Oronêl aus ThalStunde um Stunde verging, während Sarumans Orks immer wieder vergeblich gegen das Tor des Erebor anrannten. Der Tag, der durch die graue Wolkenschicht die über dem Erebor und Thal hing, beinahe unbemerkt angebrochen war, neigte sich bereits wieder seinem Ende, als es den Orks endlich gelang, eine stabilere Brücke über den Fluss zu errichten, die ihre Rammen tragen konnte. Die Elben hatten beinahe ununterbrochen auf die Verteidiger oberhalb des Tores geschossen, und schließlich genug von ihnen getötet, dass Sarumans Truppen weiter vorrücken konnten.
Als der erste Schlag der Ramme gegen das Tor über das Schlachtfeld dröhnte und von den Felswänden vielfach zurückgeworfen wurde, senkte Oronêl seinen Bogen und trat von seiner Stellung zurück. Die meisten Elben folgten auf einen Wink Thranduils hin seinem Beispiel, denn für den Augenblick war ihre Unterstützung nicht länger von Nöten - der Wehrgang über dem Tor war vom Beschuss der Ballisten beinahe vollständig zerstört worden, und nur noch wenige Verteidiger zeigten sich im schwächer werdenden Licht hinter den übrig gebliebenen Zinnen. Und jeder Ostling oder Ork, der sich dort oben zeigte, wurde nun von Sarumans Orks, die nun in Reichweite ihrer eigenen Bögen herangekommen waren, unter Beschuss genommen.
Oronêl betrachtete seine Finger, in die sich die Bogensehne mit der Zeit tief eingegraben hatte, und sagte als Finelleth zu ihm trat: "Ich hoffe, das alles war nicht umsonst." Er hatte beinahe jeden einzelnen Pfeil verschossen, der ihm gebracht worden war, und nur ein knappes Dutzend war in seinem Köcher verblieben.
"Wenn sie es nicht schaffen das Tor zu durchbrechen, wird es das aber gewesen sein", erwiderte Finelleth, und betrachtete missmutig das Geschehen am Tor. Die Orks schlugen unverzagt mit der Ramme auf das Tor des Erebor ein, doch die mächtigen eisernen Torflügel schienen nicht einmal eine Delle zu bekommen. "Ewig können wir diese Belagerung jedenfalls nicht aufrecht erhalten."
"Das wird auch nicht nötig sein, meine Liebe", ertönte eine tiefe, sanfte Stimme hinter ihnen. Als sie sich umwandten, sahen sie sich Saruman selbst gegenüber, der von Thranduil und Kra'suk, dem Anführer seiner Orks, begleitet wurde. "Wir werden das Tor noch vor Tagesanbruch durchbrechen."
"Mit dieser lächerlichen Ramme?", fragte Oronêl, bemüht, sich jeglichem Einfluss dieser verfluchten Stimme sofort zu entziehen. "Wohl kaum."
Sarumans dunkle Augen fixierten ihn einen Augenblick, und ein überlegenes Lächeln spielte um seine dünnen Lippen. "Es gibt vieles, was du nicht weißt. Was glaubst du, wie es meinen Truppen gelungen ist, in Helms Klamm einzudringen, bevor diese verfluchten Bäume meine Pläne zunichte machten?"
Als Oronêl schwieg, sprach der Zauberer selbst weiter: "Es war Feuer. Feuer, das sogar Stein und Eisen zunichte machen wird, Feuer, dem die Tore des Erebor nichts entgegenzusetzen haben werden. Du hast es selbst schon gesehen, denke ich."
Oronêl erinnerte sich an eine Explosion, die die Wälle von Caras Galadhon durchbrochen hatte, und der er selbst nur knapp entkommen war. Das überlegene Lächeln auf Sarumans Gesicht wurde eine Spur breiter, und er deutete zurück nach Thal. "Dort werden in diesem Augenblick die letzten Vorbereitungen getroffen. Ich sage euch, noch in dieser Nacht wird der Erebor frei sein von Mordor."
"Aber nicht in den Händen seiner rechtmäßigen Besitzer", sagte eine weitere bekannte Stimme. Der Zwerg Gunri und seine Begleiter waren zu ihnen gestoßen. Auf Gunris Schulter saß ein großer, schwarzer Rabe, und in der Hand hielt er eine kleine Rolle Papier. "Ich habe eine Antwort erhalten von Gráin Feuerfaust, dem Herrn der Eisenberge, für den Zauberer Saruman."
Oronêl wechselte einen raschen Blick mit Finelleth, während alle schweigend abwarteten, was der Zwerg zu sagen hatte. Im Hintergrund waren immer wieder die Schläge der Ramme zu hören, die durch das Tal dröhnten.
"Die Zwerge der Eisenberge werden ihre Heimat nicht verlassen und hier kämpfen, um ihren rechtmäßigen Besitz als vergiftetes Geschenk des Verräters Saruman zu erhalten. Wir werden nicht an eurer Seite kämpfen, Saruman, als Vasallen desjenigen, der das Land überfiel, in dem unsere Verwandten nach dem Fall des Erebor Zuflucht gefunden haben. Auch Zwerge sind in Lothlórien gefallen, und wir vergessen nicht."
Sarumans Miene war äußerlich gleichgültig geblieben, doch seine Augen funkelten zornig. "Die Zwerge geben also ihren Anspruch auf den Erebor und all seine Schätze auf? Nun denn, so sei es."
