden Herren - Suladân und Sauron - zu erlangen, bevor er stirbt? Ist es nicht zu einfach, ihn jetzt schon zu töten?"
"Ich... wahrscheinlich", meinte Narissa widerstrebend. "Also schön, lassen wir ihn leben, bis er nicht mehr nützlich ist. Aber dann wird er sterben - langsam", schloss sie kalt, und Thorongil nickte. "Dann ist es beschlossen."
Sie hoben den bewusstlosen Karnuzîr auf eines der Pferde, die die Haradrim nun nicht mehr brauchen würden, und nahmen auch eines für Aerien mit, als sie sich zu ihren eigenen Pferden aufmachten.
Dort angekommen tätschelte Narissa Grauwind den Hals, und murmelte: "Sieh nur, wen ich mitgebracht habe." Die Stute schnaubte und stieß Aerien sanft mit der Schnauze an. Ein kurzes Grinsen ging über Aeriens Gesicht, als sie fragte: "Hast du gerade... mit einem Pferd gesprochen?"
Auch Narissa konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, und sie spürte wie eine tonnenschwere Last von ihrem Herzen abzufallen schien. Sie kraulte Grauwind hinter den Ohren, und erwiderte möglichst unschuldig: "Ganz sicher nicht. Das ist deine Spezialität."
Bevor Aerien etwas zurückgeben konnte, zog Thorongil ein längliches Bündel aus dem Gepäck auf dem Rücken seines Pferdes, und hielt es ihr entgegen. "Dein Schwert", sagte er. "Edrahil hat mich überzeugt, es mitzunehmen, denn er war davon überzeugt, dass du unschuldig bist, und es vielleicht brauchen könntest."
Aerien nahm das Bündel vorsichtig entgegen, und schlug das Leder, in das die in ihrer Hülle steckende Klinge zusätzlich eingewickelt war, zur Seite. Beim Anblick des Schwertes sagte Narissa aus einer Eingebung heraus: "Ich finde, du solltest es umbenennen. Nachtklinge passt nicht zu dir."
"Hm", machte Aerien, und betrachtete das Schwert nachdenklich. "Ich werde darüber nachdenken."

Nachdem sie sich auf die Pferde geschwungen hatten, schlug Thorongil den Weg nach Süden, und nicht zurück nach Westen ein. "Wohin reiten wir?", fragte Narissa, und ihr Onkel antwortete: "Es gibt ein Versteck, ganz in der Nähe von Ain Salah. Wir sollten es in ein, zwei Stunden erreichen können, und dort können wir uns ein wenig ausruhen, bevor wir uns auf den Rückweg machen."
"Was für ein Versteck?", fragte Aerien interessiert, und lenkte ihr Pferd zwischen Thorongil und Narissa. Der Herr des Turmes lächelte. "Du interessiert dich doch für die Geschichte der Dúnedain, nicht wahr? Dann wird der Ort dir gefallen..."

Narissa, Aerien, Thorongil und Karnuzîr in die Umgebung von Ain Salah... (http://modding-union.com/index.php/topic,34214.msg453910.html#msg453910)
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 3. Jul 2022, 12:47
Narissa, Qúsay, Valion und Edrahil mit dem Heer des Malikats von Ain Salah (https://modding-union.com/index.php/topic,34214.msg487708.html#msg487708)

Das letzte Mal, das Narissa in den fruchtbaren Ebenen, die der Harduin inmitten der trockenen Lande von Harad geschaffen hatte, gewesen war, war ihr noch lebhaft im Gedächtnis, als das Heer endlich die Steppen östlich von Ain Salah hinter sich ließ, und nach Norden in Richtung Qafsah abschwenkte. Hier hatten sie und ihr Onkel Aeriens Entführer eingeholt und Karnuzîr gefangen genommen. Sie erinnerte sich, wie Aerien dafür gesprochen hatte, Karnuzîr am Leben zu lassen. Und war es nicht genau so gekommen, wie Aerien gesagt hatte? Bevor Karnuzîr gestorben war, hatte er seinen Teil dazu beigetragen, Sauron zu schaden - wenn auch in etwas anderer Weise als Narissa erwartet hätte. Bei dem Gedanken, wie anders als sie sich jemals vorgestellt hatte alles gekommen war, musste sie lächeln.
"Ich glaube, seit Ain Salah war das das erste Lächeln, das ich von dir sehe", bemerkte Valion, der neben Narissa ritt. "Gute Erinnerungen?"
Narissa schüttelte den Kopf. "Davon habe ich hier nicht viele - und wenn überhaupt erinnern sie mich daran, dass ich Aerien vermisse." Sie gab sich einen Ruck und straffte sich innerlich. "Ach, tut mir Leid. Immer beklage ich mich nur, wie übel das Leben mir mitgespielt hat."
"Hm", machte Valion. "Nicht ganz zu unrecht, nach dem was du erzählt hast." Tatsächlich hatten sie nicht wenig Zeit gehabt, sich zu unterhalten - drei Tage war das Heer nun seit Ain Salah unterwegs gewesen, ohne dabei auf Feinde zu stoßen, trotz Edrahils düsterer Andeutungen. Dafür schlossen sich immer wieder Krieger der in der Umgebung ansässigen Fürsten und Stämme Qúsay an. Es war, als wären die Geschehnisse von Ain Salah ein Signal gewesen, das endlich die noch Unentschlossenen überzeugt hatte, welche Seite als Sieger aus diesem Krieg hervorgehen würde. Die Folge der vielen Neuankömmlinge war allerdings, dass sowohl Edrahil als auch Erchirion in der Regel beschäftigt waren. Eayan hatte sich seit seiner plötzlichen Ankunft zwei Abende zuvor ebenfalls nicht mehr blicken lassen.
"Jedenfalls bin ich froh, dass wir endlich den ganzen Staub fürs erste hinter uns gelassen haben", setzte Valion das Gespräch fort. "Ich habe in letzter Zeit mehr Sand geschluckt, als für einen Menschen gut sein kann."
"Freu dich nicht zu früh", erwiderte Narissa mit einem skeptischen Blick zum westlichen Horizont. Die Sonne war bereits tief gesunken, und der Himmel hatte eine bedrohliche, orangene Färbung angenommen. "Die Sandstürme ziehen manchmal weit nach Osten, und der Himmel sieht mir ganz danach aus als könnten wir einen bekommen."
"Großartig", brummte Valion. "Da glaubt man die Wüste hinter sich, und sie kommt einfach hinterher. Gerade kann ich es kaum erwarten, aus diesem Land wieder herauszukommen."
Narissa erwiderte nichts, sondern ließ stumm den Blick über die weite Ebene schweifen. Ihr Schweigen schien Valion zu verwundern. "Ich hätte erwartet, dass du Harad entweder verteidigst, oder mit zustimmst."
"Ich weiß selbst nicht wirklich, was ich empfinde", antwortete Narissa schließlich, und seufzte tief. "Fast mein ganzes Leben habe ich irgendwo in Harad verbracht. Und so viele schlechte Erinnerungen ich auch habe... hier ist auch alles Gute in meinem Leben passiert. Ich glaube... ach, ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich für immer hierbleiben, oder so schnell wie möglich davonlaufen möchte."
"Ich glaube, das geht uns allen manchmal so. Früher, als Kind, konnte ich es manches Mal kaum erwarten, selbst der Fürst vom Ethir zu sein, und an anderen Tagen wollte ich am liebsten weglaufen und irgendwo Abenteuer erleben."
Narissa musste lächeln. "Nun, das mit den Abenteuern hat ja schonmal geklappt. Und zum Fürsten vom Ethir machen wir dich auch noch wieder, du wirst schon sehen."
"Es sei denn, Edrahil lässt mich vorher ermorden wegen dieser Angelegenheit in Ain Salah." Valion verzog ein wenig das Gesicht. Narissa kam nicht zum antworten, denn mit einem Mal mischte sich eine neue Stimme in ihr Gespräch ein. "Edrahil wird schon bald andere Sorgen haben - was für alle in diesem Heer gilt." Es war Eayan, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sein Pferd an Narissas freie Seite gelenkt hatte. Narissa freute sich, ihn zu sehen, und schüttelte doch den Kopf. "Es ist kein Wunder, dass du dich mit Edrahil verstehst - ihr habt beide den gleichen Hang zu ominösen, düsteren Andeutungen."
Eayan grinste flüchtig. "Berufskrankheit, vermute ich. Was ich damit meine ist: Qúsays Marsch auf Qafsah ist nicht unbemerkt geblieben, und Suladân hat offenbar beschlossen, zu handeln. Nicht weit vor euch liegt sein Heer auf der Lauer um euch in einen Hinterhalt zu locken und zu vernichten, bevor ihr Qafsah überhaupt erreicht."
Narissa wechselte einen Blick mit Valion. Eayans Neuigkeit überraschte sie beide nicht besonders - Narissa hatte nie wirklich damit gerechnet, dass Suladân sie kampflos bis zu seiner Hauptstadt marschieren lassen würde.
"Wir müssen Qúsay warnen", sagte sie, und Eayan nickte. "Die Falle ist geschickt gelegt, und ich befürchte, dass seine Kundschafter sie nicht entdecken würden. Seine Wachen wollten mich nicht zu ihm durchlassen, deshalb habe ich nach euch oder Edrahil gesucht."
Weitere Worte waren nicht notwendig, also trieben sie ihre Pferde an bis sie weiter vorne im Heerzug bei Qúsay und den anderen Würdenträgern, die von ihren Leibwächtern umgeben waren, angekommen waren. Da sowohl Narissa als auch Valion ihnen bekannt waren, wurden sie ohne Probleme durchgelassen, und Narissa zügelte Grauwind direkt neben Qúsay, der gerade ins Gespräch mit dem Fürsten eines der Stämme, die sich ihm zuletzt angeschlossen hatten, vertieft war.
"Ich bitte um Verzeihung, Malik, aber ich habe Neuigkeiten die keinen Aufschub dulden", sagte Narissa so förmlich wie möglich. Qúsay warf ihr einen einzigen forschenden Blick zu, und entließ seinen Gesprächspartner mit einer raschen Entschuldigung. "Was ist es?"
Narissa machte eine Handbewegung in Richtung Eayan, der ein wenig abseits innerhalb des Rings aus Leibwächtern auf seinem Pferd saß und Qúsay aufmerksam beobachtete. "Suladân stellt uns eine Falle. Er will uns vernichten, bevor wir Qafsah erreichen." Qúsay hatte ihre Geste verstanden, und winkte Eayan näher. "Berichtet", befahl er knapp und angespannt.
"Nur ein paar Wegstunden nördlich von hier hat sich die Wüste über die Straße hinweg ausgebreitet, und die Straße führt dort zwischen zwei hohen Dünen hindurch. Dort wird Suladâns Vorhut euch in einen Kampf verwickeln, und wenn der Hauptteil eures Heeres zwischen den Dünen ist, werden Suladâns Männer von beiden Seiten eine Sandlawine auslösen. In der Verwirrung werden sie euch von allen Seiten angreifen und vernichten."
Qúsay strich sich mit einer Hand über das Kinn, und blickte dann nach Westen, wo sich der Himmel inzwischen vollständig in einem bedrohlichen Dunkelorange gefärbt hatte. Sein Gesicht verzog sich zu einem gefährlichen Lächeln, und er sagte: "Ich danke euch für die Warnung. Suladân wird eines bald erfahren: Eine Falle ist keine Falle mehr, wenn sie erkannt wurde... sondern eine Gelegenheit."
Titel: Blut auf den Dünen
Beitrag von: Fine am 4. Jul 2022, 15:42
Aus der Sicht Eayans, des Schattenfalken

Ein vergessener Poet aus den längst vergangenen Tagen, als Harad ein gewaltiges, grünes Königreich gewesen und anstelle der großen Wüste in seinem Herzen eine fruchtbare Graslandschaft gelegen war, hatte einst Worte in Stein meißeln lassen, die vielen Gelehrten in den Bibliotheken und Archiven der Herrscher des Südens als Grundstein der haradischen Kultur ansehen.

