30. Oktober; Boston, Massachusetts
„Verdammte Kacke“, hörte sie neben sich eine tiefe Stimme brummen, „Warum müssen wir uns noch zweieinhalb Stunden dieses beschissene Scheißgelaber anhören. Ich könnt†˜ kotzen.“ Leah Mason ging es ähnlich, nur dass sie es nicht mit ganz so vielen Kraftausdrücken unterlegt zum Ausdruck brachte, wie ihr ewig miesgelaunter Kollege Jayden Hayes. Sie sehnte sich an diesem Freitagnachmittag nach ihrer Badewanne, die wunderbar warm daheim auf sie wartete, nach einem Schluck kalten Bier, nach ihrem Kater Sir Jeremy. Sie sehnte sich so ziemlich überall hin, nur nicht dahin, wo sie sich tatsächlich befand. In einem stickigen und engen Raum ohne Fenster wartete sie, gemeinsam mit einem guten Dutzend Kollegen von allen möglichen Zeitungen darauf, dass der Pressesprecher der Zweigstelle des FBI in Massachusetts endlich seinen monotonen Vortrag beendete, in dem er haargenau die einzelnen Tathergänge einer besonders brutalen Mordserie beschrieb, die nicht nur den ganzen Staat, sondern ganz Neu-England in den letzten Monaten in Angst und Schrecken versetzt hatte. Natürlich würde es keine zweieinhalb Stunden dauern, aber Jayden Hayes, ein alter Hase im Geschäft, der seit über 25 Jahren beim Boston Globe beschäftigt war und mit dem sie einen Artikel über die Untaten des Serienmörders verfassen sollte, übertrieb nun einmal gerne. Genauso gerne unterstrich er die Bedeutung jeden Satzes, den er von sich gab, mit einigen Flüchen. Aber davon einmal abgesehen war er ein netter Kerl und ausgezeichneter Journalist.
„Nun zum Motiv des Täters.“, leierte es von vorne.
Etwas diskreter als Jayden vorhin, beugte sich Leah zu ihrem Kollegen und Mentor hinüber und flüsterte: „Die Polizei ist doch sonst nicht so mitteilungsfreudig. Da müssen wir ja gar keine Vermutungen mehr anstellen.“
„Scheiß langweilig, nicht wahr? Wahrscheinlich haben sie Druck von oben bekommen, weil die Sache, freilich mit ordentlicher Unterstützung unsererseits, so viel Aufmerksamkeit vom Volk bekommen hat. Die haben sich wahrscheinlich gedacht, dass sie lieber alles auf einmal verraten, als dass wir es ihnen einzeln aus der Nase ziehen. Scheiß Spielverderber.“, antwortete dieser.
„Wahrscheinlich.“, murmelte sie nachdenklich.
„... Darum kann man eine Tat aus persönlichen Gründen ausschließen. Da der Täter, wie offiziell durch ein Gutachten bestätigt, psychologisch krank ist, ist es wahrscheinlicher, dass das Motiv, das eines typischen Serienmörders ist. Alle Opfer passen genau in ein Beuteschema, woraus man schließen kann, dass der Täter nicht willkürlich vorgegangen ist, sondern nur Personen mit bestimmten Voraussetzungen, wie zum Beispiel weiblich, blonde Haare und nicht größer als ein Meter fünfundsechzig, als Opfer in Frage kamen. ...“
„Auf diese Beschreibung würdest du auch zutreffen. Also an deiner Stelle würde ich hoffen, dass die verdammten Geschworenen nicht zu viel Mitleid haben.“, witzelte Jayden.
„Ha, ha, ha. Hör lieber zu, damit wir was zu schreiben haben und uns nicht doch alles aus den Fingern saugen müssen. Ich überlege mir in der Zwischenzeit, wie wir an weitere Informationen kommen, schließlich will Matt einen „Hintergrundbericht“ zu dem Fall und dafür dürfte die offizielle polizeiliche Stellungsname, so üppig sie auch ausfällt, wohl kaum ausreichen. Was meinst du, ist es genug das nähere Umfeld sprich Familie, Freunde und Job zu beleuchten, oder nehmen wir beispielsweise noch den Psychologen, der das Gutachten verfasst hat, dazu?“
„Je mehr, desto besser. Und da, wie du verdammt richtig bemerkt hast, unser wohlgeschätzter Matthew Brighton die komplette Story mit allem drum und dran abdrucken will, brauchen wir uns nicht zu sehr zu beeilen. Drei beschissene Wochen haben wir mindestens, um das komplette Scheißgehirn dieses verdammten Irren auszuloten. Ich wünsche angenehme Unterhaltung.“, meinte Hayes in seiner gewohnten Ausdrucksweise und Lautstärke.
