Also, das größte Problem, das das Wort Stand mit sich bringt, ist die Tatsache, dass das Wort Stand für viele verschiedene Dinge benutzt wird.
Zum einen gibt es das Wort Stand (im lat. Ordo) in einer von Gott gegebenen Ordnung in der die Gesellschaft aufgeteilt wird. Es gab Priester, und auch Könige die diese Idee vertreten haben (insb. Adalbero von Laon). Diese Einteilung gibt es seit der Antike, zunächst in Laien und Priester, später wird der Laienstand in Arbeiter und Krieger unterteilt. Das wichtige aber ist, diese Aufteilung ist rein funktional. Wir haben da eine Gruppe die Betet für alle (wichtig, damit alle ins Paradies kommen), eine Gruppe die für alle arbeitet (damit alle was zu essen haben) und eine Gruppe, die für die anderen kämpft und diese beschützt.
Aus dieser funktionalen Dreiteilung lässt sich aber keine Rangfolge per se herleiten. Dem ersten Stand/der ersten Gruppe, dem stand der Oratores/Beter ("Klerus"), wird dabei besondere Bedeutung zugemessen, weil er für das Seelenheil der Menschen sorgt (was im MA das wichtigste war).
Alfred der Große schreibt einmal von einer Aufteilung der Menschen in
weorcmen (Werkmänner, Arbeiter),
fyrdmen (Fyrd-Männer, Krieger) und
gebedmen (Gebetsmänner, Beter), damit hat die Idee einer funktionalen Aufteilung durchaus eine gewisse Verbreitung gefunden, ist aber dennoch kein Spiegel der sozialen Wirklichkeit.
Die Lebenswelt der Menschen des Früh- und Hochmittelalters war gekennzeichnet durch eine Fülle von societas (= 'Gesellschaften'), das heißt: sozialen Gruppen oder 'Gemeinschaften', zu deren Bezeichnung eine verwirrende breit gefächerte Terminologie zur Verfügung stand; der Begriff der Gesellschaft als einer Gesamtheit aller sozialen und ökonomischen Prozesse war jenen Menschen fremd. Nicht anders verhält es sich mit Begriffen wie 'Kaste', 'Klasse' und 'Stand', mit deren Hilfe gleichwohl immer wieder die Struktur der mittelalterlichen 'Gesellschaft' beschrieben werden soll. Vor allem der Begriff des Standes ist für eine Beschreibung der sozialen Wirklichkeit des früheren Mittelalters wenig geeignet, weil sowohl der Begriff als auch die in ihm begriffenen sozialen und politischen Phänomene seit dem Mittelalter außerordentliche Wandlungen erfahren haben und schließlich der alteuropäische Ständebegriff durch die Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts über Ständeordnung, Klassenkampf und Parteiendemokratie zusätzlich überlagert wurde.
Es gibt natürlich durchaus einen Gegensatz zwischen Geblütsadel und Nicht-Geblütsadel, sei das der Geld- oder Stadtadel oder einfach die Nichtadeligen. Man wird sicherlich Texte finden, in denen der Adel als Stand bezeichnet wird, das ist aber nicht umbedingt der selbe Standbegriff, wie in einer von Gott gegebenen Ständeordnung. Eines der Probleme der Ständeordnung ist die Tatsache, dass es möglich ist als Vertreter mehrere Stände aufzutreten, ein Tempelritter ist Beter und Krieger, gehört also zwei Ständen an. Ein Bauer der sich bewaffnet um sich vor Ungarn, Sarazenen, Wikingern zu schützen, tritt als Krieger auf und verlässt seinen Arbeiterstand. Das fand der oben genannte Adalbero von Laon nicht so toll (oder er fände es nicht so toll, die Gründung geistlicher Ritterorden hat er nicht mehr erlebt, hat aber eine Art Satire geschrieben, in der ein Mönch als Ritter auftritt) deshalb hat er sich in einem Brief an seinen König gewandt und den gebeten, er solle doch bitte seiner Aufgabe (als Krieger) nachkommen und die Bauern vor den Fehden der Fürsten und den Plünderungen der Heiden schützen (also nicht nur die bösen Bauern, die sich anmaßen Krieger zu sein, sondern auch die bösen Krieger die ihre Aufgabe die Bauern zu schützen, vernachlässigen).
Dann gibt es im Reich die Reichsstände, da haben wir wieder das Wort Stand in einer anderen Bedeutung, und bezeichnet grob einfach nur die Leute die im Reichstag sitzen.
