Fiora und weitere Ordensmitglieder vom Platz des goldenen DrachenDie ersten Sommertage des Jahres 3022 rieselten dahin, und Fiora schritt durch die Straßen eines Gorthariass, auf dem ein aschener Himmel lastete und dunstiges Sonnenlicht auf die gepflasterte Straße filterte. Gedankenverloren spielte sie mit dem silbernen Emblem, welches um ihren schlanken Hals lag.
"Fiora, was du heute sehen wirst, darfst du niemandem erzählen", sagte ihre Großmutter. "Nicht einmal deinem Freund Tomás. Niemandem."
"Auch nicht Mama?" fragte Fiora mit gedämpfter Stimme.
Meine Großmutter seufzte hinter ihrem traurigen Lächeln, das sie wie ein Schatten durchs Leben verfolgte.
"Aber natürlich", antwortete sie gedrückt. "Vor ihr haben wir keine Geheimnisse. Ihr darfst du alles erzählen."
Kurz nach einem Krieg gegen die Korsaren hatte eine aufkeimende Cholera Fioras Großvater, Tante und offenbar auch ihren Vater dahingerafft. An ihren vierten Geburtstag beerdigten sie sie auf dem Friedhof des höchsten Hügel Ringlós. Das einzige woran sich Fiora noch erinnerte war , daß es den ganzen Tag und die ganze Nacht regnete und daß ihrer Mutter, als Fiora sie fragte, ob der Himmel weine, bei der Antwort die Stimme versagte. Sechs Jahre später war die Abwesenheit eines Vaters für sie noch immer eine Sinnestäuschung, eine schreiende Stille, die ich noch nicht mit Worten zum Verstummen zu bringen gelernt hatte. Fiora wuchs inmitten von Büchern auf und gewann auf zerbröselnden Seiten, deren Geruch ihr noch immer an den Händen haftet, unsichtbare Freunde. Als Kind lernte sie damit einzuschlafen, daß sie ihrem Vater im dämmrigen Zimmer die Ereignisse zwischen Morgen und Abend, ihre Abenteuer in der Schule erklärte und was sie an diesem Tag gelernt hatte. Sie konnte seine Stimme nicht hören und seine Berührung nicht fühlen, aber sein Licht und seine Wärme glühten in jedem Winkel des Anwesen, und mit der Zuversicht dessen, der ihre Jahre noch an den Fingern abzählen kann, dachte sie, wenn sie nur die Augen schlösse und mit ihm spräche, könnte er sie vernehmen, wo immer er auch sein mochte. Manchmal hörte ihr Fioras Mutter im Eßzimmer zu und weinte verstohlen.
Fiora erinnerte sich, daß sie in jener Junimorgendämmerung schreiend erwachte. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, als wollte sich die Seele einen Weg bahnen und treppab stürmen. Erschrocken stürzte meine Großmutter ins Zimmer und nahm mich in die Arme, um mich zu trösten.
"Ich kann mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Ich kann mich nicht mehr an Papas Gesicht erinnern", keuchte Fiora.
Meine Großmutter umarmte sie fest.
"Hab keine Angst, Fiora. Ich…ich“, aber ihre Stimme versagte
Sie schauten sich im Halbdunkel an und suchten nach Worten, die es nicht gab. Das war das erste Mal, daß Fiora merkte, daß ihre Großmutter alterte und ihre Augen, Augen aus Nebel und Verlust, immer in die Vergangenheit blickten. Sie stand auf und zog die Vorhänge zurück, um das laue Frühlicht hereinzulassen.
"Los, Fiora, zieh dich an. Ich möchte dir etwas zeigen", sagte sie.
"Jetzt? Um fünf Uhr früh?"
"Es gibt Dinge, die man nur im Dunkeln sehen kann", gab mein Großmuttermit einem rätselhaften Lächeln zu verstehen.
Noch dämmerten die Straßen matt in Dunst und Nachttau dahin, als Fiora unterwegs war. Flimmernd zeichneten die Fackeln der Straßen eine diesige Allee, während die Stadt sich reckte und streckte und ihr blasses Nachtgewand ablegte. Fiora folgte Cáha auf diesem engen Weg, eher Scharte als Straße, bis sich der Abglanz des großen Platzes hinter ihnen verlor. In schrägen Quentchen sickerte das helle Morgenlicht von Balkonen und Karniesen bis knapp über den Boden. Endlich blieb Cáha vor einem von Zeit und Feuchtigkeit schwarz gewordenen Portal stehen. Vor uns ragte etwas auf, was mir wie die verlassenen Überreste eines Palastes oder eines Museums aus Echos und Schatten vorkam.
Ein Männchen mit dem Gesicht eines Raubvogels und silbernem Haar öffnete ihnen die Tür. Unergründlich heftete sich sein durchdringender Blick auf Fiora.
"Guten Morgen, Isaar", verkündete Fiora mit gedämpfter Stimme.
„ Des Taues Glanz, erhellt den Morgen im Rosenkranz.“
Mit einem leichten Nicken bat uns Isaar herein. Bläuliches Halbdunkel hüllte alles ein, so daß die Konturen einer breiten Marmortreppe und eine Galerie mit Fresken voller Engels- und Fabelfiguren gerade eben angedeutet wurden. Sie folgten dem Aufseher durch einen prächtigen Gang und gelangten in einen riesigen, kreisförmigen Saal, wo sich eine regelrechte Kathedrale aus Dunkelheit zu einer von Lichtgarben erfüllten Kuppel öffnete. Ein Gewirr aus Gängen und von Büchern überquellenden Regalen erstreckte sich von der Basis zur Spitze und formte einen Bienenstock aus Tunneln, Treppen, Plattformen und Brücken, die eine gigantische Bibliothek von undurchschaubarer Geometrie erahnen ließen. Mit offenem Mund schaute Càha Fiora an. Sie lächelte und blinzelte ihr zu.
