Narja öffnete müde die Tür. Fast die ganze Nacht hatte sie wach gelegen.
Sie trat heraus und blinzelte in die Sonne. Es war noch sehr früh am Morgen, doch sie hatte viel zu tun. Wenn sie den Zeitplan richtig in Erinnerung hatte, dann musste Dûrmarth jetzt schon nahe dem Kellerfenster sein und bald die Stammbäume der Königshäuser manipulieren.
Es war schon beinahe zum Lachen.
Man konnte von der Straße in die Kanalisation und von dort über eine kleine Öffnung bis in die Kellergewölbe des Königshauses kommen. Dann trennte nur noch eine leichte Holztür den Besucher von den Stammbäumen. Nur weiter oben wurden die Türen geschützt, aber niemandem war diese Schwachstelle aufgefallen. Tagsüber war viel Trubel und des Nachts wurden auch diese Türen geschützt. Doch es gab eine kurze Zeitspanne, in der keine Wache zur Stelle war.
So würde Dûrmarth es schaffen dort einzudringen und ein paar Namen auszutauschen und Narja wäre der Thronerbe eines riesigen Königsreiches.
Sie folgte der Straße und betrat schließlich ein Bauwerk an der Außenseite der Mauer, die den Palastkomplex umgab.
Dieses Gebäude war ihr zur Genüge bekannt. Es gab große Räume und regelmäßig trafen hier wieder einige der mächtigsten Fürsten zusammen. Heute musste sie wieder eine Delegation empfangen. Doch heute würde sie sich alles von ihnen geduldig anhören und mit ihnen viel diskutieren. Dadurch war gewährleistet, dass sie heute nicht einmal in der Nähe des Könighauses gewesen war. Sie betrat das Gebäude und blieb im Empfangsbereich stehen.
Alles war noch so, wie sie es vor zwei Tagen verlassen hatte. Den Weg entlang lag ein roter Teppich und an beiden Seiten zierten Marmorstatuen der vergangenen Könige den Korridor. Am Ende des Ganges befanden sich drei große Türen aus Eichenholz. Die an der linken Wandseite führte zu einem Garten, die an der rechten Seite führte in einen geräumigen, geschmückten Saal. Die Tür in der Mitte führte direkt in den Raum in dem alle innenpolitischen Dinge zwischen den Grafen und dem Königshaus besprochen wurden.
Langsam schritt sie durch den langen Gang. All diese großen Statuen... Sie erweckten in ihr jedes Mal ein Gefühl der Bitterkeit. Es waren alles große Menschen gewesen, Könige, die ihr Reich gut geführt hatten. Doch der jetzige Herrscher war das Gegenteil. Warum musste sie ausgerechnet jetzt leben?
Sie hatte noch genügend Zeit, bis sie ihren ersten Termin wahrnehmen musste, darum öffnete sie die linke Tür und betrat den Garten. Vor ihr verlief ein Weg aus weißem Split, der sich durch die gesamte Grünanlage schlängelte. Sie spürte unter ihren Füßen, wie der Kies leicht nachgab.
Neben dem Weg erstreckte sich ein Blumenbeet nach dem anderen. Zwischen den Beeten gab es viele hohe alte Bäume. Niemand wusste, wie alt sie waren, denn es gab sie schon, seit dieses Schloss erbaut wurde.
Ohne Vorwarnung sprang sie federnd nach oben und ergriff einen Ast über ihr. Ohne Mühe zog sie sich nach oben und kletterte geschwind weiter nach oben, bis sie in der Krone saß. Von dort überblickte sie kurz die Gegend vor ihr. Sie sah in einiger Entfernung ihr Haus stehen und dahinter weitere Parkanlagen und Felder. Doch sie genoss nicht lange den Ausblick und sprang auf das Dach des Hauses, das sie zuvor verlassen hatte und flog ohne sich abzubremsen weiter durch ein kleines Fenster, landete an einer Säule an der sie sich kurz fest hielt und sprang dann wieder ab.