Was auch gerne benannt wird ist eine "Ständepyramide", die aber eher Schichten darstellt statt Stände und irgendwie eine Vermischung von funktionaler Dreiteilung und Reichsschildordnung ist. Und in der Reichsschildordnung kommen Bauern gar nicht vor, sondern sie zeigt nur die Rangfolge der Fürsten im Reich auf.
Eine "Ständepyramide" gab es nicht.
Punkt soziale Mobilität, wie ich bestimmt schon genannt habe, gab es beispielweise
Ministerale. Das sind Leute, die ursprünglich unfreie Bauern sind. Sich irgendwie bewährt haben, und daher von ihrem Grundherrn mit besonderen Aufgaben betraut wurden, z.B. der Sicherung von Landstraßen mithilfe einer Burg. Mit der Zeit wurden aus diesen Unfreien selbst Burgherren, die schließlich Freie wurden und in den Ritterstand aufstiegen. Hätten wir eine Ständegesellschaft nach dem gerne propagierten, kastenartigen Muster, wäre das nicht möglich.
Und noch ein Zitat von Oexle:
Dabei ist zu erinnern, daß es Stände ja nicht 'wirklich' gibt, so wie Individuen und Gruppen. Stände sind keine historischen Subjekte; sie handeln nicht. Stände (wie auch 'Schichten' oder 'Klassen') gibt es nur insofern, als Menschen davon überzeugt sind, es gebe sie. Sie sind 'wirklich' nur als Elemente einer 'gedachten Wirklichkeit' (einer "société idéale" im Sinne von Émile Durkheim).
Der ganze Aufsatz ist interressant und (leider nur) teilweise bei Google Books zulesen:
Oexle, Otto Gerhard: Die Entstehung politischer Stände im Spätmittelalter - Wirklichkeit und Wissen, in: Blänkner, Reinhard/ Jussen, Bernhard (Hrsg.): Institutionen und Ereignisse. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998, S. 137-162.Wäre im übrigen leichter, wenn ihr euch die Aufsätze selbst mal durchlest, dann muss ich sie nicht immer referieren
.
Außerdem:
Oexle, Otto Gerhard: Die funktionale Dreiteilung der "Gesellschaft" bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 12, 1978, S. 1-54.und:
Oexle, Otto Gerhard: Stände und Gruppen. Über das Europäische in der europäischen Geschichte, in: Borgolte, Michael (Hrsg.): Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs, Berlin 2001, S. 39-48.Der letzte ist recht kurz, das sollte jeder von euch schaffen
.
Einen Aufsatz von Oexle (Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung; von 1990) hätte ich noch als PDF, falls jemand Interesse hat?
Im Übrigen, was die Mythen übers Mittelalter angeht, es gibt da ein Buch einer französischen Historikerin: Régine Pernoud:
Those Terrible Middle Ages! Debunking the Myths. Ist eine (englische) Übersetzung, es ist auch ganz gut geschrieben, auch wenn es nicht die Anforderungen eines wissenschaftlichen Buches erfüllt (oder französische Historiker ticken anders als deutsche
).
was genau ist falsch an diesem "Mythos", wie war es 'eigentlich' (bzw. nach dem neusten Stand der Geschichtswissenschaft)?
Um es also auf die Frage zu konkretisieren: MMn ist es so: Es gibt Leute, vor allem Priester die von einer Einteilung der Gesellschaft in gottgegebene Stände gepredigt haben, vor allem um zu verhindern, das Menschen ihre Stände verlassen. Das hat aber, lapidar gesagt, nicht geklappt. Solche Priester haben dann im Spätmittelalter, statt von ursprünglich drei Ständen, von fast 30 Ständen gesprochen. Der Grund ist einfach: Die Mittelalterliche Gesellschaft lässt sich nicht in Stände einpferchen, dafür ist sie zu komplex und vielfältig, und vor allem sozial mobil. Von daher kann man nicht sagen, das die Gesellschaft im Mittelalter in drei (oder mehr) Stände geteilt war.
Ihr seht ja schon selbst, das ihr sagt, das war von Zeit, Ort, Situation, sonst was abhängig und unterschiedlich. Die Tatsache, das die Ständeordnung nicht überall, und die ganze Zeit gleich aufgebaut ist, deutet mehr auf eine Stände
unordnung hin.
So ich hoffe der Text ist jetzt noch inhaltlich geschlossen und macht Sinn
.