„Nächste Woche Dienstag kann jeder Leser des „Boston Globe“ sich ausführlich über die Taten von Benjamin B. informieren, komme was da wolle.“, korrigierte sie ihn.
„Du bist immer so überkorrekt und pingelig. Ständig versuchst du mich zu verbessern.“
„Reg dich nicht über Sachen auf, die du nicht ändern kannst und hör lieber zu.“
„Wie spät?“
„Noch ein dreiviertel Stunden. Wie weit bist du?“
„Knapp über die Hälfte, schätze ich.“
Josephine Fryer und Michael Preston saßen sich, beide auf die Computermonitore vor sich starrend und wild auf der Tastatur herumklimpernd, an ihren Schreibtischen gegenüber. Sie befanden sich im Gebäude des Federal Bureau of Investigation von Massachusetts, in einem Großraumbüro in der zweitobersten Etage, und die Berichte, die sie schreiben sollten, wurden einfach nicht länger. Sie hegten ähnliche Gedanken, wie das Grüppchen von Journalisten sieben Etagen unter ihnen, nur dass sie es nicht ganz so offen zugaben. Stattdessen versuchten sie in möglichst kurzer Zeit ihre Vorgehensweise und ihre Ergebnisse im Fall Benjamin Butler zu schildern.
Michael gähnte: „Oh Mann, ich will nur noch nach Hause. Mit jeder Minute wird meine Lust zu arbeiten kleiner und mein Hunger größer.“
„Wenn es wenigstens etwas Interessantes und Anspruchsvolles zu tun gäbe.“, stimmte ihm Josephine, genannt Josie, zu.
„Tja, auch die Arbeit als Agent für das FBI besteht nicht nur aus wilden Verfolgungsjagden und Schießereien. Das müsste dir doch eigentlich gesagt worden sein, bevor du diesen Job angetreten hast.“, meinte Michael in altklugem Ton.
„Da war ich wohl grade auf dem Klo.“, lachte sie trocken.
„Ich lese dir mal vor, was wir bisher über das Mordmotiv haben.“
„Na von mir aus.“
„Zweitens: Das Motiv. In seinem Geständnis hat der Täter Benjamin B. angegeben, er habe die Tat aus der Neugier heraus begangen, wie es ist einen Menschen zu töten. Der hinzugezogene Psychologe von der University of Massachusetts Jeremy Foster meinte jedoch, in seiner beratenden Funktion als Profiler, dass Benjamin B. die dreizehn Personen umbrachte, weil er durch die Macht, die er bei den Morden verspürte, sexuell erregt wurde. Nach dem ersten Mord, den er zweifelsohne aus Neugier beging, merkte er, dass sich seine Erregung noch vervielfacht, wenn er die Polizei bei der Aufklärung der Morde absichtlich an der Nase herumführt. Er begann Gefallen daran zu finden, weitere Personen zu töten. Dabei legte er, wie schon das erste Mal, wenn auch aus anderen Gründen, einen Brief bei, siehe Indizien, in dem er zugab, die Morde begangen zu haben. Außerdem fing er an zusätzliche Verwirrung zu stiften, in dem er falsche Fährten legte und sich am Ende jeder dieser vermeintlichen Spuren einen Spaß daraus machte, die Polizei mit einem seiner freundlichen Briefe darauf hinzuweisen, dass sie ihm ein weiteres Mal in die Falle getappt war. Jeder dieser Briefe war mit BB unterzeichnet, jedes Mal mit einer Spezialtinte für Drucker eines ganz bestimmten, seltenen Typs auf das Briefpapier eines anderen Hotels, die sich über die ganze Welt verteilten, geschrieben.“
Michaels leise, aber eindringliche Stimme hatte einen ruhigen und warmen Klang. Josie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück, schloss die Augen und dachte zurück an die vergangenen zweieinhalb Monate voller Ärger, Gereiztheit und unterschwelliger Bewunderung für den großen Unbekannten, der sie alle so an der Nase herumgeführt hatte. Zwölf perfekte Morde an zwölf vollkommen unterschiedlichen Frauen, die sich nur durch ihre Haarfarbe und ihre Körpergröße geglichen hatten. Von der Obdachlosen bis zur Adligen waren alle sozialen Schichten vertreten gewesen. Zwölf Briefe voller Spott und Hass, die vielen „Spurenbriefe“, wie man sie intern inzwischen nannte, nicht mit eingerechnet. Zwölf, die Zahl der Vollendung. Hätte es Benjamin Butler bei diesen zwölf Briefen belassen, hätte er sich ins Ausland absetzen können und die Akte des Falls BB wäre ein weiterer Fall für die traurige Kartei der ungelösten Fälle gewesen, die zu allen möglichen Anlässen herausgekramt werden, um die Unfähigkeit des gesamten Polizeiapparats an einem Exempel zu statuieren. Aber nein, es war anders gekommen. BB hatte sich ein weiteres Opfer geholt. Ein weiterer Brief. Ein weiterer Empörungsschrei der Medien und der Bevölkerung. Doch er hatte einen Fehler gemacht. Er hatte es zu weit getrieben. Ein winziger, unscheinbarer, vernichtender Fehler. Dreizehn waren einer zu viel gewesen.
