"Wie aufregend," flüsterte Aerien Narissa zu, als Faramir die Krone Gondors enthüllte. Ehrfürchtig verfolgte sie den weiteren Verlauf der Ereignisse, die ihr mehr und mehr wie eine Art Zeremonie vorkamen. Als Aragorn geendet hatte, gab es spontanen Applaus, was sowohl Gandalf als auch Gimli zum Lachen brachte.
"Ehe ihr aufbrecht möchten wir euch alle an unsere Tafel einladen, um zu Mittag zu essen," sagte Königin Éowyn. "Dieser Augenblick ist zu besonders, um ihn nicht zumindest ein klein wenig zu feiern."
"Gut gesprochen!" lobte Gimli. "Nach all den Jahren der Entbehrlichkeit ist es schön, endlich wieder etwas Ordentliches zwischen die Zähne zu bekommen."
So kam es, dass Aerien und Narissa nebeneinander an der Tafel der Herrscher Rohans speisen durften. Helluin saß Narissa gegenüber, was Aerien gleichzeitig wunderte und freute. Sie freute sich, dass man Helluin nicht länger wie einen Gefangenen behandelte, doch sie wunderte sich, dass diese Veränderung so plötzlich passiert war.
Am gestrigen Abend war ihr, nachdem sie den Kerker verlassen hatte, Narissa keine fünf Minuten später auf den Straßen Aldburgs begegnet. Gemeinsam hatten sie die Gelegenheit für einen Abendspaziergang durch die lebhaften Straßen genutzt und sich gegenseitig von ihren Erlebnissen des Tages erzählt. So hatte Aerien von den neuen Bekanntschaften Narissas - ein Pärchen namens Amrothos und Irwyne - erfahren, und Narissa war über Helluin ins Bilde gesetzt worden. Beide waren sie an jenem Abend früh schlafen gegangen, denn noch immer spürten sie die Anstrengungen ihrer Reise nach Mordor deutlich - vor allem in den Beinen. Nach einem gemütlichen Frühstück am folgenden Morgen waren sie von der Königin persönlich in den Thronsaal gerufen worden, um den dortigen Ereignissen beizuwohnen.
Hatte Aerien anfänglich noch geglaubt, dass Narissa Vorbehalte gegenüber Helluin hegen könnte, wurde sie bald eines Besseren belehrt. Womöglich regte das exzellente Mahl die Gespräche an? Narissa unterhielt sich jedenfalls von Anfang an so offen wie es nun einmal ihre Art war mit dem Dúnadan, der ihr zunächst etwas reserviert, aber nach und nach immer bereitwilliger antwortete.
"Von der Weißen Insel habe ich noch nie gehört," sagte Helluin gerade, nachdem Narissa ihm von ihrer Heimat erzählt hatte. "Ich wusste zwar von Aragorns Angriff auf den Hafen von Umbar, aber die Details haben mir bis jetzt gefehlt. Natürlich erhielt ich von meiner Mutter Unterricht über die Geschichte des Südlichen Königreiches, doch..."
"In den Annalen von Gondor wird die Insel relativ schnell nicht mehr erwähnt," sagte Narissa. "Sie haben die Thelynrim vergessen. Und das, obwohl meine Vorfahren den Schiffskönigen unschätzbare Unterstützung in ihren Kriegen in Harad geleistet haben."
Helluin nickte sachte. Ehe er jedoch etwas entgegnen konnte, stellte Aerien eine Zwischenfrage. "Aragorn hat mir von deiner Mutter erzählt, Helluin, als ich das dritte Mal zu ihm in seiner Gefangenschaft kam. Und später traf ich in Ithilien eine Gruppe von Gondorern, die Erelieva kannten; tatsächlich war es der Name deiner Mutter, der ihren Anführer davon überzeugte, dass ich die Wahrheit sagte."
"Tatsächlich?" fragte Helluin, dessen Miene schwer zu deuten war. "Ich wusste, dass sie einige Zeit in Minas Tirith gewesen ist, aber nicht, dass sie unter den Partisanen von Ithilien gelebt hat."
"Ich weiß nicht viel über diese Zeit," antwortete Aerien. "Die Waldläufer vertrauten mir trotz Allem noch nicht wirklich. Sie sagten nur, dass Erelieva bei ihnen gewesen war und etwas von großem Wert aus Minas Tirith mitgebracht hatte."
Faramir, der gerade an ihren Sitzplätzen vorbeikam und eine große Karaffe mit Wein darin trug, sagte: "Ich kann dieses Rätsel lösen: Elea reiste von Ithilien über Dol Amroth bis nach Aldburg, wo sie mir das überreichte, was ihr vorhin gesehen habt: Eärnurs Krone, die nun wieder ihrem rechtmäßigen Besitzer gehört."
"Hmm," machte Aerien. "So also ist es gewesen. Doch wo ist Helluins Mutter jetzt?"