"Wo Wasser ist, ist auch Blut. Ein Fluss gleicht einer Vene, und ein See einem schlagenden Herzen. Wenn wir unser Land erhalten wollen, müssen wir zum Wasser blicken."

Eayan, der diese Worte gut kannte, verzog das Gesicht, als sie ihm einfielen, während er seine lange, gebogene Dolchklinge aus der Kehle seines letzten verbliebenen Feindes zog. Grimmig blickte er nach Süden, wo eine aufgewirbelte Staubwolke anzeigte, wohin der Rest des Überfalltrupps geflohen war, nachdem ihre Aufgabe abgeschlossen war. Eayan war zu spät eingetroffen, um sie an ihrem Vorhaben zu hindern, und er verfluchte sich dafür. Er hätte es kommen sehen müssen.
Feuchtigkeit umspülte seine Füße und er spuckte verächtlich aus. Der Großteil der Wasservorräte des Malikatsheeres war vergossen worden und das wertvolle Nass versickerte nun zwischen den Sanden der Harduin-Ebene. Auch andere Vorräte waren gestohlen oder vernichtet worden.
"Sie müssen gewusst haben, dass wir ihren Hinterhalt bemerkt haben," sagte Edrahils ruhige Stimme. Eayan, der den Gondorer mittlerweile kannte, vernahm keinen Vorwurf in Edrahils Stimme, nur Bedauern. Dennoch gab er sich selbst die Schuld für das Fiasko, das Qúsays Heer ereilt hatte. Dabei hatte alles so vielversprechend ausgesehen. Sie hatten die Reiterei des Malikats in zwei Schwadronen aufgeteilt, die die hohen Dünen zu beiden Seiten der Straße umrunden und den im Hinterhalt lauernden Truppen des Sultanats in den Rücken fallen sollten. Dann würde das Heer Qúsays durch die sich öffnenden Lücke vorstoßen und den Feind in die Flucht schlagen.
Anfangs war alles genau nach Plan verlaufen. Eayan, der sich den berittenen Gondorern an der südlichen Flanke angeschlossen hatte, aber am eigentlichen Angriff nicht teilgenommen hatte, hatte beobachtet, wie es den Reitern gelungen war, die Dünen ungesehen zu umrunden und mit Schwung auf die feindlichen Stellungen loszupreschen. Narissa war gemeinsam mit Edrahil etwas abseits vom Geschehen geblieben; Valion hingegen hatte sich gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester und dem jungen Prinzen von Dol Amroth an dem Angriff beteiligt, wie auch schon in der letzten Schlacht. Doch als die Feinde sich umgedreht und dem Ansturm mit Speeren begegnet waren, war anstelle eines raschen Sieges ein erbitteter Kampf entbrannt. Und noch etwas war Eayan aufgefallen: Er sah nirgendwo feindliche Reiter. Das Heer Sûladans, das zu beiden Seiten der Straße in den Dünen versteckt lag, bestand ausschließlich aus Kriegern, die zu Fuß kämpften; von Männern auf Pferden, Kamelen oder gar Mûmakîl war nichts zu sehen. Eine finstere Vorahnung überkam Eayan in diesem Moment, und er hatte sein Pferd gewendet, und war zur Rückseite des Hauptheeres des Malikats geeilt.

Qúsay war kein unvorsichtiger Narr. Selbstverständlich hatte er seinen Vorratstross nicht unbewacht gelassen. Doch in Erwartung eines schnellen Sieges waren die Wachen bei den mit Proviant beladenen Karren, die nur langsam voran kamen, bei guter Laune und unvorsichtig. Eayan, der wie der Wind herangeprescht kam, traf zu spät ein. Die feindliche Reiterei hatte einen großen Bogen um die Flanken des Malikatsheeres geschlagen und war von Südwesten über die Verteidiger der Vorräte hergefallen. Der Widerstand war rasch niedergeschlagen und der Feind plünderte alles was greifbar war und vergoss oder vernichtete jenes, was sich nicht fortschleppen ließ. Als Eayan sich in den Kampf stürzte, waren viele der Reiter Sûladans schon dabei, mit ihrer Beute zu flüchten. Ihr Werk war getan und der Schaden war angerichtet worden. Eayan konnte nicht mehr tun als drei übermütige Haradrim daran zu hindern, das letzte große Wasserfass umzustürzen, indem er sie innerhalb einiger weniger Herzschläge einen nach dem anderen niederstreckte.
"So scheint es wohl," sagte Eayan frustriert, als Edrahil neben ihm aus dem Sattel glitt. "Wir haben Sûladan unterschätzt, und haben teuer für diese Torheit bezahlt."
"Nun, wenn ich mich nicht sehr irre, liegt der Harduin-Fluss nicht weit von hier," sagte Edrahil ruhig. "Durst werden wir zumindest nicht leiden müssen."
"Das mag sein, doch es verbleiben kaum Trinkschläuche und Fässer, um das Wasser aufzubewahren," erwiderte Eayan. "Ein Rückzug nach Ain Salah wird uns nun kaum möglich sein. Und ohne große Nahrungsvorräte bleibt für eine langwierige Belagerung Qafsahs kaum Zeit."
"Hm," überlegte Edrahil. "Aber ob Qúsay einen riskanten Sturmangriff auf die Mauern in Erwägung zieht? Ich bezweifle es. Nach allem, was ich gesehen habe, ist selbst die laufende Schlacht noch nicht gewonnen. Und wer weiß, wieviele Männer noch ihr Leben lassen müssen, ehe wir gen Qafsah vorrücken können."
Eayan schwieg. Er erwog bereits, sich auf eigene Faust in die Stadt Sûladans zu schleichen und Qúsays Krieger hineinzulassen, ehe ihm einfiel, dass die großen Tore der Stadt sich nur von zwei oder mehr Männern gemeinsam öffnen ließen, so schwer waren die eisernen Fallgatter, die den Zugang verhinderten.

Die Schlacht hatte in den frühen Morgenstunden begonnen, und als die Sonne am Mittag ihren höchsten Stand erreicht hatte, endete das Blutvergießen. Sûladans Kriegern war ein geordneter Rückzug gelungen, indem sie die vorbereiten Sandlawinen entlang der Straße auslösten und in dem Chaos des aufgewirbelten Staubs durch die sandigen Dünen in Richtung Qafsahs abmarschierten. Pferde und Kamele scheuten, als der Sand mit lautem Getöse abrutschte, und einige Reiter sanken ein, als sich die Dünen unter ihren Reittieren auflösten. Qúsay, der die nördliche Flanke persönlich in die Schlacht geführt hatte, gelang es, einen Teil seiner Reiter zusammenzuhalten, doch nach einer kurzen Verfolgung der Flüchtenden ließ er sie wieder anhalten. Sie waren zu wenige, um das Heer Sûladans ernsthaft zu bedrohen, denn immer wieder hatten die in einigermaßen ordentlichen Reihen marschierenden Speerträger kehrt gemacht, um Qúsays heranstürmenden Reitern entgegenzutreten. Es war keine wilde Flucht; Sûladans Heer war nicht gebrochen worden. Qúsays Krieger hatten sich den Weg nach Qafsah freigekämpft, aber der Preis war hoch gewesen.

"Das ist eine ziemliche Zwickmühle," sagte Valion, als er einige Zeit nach der Schlacht zu Eayan und Edrahil stieß und von den Verlusten der Vorräte erfuhr. Narissa, die anfangs noch gut gelaunt gewirkt hatte, verzog ebenfalls das Gesicht. Doch Eayan glaubte, der jungen Frau anzusehen, dass sich ein Gedanke in ihrem Kopf zu bilden begann, denn sie war ungewöhnlich still und fiel, so untypisch es auch für sie war, niemandem ins Wort.
"Wir können weder zurück nach Ain Salah reiten, wo nur Wüste und Durst auf uns warten, noch in aller Ruhe Qafsah einschließen und belagern," fuhr Valion fort. "Und wenn wir nicht diesen Fluss zur Linken hätten, müssten wir wohl schon ab morgen mit ständigem Durst leben."
"Nun, noch bleiben uns Möglichkeiten," sagte Edrahil. "Es sind nicht viele, aber geschlagen sind wir noch nicht."
"Ein Sturmangriff ist zum Scheitern verurteilt," befand Eayan. Er kannte Qafsahs Mauern und wusste, dass sie beinahe so stark wie die númenorischen Wälle Umbars waren. "Am Fluss wachsen zwar einige Bäume, aber um ausreichend Belagerungswaffen zu bauen, gibt es bei Weitem nicht genügend Holz. Ganz zu schweigen davon, dass das Heer abgesehen von Wasser nur noch über einen kleinen Rest Vorräte verfügt, und ich mir sicher bin, dass die Lagerhallen in Qafsah gut gefüllt sein dürften."
"Ein Rückmarsch entlang des Flusses wäre eventuell denkbar," meinte Edrahil. "Doch da kämen wir äußerst langsam voran, so abseits der Straßen."
"Und wären leichte Beute für Sûladans Reiter," fügte Valion hinzu.
Sie verfielen in nachdenkliches Schweigen. Eayan musterte Narissa, die schließlich den Kopf hob und dem Blick des Schattenfalken begegnete. Er sah die Entschlossenheit in ihren grünen Augen aufleuchten und wusste, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte.

