Wenig später fanden sie sich alle im Haus der Büttel ein, Iris und ihr Onkel, Bosco und Robin, sowie Goran und Goradoc. Auf dem Tisch zwischen ihnen lagen die Ordner Wasseraus, einige Abschriften des Hobbingener Postamtes und einige Wälzer mit beinahe archaischen Einband. Noch bevor Iris den jedoch errätseln konnte, fragte schon ihr Onkel ungestüm: "Worum genau geht es hier?"
"Um den sinkenden Absatzmarkt im Süden", antwortete Robin, "In Wasserau fallen auch schon einige südlichere Kunden weg und im Drachen wird gemunkelt, dass Kräuter und Reben immer mehr in Massen zu schier wahnsinnigen Preisen geliefert werden."
"Danke, aber wir kennen dein Kneipengewäsch", fuhr ihn Goradoc an, "Wir wissen nur folgendes: Die Postämter verlieren rapide Kunden und es git als wahrscheinlich, dass diese südlichere Ämter bevorzugen. Die einzige Frage lautet 'wieso?'."
"Ich frage mich was dieses Problem die Büttelei anzugehen scheint..."
"Ganz einfach, Herr Postmeister: Mit dem Michelbinger Erlass von 404 haben Landbüttel in ihrer Funktion für Ordnung zu sorgen darauf zu achten, dass Post und Verkehr in frei und unabhängig ihren Lauf nehmen können und etwaige Probleme an ihren direkten Superior zu berichten."
"Ihr vergesst eines, Oberst Büttel: Mit dem Postabkommen von 1337 sind Postämter nur noch formal nach Michelbinge ausgerichtet, welches ein eigenes Amt darstellt und unabhängig von den anderen agiert. Jedes Amt steht für sich und bedient eine Zellle ihres Bezirkes."
"Absatz zwei eben diesen Erlasses besagt jedoch, dass das Postunabhängigkeitsgeset z von 42 nach wie vor oberste Priorität genießt. Ihr kennt sicherlich die letzte Bestimmung?"
"'Im Falle einer Überschreitung der gegebenen Fernmeldegrenzen, der Inbesitznahme mehrerer Zweigstellen durch einen einzelnen Familienzweig, bewusster Manipulation der ihnen anvertrauten Fernmeldeerzeugnisse, dem Weitersagen intimer Inhalte oder anderweitiger grob fahrlässiger Verletzung von Sitte und Anstand, sowie Verlust der eigenen Unabhängigkeit, unterliegt es der Büttelschaft auf schnellst möglichem Weg wieder für Ordnung zu suchen.' Dieser alte Schinken gilt seit 217..."
"nicht mehr, sofern die Ämter untereinander Abhilfe schaffen können", unterbrach Bosco die Privatfehde, "Wie alle eure anderen Beispiele, unterliegt dies jedoch dem einzigen Gesetz des Auenlandes, welches heutzutage noch Anwendung findet: 'Ein jeder Hobbit verpflichtet sich mit Anstand und Moral sein Tagewerk zu vollrichten und gewissenhaft nach dem Gemeinsinn des gesunden Hobbitverstandes zu handeln.' Könnten wir damit von dem Papierwerk abkommen und uns unserem Thema widmen?"
"Von mir aus..."
"Von mir aus..."
"Gut. Soweit ich diese Akten verstehen konnte, breitet sich der Verlust seit zwei Jahren um gut 4.2 Höhlen im Quartal aus. Auch wenn besagte Gesetze nicht unbedingt bindend sind, könnten wir mit einem Verweis daraus einen Antrag in Michelbinge stellen. Anderenfalls könnten wir uns an andere Postämter wenden, insbesondere die Tuks dürfte es interessieren, wenn ihre Ämter in Gefahr stünden."
"Die Tuks kümmert es nicht, sofern sie weiterhin ihr ach so tolles eigenes Großhöhlenreich führen können!"
Bosco und Goradoc verzogen ihr Gesicht. Mit ihrer engen Beziehung zu besagen Tuks aus besagtem Land, hielten sie diese Bemerkung für absolut unangebracht und verletzend. Bevor Goradoc jedoch wieder ausfallend werden könnte oder seine kleine Privatfehde fortsetzen konnte, fuhr Robin dazwischen: "Was ist mit Michelbinge?"
