Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia
Der Königspalast
Eandril:
Milva von den Straßen der Stadt
Am nächsten Tag machte Milva sich auf die Suche nach Ryltha, um sie zu bitten, einen Boten zum Sternenwald zu schicken. Sie hatte überlegt, die Tür zu suchen durch die Ryltha sie und Aivari in den Untergrund geführt hatte, den Gedanken allerdings bald wieder verworfen. Nicht nur wusste sie nicht mehr, wo die Tür zum Untergrund zu finden war, sie würde sich in den dunklen Gängen und Tunneln vermutlich auch schnell verirren und die Schattenläufer nicht finden. Also blieb nur der Ort, an dem sie Ryltha zuletzt gesehen hatte: Der Königspalast.
Es war bereits gegen Mittag und die Sonne brannte heiß auf die staubigen Straßen herunter, als Milva den großen Platz vor dem Palast erreichte. Im Gegensatz zum ersten Mal, das sie hiergewesen war, wimmelte es vor dem Platz von Menschen, die sich aufgeregt unterhielten. Eine Atmosphäre angespannter Aufregung lag über der Menge, und Milva blieb unschlüssig an ihrem Rand stehen. Sie hatte sich zuvor keine großen Gedanken darüber gemacht, wie sie Ryltha erreichen wollte, und jetzt, in dieser Menschenmenge, erschien ihr ihr Vorhaben aussichtslos.
"Verzeihung... wisst ihr, was hier los ist?", fragte sie einen Mann, der ein in ihrer Nähe stand, und als er ihr das Gesicht zuwandte, erkannte sie ihn wieder. Sie hatte ihn nie nach seinem Namen gefragt, doch sie erinnerte sich, dass er in Diensten der Schattenläufer stand und ihr ein paar Tage zuvor den Weg zum Bozhidar-Anwesen gewiesen hatte. Er lächelte unverbindlich, und sagte: "Es hat einen Anschlag auf den König gegeben. Ein Attentäter soll in König Gorans Schlafgemach eingedrungen sein und konnte erst in letztem Augenblick daran gehindert worden, den König zu töten."
Er zeigte keine Anzeichen von Aufregung, was Milva zu dem Schluss brachte, dass die Schattenläufer mit diesem Attentat nichts zu tun hatten.
"Und deshalb sind die vielen Leute..." Sie brach ab, als ihr klar wurde, mit wem sie sprach. "Beobachtet ihr mich etwa?", zischte sie. "Geht so weit euer Vertrauen?"
"Ein glücklicher Zufall", entgegnete der Mann ohne eine einzige Regung in seinem unauffälligen Gesicht. "Und ja, die Leute sind hier, weil sie neugierig sind, und alles erfahren wollen - und es mehr oder weniger wahrheitsgemäß weitererzählen. Ihr werdet sehen, morgen schon wird von einer regelrechten Schlacht im Palast die Rede sein."
Er musterte Milva aufmerksam, als er weiter sprach: "Aber da ihr nichts davon wusstet, führt euch wohl nicht die Neugierde her - was bringt euch zum Palast?"
"Ich muss mit Ryltha sprechen. Sie..." Ihr Gegenüber unterbrach sie mit erhobener Hand. "Leiser", sagte er mit gedämpfter Stimme. "Wartet hier."
Er verschwand in der Menge. Milva ließ sich auf einem leeren Fass am Eingang der Seitengasse, aus der sie den Platz betreten hatte, nieder, stützte das Kinn in die Hände, und wartete. Mehr als zwei Stunden vergingen, doch Milva war es gewohnt, lange regungslos auch in den unbequemsten Positionen auszuharren.
Schließlich, die Menschenmenge auf dem Platz hatte sich inzwischen beinahe völlig zerstreut, sprach sie eine bekannte Stimme von hinter ihr an: "Warum wolltest du mich sprechen?" Milva wandte langsam den Kopf, und sah eine Frau an der Hauswand lehnen, das Gesicht von einer Kapuze verborgen. Unwillkürlich musste sie lächeln. "Ich habe euch nicht einmal kommen hören."
"In meiner Lage ist dieses Talent notwendig", erwiderte Ryltha scharf. "Ich hoffe, dein Anliegen ist wichtig, denn normalerweise werden wir dich aufsuchen - nicht andersherum."
"Ihr wisst über meinen ursprünglichen Auftrag Bescheid", erklärte Milva leise und ohne Umschweife. Sie hatte sehr gut erkannt, dass Ryltha nicht sehr zufrieden mit ihr war. "Und da meine... Arbeit hier offensichtlich länger dauern wird, wollte ich euch bitten, einen Boten an... jenen Ort zu schicken, mit dem was ich erfahren habe." Davon zu sprechen war schwierig, denn es war als würde Milva erst jetzt endgültig akzeptieren, dass es länger dauern würde, bis sie Gortharia wieder verlassen konnte.