"Ich habe einen Vorschlag," sagte Narissa.
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 15. Okt 2024, 21:15
"Einen Vorschlag?", fragte Edrahil, und Narissa glaubte einen Hauch von Spott in seiner Stimme zu hören. "Nicht zufällig eine wagemutige Ein-Frau-Mission, die Qúsays Heer die Tore öffnen soll?"
"So ähnlich", erwiderte Narissa. "Allerdings wären mein Ziel nicht die Tore, sondern Suladân selbst."
Edrahil seufzte. "Ich verstehe, dass das wichtig für dich ist, aber Rache..."
"Es geht mir nicht um Rache!", fiel Narissa ihm ins Wort. "Aber ohne Suladâns Einfluss wird Qafsah sich mit Sicherheit ergeben. Die Menschen dort sind nicht böse, sie werden nur falsch geführt. Suladân ist das einzige, was zwischen uns und dem Sieg steht."
Edrahil fixierte sie nur schweigend, und sofort begann Narissa selbst an ihren Worten zu zweifeln. Andererseits - ob nun Rache für ihre Mutter, für Yaran, für ihren Großvater, für... alle, die unter Suladâns Herrschaft gelitten hatten, ihr eigentliches Ziel war, war doch bedeutungslos.
Mit einem Räuspern brach Valion die unbehagliche Stille. "Aber... Narissa, wie willst du überhaupt nach Qafsah hineinkommen?"
"Es gibt einen Tunnel, der von der Oase vor der Stadt in die Stadt hinein führt. Und nicht nur in die Stadt sondern direkt in den Palast! Und ab dort komme ich zurecht, genau dafür bin ich ausgebildet."
Valion hob die Augenbrauen. "Das klingt doch vielversprechend... aber eigentlich gibt es doch keinen Grund, warum du alleine gehen solltest." Er legte die Rechte auf einen seiner Schwertgriffe.
"Es gibt einen Haken an der Sache", merkte Eayan, der bislang geschwiegen hatte, leise an. "Oder besser gesagt: Mehrere Haken."
"Aber nichts was mich aufhalten würde", wehrte Narissa ab. "Ich..." Edrahil hob die Hand, und gegen ihren Willen verstummte Narissa. "Was für Haken?"
"Zum einen ist die Quelle, aus der diese Information stammt, das Gegenteil von dem was ich vertrauenswürdig nennen würde", erklärte Eayan. "Wir wissen also nicht sicher, ob dieser Tunnel tatsächlich existiert. Wenn er denn tatsächlich existiert: Angeblich dient er der Wasserversorgung der Stadt, das heißt..."
"... er beginnt unter Wasser und ist mit Wasser gefüllt", beendete Edrahil, und verzog das Gesicht. "Ich bin sicher, du hast nur vergessen, dieses unbedeutende Detail zu erwähnen", fügte er an Narissa gewandt hinzu.
"Du musst ja nicht hindurch schwimmen!", wehrte Narissa ein wenig trotzig ab. Das Gespräch verlief ganz und gar nicht in ihrem Sinne. Sie hatte Zuspruch dafür erwartet, dass sie diesen Krieg mit einem einzigen Schwertstreich - oder Dolchstoß - beenden könnte, und sie hatte erst Recht nicht erwartet, dass Eayan ihr in dieser Weise in den Rücken fallen würde. Eayan, der von allen Anwesenden am Besten wissen musste, wozu sie fähig war. In diesem Moment wünschte sie mehr als zuvor, Aerien wäre hier. "Ich tue es aus freien Stücken, und zwar alleine. Egal, wie gefährlich es ist!" Sie sah Valion leicht zusammenzucken, und er wirkte ein wenig verletzt. "Ich bringe nur mich selbst in Gefahr, von daher kann euch allen auch egal sein, wie riskant es sein mag."
Edrahil schüttelte den Kopf. "Nach allem, was du erlebt und getan hast, hätte ich ein wenig mehr Weisheit erwartet, aber dein Hass auf Suladân blendet dich. Niemandem hier ist dein Schicksal gleichgültig. Das Risiko ist es nicht wert, und ich werde dafür sorgen, dass du keine Möglichkeit erhältst, dein Leben wegzuwerfen." Seine Augen funkelten gefährlich, und unwillkürlich machte Narissa einen halben Schritt zurück.
"Langsam, Edrahil", warf Eayan ein, beide Hände mit den Handflächen nach vorne erhoben. "Ich bin zwar der Meinung, dass Narissa die Sache ein wenig zu sehr vereinfacht hat - aus Gründen, die uns allen klar sein dürften - aber das bedeutet nicht, dass ich das Risiko für zu groß halte."
Alle drei wandten sich überrascht dem Schattenfalken zu, und er zuckte mit den Schultern. "Ist es so viel gefährlicher, als in Suladâns Gefängnis einzubrechen? Das Königssymbol von Kerma einem untoten König zu entringen? Nach Mordor zu reisen und aus Barad-Dûr selbst den wertvollsten Gefangenen des Dunklen Herrschers zu befreien? Oder, Edrahil, in ein fremdes Land im fernen Süden zu reisen, mit einem berüchtigten Mörder zur Gesellschaft und die Wiederauferstehung eines dunklen Königreichs zu vereiteln? Alles, was wir tun, ist gefährlich. Jeder von uns ist in der Lage, selbst über sein Schicksal zu entscheiden. Nur eines, Narissa, das du dir gut überlegen solltest: Ist das Risiko es wert, Aerien niemals wiederzusehen? Überlege es dir gut. Und überlege dir gut, warum du dieses Risiko eingehen willst."
Narissa blickte stumm zu Boden, und auch Valion und Edrahil schwiegen.
"Vielleicht... solltet ihr diese Entscheidung vertagen", schlug schließlich Valion vor. "Soweit ich weiß, haben wir noch mindestens einen Tag bis Qafsah vor uns. Auf dem Weg sollten alle Zeit haben, in Ruhe über die Sache nachzudenken."
"Valion vom Ethir gibt mir den Rat, nachzudenken." Edrahil schien seine eigenen Worte kaum glauben zu können. "Man lernt niemals aus, solange man auch lebt..." Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging davon.
Valion zuckte mit den Schultern. "Ich nehme das mal als Kompliment." Er lächelte schwach, und trotz aller Sorgen spürte Narissa auch ihre eigenen Mundwinkel zucken. Eayan seufzte nur. "Du hast bis morgen Zeit, eine Entscheidung zu treffen." Damit ging auch er davon und ließ Valion und Narissa allein.

Sofort verschwand jede Spur des Lächelns wieder von Valions Gesicht. "Hör zu, Narissa... ich meinte es ernst als ich gesagt habe, dass Valirë und ich dir zur Seite stehen werden. Wenn du dich dafür entscheidest, durch diesen Tunnel zu gehen - wir kommen mit dir."
"Ach... ich weiß. Ich weiß nicht, auf welche Weise ich mir eure Freundschaft verdient habe, aber..." Narissa ließ ein wenig den Kopf hängen, alle Entschlossenheit mit einem Mal wie weggeblasen. Sie ließ den Blick über den zerstörten Vorratstross schweifen, bevor sie weitersprach. "Ihr seid Krieger, Valion. Was ich vorhabe geht nur mit Heimlichkeit. Leise und unauffällig."
"Ich kann leise und unauffällig sein", protestierte Valion, schüttelte dann aber lächelnd den Kopf. "Nein, ich verstehe was du meinst. Mir ist nur nicht wohl dabei, dich vollkommen alleine durch einen wassergefüllten Tunnel mitten in das Herz des Feindes tauchen zu lassen. Niemand sollte so etwas alleine tun müssen. Aber vielleicht kann Eayan dich begleiten? Er scheint doch gut für solche Dinge geeignet zu sein."
"Vielleicht...", sagte Narissa zögerlich. Sie straffte sich, und klopfte Valion auf die Schulter. "Komm, das Heer scheint weiterzuziehen. Ich will Edrahil nicht noch mehr Grund geben mir zu grollen. Außerdem hätte ich eine Idee, wie ihr mir auch helfen könntet, ohne durch den Tunnel zu schwimmen..."
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 16. Okt 2024, 20:39
Am späten Abend des nächsten Tages hatte Qúsays Heer den Belagerungsring um Qafsah, das es gegen Mittag erreicht hatte, geschlossen. Der Malik selbst hatte sein Lager in der Oase vor den Toren der Stadt aufgeschlagen, an der Stelle, an der einst Níthrar und seine Heimatlosen gelagert hatten.
Als Narissa begleitet von den Zwilligen Qúsays großes Zelt betrat, fiel ihr sofort die angespannte Stimmung auf, die dort herrschte.
"Wir werden einige Zeit benötigen, ausreichend Leitern zu bauen oder reparieren um jene zu ersetzen, die beim Angriff auf den Tross zerstört oder beschädigt wurden", sagte gerade einer der Hauptleute an Qúsay, der in der Mitte des Zeltes, die Fäuste auf den einzigen Tisch gestützt, stand.
"Zeit, die wir nicht haben", erwiderte Dírar ernst. "Unsere Vorräte - vor allem an Wasser - sind jetzt bereits knapp, und diese Oase wird keineswegs ausreichen, das ganze Heer zu versorgen."
"Ich weiß, aber wir können nicht einfach neue Belagerungsgeräte herbeizaubern!", entgegnete der andere Mann sichtlich gereizt. "Und..."
Qúsay hieb mit der Faust auf den Tisch und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. "Genug! So ernst unsere Lage sein mag, mit Streitereien werden wir Suladân ganz bestimmt nicht in die Knie zwingen." Die meisten der anwesenden Hauptleute schienen vor Schreck ein wenig zusammen zu schrumpfen, während Dírar vollkommen unbeeindruckt wirkte. Während der kurzen Stille, die auf Qúsays Worte folgte, entdeckte Narissa Edrahil und Erchirion, die ein wenig abseits am Rand des Zeltes standen und der Diskussion bislang aufmerksam gefolgt zu sein schienen. Sie nutzte die Gelegenheit um so respektvoll wie möglich zu sagen: "Malik Qúsay, ich könnte euch eine Möglichkeit bieten, die Lage vielleicht zu verbessern, allerdings..." Sie ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. "Allerdings würde ich euch bitten, unter weniger Augen darüber mit euch sprechen zu können."
Qúsay fixierte sie mit seinem einzelnen braunen Auge und nickte dann knapp. "Stellt Wachposten rund um die Stadt auf. Ich will, dass nicht einmal eine Maus aus der Qafsah hinaus oder hinein gelangt, ohne dass wir es wissen", befahl er an seine Hauptleute gerichtet. "Wer handwerklich geschickt ist, soll für Bau und Reparatur der Belagerungsmaschinen eingesetzt werden. Sammelt auch an Eimern und anderen Gefäßen, was sich finden lässt, und füllt sie im See der Oase mit Wasser. Wenn morgen die Sonne am höchsten steht erwarte ich euren Bericht, und wir werden entscheiden, wie wir diese Stadt einnehmen."
Die Hauptleute verbeugten sich stumm, und einer nach dem anderen verließ das Zelt. Schließlich waren außer Qúsay und Narissa nur noch Valirë, Valion, Edrahil, Erchirion und Dírar anwesend.
Der Malik bedeutete ihr mit einer Geste zu sprechen, und Narissa atmete tief durch.
"Es gibt - soweit ich weiß - einen Tunnel, der hier in der Oase unter Wasser beginnt, und nach Qafsah hinein führt."
"Zur Wasserversorgung sicherlich", vermutete Qúsay, und strich sich über den Bart. "Könnten wir das Wasser auf irgendeine Weise verunreinigen und die Verteidiger dursten lassen?"
Dírar schüttelte den Kopf. "Damit würden wir uns selbst unsere einzige Wasserquelle nehmen, und unser Heer würde verdursten bevor die Verteidiger ausreichend geschwächt wären."
"Das war auch nicht mein Vorschlag", ergriff Narissa wieder das Wort. "Der Tunnel ist breit genug für einen Menschen. Ein ganzes Heer werdet ihr auf dem Weg nicht in die Stadt schmuggeln können, aber... mich."
Alle Blicke richteten sich wieder auf sie. Qúsay und Dírar skeptisch, aber interessiert, Erchirion mit offener Überraschung und Edrahil vollkommen unergründlich. Narissa biss sich auf die Unterlippe.
"Ich bin für Heimlichkeit ausgebildet, für... Attentate. Wenn ich der Schlange den Kopf abschlagen, Suladân töten könnte... glaubt ihr, Qafsah würde ohne ihn lange Widerstand leisten?"
"Möglich, dass sie sich ergeben. Ebenso möglich, dass sich einfach einer von Suladâns Wesiren oder Generälen an seiner Stelle zum Herrscher aufschwingt und wir nach wie vor keinen Schritt weiter gekommen sind", stellte Dírar fest. "Aber dennoch... ich denke, den Versuch ist es wert."
Bei Dírars Worten hob Edrahil den Kopf und blickte ihn durchdringend an. Narissa glaubte etwas wie Respekt und sogar... Zuneigung im Blick des Alten zu erkennen.
"Ich stimme zu", sagte Edrahil schließlich leise. "Es ist ein hohes Risiko, aber..." Sein Blick richtete sich auf Narissa. "Wenn jemand dieses Risiko freiwillig eingehen möchte, dann sollten wir es tun."
Qúsay nickte langsam. "Also gut. Ich will ehrlich sein: Unsere Lage ist verzweifelt genug, dass ich bereit bin, jede noch so kleine Chance zu ergreifen. Wir werden, sofern die Vorbereitungen einigermaßen vorankommen, morgen Abend angreifen. Den stärksten Schlag werden wir soweit vom Palast entfernt führen. Wie hoch ist das Risiko, dass Suladân den Palast verlassen wird um seinen Truppen beizustehen?", fragte er an Dírar gewandt.
"Gering. Der Sultan ist kein Feigling, aber er weiß, wie schnell ein verirrter Pfeil oder ein einzelner Soldat auf der Mauer sein Ende bedeuten könnte. Und dann würde die Stadt fallen. Nein, ich denke er wird in der Sicherheit seines Palasts bleiben und von dort Befehle erteilen."
"Gut. Seine Aufmerksamkeit werden wir dennoch auf uns ziehen, und vielleicht wird der Palast weniger stark bewacht sein."
"Und währenddessen werde ich durch den Tunnel schwimmen, mich durch den Palast schleichen und ihn ein für alle mal erledigen", ergänzte Narissa deutlich zuversichtlicher, als sie eigentlich war. Je mehr sie über ihren eigenen Plan nachdachte, desto unsicherer erschien ihr die ganze Angelegenheit. Also dachte sie nicht mehr darüber nach.
"Valirë..." In Erchirions Stimme schwang ein für einen Prinzen ungewöhnlich bittender Unterton mit. "Ich hoffe, du hast nicht vor, dich ebenfalls in diesen Tunnel zu begeben?"
Valirë lächelte ihn an. "Keine Sorge, Valion und ich haben eine andere Aufgabe. Allerdings vielleicht nicht unbedingt viel ungefährlicher..."
"Ich... habe mich gerade erst wieder daran erinnert", begann Valion zu erklären, und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. "Noch bevor wir nach Ain Salah kamen, habe ich meinen eigentlich verschollenen Onkel Tórdur getroffen. Er bat mich, Edrahil auszurichten, dass die Löwenmaid - wer auch immer das ist - in Qafsah ist, und Suladân beerben will. Also werden wir..."
Edrahil unterbrach ihn kurzerhand. "Noch vor Ain Salah? Das ist mal wieder großartig, Valion, mein Junge. Und Tórdur ist hier, mit dieser Information, hält es aber nicht für notwendig, selbst mit mir zu sprechen? Besitzt überhaupt irgendjemand in eurer Sippe auch nur ein Fünkchen Verstand?" Er atmete tief durch. "Nun, zuvor hätten wir ohnehin nichts dagegen ausrichten können, also hast du vielleicht nicht allzu viel Schaden angerichtet. Ich..."
"Augenblick mal." Dieses Mal war es Valirë, die Edrahil das Wort abschnitt. Ihre Augen verengten sich bedrohlich. "Heißt das, du wusstest, dass unser Onkel am Leben ist? Seit wann?"
"Genug!", unterbrach Qúsay zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit einen Streit, der in seinem Zelt auszubrechen drohte. "Edrahil, ich schätze ihr schuldet Fürst Valion ein ausführlicheres Gespräch. Nutzt die Zeit, um euer Vorgehen gegen diese Löwenmaid zu planen - wir können es uns nicht leisten, dass jemand Suladân ersetzt, falls es uns gelingt, ihn auszuschalten." Er machte ein herrische Handbewegung die klarstellte, dass sie alle entlassen waren.
Titel: Fragen und Antworten
Beitrag von: Fine am 17. Okt 2024, 15:38
Die Gruppe entfernte sich mit ruhigen Schritten vom Zelt des Heerführers, und machte sich auf den Weg zum Rand des Kriegslagers. Sie sprachen zunächst wenig; jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Valion war noch immer ein wenig unwohl bei dem Gedanken, dass Narissa schon bald eine so gefährliche Mission bevorstehen würde. Immerhin war sie nicht vollkommen alleine, wenn Eayan sie tatsächlich begleiten würde.