Sanft landete sie schließlich wieder lächelnd am Boden.
Sie brauchte ihre Fähigkeiten zwar nicht mehr, Dûrmarth konnte schließlich alles noch besser als sie, doch sie wollte nicht außer Form kommen. Eines Tages würde sie genauso gut sein wie er, das wusste sie. Sie zupfte sich ein Blatt von der Schulter und ging zu dem Eingangstor. Langsam dürften die Gesandten aus der Inselgruppe Slion ankommen.
Und sie wurde nicht enttäuscht: Sie war noch nicht ganz bei der Tür, da schwang das Portal auf und fünf Personen kamen ihr entgegen.
Als sie nur noch wenige Fuß voneinander entfernt waren blieben sie stehen.
Alles Lichtbrüder erkannte sie und zuckte leicht zusammen. Warum war kein Luftbruder mehr in der Verwaltung dort?
„Seid gegrüßt Miss Narja. Man hat uns gesagt ihr habt den gesamten Morgen für uns Zeit?“ Sie antwortete mit einem Nicken.
„Gut, wir haben nämlich mehr als nur ein Anliegen und ich denke, dass diese Besprechung den ganzen Tag andauernd wird.“
Narja schaute auf und ihre Augen erhellten sich kurz. Das wird ja immer besser. Hier wird mir niemand etwas nachweisen können.
Dûrmarths Künste hatten einer weiteren Probe standgehalten. Niemand hatte ihn gesehen, selbst der Wächter hatte ihn nicht bemerkt, obwohl er nur wenige Fuß von ihm entfernt gewesen war.
Vorsichtig hob er die Tür aus den Angeln und lehnte sie an die Wand. Danach schlüpfte er in das Zimmer dahinter und fand sich in einem großen Raum wieder, der von oben bis unten mit Pergamentrollen zugestellt war. Doch dies waren nur die Unwichtigeren, welche ihn nicht interessierten.
Gezielt lief er durch das Zimmer und nahm an der gegenüberliegenden Wandseite eine große Rolle aus dem Regal und entrollte sie Stück für Stück, bis er bei den gesuchten Personen war. Er nahm ein kleines, sehr scharfes Messer, das davor versteckt an seiner Seite hing, in die Hand und begann vorsichtig die Schrift abzukratzen.
Es war eine ermüdende Arbeit, doch am Ende war das Ergebnis erstaunlich. Man sah das Pergament – ohne diese Schriften. Ich werde meinen Stammbaum anders festhalten. Es gibt auch andere Möglichkeiten zu schreiben, Möglichkeiten bei denen das Pergament die Schrift aufsaugt. dachte Dûrmarth. Ich werde nie verstehen, wieso es immer noch in dieser Art gemacht wird... Nur weil es Tradition ist, in dieser Art seinen Stammbaum aufzuzeichnen...
Rasch nahm er ein Fass mit einer leimigen Flüssigkeit und begann neue Namen auf das Pergament zu schreiben. Als er fertig war ließ er es noch ein paar Minuten trocknen und rollte es dann wieder zusammen und verstaute es. Danach verlies er das Zimmer, hängte die Tür wieder in die Angeln und verschwand aus dem Raum. Bald würden die Wachen kommen und die Tür bewachen. Als sie schließlich ihre Positionen einnahmen bemerkten sie nichts.
„Schön, dass wir hier zu einer Einigung kamen.“ sagte Skôlos. „Somit können wir zu unserem nächsten Anliegen übergehen. Wie wir bereits sagten, haben wir Probleme mit Seeräubern...“
Innerlich stöhnte Narja auf, doch nach außen lies sie sich nichts anmerken. Sie hörte geduldig zu, obwohl sie wusste, worauf es heraus lief:
Der Staat Slion würde versuchen seine Abgaben an das Königshaus möglichst weit nach unten zu drücken Und sie wurde nicht enttäuscht.