„Josie?“ Michaels halb belustigtes, halb verärgertes Gesicht holte sie ins Hier und Jetzt zurück.
„Äh, ja? Ach so, äh, also, äh, ich würd sagen es ist noch zu persönlich, wenn du verstehst was ich meine. Man hört zu viel raus, wie sehr BB uns geärgert hat. Ich glaube nicht, dass Lindsay sehr gerne daran erinnert wird, wie sehr er uns überlegen war. Also ein wenig mehr Sachlichkeit und ein wenig kürzere Sätze, aber ansonsten wunderbar. Oh Kacke, wir haben nur noch ne gute Stunde, wir müssen uns ordentlich ranhalten. Schließlich hab ich Marty versprochen heute pünktlich mit ihm zum Zirkus zu gehen.“
„Er ist mittlerweile an Enttäuschungen gewohnt.“
„Das heißt aber nicht, dass er es mir nicht übel nimmt.“
„Sei bloß froh, dass du nicht mehr verheiratet bist. Ehepartner sind viel nachtragender als Kinder.“
„Das Resultat dieses Nachtragens war bei mir die Scheidung.“
„Ja, und bei mir heißt dieses Resultat Marcus Mitchell.“
„Egal, der Zirkus ruft, ich beeil mich besser, bevor mich, als nächstes Resultat, mein Sohn beim Jugendamt anzeigt.“, lachte sie grimmig.
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„Na endlich.“ Ein Stöhnen ging durch den Raum, als der Pressesprecher seine Litanei beendete und das Rednerpult verließ. „Das wurde aber auch verdammt mal höchste Zeit. Was meinst du, zwei Blocks weiter ist ne kuschelige Bar? Ich hab zwar die eiserne Regel vor sechs Uhr nix Hochprozentiges, aber irgendwo auf der Welt ist es schließlich grad sechs Uhr. Den Spruch hab ich übrigens aus irgendnem verdammten Buch, mir fällt nur grad der beschissene Name nicht mehr ein, aber is nich schlecht, ne.“
Leah musste unweigerlich grinsen, hier sprach Jayden Hayes wie er leibt und lebt. „Ich denk ein ordentlicher Drink würde mir auch nicht schaden.“, meinte sie. Sie gingen schweigend nebeneinander her, fast wie ein altes Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat, und jeder hing seinen Gedanken nach.
Als sie schließlich die Bar mit dem extrem originellen Namen „Coconut Bar“ betraten, fiel Leah sofort das fernöstliche Ambiente und die überaus gemütlich aussehenden Lounge-Sessel im hinteren Teil der Bar auf. Sie setzten sich. Jayden begann sofort die Abteilung Spirituosen der Karte zu studieren. Nach einigem Hin und Her entschied er sich für einen 13 Jahre alten französischen Cognac, der laut seiner mit fachkundigem Blick vorgetragenen Beschreibung, die jedem Gourmetführer alle Ehre gemacht hätte, durch seine Lagerung in Portweinfässern angeblich ein besonders intensives Geschmackserlebnis bot. Leah interessierte sich mehr für die zahlreichen Cocktails und entschied sich sogleich für ihren absoluten Favoriten, den klassischen „Swimmingpool“.