Gunris buschige Augenbrauen zogen sich zusammen. "Seid kein Narr, Zauberer. Durins Volk wird den Anspruch auf den Einsamen Berg niemals aufgeben. Ganz gleich was ihr tut, eines Tages wird wieder ein Zwerg aus Durins Haus König unter dem Berg sein." Er machte eine kaum merkliche Verbeugung in Richtung der Elben, und sagte: "Lebt wohl - bis wir uns wiedersehen, bevor die letzte Schlacht geschlagen wird." Er nickte seine Begleitern zu, würdigte Kra'suk und Saruman dabei keines Blickes, und sie marschierten in östlicher Richtung davon. Für einen Augenblick herrschte Schweigen, bevor Saruman und Kra'suk sich ohne ein weiteres Wort ebenfalls entfernten - der Zauberer in Richtung Thal, der Ork nach vorne zum Tor des Erebor. Als beide außer Hörweite waren, wandte sich Thranduil an Oronêl: "Ich nehme an es freut dich, dass die Zwerge sich uns nicht anschließen?"
Oronêl schüttelte den Kopf. "Nein." Der kalte Wind, der von Norden über die Berge peitschte, war hier unten nur schwach zu spüren, doch er war da und schien jegliche Wärme aus seinem Blut zu vertreiben. Seine Gedanken wanderten zurück an ihre Wanderung durch das nördliche Arnor und die Eiswüste Forochel, wo es noch kälter gewesen war, und er blickte hinauf zu Rabenberg, wo Kerry noch immer mit den Dúnedain Wache stand. Damals waren Elben und Menschen gemeinsam zu ihrer Rettung aufgebrochen und hatten sie gegen alle Wahrscheinlichkeit aus den Kerkern Carn Dûms befreit. Und zuvor hatten Elben, Menschen und selbst ein Zwerg bei Fornost gegen Sarumans Horden gekämpft und gesiegt.
"Nein", wiederholte er. "Es freut mich nicht - es macht mit traurig. Niemand kann Mordor alleine besiegen. Wir können es nur schaffen, wenn Elben, Zwerge und die Königreiche der Menschen gemeinsam kämpfen, vereint wie im letzten Bündnis. Aber mit Saruman wird es ein solches Bündnis nicht geben, er will keine Verbündeten sondern Diener und Untertanen. Solange wir ihm folgen, fürchte ich, sind wir verloren."
"Hast du vergessen, was wir unter seiner Führung erreicht haben?", fragte Thranduil zurück. "Dol Guldur, das Waldlandreich, Esgaroth, Thal, und bald der Erebor?"
"Als Diener des Zauberers, der Rohan mit Krieg überzog und Lothlórien angriff, um seinen verletzten Stolz zu besänftigen?" Finelleth hatte bislang geschwiegen, doch jetzt sprach sie mit umso größerer Überzeugung. "Das ist nicht der richtige Weg, Vater."
"Wäre es besser gewesen, wir hätten diese Gelegenheit ausgeschlagen, und all diese Lande wären noch immer vom Feind besetzt?", entgegnete Thranduil heftig, und fuhr sich dann mit der Hand über die Stirn, bevor er ruhiger weitersprach. "Manchmal ist es notwendig, seine eigenen Ideale zu beugen, um ein größeres Übel zu besiegen. Und was wollt ihr, dass ich tue? Soll ich unseren Kriegern befehlen, sich zurückzuziehen? Oder soll ich Saruman am besten in den Rücken fallen?"
"Nein", erwiderte Oronêl. "Für diese Schlacht haben wir unsere Entscheidung getroffen. Aber wenn die Schlacht vorüber ist, folge Saruman nicht weiter. Kehre in dein eigenes Reich zurück, sichere deine Grenzen... und wenn es soweit ist, marschiere nach Süden. Dort wird die Entscheidung fallen, nicht hier im Norden. Die Menschen von Gondor und Rohan werden jede Klinge und jeden Pfeil brauchen können, den es gibt."
"Nach Süden marschieren, wie in alten Zeiten..." Thranduil wirkte nachdenklich. "Mein Vater marschierte nach Süden, gegen Mordor, und kehrte nicht zurück. Und mein Sohn ebenso." Bei seinem letzten Satz zuckte Finelleth kaum merklich zusammen, und Oronêl wurde klar, dass es das erste Mal seit ihrem Gespräch im Waldlandreich war, dass Thranduil seinen Sohn erwähnte.
"Genau wie Amdír, und viele der Krieger, die er auf die Dagorlad führte", erwiderte Oronêl schließlich. "Doch am Ende war es die einzige richtige Entscheidung."
"Ich... werde darüber nachdenken", sagte Thranduil stockend. Noch immer war das regelmäßige Hämmern der Ramme gegen das Tor zu hören, und das Geräusch begann, an Oronêls Nerven zu zehren.
"Das ist alles, was ich mir wünsche", meinte er. "Dass die Elben des Waldlandreichs wieder beginnen, nachzudenken, und Saruman nicht blind folgen." Er strich sich mit der linken Hand die Haare aus dem Gesicht, und war sich sicher, dass Thranduils Blick auf seinen fehlenden Fingern ruhte. "Ich werde einen Blick nach Süden werfen, bevor der Sturm losbricht. Aber keine Sorge, ich werde dort sein, wenn das Tor fällt - falls es fällt."
Oronêl nach Thal