"Willkommen im Friedhof der Vergessenen Bücher, Cáha."
In den Gängen und Lichtungen der Bibliothek verstreut, zeichneten sich ein Dutzend Gestalten ab. Einige von ihnen wandten sich um und grüßten aus der Ferne, und Fiora erkannte bekannte und unbekannte Gesichter. Teilweise waren es Mitglieder des Ordens, den Fiora wieder ins Leben gerufen hatte, teilweise Gesichter der Gefangenen, die Fiora in der Nacht zuvor befreit hatte. Wie merkwürdig, wie verschwörerisch sahen diese Männer und Frauen auf einmal aus!
Fiora nickte in die Runde und auf einmal war leises Fußgetrappel zu hören, welches sich in den Reihen aus Büchern und Geschichten verlor.
Das runde Dutzend an Männern und Frauen stand nur vor ihr.
"Was ihr hier seht, Brüder und Schwestern, ist ein geheimer Ort, ein Mysterium. Jedes einzelne Buch hat eine Seele. Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seele derer, die es gelesen und erlebt und von ihm geträumt haben. Jedesmal, wenn ein Buch in andere Hände gelangt, jedesmal, wenn jemand den Blick über die Seiten gleiten läßt, wächst sein Geist und wird stark. Schon vor einigen Jahren, als ich zum ersten Mal hierherkam, war dieser Ort uralt. Vielleicht so alt wie die Stadt selbst. Niemand weiß mit Bestimmtheit, seit wann es ihn gibt oder wer ihn geschaffen hat. Hier leben für immer die Bücher, an die sich niemand mehr erinnert, die Bücher, die sich in der Zeit verloren haben, und hoffen, eines Tages einem neuen Leser in die Hände zu fallen.
Dieser Ort dient als Versteck unseres Ordens. Als Hauptquartier bei unserer Bemühung den König zu stürzen und Rhûn aus der Tyrannei Khamuls zu führen. Die Schwarze Rose ist so alt wie dieser Ort selbst und auch wenn der König denkt, er hätte den Orden zerschlagen. Hätte alle Mitglieder ausgerottet, so irrt er sich.
Ich überlebte als einziges Mitglied und werde ihre Tradition fortführen. Ihre Sitten-“
Ein raschen und ein dumpfer Aufschlag war zu hören. Irgendwer aus dem Haufen hatte ein Buch aus dem Regal fallen lassen. Fiora konnte im dunstigen Licht nicht genau erkennen wer es war, aber sie glaubte die Umrisse des Elben zu sehen, der sie bereits in der Nacht mit seltsamem Ausdruck gemustert hatte.
Unbeirrt fuhr Fiora in ihren Ausführungen fort und als sie geendet hatte forderte sie das Dutzend auf ihr zu folgen.
Fast eine halbe Stunde spazierten sie durch dieses Labyrinth, das nach altem Papier, Staub und Magie roch. Sachte fuhr sie mit der Hand über die Rücken der ausgestellten Bücher. Auf den verwaschenen Bänden erkannte sie Titel in Sprachen, die sie erkannte, und viele andere, die sie nicht einzuordnen vermochte. Sie lief durch gewundene Gänge und Galerien mit Hunderten, Tausenden von Bänden, die mehr über Fiora und die Anwesenden zu wissen schienen als sie über sie. Bald befiel Fiora der Gedanke, hinter dem Einband jedes einzelnen dieser Bücher tue sich ein unendliches, noch zu erforschendes Universum auf und jenseits dieser Mauern verschwendeten die Menschen ihr Leben an Banalitäten, zufrieden damit, kaum über ihren Nabel hinauszusehen.
Fioras Großmutter zog eine kleine Schatulle aus dem Regal und reichte es ihr mit zittriger Hand.
„Öffne es.“
Ihre Stimme klang brüchig, aber die Neugier war stärker als die Furcht, die langsam in ihr aufkeimte und sie öffnete die Schatulle. Dort in weinroten Samt eingehüllt lag ein silbernes Emblem auf dem ein verschnörkeltes
S eingraviert war.
Der fragende Ausdruck auf Fioras Gesicht muss so markant gewesen sein, dass ihre Großmutter antwortete bevor die Frage über ihre Lippen gekommen war.
„ Dies ist ein Schmuckstuck, dass dein Vater dir hinterlassen hat. Es war sein Wunsch, dass du eines Tages erfahren solltest, wer er war…da…da…da du ihn nie kennenlernen konntest.
„Aber…aber…“
Ihre Großmutter schloss die Augen und eine Träne rann bebend ihre Wange hinab.
„ Ach Liebes….dein Vater ist nicht an der Cholera gestorben…dein Vater war ein Spielmann aus Thal.“
Die Ordensmitglieder blieben vor einem staubigen Wandteppich hängen, der vom diffusen Licht erhellt wurde.
„ Hier hinter ist das eigentliche Versteck des Ordens, denn diese Bibliothek ist königlicher Besitz. Nur ist mein werter Stiefvater zu dumm und naiv die Macht und Schönheit von Büchern zu würdigen. So dass er es öffentlich verpönte die Bibliothek aufzusuchen. Nur selten kommt hier jemand vorbei, aber trotzdem solltet ihr euch nicht zu oft hier oben aufhalten. Isaar bewacht diesen Ort zwar schon seit vielen Jahrzehnten im Dienste des Ordens, aber dennoch kann er nicht immer dafür sorgen uns zu warnen.“
Von manchen war ein Nicken zu vernehmen und so zog Fiora den Teppich beiseite und offenbarte eine Treppe, die hinab in ein Kellerabteil offenbarte, die einer Katakombe glich.