Sie unterhielten sich ausgiebig darüber, welcher Natur die Psychose von Benjamin Butler war. Aus unerfindlichen Gründen rutschten sie ab in das Thema Nordkorea und wandten sich langsam aber sicher dem Nahen Osten zu, als Leah plötzlich einen Schrei ausstieß: „Emma! Hi, was für ne Überraschung. Was machst du denn hier?“
„Hi Leah! Wie geht†™s dir? Echt tolle Zufälle gibt†™s. Mit wem bist du denn hier?“, antwortete Emma Harrison.
„Ach ja, äh, Entschuldigung. Darf ich vorstellen, das ist Jayden Hayes ein Kollege und das ist Emma Harrison, meine beste Freundin.“
Nachdem zur Begrüßung noch einige Küsschen gewechselt und Hände geschüttelt worden waren, setzten sie sich.
„Also, was führt dich her? Welchem Prominenten bist du diesmal auf der Spur der Peinlichkeiten.“, wiederholte Leah ihre Frage.
„Ich hab nen ganz heißen Tipp bekommen, dass unser lieber Herr Gouverneur Avery Griffin heute hier dinieren will und mir gedacht, dass ich meinen abendlichen Ausgang mit der Arbeit verbinden könnte, um ganz unauffällig an ein paar Fotos von seiner neuen Angebeteten zu kommen. Schließlich glaube ich nicht, dass er nach der Scheidung wieder ein Junggesellen-Dasein fristen will und heute hier allein erscheint. Und ihr? Ein einfacher Feierabend-Drink oder steckt mehr hinter eurem Besuch der Kokosnuss?“, erklärte Emma.
„Eindeutig Feierabend-Drink. A propos Drink, hast du dir eigentlich schon deine heißgeliebte „Bloody Mary“ bestellt?“, antwortete Leah.
„Nein. Stimmt, du hast Recht.“ Sie winkte einen Kellner herbei und gab ihre Bestellung auf. Jayden nutzte die Gelegenheit und bestellte Nachschub, da sein Glas sich bereits fast gänzlich geleert hatte und es den Anschein hatte, als blieben sie noch ein wenig länger.
„Und ihr, an welcher großen Story seid ihr dran?“
Zur Abwechslung antwortete Jayden: „Hintergrundbericht über Benjamin B. Wir haben gerade knappe zwei Stunden dem verdammten Pressesprecher des verkackten FBIs dabei zugesehen, wie er seine Komplexe vor einer hungrigen Meute von Journalisten lang und breit darlegte. Total krank der Typ.“
„Hä, Komplexe. Warum Komplexe?“, fragte Emma, das Gesicht ein einziges großes Fragezeichen.
„Na Komplexe eben. Weil sich das sonst hochgelobte FBI zweieinhalb Monate lächerlich gemacht hat und es nicht geschafft hat, mit mehreren hundert Special Agents einen einzigen verdammten Irren zu finden, während dieser seelenruhig für ordentlich Nachschub beim Scheiß-Bestatter gesorgt hat.“, antwortete Jayden mit schon leicht geröteter Nase.
„Aha.“, Emma zog angesichts der Ausdrucksweise von Jayden skeptisch die Augenbrauen hoch, „Und was für ein Hintergrundbericht soll das genau werden?“, fragte Emma diesmal an Leah gewannt.
„Unser Chefredakteur Matthew Brighton hat gemeint, weil bisher nur in einzelnen kürzeren Artikeln berichtet wurde, sollen wir die ganze Story noch mal übersichtlich zusammenfassen und mit den neuesten Erkenntnissen und ein wenig Hintergrundinfos zu Benny B. zu einem einzigen großen Bericht zusammenfügen, der am Dienstag als Spezial erscheinen soll.“, sagte Leah.
„Soso. Naja, auf jeden Fall ist bei meiner Tätigkeit eindeutig mehr Action und Fingerspitzengefühl gefragt.“
„Ach so. Action wenn du einem Kellner das Bein stellst, damit er der alten Dame zwei Tische weiter die extra heiße Tapioka-Suppe auf ihren, noch von ihrer Großmutter stammenden Rock kippt, nur um an ein verwackeltes Foto von Griffins angeblicher neuen Flamme zu kommen, die in Wirklichkeit aber nur seine Cousine ist. Und Fingerspitzengefühl nennst du wahrscheinlich die Entscheidung, ob unser Gouverneur sie im Drogen- oder Rotlichtmilieu aufgesammelt hat.“, spottete Leah.
„Du brauchst gar nicht so sarkastisch zu werden. Ich bin eine genauso seriöse Journalistin, wie du. Oh, da kommt ja unser Avery und wie vorhergesehen mit weiblicher Begleitung. Wo ist der nächste Kellner?“, sagte Emma, sprang auf und zückte ihren Fotoapparat.