Sie erreichten eine kleine Düne, die am Tag von einer einzelnen Palme überschattet wurde. Hier hielt Edrahil inne, und legte eine Hand a seine Stirn, damit ihm die sinkende Abendsonne nicht in die Augen scheinen konnte. Er blickte zur Stadt hinüber und brummelte leise: “Ich bin wirklich froh, wenn das alles endlich vorüber ist.”
Narissa hatte jedes Wort mitbekommen. “Es wird nun nicht mehr lange dauern,” versicherte sie dem alten Herrn der Spione, doch Valion glaubte aus ihren Worten herauszuhören, dass sie sich ihrer Sache nicht ganz so sicher war, wie sie vorzugeben versuchte.
“Ich würde sagen, es ist Zeit für ein paar Antworten,” mischte sich Valirë ein, und risse Valion aus seinen Gedanken. Seine Zwillingsschwester hatte Edrahil ins Visier genommen, welcher ihrem Blick mit seiner üblichen beherrschten Miene standhielt.
“Ich hielt es nicht für notwendig, euch davon zu berichten, dass euer Onkel am Leben ist,” antwortete Edrahil ruhig. Valion kannte ihn mittlerweile gut genug um zu erkennen, dass der Alte gereizt und müde war, und dies aus purer Gewohnheit zu verbergen versuchte. Er entschied, es Edrahil nicht übel zu nehmen.
Ehe Valirë aufbrausend werden konnte, nahm Valion das Wort. “Das ist verständlich, dennoch wirst auch du verstehen können, warum wir etwas enttäuscht sind, Edrahil. Du wärest im Gegenzug ebenfalls nicht sonderlich erfreut darüber, zu erfahren, dass dir wichtige Informationen vorenthalten worden wären, oder täusche ich mich da?”
Edrahil tat Valions Einwand mit einer knappen Handbewegung ab. “Es stand mir nicht zu, Tordúr dies abzunehmen,” sagte er. “Es handelt sich immerhin um eine Familienangelegenheit.”
Valion hatte erwartet, dass seine Schwester nun die Beherrschung verlieren würde, doch Valirës Reaktion überraschte ihn. Sie ließ die Schultern sinken und seufzte leise. Es wirkte, als würde sie nach den richtigen Worten suchen. “Es… geschieht nicht jeden Tag, dass ein totgeglaubtes Familienmitglied urplötzlich wieder lebendig auftaucht,” sagte sie schließlich. Dabei sah sie Edrahil an, welcher um eine Winzigkeit den Kopf schief legte, als würden Valirës Worte ihn auf unerwartete Weise ansprechen.

Narissa hatte den Austausch der beiden zwar verfolgt, ihre Aufmerksamkeit war aber eindeutig geteilt gewesen. Immer wieder warf sie Blicke zur belagerten Stadt hinüber, insbesondere das kleine Gewässer inmitten der Oase zog ihre Aufmerksamkeit an. Valion konnte es ihr nicht übel nehmen. Wahrscheinlich war Narissa in Gedanken bereits dort unten, in den überfluteten Tunneln, auf dem Weg zu ihrer Konfrontation mit Sûladan.
“Kommen wir zu einem weiteren wichtigen Thema,” sagte Edrahil und lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder auf sich. “Taraezaphel, die von ihren Anhängern die Löwenmaid genannt wird. Dass sie hier ist, in Qafsah, zu exakt diesem Zeitpunkt, bedeutet nichts Gutes für uns. Wenn sie Sûladan beerbt, tauschen wir nur eine Schlange gegen eine andere, selbst wenn Narissa in ihrem Unterfangen Erfolg hat.”
“Deshalb werden meine Schwester und ich sie aufhalten,” stellte Valion klar. “Wir werden im Zuge der Belagerung schon einen Weg über Qafsahs Mauern finden, und dann machen wir diese Löwenmaid ausfindig und beenden die Bedrohung, die von ihr ausgeht.”
Narissa wirkte nachdenklich. Sie wiederholte leise den Namen, den Edrahil genannt hatte. “Kannst du diese Frau näher beschreiben, Edrahil?” hakte sie schließlich nach.
“Sie stammt aus dem Reich Arzâyan, weit im Süden gelegen,” erklärte der Herr der Spione bedächtig. “Anscheinend stammt sie von dem dortigen Herrschergeschlecht ab, das als ausgestorben galt - oder behauptet dies jedenfalls. Wir haben sie daran gehindert, eine neue Machtbasis aufzubauen, allerdings ist sie uns auf dem Rückweg zur Weißen Insel entwischt.”
Narissa schüttelt den Kopf. “Ich meinte, äußerlich beschreiben,” stellte sie richtig. Ihre Stimme hatte einen sonderbaren Unterton, den Valion nicht richtig einordnen konnte.
Edrahil wirkte um eine Wenigkeit verwundert, kam der Aufforderung jedoch nach. “Nun, man könnte sie als recht hübsch beschreiben,” begann er. “Dunkles Haar, zurückgehalten von einem gestreiften Band um den Kopf. Schlank, aber athletisch gebaut. Sie wird wohl zehn Jahre älter als du sein, Narissa, dennoch denke ich nicht, dass du ihr im Kampf gewachsen wärest.”
Narissa gab einen hörbaren Laut der Empörung von sich, wurde dann jedoch still als Edrahil weitere Beschreibungen hinzufügte. Schließlich sagte Narissa leise: “Ich glaube.. ich bin dieser Frau schon einmal begegnet.”
“Wann und wo?” wollte Edrahil sofort wissen. Auch Valion blickte Narissa gespannt an.
“Das war.. zuhause,” antwortete diese. “Auf der Insel…” Sie verzog das Gesicht, als würde eine unangenehme Erinnerung ihr durch den Kopf gehen. “Sie war an Aeriens Entführung beteiligt, da bin ich mir sicher.”
“Wenn das wahr ist, dann kannst du es uns überlassen, sie dafür büßen zu lassen,” versicherte Valirë ihr, und Valion nickte zustimmend. “Sollten wir sie lebend in die Finger bekommen, kannst du sie später über ihre Verbindung zur Weißen Insel ausfragen. Edrahil wird dir dabei sicherlich gerne zur Hand gehen, falls diese Taraezaphel nicht reden möchte.”
Edrahil tat diese Aussage mit einem knappen Nicken ab, dann sagte er: “Lebendig wäre mir lieber, doch ihr solltet äußerste Vorsicht walten lassen. Sie ist mir bereits einmal entwischt, und wie ihr wisst, wiederhole ich Fehler eher ungern.”
Valirë gab ein belustigtes Prusten von sich, wurde aber schnell wieder ernst. “Sei unbesorgt, Edrahil, und auch du, Narissa. Wir kriegen sie.”
Valion ließ sich gerne von dem Optimismus seiner Schwester anstecken und pflichtete ihr grinsend bei. Erchirion, der das Gespräch zum größten Teil schweigend verbracht hatte, sagte: “Ich weiß, dass ich dich von deinem Vorhaben nicht abhalten kann, Valirë,” was von Valions Schwester mit einem Grinsen bestätigt wurde. “Aber lass mich wenigstens mit dir kommen. Wir haben zwar nur wenige gondorische Soldaten auf diesem Feldzug dabei, aber beim Überwinden der Mauern wirst du jedes Schwert gebrauchen können, das du kriegen kannst.”
Valion sagte: “Wir gehen alle gemeinsam, und werden alle gemeinsam erfolgreich sein.”