Bei diesen Worten ließ Helluin die Schultern sinken. "Sarumans Schergen nahmen sie auf der Ebene von Celebrant gefangen und schickten sie nach Moria."
Das erregte Gimlis Aufmerksamkeit, der neben Helluin saß. "Wie bitte? Soll das heißen, Saruman kontrolliert jetzt die Minen?"
Helluin nickte. "Sie sind sein wichtigster Machtsitz."
"Was ist das für ein Ort?" fragte Narissa neugierig.
"Eine alte Zwergenstätte," sagte Helluin wie beiläufig, ehe er erneut von Gimli unterbrochen wurde.
"Hör nicht auf ihn, Mädchen. Moria - oder Khazad-dûm, wie wir Zwerge es nennen, ist eines der Wunder der nördlichen Welt! Eine gewaltige, wunderschöne Stadt, mit Bergwerken, Schmieden, Waffenkammern, Thronsälen... und was tun die Menschen? Sie nennen es eine Mine." Er lachte schallend, ehe er wieder ernst wurde. "Wenn er Saruman in die Hände gefallen ist, fürchte ich um diesen Ort. Dieser Mistkerl verdirbt alles, was er berührt."
Narissa verschränkte die Arme. "Und in diese "Mine" hat man deine Mutter bringen lassen?" sagte sie zu Helluin, während Gimli mit den Augen rollte.
"Das war das Letzte, was ich hörte," antwortete Helluin niedergeschlagen. "Ich frage mich, ob sie noch immer dort ist, oder ob man ihr gestattet hat, nach Eriador zurückzukehren. Ich hoffe es jedenfalls."
Wie aus dem Nichts musste Aerien an ihre eigene Mutter denken. Und an das Messer in ihrem Bauch. Eiseskälte durchzuckte sie und sie verzog das Gesicht. Narissa fiel es beinahe sofort auf. Besorgt legte sie Aerien eine Hand auf den Oberschenkel.
"Es ist nichts," tat diese leise die Befürchtungen ab. "Es geht schon wieder." Demonstrativ schob sie sich ein Stück Brot in den Mund und kaute darauf herum. Sie sah Narissa an, dass diese ihr nicht so recht glaubte, doch für den Augenblick schien Narissa es dabei belassen zu wollen.
Helluin sagte, an Aerien gewandt: "Jedenfalls... verstehe ich nun, warum du sagtest, du bist ebenfalls númenorischer Abstammung, aber nicht aus dem Norden. Es muss schön sein, dort auf der Weißen Insel, von der ihr beide stammt."
In Narissas Augen erkannte Aerien die Frage, die ihre Freundin klugerweise unausgesprochen ließ. Sachte schüttelte sie den Kopf und sagte dann zu Helluin: "Jetzt, wo die meisten Kriegsverwüstungen verschwunden und Turm und Hafen wieder aufgebaut worden sind, ist Tol Thelyn wunderschön. Es ist die schönste Heimat, die ich je hatte."
"Es ist jedenfalls deutlich wärmer als hier," fügte Narissa hinzu. "Ich hätte nicht gedacht, dass der Wind so kalt werden kann wie er es auf den letzten Meilen vor Aldburg gewesen ist."
"Nun, es ist Winter," sagte Helluin. "Ich habe kältere Winde erlebt, in Arnors Norden. Ihr seid vermutlich einfach das heiße Klima Harads gewohnt."
Narissa nickte und stellte eine Frage: "Was wirst du nun tun, Helluin?"
Dieser nahm einen Schluck aus dem Krug, der vor ihm stand. "Ich werde nach jemandem suchen. Nach der, die mich von Sarumans Zauber befreit hat."
Narissa schien nachhaken zu wollen, doch ehe sie dazu kam, erhob sich Aragorn, der am Tischende saß. "Meine Freunde, ich danke euch für eure Gastfreundlichkeit und das reiche Mahl-" Éowyn und Faramir nickten. "-doch ich muss nun nach Gondor gehen, und ich weiß, dass Gandalf und Gimli mich begleiten wollen. Wie steht es um euch beide, Narissa und Aerien?"
"Wir gehen mit dir nach Gondor," sagte Narissa. Am Abend zuvor hatte Aerien mit ihr darüber gesprochen und sie waren sich einig darüber gewesen, in Aragorns Begleitung bis nach Dol Amroth zu gehen, denn vermutlich war es für beide am Besten, als Befreier des rechtmäßigen Königs ins Land zu kommen und hoffentlich - in Aeriens Fall - über alle Verdächtigungen erhaben zu sein. Wie es nach ihrer Ankunft weitergehen würde, wussten beide noch nicht. Aerien hegte allerdings den Verdacht, dass Narissa an eine Rückkehr zur Weißen Insel dachte. Sie selbst verspürte keinerlei Heimweh. Der Gedanke an die baldige Ankunft im freien Teil Gondors faszinierte sie. Sie konnte es kaum erwarten, nach Dol Amroth zu kommen und die Stadt der Schwanenfürsten mit eigenen Augen zu sehen.