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Nur ein Radio in der benachbarten Küche der Wärter störte die Stille in Benjamin B.†˜s Zelle. Es lief „Eye Of The Tiger“. Seit elf Tagen befand er sich nun in diesem Raum der Untersuchungshaft und seine Verlegung in den Langzeittrakt war eigentlich nur noch Formsache. Kein Anwalt der Welt könnte bei dieser erdrückenden Beweislast mehr als mildernde Umstände herausschlagen. Zwar hielt man ihn für verrückt, aber nicht verrückt genug, als dass Psychatrie statt Knast in Frage kam. Niemand, der psychatrische Betreuung bezog, hätte zwölf Morde so perfekt planen und durchführen können wie er es getan hatte. Der Raum oder besser gesagt die Zelle, in der er sich befand, hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Ein Feldbett mit kratzender Wolldecke, eine nicht gerade einladende Toilette aus Metall und das dazugehörige Waschbecken, ein wahrscheinlich vom Sperrmüll stammender einfacher Holztisch, auf dessen Unterseite ein Herz eingeritzt war, in dem H + L zu lesen war, ein ebenso einfacher, man kann auch sagen schäbiger Holzstuhl.
BB hatte mittlerweile akzeptiert, dass er verrückt war, oder wenigstens nach außen hin so wirkte. BB sprach beziehungsweise dachte über sich selbst in der dritten Person Singular und nie als Benjamin oder gar Benny, wie ihn seine Mutter immer genannt hatte, sondern immer als BB. Aber das alles zählte nun nicht mehr. Nichts zählte mehr. Nichts außer seinem letzten genialen Coup und der Erlösung, die der Strick bringen würde. Hätte er früher mit dem Gedanken gespielt, Selbstmord zu begehen, hätte er wahrscheinlich Schlaftabletten, Insulin oder allerhöchstens die Knarre seines alten Herrn zum Wegbeamen benutzt. Aber mittlerweile dachte er anders. Die Vorstellung, dass ein müdes, geradezu armseliges Zucken seines Zeigefingers der letzte Akt seines Leben sein sollte, widerte ihn an. Für den klassischen Verzweifelter-Gefangener-Selbstmord kam einzig und allein die Variante des Hängens mit aneinander geknoteten Bettlaken in Frage. Wenn man den Büchern Glauben schenken wollte, hatte es bisher jeder so gemacht, und er hatte nicht vor, mit der letzten Tat seines Lebens gegen die alten Gefängnistraditionen zu verstoßen. Es war ein leichtes gewesen, die bewegliche Überwachungskamera, die alles aufzeichnete, was er auf seinen fünf Quadratmetern tat, während der Live-Übertragung der Baseballspiele um ein paar wenige Grade zu verschieben, so dass er ohne Probleme und in aller Ruhe sein tödliches Seil und seinen letzten Plan knüpfen konnte. Mit einem heroischen Schrei auf den Lippen vom Bett zu springen war eher seine Vorstellung von einem würdigen Abgang.
Wenn er nicht mit planen oder binden beschäftigt war, legte er sich auf sein hartes Schlafgemach, starrte an die trostlose graue Decke über ihm und ließ seine größten Triumphe Revue passieren. Was hatte er über die ahnungslosen, trotteligen Polizisten gelacht, während er mit seinen falschen Spuren ihre Hoffnung im Ansatz zerstört hatte. Nach eineinhalb Monaten glaubte kein Agent mehr wirklich an seine Entdeckung, wenn er mal wieder eine vermeintlich heiße Spur fand. Das drückte die Moral auf einen Tief- und seine Freude auf einen Höhepunkt. Aus einer flüchtigen, nicht ganz ernst gemeinten Idee war der Albtraum des FBI geworden. Wer hätte das gedacht?
Trotzdem war das Bild seiner Erinnerung nicht perfekt. Es gab einen Makel, der dringend ausgemerzt werden musste. Aber auch das hatte er schon in die Wege geleitet. Am zweiten Weihnachtsfeiertag würde ihn sein Anwalt zwei Tage vor seinem Prozess besuchen. Sobald er ihm seinen letzten Auftrag erteilt und sich dessen Ausführung vergewissert hatte, würde er den Weg zu seinen Vorfahren antreten. Das Leben hielt keine Überraschungen mehr für ihn bereit. Für BB war es Zeit, neue Wege zu beschreiten.