Sie verbrachten den Rest des Abends - von dem nach ihrem Gespräch nicht mehr sonderlich viel übrig war - am gemeinsamen Lagerfeuer unweit der Düne, auf der sie sich mit Edrahil ausgetauscht hatten. Kurz bevor die Zwillinge sich schlafen legten, kam Eayan zu ihnen und bat sie, am folgenden Morgen mit ihm zu sprechen, ehe sie sich an der Belagerung beteiligten.
Die Zwillinge kamen der Aufforderung nach, als die Sonne bereits über den östlichen Horizont geklettert war. Offenbar hatten viele der Malikatskrieger in dieser Nacht gearbeitet, anstatt zu schlafen, denn ein Großteil der Palmen der Oase war verschwunden, ersetzt durch Belagerungsleitern und einen behelfsmäßigen Angriffsturm. Andere Stämme waren zu improvisierten Rammböcken umgebaut worden, während die Holzreste, die bei den Bauarbeiten angefallen waren, als grob zusammengesetzter Schutz gegen Pfeile eingesetzt werden konnte. Dennoch hatte das Heer wohl noch eine Menge Arbeit vor sich, bevor genügen Belagerungsmaterial zur Verfügung stand, um einen Sturmangriff auf die feindlichen Mauern zu wagen.
Der Schattenfalke gab den Zwillingen eine Übersicht über die Straßen Qafsahs und riet ihnen, es in der Nähe eines der Tore zu versuchen. “Dort wird zwar der Widerstand am größten sein, doch dort habt ihr auch am meisten Unterstützung von unseren Verbündeten, und könnt bei einem Erfolg vielleicht auch gleich dafür sorgen, dass die Tore für Qúsays Leute geöffnet werden.”
Valion dankte Eayan für die wertvollen Informationen und verbrachte den Vormittag damit, den Soldaten Gondors, die Erchirion mitgebracht hatte, den groben Plan zu erklären. Sie würden sich auf das nächste der Tore Qafsahs konzentrieren und versuchen, die Mauern zu einer der beiden Seiten davon zu erstürmen.

Als die Sonne zu sinken begann, ertönten die Kriegshörner - ein ohrenbetäubender Klang. Valion sprang auf, und nickte Eayan zu, der gerade noch einmal zu ihm gekommen war - ein stummer Gruß zwischen zwei Kriegern, und prüfte ein letztes Mal, ob seine Schwerter zum Ziehen bereit an seinem Gürtel hingen.

Die Schlacht um Qafsah hatte begonnen.
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 18. Okt 2024, 18:14
Narissa tauchte aus dem dunklen Wasser auf und schüttelte sich die nassen Haare aus dem Gesicht. "Ich habe den Eingang gefunden", sagte sie zu Edrahil, der nur wenig entfernt auf seinen Stock gestützt am Ufer stand. Aus Richtung der Stadt der Wind erste Kampfgeräusche heran - der Angriff hatte begonnen.
Edrahil nickte knapp. "Dann wird es Zeit." Narissa schwamm ein paar Züge in seine Richtung und stieg dann die flache Uferböschung hinauf. Sie trug nur Hemd und Hose, keine Schuhe, die sie womöglich beim Tauchen behindern würden. Edrahil reichte ihr das Bündel, in das sie ihre Dolche eingewickelt hatte, und sie befestigte es am Bund ihrer Hose. Sie atmete tief durch, sog noch einmal die sich abkühlende Abendluft ein.
"Nicht mein letzter Atemzug, hoffe ich...", murmelte sie vor sich hin, nervöser als ihr lieb war. Sie hatte sich bereits wieder dem Wasser zugewandt, als sie Edrahils Hand auf ihrer nassen Schulter spürte. "Wenn dieser Ifan die Wahrheit gesagt hat und selbst bereits durch diesen Tunnel gekommen ist, wirst du es auch schaffen."
"Ja... wenn", erwiderte Narissa leise. "Aber was, wenn er doch gelogen hat? Was, wenn..." Edrahils Hand schloss sich enger um ihre Schulter. "Für Zweifel ist es zu spät", sagte er mit untypisch sanfter Stimme. "Du wirst es schaffen, denn du willst es schaffen."
Er hatte Recht. Sie wollte es schaffen, Qafsah von der Herrschaft Sûladans zu befreien, sie wollte Rache für ihre Eltern, ihren Großvater, ihre Heimat - und sie wollte am Ende zu Aerien zurückkehren. Also würde sie wohl überleben müssen. Offenbar hatte Edrahil ihre zurückgekehrte Entschlossenheit gespürt, denn er drückte noch einmal ihre Schulter und ließ sie dann los. "Also los. Wir sehen uns spätestens bei Sonnenaufgang."
Ohne zu antworten, denn sie traute ihrer Stimme nicht ganz, ging Narissa zurück ins Wasser, und schwamm langsam ans nordöstliche Ende des Sees. Mit einem letzten Blick zu Himmel, an dem sich dunkle Wolken vor die ersten Sterne geschoben hatten, holte sie tief Atem und tauchte unter.

Der Tunneleingang befand sich ungefähr einen Meter unter der Wasseroberfläche. Dichte Wasserpflanzen verdeckten die Öffnung, weshalb es Narissa einige Zeit gekostet hatte, sie zu finden. Als sie hindurch tauchte, strichen die Blätter weich über ihr Gesicht - beinahe fühlte es sich an wie eine Liebkosung. Und dann war sie im Tunnel. Schon kurz hinter dem Eingang war es zu dunkel um auch nur die Hand vor den Augen zu sehen, doch verirren würde sie sich wohl nicht. Glücklicherweise waren die Wände so weit auseinander, dass sie ihre Arme bewegen nach vorne und hinten bewegen konnte, um sich voran zu ziehen. Ein Zug, zwei Züge, drei Züge... Noch hatte sie ausreichend Luft in ihren Lungen um sich konzentriert und zügig vorzuarbeiten. Doch der Tunnel endete nicht. Allmählich Narissas Brust zu schmerzen, und noch immer befand sie sich in tiefster Dunkelheit, nur Wasser um sich herum und dann meterdickes Erdreich über ihrem Kopf. Sie arbeitete sich weiter vor, und allmählich wurde jeder Zug mühsamer und mühsamer. War sie überhaupt schon unter den Mauern hindurch? Wie lange war sie schon in diesem Tunnel? Ihr Zeitgefühl schien sich aufzulösen, jeder Moment dehnte sich zur Unendlichkeit aus... Sie wünschte nichts mehr, als zu atmen, frische Luft in den Lungen zu spüren...
Vor ihren Augen begann ein Licht zu flackern und Narissa wusste, dass es das Ende sein würde.



Sechs Jahre zuvor...

"Noch einmal", rief ihr Großvater ihr vom Strand zu, während Narissa sich erschöpft über den Wellen hielt. Ihre Augen brannten vom Salzwasser, und sie hatte mehr davon verschluckt als ihr lieb war. Sie schüttelte den Kopf, und schwamm langsam zurück an den Strand, wo sie schließlich einfach im weißen Sand liegen blieb, die Beine noch halb im Wasser.
Hador packte sie an den Armen und zog sie unsanft auf die Füße. "Noch einmal, habe ich gesagt." Narissa hustete, und spuckte ein wenig Salzwasser in den Sand.
"Ich kann nicht", erwiderte sie. "Ich werde das nie schaffen." Ihr Großvater schüttelte den Kopf. "Nicht mit dieser Einstellung. Als ich siebzehn Jahre alt war, bin ich die Strecke dreimal hin und her getaucht, ohne einmal aufzutauchen."
Narissa schnaubte verächtlich. "Unsinn. Kein Mensch schafft das."
Die harten Gesichtszüge ihres Großvaters wurden ein wenig weicher, als er sagte: "Vielleicht habe ich etwas übertrieben. Aber..."
"Wozu muss ich überhaupt so gut schwimmen und tauchen lernen?", fiel Narissa ihm ins Wort. "So viel Wasser gibt es in Harad doch gar nicht. Ich würde lieber wieder klettern trainieren - oder fechten."
Hador seufzte. Er ließ sich hin den sonnengewärmten Sand nieder, und Narissa tat es ihm dankbar gleich. "Richtig, viel Wasser gibt es in Harad nicht. Aber... es gibt Gegenden an den Küsten, in denen du zum Einsatz kommen könntest. Umbar zum Beispiel. Und auch im Inland gibt es Flüsse, Seen... eine Gelegenheit, zu der diese Fähigkeiten wichtiger sind als Laufen, Klettern, Springen und so weiter, kommt schneller als du denken magst."
Narissa zog mit dem rechten Zeh Kreise in den Sand, und biss sich auf die Unterlippe. "Aber ich werde niemals so weit tauchen können ohne zu ertrinken. Das ist unmöglich." Sie blickte hinaus aufs Wasser, wo Anfang und Ende Strecke durch zwei mit Seilen auf dem Meeresgrund befestigten Holzfässern markiert waren.
"Nicht unmöglich", erwiderte ihr Großvater. "Aber an der Grenze des Möglichen, soweit hast du Recht. Nicht ohne Grund ist das der letzte Test."
"Und wie hast du es dann geschafft? Und Elendar?" Insgeheim ärgerte sie sich, dass der ein paar Jahre ältere Elendar, Sohn ihres Lehrers Yulan, diese Probe zwei Jahre zuvor mit Leichtigkeit bestanden hatte.
Hador lächelte. "Endlich stellst du die richtige Frage. Das wichtigste ist, ruhig zu bleiben. Entspannt. Auch wenn sich deine Lungen anfühlen, als würden sie bersten. Auch wenn jede Faser deines Körpers nach Sauerstoff schreit - die Grenze liegt weiter entfernt, als dein Körper dir glauben machen will."