Aragorn nickte zustimmend. "Das ist gut. Und du, Helluin? Wohin wird dein Weg dich führen?"
Helluin erhob sich und neigte kurz das Haupt. "Ich werde bis nach Edoras mitkommen. Dann möchte ich in Richtung Dunland abbiegen und meine Suche nach Kerry beginnen."
"Ich hatte mir gewünscht, du würdest mir in den Krieg nach Gondor folgen," meinte Aragorn. "Aber ich respektiere deinen Wunsch. Also sei es so," fügte er hinzu. "In zwei Stunden brechen wir auf. Wir werden uns bei den Stallungen sammeln, wo frische Pferde auf uns warten werden. Kommt nicht zu spät!"
Sie hatten nur wenig Gepäck, das sie zusammensuchen mussten. Aerien hatte jedoch noch etwas zu erledigen, ehe sie aus Aldburg abreisen konnte. Ihr alter, grauer Umhang war zerrissen und schmutzig, sodass er kaum noch Schutz vor dem kalten Wind bot. Gemeinsam mit Narissa suchte sie deshalb den Markt von Aldburg auf, um sich einen neuen Mantel zu kaufen. Von dem kermischen Gold war noch ein kleiner Rest übrig, der nach Aeriens Einschätzung dafür ausreichen sollte. Und es dauerte nicht lange, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Es war ein neuer, recht einfacher Umhang, in dunklem Rot, mit kleinen, silbrigen Verzierungungen an den Rändern. Als Aerien sich umdrehte, um das neue Kleidungsstück anzulegen und es Narissa vorzuführen, standen plötzlich zwei Menschen vor ihr: ein Gondorer in blausilbernem Gewand und Kettenhemd, und eine junge Frau in einem langen, grünen Kleid. Beide trugen Reiseumhänge. Hinter ihnen tauchte der Zauberer Gandalf aus der Menge auf.
"Oh, hallo ihr beiden," sagte Narissa erfreut. "Sieh nur, Aerien, ich hatte dir von ihnen erzählt: Das sind Amrothos und Irwyne."
Aerien erkannte gleich, dass der schwarzhaarige Gondorer nicht einfach nur "Amrothos" sein konnte - seine Kleidung war zu edel und seine Haltung glich eher der Faramirs oder Aragorns. Daher brachte Aerien rasch ihr durcheinander geratenes Haar in Ordnung und knickste. "Verzeiht, Herr," sagte sie. "Ich wusste nicht..."
"Schon gut, schon gut," lachte Amrothos. "Narissa hat offensichtlich ein Detail ausgelassen, wie mir scheint. Ich bin Amrothos von Dol Amroth. Und du musst Aerien sein, richtig?"
"So ist es," bestätigte Narissa, ehe Aerien die korrekte Antwort geben konnte. "Was führt euch drei hierher?" fragte sie mit einem Blick auf den Zauberer, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.
"Mithrandir ist uns vor wenigen Minuten zufällig begegnet. Er scheint nach euch beiden gesucht zu haben," sagte Amrothos.
"In der Tat," sagte Gandalf. "Ihr Mädchen solltet euch sputen. Wir haben es eilig, und ihr seid spät dran."
"Eilig? Wo wollt ihr denn hin?" fragte Irwyne neugierig.
"Nach Gondor," sagte Narissa. "A-"
"Wir gehen nach Dol Amroth," sagte Aerien schnell. "In Mithrandirs Begleitung."
Amrothos und Irwyne wechselten einen Blick. "Dann könnten wir ja zusammen reisen!" sagte Irwyne erfreut. Sie suchte Gandalfs Blick. "Gandalf?"
"Ich habe nichts dagegen einzuwenden," sagte dieser. "Wie schnell könnt ihr beiden aufbruchsbereit sein?"
"Wir sind es schon," sagte Amrothos. "Wir waren gerade auf dem Weg zu den Stallungen, um nach unseren Pferden zu sehen."
"Dann kommt, alle miteinander," trieb der Zauberer sie an. "Wir wollen rasch aufbrechen."
Am Tor sammelte sich die um zwei Mitglieder vergrößerte Reisegruppe. Gandalf machte Amrothos und Irwyne mit Gimli und Helluin bekannt; Aragorn jedoch, der einen Umhang mit Kapuze trug, stellte er nur als "einen Freund" vor. Alle sattelten ihre Pferde und saßen auf. Glücklicherweise hatte sich der Wind gelegt und die Sonne war zwischen den Winterwolken hervorgekommen. So brachen sie am Nachmittag schließlich auf, um Aldburg in westlicher Richtung entlang der Straße nach Edoras zu verlassen...
Aerien, Narissa, Helluin, Gandalf, Aragorn, Gimli, Amrothos und Irwyne in die Ostfold