"Traditionell lassen die ihre Ämter gewähren. Die meisten Anträge sorgen eh für das Gegenteil...die Schreiberlinge des Mehlkloßes hassen es viel zu sehr zu arbeiten! Nein, meine verehrten Büttel...Dies ist ein Konflikt der einzelnen Ämter!"
"Gleich der Einwände Boscos", begann Goradoc wieder, "sage ich nur eines dazu: Ich bin diese Aufgabe angetreten um für Ordnung zu sorgen! Paragraph 1 der Büttelordnung gibt dies als meine oberste Pflicht an und wenn Ihr nicht zur Kooperation bereit seid, suchen wir uns andere Postmeister, die dieses sind!"
"Langsam, langsam, Goradoc", unterbrach ihn Robin, "Wir besprechen diese Tatsachen im Moment im kleinen Kreis zwischen uns Bütteln und dem Besitzer der wichtigsten Akten. Wäre es ohne Beweise nicht grob fahrlässig diese an die Öffentlichkeit zu bringen und die Südgemeinden zu beschuldigen? Gerade wir als Büttel sollten in unserer Ordnungsfunktion neutral bleiben. Sollten die Probleme existentiell werden, werden sich die Ämter von selbst in Michelbinge oder bei uns melden, anderenfalls schadet es uns und unserem Amt, wenn wir hier allzu schnell Stellung beziehen."
Bosco brummte entnervt und auch in Iris, die diesen Privatkrieg und das Bürokratiegeplänkel halb amüsiert und halb teilnahmslos verfolgt hatte, regte sich Wut: Würde man nichts tun? Wie konnte man einfach nur abwarten, wenn nun schon zwei Postämter mit den gleichen Symptomen immer schlechtere Werte schrieben? Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, ergriff Bosco erregt das Wort: "Wenn das unsere Entscheidung sein wird, trete ich heute noch von meinem Amt zurück! Gewiss gehört Neutralität zu unseren Aufgaben, aber nicht zu diesen Kosten. Wir können kein Postamt zwingen sich zu verändern und sollten niemanden beschuldigen, aber NICHTS tun ist keine Lösung! Wir müssen zumindest die südlichen Büttel fragen, was sich geändert hat oder diese verdammte Akte bis aufs letzte Blatt analysieren. Ich habe genug Krisen miterlebt um alles zu tun eine zu verhindern. Doc?"
"Du kennst mich, Bosco. Ich will nicht, dass du zurücktrittst, aber bis auf weiteres ist Robins Plan der Beste für uns alle. Egal wie sehr wir eine Lösung wollen, ohne Hilfe der Post schaffen wir das nicht. Ich erinnere mich noch immer an die Rede von Mehlkloß' Vorgänger nach der Langgrundblattkrise und da hatten wir weit mehr in der Hand und haben nur wenige Gaststätten angesprochen. Bis sich mehr ergeben hat und wir es uns leisten können es öffentlich zu machen, müssen wir still halten."
"Robin?"
"Tschuldige Bosco. Aber mir ist das alles zu riskant. Wenn es schief geht ist unser aller Arbeit an einem Tag zerstört." Der alte Hobbit erhob sich, entfernte die Feder von seinem Hut und verneigte sich leicht.
"So sei es."
"Hey?! Haben Iris und ich darin nichts zu sagen?"
"Heute noch nicht. Gemäß der Büttelordnung ist Goradoc der legitime Büttel und ihr vertretet ihn nur." Er überreichte die Feder an Goran, "Zumindest weiß ich, dass du das Richtige tun wirst. Willkommen im vollwertigen Dienst!"
Er verneigte sich erneut, reichte seinen alten Weggefährten zum Abschied die Hände und verabschiedete sich mit dem Hinweis nun ohne Druck die Südlande selbst zu beobachten.