Narissa entspannte sich, verdrängte die aufkeimende Panik, und machte noch einen Zug. Noch einen... der Tunnel, der bislang leicht abwärts geführt hatte, machte eine sanfte Biegung nach oben. Ein dritter, kräftiger Zug, und Narissa durchbrach die Wasseroberfläche. Sofort atmete sie tief ein, füllte ihre Lungen mit abgestandener Luft, die ihr dennoch köstlicher erschien als jede Speise oder jedes Getränk, dass sie je gekostet hatte.
Als die Schmerzen in ihrer Brust und der Druck auf den Schläfen ein wenig nachgelassen hatten, versuchte Narissa sich ein wenig Orientierung zu verschaffen. Sie trieb in einem ausgedehnten Wasserbecken, von dem aus in mehrere Richtungen weitere Wasserleitungen abgingen. Über das Becken führte in der Mitte, fast genau über ihrem Kopf, eine Brücke, auf der eine einzelne Laterne stand - das musste das Licht sein, dass sie bereits im Tunnel gesehen hatte. Neben der Laterne saß ein graubärtiger Mann in der Rüstung von Qafsahs Wache, den Kopf auf der Brust, und... schnarchte leise.
Vorsichtig, um nicht zu viel Lärm zu machen, zog Narissa sich am Rand des Wasserbeckens hoch, und blieb dann ein wenig unentschlossen stehen. Sie musste sich irgendwo unter Qafsah befinden - dies hier war offenbar der Wasserspeicher der Stadt. Die Decke war niedrig, und alles war aus dem gelben Stein, aus dem ein Großteil Qafsahs bestand, gepflastert. Für einen Augenblick überlegte sie, den schlafenden Wächter mit einem gezielten Dolchstoß ins Jenseits zu befördern... oder ihn einfach zu ignorieren und sich davonzuschleichen. Doch soweit sie im schwachen Licht der Laterne sehen konnte, gab es mehrere Wege aus der Halle hinaus. Und sie hatte keine Zeit den richtigen zu suchen. Also schlich sie sich leise an den Wachmann heran, und flüsterte ihm von hinten ins Ohr: "Zeit zum Aufstehen."
Der Mann erwachte ruckartig und wäre beinahe vor Schreck von der Brückenkante ins Wasser gestürzt, wenn Narissa ihn nicht festgehalten und ihm eine Dolchklinge an die Kehle gesetzt hätte.
"Wer... was... wie?", stieß der Wächter stammelnd hervor, hielt aber still und versuchte nicht, sich aus Narissas Griff zu befreien. "Unwichtig", gab sie zurück. "Viel wichtiger ist die Frage - welcher weg führt von hier aus zum Palast?"
"Z-z-zum Palast? W-w-wieso..." Narissa unterbrach ihn, indem sie ihre Klinge ein wenig fester gegen seine Kehle drückte.
Der Wächte schluckte heftig. Auf seiner Stirn sammelten sich Schweißtropfen. "Die größte Leitung, am anderen Ende des Beckens. A-a-aber da ist ein Gitter."
Narissa stieß einen Fluchaus, den sie einst von einem Händler aus Rhûn gelernt hatte, und dessen Bedeutung ihr allenfalls vage bekannt war. "Ein Gitter? Seit wann."
"Seit... seit etwa zwanzig Jahren. K-kurz nachdem der Sultan das Erbe seines Vaters angetreten hatte."
Narissa dachte nach. Das passte mit dem zusammen, was Ifan ihr berichtet hatte - offenbar hatte Sûladan nicht dasselbe Schicksal wie sein Vater und seine Brüder erleiden wollen, und diese Hintertür zum Palast versperr. Blieb nur die Frage, warum er nicht auch den Eingang von der Oase aus versperrt hatte... aber vielleicht hatte er keine Aufmerksamkeit auf diesen Tunnel lenken wollen.
"Na schön", sagte sie schließlich. "Wo geht es hier raus?"
Der Wächter deutete vorsichtig in eine dunkle Ecke am anderen Ende der Halle. "Dort ist eine Tür und dann eine Treppe nach draußen. Aber die Tür ist verschlossen auf Befehl des Sultans."
"Ich nehme an, du hast einen Schlüssel?" Der Mann begann zu nicken, hörte aber sehr schnell wieder auf als die Dolchklinge über seine Haut schabte. "Ja, ja. An meinem Gürtel."
Mit ihrer freien Hand tastete Narissa nach dem Schlüssel, und löste ihn mit einer geschickten Bewegung vom Gürtel ab. "Ich will dich nicht töten", sagte sie schließlich leise. "Aber ich kann mir auch nicht leisten, dass du jemanden warnst. Also..."
"I-ich werde niemandem etwas sagen! Ich schwöre es. Ich schwöre!"
"Darauf kann ich mich nicht verlassen", erwiderte sie, nahm aber die Klinge von seinem Hals - um ihm anschließend mit dem metallenen Knauf einen Hieb gegen die Schläfe zu versetzen. Sie löste den Gürtel des Bewusstlosen und fesselte ihm damit die Hände auf dem Rücken aneinander.
"Schlaf nur weiter...", murmelte sie dabei vor sich hin. "Ich hoffe ich denke daran, dich hinterher hier rausholen zu lassen..."

Sie nahm die Laterne, und folgte in ihrem schwachen, flackernden Licht dem Beckenrand, bis sie am gegenüberliegenden Ende angekommen war. Von hier aus führte ein schmaler Kanal weiter, dessen Eingang jedoch durch massive Gitterstäbe versperrt wurde. Der Mann hatte die Wahrheit gesagt - hier würde es kein Durchkommen geben. Narissa kämpfte einen Anflug Verzweiflung nieder. Noch war ihre Mission nicht gescheitert. Sie wandte sich vom Gitter ab, und stieg stattdessen die Treppe hinauf in die Stadt.

Narissa nach Qafsah (http://modding-union.com/index.php/topic,34322.msg492140.html#msg492140)
Titel: Die Überwindung der Mauer
Beitrag von: Fine am 21. Okt 2024, 10:43
Der Schweiß tropfte Valion von der Stirn, als er das Visier seines Helms leicht anhob, um einen besseren Blick nach oben zu den bewehrten Mauern über ihm werfen zu können. Es war heiß - verdammt heiß. Und das, obwohl von der Sonne nicht mehr als ein letzter rötlicher Lichtstrahl am westlichen Horizont übrig geblieben war. Valion wusste, dass die Kälte der nächtlichen Wüste sich rasch einstellen würde, sobald noch etwas mehr Zeit vergangen war, doch für den Augenblick machte das keinen Unterschied. Beinahe hätte er sich für einen Moment gegen die Mauer vor ihm gelehnt, um durchschnaufen zu können. Doch er wusste, dass er dort ein leichtes Ziel für die Verteidiger Qafsahs sein würde, wenn er nicht in Bewegung blieb. Die Krieger Sûladans hatten Steine und andere Wurfgeschosse bereit gehalten, um Qúsays Sturmangriff abzuwehren - und bis jetzt gelang ihnen das recht gut.

Valion verfluchte wieder einmal die Ungeduld seiner Schwester. Valirë war wie so oft in der vordersten Reihe losgestürmt, als der Angriff auf das ihnen am nächsten gelegene Tor Qafsahs endlich freigegeben wurde, und prompt hatten die Zwillinge einander im entstandenen Getümmel aus den Augen verloren. Erchirion ist bei ihr, versicherte er sich in Gedanken. Zuletzt hatte Valion die Banner Gondors und Dol Amroths, die nebeneinander im Wind wehten, auf der ihm gegenüberliegenden Seite des großen Torhauses gesehen.
Ein Krachen riss Valion aus seiner kurzzeitigen Starre, und er sprang instinktiv rückwärts. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, bohrte sich ein großer Felsen in den zertrampelten Erdboden. Valion schüttelte knapp den Kopf, um sich wieder zu fokussieren. Sein Ziel hatte sich nicht geändert. Er musste einen Weg finden, diese verdammte Mauer zu überwinden. Entweder würde er seine Schwester auf der anderen Seite wiederfinden... oder den Auftrag Edrahils ohne sie zu Ende bringen.

Eine der behelfsmäßigen Belagerungsleitern stürzte um, keine fünf Meter von Valion entfernt. Kurzerhand packte er mit an, als mehrere Krieger begannen, sie wieder aufzurichten. Pfeile regneten auf sie nieder. Einige fanden ihr Ziel. Doch die Leiter fiel nicht erneut um. Kaum war sie gegen die Zinnen Qafsahs gelehnt, begannen die Haradrim Qúsays, daran hochzuklettern. Andere klammerten sich mit ihren Körpern an die Standfüße der Leiter, um sie so gut es ging an Ort und Stelle fest zu halten. Der oberste Krieger stürzte ab, von einem geworfenen Speer durchbohrt, doch der Zweite sprang geschickt von der Leiter auf den Wehrgang und verschaffte sich dort Platz, indem er mit seinem Schwert herumwirbelte. So gelang es drei weiteren Haradrim, auf die Mauer zu gelangen, und auch Valion stand schließlich oben. Er warf einen Blick nach rechts, wo eine lange Treppe zum Torhaus hinauf begann, und erkannte sofort, dass dort mit nur vier Mann kein Durchkommen sein würde. Offenbar hatte Sûladan dort einen Teil seiner besten Krieger platziert. Männer mit langen Schilden und Speeren rückten gegen das Mauerstück vor, das Valions Begleiter kurzzeitig erobert hatten. Zwar kletterten neue Haradrim die Leiter hinauf, doch die Krieger auf den Mauern wurden von zwei Seiten bedrängt und in der Unterzahl. Valion hieb einen aufdringlichen Feind mit dem Schwertknauf nieder, dann handelte er instinktiv - und sprang von der Mauer ins Innere Qafsahs hinab.

Valion nach Qafsah (http://modding-union.com/index.php/topic,34322.msg492143.html#msg492143)
Titel: Der Sturm auf Qafsah
Beitrag von: Fine am 21. Okt 2024, 11:14
Aus der Sicht von Valirë vom Ethir

Valirë duckte sich, um einem Pfeil auszuweichen, der ihr vermutlich das Herz durchbohrt hätte. Dann hob sie den Speer eines gefallenen Kriegers auf und schleuderte ihn zu den Mauern hinauf, wo er an einer der Zinnen abprallte und klirrend irgendwo auf den Mauern zu Boden fiel.
Zweimal schon war es Erchirion und ihr beinahe gelungen, die Leitern zur rechten Seite des Tores zu erklettern. Beide Male waren sie daran gescheitert, die Spitze der Mauern zu erreichen. Valirë spürte Wut und Frust in sich aufsteigen. Wo war nur ihr Bruder? Warum war er nicht an ihrer Seite geblieben, als der Sturmangriff begonnen hatte? Und warum setzte Qúsay noch immer nicht seine gesamte Streitmacht ein?

Erchirion packte sie am Arm und zog sie weg, mit erstaunlicher Kraft und Bestimmtheit. In etwas Abstand von den Mauern, geschützt durch einige behelfsmäßige Holzkonstruktionen, sammelten sich die überlebenden Gondorer. Noch wehten die Banner des Weißen Baumes und des Silbernen Schwans tapfer inmitten der Belagerung, doch sie hatten bereits mehrere Verluste erlitten.
"Es hat keinen Sinn, planlos gegen diese Mauern anzurennen," sagte Erchirion. "Die Verteidigung ist hier zu stark, und solange Herr Qúsay nicht die volle Kraft seines Heeres einsetzt, werden wir sie nicht überwinden können."
Valirë wollte instinktiv widersprechen, doch Erchirion ließ sie nicht zu Wort kommen. "Wir ziehen uns für den Augenblick zurück," befahl er. "Nicht dauerhaft, aber für den Augenblick. Gondor hat bereits genug Blut in Qúsays Krieg vergossen."
"Aber Edrahils Auftrag..." setzte Valirë nun doch an.
"Edrahil ist nicht hier," entgegnete Erchirion überraschend schroff. "Er würde sich nicht in so eine aussichtlose Gefahr begeben." Die harten Gesichtszüge des Prinzen wurden etwas weicher, als er Valirës Blick suchte. "Ich will nicht, dass ein verirrter Pfeil oder ein Speer mich dessen beraubt, was ich erst vor so kurzer Zeit gefunden habe," sagte er etwas leiser, nur an Valirë gewandt.
Valirë war einigermaßen sprachlos. Mistkerl, dachte sie sich, das ist nicht fair. "Mein Bruder ist irgendwo dort draußen," stieß sie schließlich hervor, nachdem sie sich wieder etwas gefangen hatte.
"Er kann auf sich aufpassen," sagte Erchirion ruhig.
"Und du denkst, ich könnte das nicht?" schlug sie sofort zurück.
Anstatt ihr sofort zu antworten musterte Erchirion Valirë für einen langen Augenblick. "Ich stelle nicht deine Fähigkeiten infrage," stellte er klar. "Aber es ist etwas anderes, mitansehen zu müssen, wie dich ein tödlicher Pfeil trifft. Wie das Licht in deinen Augen erlischt, während ich neben dir stehe und nichts dagegen tun kann."
Valirë kochte innerlich. Sie hasste ihn dafür, und liebte ihn gleichzeitig. Dieser verdammte, starrsinnige, liebenswerte Idiot. Kurzerhand packte sie Erchirion und küsste ihn.