„... aus diesen Gründen fühlen wir uns nicht in der Lage die normalen Abgaben an das Königshaus zu liefern.“
Ihre Gedanken huschten kurz zu Dûrmarth. Er wäre wahrscheinlich gerade auf dem Weg durch die großen Gänge nahe dem Thronsaal... wie gerne wäre sie jetzt bei ihm. Doch sie musste sich hier mit diesen geldgierigen Gesandten ärgern.
Mühsam schaffte sie es sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. Skôlos war ein gewitzter Gesprächspartner, der sich sehr gut auf seine Aufgabe vorbereitet hatte und zudem über die benötigte Redekunst verfügte sich sehr wortgewandt auszudrücken. Doch sie wusste, dass sie ebenfalls über dieses Talent verfügte, es nur nicht so offen zur Schau stellte, wie er es anscheinend gerne tat.
„Meine Herren. Es ist euer gutes Recht hier Beschwerde einzulegen, doch so wie es bisher aussieht werde ich eure Bitten wohl nicht befolgen können. . In dem Abkommen, dem euer Herrscher zustimmte als er die Herrschaft über Slion erhielt, unterzeichnete er, dass er selbst sämtliche innerländlichen Aufständische auf eigene Kosten besiegt und...“
„Oja, das hat er. Aber wer sagt, dass es Aufständische aus unserem Land sind, die unsere Schiffe überfallen? Wenn der König uns in dieser Gelegenheit nicht unterstützt bricht er seinen Teil der Abmachung. Und dann können wir aus dem Pakt austreten, ich denke selbst eine Frau von eurer Gattung sollte wissen, was das bedeutet...“
Fast hätte Narja geschrieen vor Wut. Dieser Unterton, der auf „Gattung“ lag raubte ihr beinahe ihre Beherrschung. Was bildeten sich diese... Wesen ein? Das sie etwas Besseres waren, nur weil ihre Vorfahren länger gegen die Drachen gekämpft hatten, anstatt in Frieden leben zu wollen?
„Ich weiß worauf ihr hinaus wollt...“ begann sie mit bebender Stimme. „Der Verlust der Wirtschaftsmacht in eurem Land würde ein schwerer Verlust für uns sein. Doch wie wollt ihr belegen, dass es ausländische Eindringlinge seid? Ihr habt keinen Beweis dafür. Sobald es diese dafür gibt wird euch sofort von unserer Seite aus geholfen.“
Mit dem letzten Satz schluckte sie ihre Wut endgültig hinunter und fasste sich wieder.
„Oh, wir haben Beweise Milady, wir zeigen sie euch gerne, der Erste ist...“
Doch weiter kam er nicht, weil die Tür aufgeschlagen wurde. Alle Personen im Saal sprangen von ihren Sitzen auf und sahen zu der sperrangelweit offenen Tür.
In ihr stand in voller Größe Dûrmarth.
Als erstes nickte er Narja zu, danach den Gesandten.
Danach trat er ein. „Meine Herren“, begrüßte er sie und fügte mit einem kurzen Blick auf Narja hinzu. „und Damen. Ich störe eure Besprechung nur ungern, doch gibt es wichtige Vorkommnisse, die eure sofortige Aufmerksamkeit benötigen.“
Einer der anwesenden Lichtbrüder erhob sich. „Wer ist das?“ zischte er. „Wenn der König nicht einmal dafür sorgen kann, dass man hier ohne Unterbrechung solcher Tölpel eine Besprechung führen kann, sollten wir das Gespräch sofort für beendet erklären.“
Dûrmarth gönnte ihm einen kurzen Blick und wandte dann seine Aufmerksamkeit dann wieder der gesamten Gruppe zu. „Verzeiht, dass ich eure Besprechungen so abrupt unterbreche... Aber der König wurde ermordet aufgefunden.“