"Dann haben wir ja ein Ergebnis", sagte Goran wütend nachdem Bosco das Zimmer verlassen hatte, "Wenn das unsere Linie sein soll, haben wir ja alles wichtige besprochen und ich kann mir jetzt in Ruhe einen Tee machen. Ich kann und werde nicht gegen unseren Rat entscheiden und aus reinstem Respekt wende ich mich auch nicht an Michelbinge bevor alles aufbricht, sage jedoch klar und deutlich, dass ich diese Entscheidung zum Kotzen finde!"
"Ich komme mit", sagte Iris.
Kaum in der Küche angekommen, fluchte Goran wild aus.
"Was denken sie sich dabei?!"
"Das was die immert tun: Ja keinen Finger krümmen...", brummte Iris gedämpft.
"Wahrscheinlich. Von Robin habe ich ja nichs anderes erwartet...aber dass Vater ohne Nachfragen einfach so seine ganze Einstellung ändert? Er war es doch, der unbedingt eine Lösung wollte und dann will er auf einmal nichts tun?"
"Vielleicht hat er einfach gemerkt, dass er gegen den sinnlosen Stolz nicht ankommt. Mein Onkel war kaum wiederzuerkennen, kaum hatte ich ihn eingeladen, war er freudig aufgesprungen und dann das? Er bringt uns alle in Schwierigkeiten und das nur wegen Stolz und Paragraphenreiterei?"
"Ich versteh da so einiges nicht...hoffen wir, dass Bosco zumindest herausfindet, was überhaupt mit dem Süden los ist."
"Hoffentlich."
In den nächsten tagen waren die Auswirkungen dieser gescheiterten Konferenz noch deutlich zu erkennen: Iris Onkel wirkte ungewöhnlich kalt und abweisend, Robin war noch öfter als sonst in den unzähligen Gaststätten der Region und Goradoc war trotz seines schlimmer werdenden Beines wieder aktiv im Dienst und wirkte überaus feindselig, sobald er etwas von "Post" oder "Süden" hörte. All diese Veränderungen blieben jedoch in diesem kleinem Kreis verschlossen, sodass das gewöhnliche Leben im Auenland ungestört fortgesetzt wurde und keinerlei Mühen getätigt wurde gegen die Ausbreitung vorzugehen. Goran und Iris hatten in drei verschiedenen Postämtern angefragt, wie es mit deren Umsätzen aussähe und alle bestätigten leichte Einbrüche, aber entweder waren deren Bücher unsauber geführt oder die Meister hielten die Verluste trotz aller Argumente für 'gewöhnlich' oder 'wegrechenbar'.
Insbesondere für Iris war die gesamte Lage schwierig zu verarbeiten: Als einzige unter den Bütteln kannte sie noch im Unterbewusstsein das Gefühl nichts zu haben und war als einzige der Büttel direkt betroffen von der drohenden Krise und ihren Onkel schien das alles nicht zu kümmernem hatte dieser Kreis eschlossen aus unbegreiflichen Gründen absolut nichts zu tun. Mit Robin und Gorbadoc konnte sie nicht reden, ersterer verstünde eh nicht und letzterer hasste sie, ihr Onkel wollte nicht über das Thema reden und mit Goran konnte sie einfach nicht reden. Sie hatten zusammen schon oft genug über die Entscheidung geflucht und gezetert, Iris konnte aber trotzdem nicht offen darüber reden. Unter all der Geheimhaltung, dem Streit zwischen Postmeister und Büttelältestem, Gorbadocs genereller Abneigung Iris gegenüber und Gorans ständigen Konflikte mit ihm über seine Art das Büttelamt zu bekleiden, hatten ihre Beziehung schon genug strapaziert, da sollte sie nicht auch noch Ängste mit hineinwerfen.
Der Rest des Auenlands war uninformiert oder hatte nur leichte eigene Vermutungen und trotz beiderseitigen Hasses auf das Nichtstun, waren sie sich doch einig, dass sie ohne den Rest der Büttelschaft keine eigenen Versuche wagen sollten das Volk aufzuwecken.
Erst nach zwei Wochen voller unterdrückter Angst, die sie kaum mehr in sich halten konnte, erinnerte sie sich wieder: Es gab noch jemanden, der die ganzen Tabellen kannte! Jemanden, dem sie voll und ganz vertrauen konnte, jemanden, mit dem sie ganz frei reden konnte!