Ein ohrenbetäubendes Getöse riss sie aus dem flüchtigen Moment der Zweisamkeit. Beinahe glaubte Valirë, der Boden würde sich unter ihr bewegen, erschüttert von dem dröhnenden Ton, der von jenseits der Stadt zu ihnen herüberschwallte. Überall schienen die Kämpfe zum Erliegen zu kommen, so gewaltig war die Wirkung. Menschen zeigten nach Süden, in Richtung der Wüste, wo eine große Staubwolke aufgewirbelt worden war. Reiter rückten von dort heran, in geordneten Reihen und mit Schritt gehend, doch was die Aufmerksamkeit aller auf sich regte waren die gewaltigen Schemen, die sich nun nach und nach aus dem aufgewirbelten Wüstenstaub schälten. Riesig groß waren sie, sechs an der Zahl. Erhellt wurden sie von großen Feuerbecken, die mühelos Platz auf ihren breiten Rücken fanden, und ihr Licht auf für Valirë fremde Banner warfen. Der größte von ihnen war von hellerer Haut als die anderen fünf und trug ein gewaltiges Kriegshorn auf dem Rücken, von dem der durchdringene Ton gestammt haben musste. "Mûmakil!" brüllten die Krieger um sie herum, und identifizierten die riesigen Kreaturen damit ohne jeden Zweifel.
"Noch mehr Feinde?" stieß Valirë atemlos hervor.
"Ich... weiß es nicht," sagte Erchirion, der sich aufgerichtet hatte. "Sie haben noch keine Angriffslinie gebildet... und wirken nicht so, als wollten sie uns angreifen."
Unter den Kriegern Qúsays gab es wohl einige, die die Insignien auf den Bannern der Neuankömmlinge kannten. "Kerma," riefen sie "Kerma ist gekommen, um sich an Sûladan zu rächen..."
Titel: Re: Die Harduin-Ebene
Beitrag von: Eandril am 4. Nov 2024, 18:13
Edrahil beobachtete die Schlacht um die Mauern aus sicherer Entfernung vom Rand der Oase aus. Immer wieder brandeten Qúsays Krieger gegen die hohen Mauern aus gelbem Stein, doch an keiner Stelle sah es so aus, als stünden sie nahe vor dem Durchbruch.
"Ich hoffe wirklich, dass dein Plan Erfolg hat." Dírar trug betonte Gelassenheit auf seinem Gesicht zur Schau, doch Edrahil konnte seine Anspannung geradezu spüren.
"Es ist nicht mein Plan", erwiderte er ruhig. "Doch wenn ihr weiterhin derart halbherzig angreift, bleibt mir nichts anderes übrig, als das ebenso zu hoffen." Dírar zog eine Augenbraue in die Höhe, und Edrahil zuckte mit den Schultern. "Mir ist durchaus aufgefallen, dass Qúsay noch einige Reserven übrig hat, die er nicht in die Schlacht wirft."
"Wir brauchen frische Truppen um die Stadt zu sichern", antwortete Dírar ein wenig reserviert, und Edrahil seufzte. "So groß ist Qúsays Vertrauen darin, dass Narissa Sûladan ausschalten kann und ihm Qafsah daraufhin auf einem silbernen Tablett serviert? Dafür schont er seine Truppen, und lässt gleichzeitig Gondors Krieger für sich kämpfen? Nicht gerade die richtige Art und Weise, unser Vertrauen zu stärken..."
Dírar blickte sich um, doch seine Leibwächter standen ein gutes Stück entfernt. "Ich bin nicht mit jedem von Qúsays Entschlüssen einverstanden", gestand er leise. "Auch wenn er weiß, dass nichts Bestand haben wird, wenn wir Mordor nicht in die Knie zwingen... ein Teil von ihm wird immer an die Zukunft denken und bemüht sein, seine Machtposition nach diesem Krieg zu sichern."
Edrahil zog mit der Spitze seines Stocks nachdenklich Bahnen in den staubigen Boden. "Ich verstehe - diesen Fehler habe ich nicht nur einmal gemacht. Zu Qúsays Vorteil übrigens, denn hätte ich weniger an Dol Amroths Macht und mehr daran, jede verfügbare Klinge gegen Mordor zu richten, gedacht, wäre Hasaël schon längst nicht mehr der Fürst von Umbar gewesen. Aber ich habe gelernt... sonst wäre ich nicht hier und vielleicht wäre Qúsay nicht am Leben." Er blickte Dírar dabei offen ins Gesicht - entgegen seiner Gewohnheit war Edrahil in diesem Moment vollkommen ehrlich. Dírar zögerte, und bevor er Antworten konnte, drängte sich ein Mann zwischen den Leibwächtern hindurch, warf einen misstrauischen Blick zu Edrahil und stieß dann atemlos hervor: "Meister Dírar, ich benötige dringend eure Aufmerksamkeit. Im Süden..." Dírar unterbrach ihn mit einer Geste, warf Edrahil einen besorgten Blick zu, und eilte ohne ein weiteres Wort dem Boten nach in die Dunkelheit.
Edrahil blieb allein zurück, den Blick stumm auf die Schlacht gerichtet. Für einen Moment erlaubte er seinen Gedanken zu wandern. Er dachte an Narissa, die vielleicht im Tunnel ertrunken war, oder von Sûladans Wachen getötet, oder... und an Valion und Valirë, deren Aufgabe nicht minder gefährlich war. Vielleicht waren sie längst gefallen. Und weiter wanderten seine Gedanken nach Norden. Seit sie aus Aín Sefra aufgebrochen waren, waren keine Neuigkeiten aus Gondor eingetroffen - uns selbst jene, die Valion und Narissa gebracht hatten, waren ja schon alt gewesen. Vielleicht hatte Mordor längst angegriffen, lag Dol Amroth in Schutt und Asche, ohne, dass er davon wusste...  Seine düsteren Gedanken, wurden von einem gewaltigen Lärm, der aus südlicher Richtung herandrang, unterbrochen. Im Süden verdeckte eine gewaltige Staubwolke die Sterne, und aus der Dunkelheit schälte sich allmählich eine Streitmacht, angeführt von sechs gewaltigen Mûmakil. Edrahil zog ein Augenbraue in die Höhe, als er die Banner, die auf den Rücken der Kreaturen flackerte, erkannte. Zwei sich aufbäumende Mûmakil auf rotem Hintergrund... Er wurde bestätigt, als er die Rufe aus Qúsays Heer hörte - "Kerma! Kerma ist gekommen!"
Jeder Zweifel, auf welcher Seite die Neuankömmlinge standen, löste sich auf, als die Mûmakil sich den Mauern näherten und von ihren Rücken ein Hagel von Pfeilen und Speeren auf die überraschten Verteidiger niedergingen. Die beinahe zum Erliegen gekommenen Kämpfe flammten wieder auf - doch nur für einen kurzen Augenblick.

Obwohl der Himmel vollständig schwarz war, zog dennoch ein Schatten über den Heeren vorüber. Edrahil spürte, wie sich die Härchen auf seinem Nacken aufstellten, und er fühlte jenen charakteristischen Anflug von Furcht, der nur eines bedeuten konnte - Nazgûl. Im selben Augenblick ertönte ein langgezogener, hoher Schrei, und der Schrecken brach mit voller Wucht über ihn herein. Nur mit Mühe zwang Edrahil sich dazu, stehen zu bleiben, doch die Angreifer wichen in einer Welle von den Mauern zurück. Kein Jubel ertönte von den Mauern, denn er Schrecken ergriff alle Menschen gleichermaßen. Ein zweites Mal überflog der Ringgeist das Schlachtfeld, bevor er zu Edrahils Überraschung nach Norden abdrehte - in Richtung Palast.
Auch nachdem der Nazgûl sich entfernt hatte wurde der Angriff nicht fortgeführt. Von den Mûmakil aus gingen noch einige Pfeile auf die Mauern nieder, doch auch das wirkte eher halbherzig. Es dauerte nicht lange, bevor sich Qúsay, umgeben von seiner überlebenden Leibgarde, Edrahil näherte. Der Malik trug einen blutigen Kratzer an der Stirn und war bleich.
"Mordors Bote", stieß er hervor. "Er ist zum Palast geflogen, das heißt..." Er verstummte, und schien mit sich zu ringen. "Was sollen wir gegen diese Dunkelheit ausrichten?"
"Kämpfen", erwiderte Edrahil, obwohl die Fragen nicht an ihn gerichtet war. "Wir können nichts anderes tun, als zu kämpfen." Er betrachtete Qúsay mit unterdrücktem Mitgefühl. Er hatte die Belagerung von Dol Amroth, wo der Schatten der Nazgûl Tag und Nacht über der Stadt gelegen hatte, nicht miterlebt. Dies war vermutlich das erste Mal, dass er einem der Neun als Feind gegenüberstand. "Lasst den Schrecken nicht an euer Herz, Malik. Es ist nur ein einziges Wesen, und der Schrecken ist seine tödlichste Waffe. Es kann nicht gegen ein ganzes Heer bestehen." Er deutete auf die hoch aufragende Reihe der Mûmakil. "Und denkt daran, dass ihr nicht alleine seid."

Von Norden drang ein tiefes Grollen an seine Ohren. Noch während er sich in Richtung der Stadt wandte, verstärkte sich das Grollen zu einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Ein grünlicher Blitz stieg aus Richtung des Palasts in den Nachthimmel, und eine Flammensäule erhellte die Nacht bis weit außerhalb der Stadt. "Bei allen Göttern der See", flüsterte Qúsay, und in seiner Stimme nahm Edrahil die gleiche Erschütterung, die er selbst verspürte, wahr. Inmitten des Lärms stieg ein einziger verzweifelter Schrei auf, und verstummte. Die Feuersäule verblasste und verschwand, doch in der Ferne über der Stadt war nach wie vor der Schein eines großen Feuers zu sehen.
Qúsays Heer, bereits durch die Ankunft des Nazgûl erschüttert, war offenbar ebenfalls zutiefst erschüttert worden, denn ohne einen Befehl erhalten zu haben, zogen sich die Soldaten endgültig von den Mauern zurück. Auch die Neuankömmlinge aus Kerma wichen bis außerhalb der Pfeilschussweite zurück - doch kein Pfeil oder Speer flog von den Mauern in ihre Richtung. Vermutlich waren die Verteidiger nicht weniger mitgenommen als die Angreifer, doch diese waren sicher nicht in der Lage, diese Vorteil zu nutzen. Stattdessen starrte jeder stumm in Richtung der Stadt.
"Edrahil!" Erchirion war mit seiner kleinen Truppe Gondorer herangekommen. Zu seiner heimlichen Erleichterung erkannte Edrahil, dass sowohl der Prinz als auch Valirë unverletzt zu sein schienen, doch ihm entging auch nicht, dass Valion fehlte. "Was um alles in der Welt war das?"
Edrahil zuckte hilflos mit den Schultern. "Ich habe keine Ahnung", gab er zu. "Irgendeine Teufelei Sûladans", stellte Qúsay grimmig fest, doch Edrahil schüttelte den Kopf. "Wenn Sûladan solche Waffen besitzt - warum hat er sie nicht eingesetzt, euer Heer zu vernichten? Ich..." Er breitete hilflos die Hände aus. "Ich kann mir nicht vorstellen, was dort geschehen ist. Noch nie habe ich etwas von solcher Gewalt gesehen."
"Seht", warf Erchirion ein, und deutete in Richtung der Stadt. "Das Tor öffnet sich." Qúsay legte die Hand auf den Schwertgriff und machte bereits einen Schritt in Richtung seines Heeres, doch kein Gegenangriff erfolgte durch das Tor. Auf die Entfernung konnte Edrahil nur schemenhafte Gestalten ausmachen, doch viel bedeutsamer war die vollständig weiße Flagge, die eine der Gestalten vor sich hertrug.

"Mein Name ist Amenzu al-Irat, Statthalter von Qafsah." Der hochgewachsene, dünne Mann in den kostbaren Gewändern verneigte sich tief in Qúsays Richtung. Er trug eine Maske der Beherrschtheit zur Schau, doch die tiefe Erschütterung in seinen Augen war nicht zu übersehen. Seine Stimme wirkte merkwürdig laut in der beinahe vollständigen Stille, die sich über das Schlachtfeld vor Qafsahs Mauern gelegt hatte. "Ich bin gekommen um euch den Tod von Fürst Sûladan von Qafsah, dem Sultan der Haradrim mitzuteilen... und euch die Stadt zu übergeben."
Qúsay musterte den Statthalter stumm. Edrahil spürte, wie sich Dírar neben ihm beinahe unmerklich bewegte, und beinahe unmerklich nickte. "Ich nehme an, ihr habt Bedingungen für diese Kapitulation", antwortete Qúsay schließlich ruhig, doch auch seiner Stimme konnte man anhören, dass seine Selbstbeherrschung nur noch papierdünn war.
Amenzu fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, und bedeutete der ein paar Schritte hinter sich stehenden Frau, vorzutreten. Sie führte einen Jungen von vielleicht acht Jahren an der Hand. "Bevor ich spreche, muss ich euch bitten, mir ein Versprechen zu geben", sagte der Statthalter. "Malik Qúsay, ich bitte euch um das Versprechen, weder diesem Jungen noch seiner Mutter Leid zuzufügen."
Qúsay wirkte überrascht. "Wieso sollte ich... Ah. Sûladans Welpe." Er biss die Zähne zusammen. Amenzu erwiderte nichts, sondern verharrte stumm in respektvoller Haltung. Der Junge blickte ängstlich zwischen Qúsay und Amenzu hin und her, und umklammerte die Hand seiner Mutter. Edrahil betrachtete sein blasses Gesicht und suchte nach irgendeiner Ähnlichkeit mit Narissa, fand jedoch keine.
"Warum sollte ich dieses Versprechen geben?", fragte Qúsay schließlich, und seine Stimme bebte beinahe unmerklich. "Ihr seid bereits in meiner Gewalt."
Amenzu neigte respektvoll den Kopf. "Solange Sûladan lebte, wart ihr mein Feind. Doch ich habe nie gehört, dass ihr ehrlos handelt, Malik. Und jetzt, wo den Sultan sein gerechtes Ende ereilt hat und wir nicht länger Feinde sein müssen... wieso solltet ihr nun ehrlos handeln? Diese Junge hat keinen Anteil an den Verbrechen seines Vaters."
Qúsay stieß hörbar die Luft aus. "Das ist... wahr. Also gut. Ich gebe euch mein Wort als Fürst von Umbar und Malik von Harad, dass diesem Jungen und seiner Mutter unter meinem Schutz kein Leid zugefügt werden wird. Aber... für den Rest dieser Nacht werden sie meine Geiseln sein. Ihr werdet dafür sorgen, dass auch der letzte von Sûladans Kriegern seine Waffen niederlegt, bis mein Heer morgen in die Stadt einzieht."
Titel: Eine tückische Falle
Beitrag von: Fine am 10. Nov 2024, 11:58
Taraezaphel und Valion aus Qafsah (http://modding-union.com/index.php/topic,34322.msg492143.html#msg492143)

Aus der Sicht Taraezaphels, der Löwenmaid

Selbst aus der großen Entfernung, die sie inzwischen zwischen sich und die ehemalige Hauptstadt des Sultanats von Harad gebracht hatten, konnte Rae noch den schwarzgrauen Rauch ausmachen, der von Qafsahs Palastdistrikt aufstieg. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, welcher Wahnsinnige entschieden hatte, den gewaltigen Vorrat an kermischen Feuer direkt unter der Residenz des Sultans zu lagern, und was denjenigen dazu veranlasst hatte, die Ladung vorzeitig in Brand zu setzen. War es Mustqîm gewesen? Er war ihr nützlich gewesen, zumindest für eine Weile, auch wenn er sich nicht von ihren Netzen hatte einspinnen lassen. Nun war er Geschichte, zusammen mit seinem Vater, Sûladan... und dem gesamten Sultanat.
Der Tod Breyyads war... bedauerlich, wenn auch nicht sonderlich tragisch. Er war ein talentierter Krieger gewesen, doch von seiner Sorte gab es in den Landen zwischen Harad und Gondor noch viele weitere.

Doch alles in allem befand Rae, dass sie sich noch einigermaßen glücklich schätzen konnte, rechtzeitig entkommen zu sein. Sie hatte die Kriegsmûmaks gesehen, die von Süden heraufmarschiert hatte und ein Blick auf das Heer, das den gewaltigen Tieren folgte, hatte ihr gereicht um zu wissen, dass weder Qúsays geschundene Streitmacht noch die verbliebenen Krieger des Sultanats dagegen ankommen konnten. Doch dass nun der König von Kerma im Süden Harads die Macht ergriff würde Rae sich noch zu Nutzen machen. Sie wusste, dass der König einen unverheirateten Neffen hatte. Falls es notwendig sein würde, würde der ihr Ticket in den inneren Kreis Kermas sein.

Zunächst würde sie ihr Weg allerdings nicht nach Süden führen. Der Fluss Harduin lag bereits zwischen Taraezaphels Kompanie und den südlichen Landen. Noch ehe Qúsay und Músab in die Stadt eingerückt waren, hatten Raes Leute den Fluss überquert und sich auf die am Nordufer wartenden Pferde geschwungen. Es hatte sich wieder einmal ausgezahlt, eine Rückversicherung in der Hinterhand zu halten, für den Fall, dass Mustqîms Ambitionen fehlschlagen würden. Für einen Augenblick hatte der Bastard von Qafsah triumphiert, doch wie Rae inzwischen wusste, hatte Mustqîms Triumph nicht lange angehalten. Sie knirschte frustriert mit den Zähnen als ihr das grimmige Gesicht der kleinen Göre vom Turm einfiel. Er hätte nicht mit ihr spielen sollen, dachte Rae. Was hatte sie überhaupt dort im Palast verloren? Jemand musste ihr den Weg freigeräumt haben, so viel stand fest. Und Taraezaphel hatte auch schon eine recht gute Ahnung, wer das gewesen sein konnte.

Verächtlich und wütend stieß sie die in ihrer Lunge angestaute Luft aus. Da war er wieder. Derjenige, der nun schon drei mal ihre Pläne durchkreuzt hatte. Der Schatten, der sie zu verfolgen schien, wohin auch immer sie ging. "Edrahil," fauchte sie leise. "Edrahil..."
Oft schon hatte Rae sich ausgemalt, was sie mit ihm anstellen würde, wenn sie ihn endlich in die Finger bekäme. Dass es eines Tages dazu kommen würde stand für Taraezaphel fest. Sie würde ihre Rache haben, koste es was es wolle. Und nun, da sie Edrahils Schützling erwischt hatte, war Edrahil zum Greifen nahe.
Sie dachte an die Spur, die sie hinterlassen hatte. Edrahil würde sie finden, davon ging Rae fest aus. Er war gerissener als es für ihn gut war. Einst hatte sie das auf eine gewisse Art und Weise anziehend gefunden; damals, als sie den Gondorer zum ersten Mal gesehen hatte. Sie hatte sich bei den Assassinen in Umbar eingeschleust und hatte Edrahil und Chataras Machenschaften eine Weile verfolgt, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Ihr wäre es recht gewesen, wenn Hasael bereits damals gestürzt worden wäre. Dann wäre Edrahil vielleicht nach Dol Amroth zurückgekehrt und hätte keinen Gedanken mehr an Haradwaith verschwendet. Und Taraezaphel wäre längst Königin auf dem Thron des Löwenreiches.

Rae blickte zu dem bewusstlosen gondorischen Krieger hinüber, der quer über den Rücken eines der freien Pferde hing und nur notdürftig festgebunden war. Natürlich wusste sie bereits alles über ihn, was es zu wissen gab. Er würde ihr noch nützlich sein, allein schon um Edrahil anzulocken. Wenn ihr dabei auch die kleine Weißhaarige in die Falle ginge, umso besser. Narissa vom Turm war gefährlich, wenn man sie zu lange gewähren ließ, das hatte Rae nun schon mehrfach feststellen müssen.

Da war noch etwas anderes, das ihr Gedanken machte. Noch eine unerledigte Angelegenheit. Rae lenkte ihr Pferd neben eines ihrer Begleiter, einer Kriegerin in dunkler Kleidung und Kapuze. Dann gab sie ihrem Gefolge das Zeichen, vom Galopp zum Trab zu wechseln, damit sie sich unterhalten konnten. Der Abstand zu Qafsah war ohnehin längst weit genug.
"Was gibt es?" fragte die Reiterin neben Taraezaphel.
"Er wird nicht alleine kommen," antwortete Rae. "Edrahil, meine ich. Zumindest dann nicht, wenn er bemerkt, was unser Ziel ist." Sie blickte nach Nordwesten. Rae hatte längst beschlosen, dass sie Edrahil dort treffen würde, wo es ihm am meisten weh tun würde. In seiner Heimat. Praktischerweise hielt sich dort jemand auf, deren Tod auch der lästigen Narissa großes Leid bescheren würde...
"Er umgibt sich gerne mit Verbündeten," antwortete die Frau, die neben Rae ritt. "Zumindest seitdem er nach Harad gekommen ist."
"Und genau deswegen brauche ich dich und deine besonderen Talente, Zarah," erwiderte Taraezaphel. "Wenn der Schattenfalke sich an unseren Fersen heftet..."
Zarah nahm das Tuch beiseite, das den unteren Teil ihres Gesichts bedeckte. Rae konnte sehen, dass ihr Gegenüber ein schmales Lächeln im Gesicht trug. "Ich kümmere mich um ihn, sei unbesorgt. Aber erinnere dich an unsere Abmachung."
"Du brauchst ihn nicht zu töten," bestätigte Rae. "Es genügt, wenn du dafür sorgst, dass er sich nicht einmischt."
"Das wird er nicht," sagte Zarah.
Zufrieden nickte Taraezaphel und warf einen letzten Blick auf das Gesicht der Frau, die Edrahil als Ta-er as-Safar bekannt war...

Taraezaphel, Valion und Ta-er as-Safar nach Nordwesten...