"Ich werde darüber nachdenken", entgegnete Ryltha kühl. "Jetzt geh. Rechne damit, dass wir an einem der nächsten Abende nach dir schicken." Damit verschwand sie so schnell wie sie gekommen war, und ließ Milva alleine und nachdenklich zurück. Sie fragte sich, ob es klug gewesen war, auf diese Weise Kontakt mit Ryltha aufzunehmen...
Milva zurück auf die Straßen Gortharias
Fine:
Cyneric von den Straßen Gortharias
Es war ein regnerischer Tag. Ohne enden zu wollen strömte das Wasser aus den dicken, dunklen Wolken auf die Königsstadt herab und hüllte sie in eine ungewohnte Trübnis. Tatsächlich war es das erste Mal, dass Cyneric während seiner Zeit in Rhûn einen so lang anhaltenden und heftigen Regen erlebte. Trommelnd schlugen die Tropfen gegen die gläsernen Fenster des prachtvollen Palasts der Herrscher des Ostens. Cyneric saß an einem dieser Fenster, und starrte gedankenverloren hinaus. Er wünschte sich weit weg, an einen anderen Ort, zu einer anderen Zeit.
Auch in Hochborn hatte es Regen gegeben. An Tagen wie diesen, an denen keine Arbeit auf den Höfen oder in der Schmiede möglich war, hatten sich die Dorfbewohner für gewöhnlich mit ihren Familien in ihre Häuser zurückgezogen und hatten das Unwetter ausgesessen. Für Cyneric war es eine willkommene Gelegenheit gewesen, Spiele mit seiner kleinen Tochter zu spielen oder mit seiner Laute zu musizieren und gemeinsam mit seiner Frau zu singen. Beide hatten sie gute, volle Stimmen gehabt, denn sie hatten oft und gerne gesungen. Ihre Stimmen hatten miteinander harmoniert und ineinander verflochtene Klangmuster gebildet; mal hoch, mal tief, auf- und absteigend.
Und als Déorwyn alt genug gewesen war, hatte sich eine dritte Stimme ihren Liedern angeschlossen: hoch und zart, aber dennoch lieblich.
Es kam ihm so unendlich lange her vor.
"Das ist die Rache des Meeres," sagte Salia in die Stille hinein. Sie saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Rand des großen Tisches, der den Großteil des kleinen Raumes einnahm in dem sie sich gemeinsam mit Cyneric aufhielt. Ihre zierliche Gestalt wirkte in der Kaserne der königlichen Garde, zu der dieser Teil des Palastes gehörte, fehl am Platz. Zwar trug sie die Rüstung einer Adjutantin, doch vor allem die goldenen Schulterplatten waren ein gutes Stück zu groß. Wieder fühlte sich Cyneric daran erinnert, wie jung das Mädchen war; nicht einmal ein Jahr älter als seine eigene Tochter, die in der Ferne weilte.
"Die Rache des Meeres?" fragte er, halb interessiert, halb gleichgültig.
Salia stützte ihren Kopf mit beiden Armen auf, sodass ihre Ellebogen auf ihren Knien ruhten. "Das Meer von Rhûn war einst größer, als es heute ist. Doch seit der Gründung Gortharias haben ihm die Ostlinge Stück um Stück seiner Fläche entrissen, indem sie Dämme gebaut und die so entstandenen kleineren Seen langsam ausgetrocknet haben. Das taten sie, um Salz zu gewinnen, und sie tun es noch heute. Doch irgendwann setzten immer um dieselbe Jahreszeit starke Regenfälle ein, die das Meer wieder anschwellen ließen. Das Meer lässt sich nicht einfach bestehlen. Es holt sich zurück, was ihm genommen wurde." Sie schnalzte abfällig mit der Zunge. "Das ist natürlich nichts als abergläubisches Gerede der Ostlinge. Ich vermute, es hat etwas mit den Winden zu tun, die von Osten wehen und immer um diese Jahreszeit große Wolkenmassen über Gortharia schieben, die sich in den hohen Bergen im Osten bilden."
"Im Roten Gebirge?" vermutete Cyneric.
Salia nickte. "Das ist zumindest meine Theorie."
Sie vertrieben sich die Zeit, in dem sie einander ihre jeweiligen Muttersprachen beibrachten. Rohirrisch ähnelte der Sprache Thals so sehr, dass eine Verwandschaft geradezu offensichtlich war. Lediglich einige Worte besaßen eine unterschiedliche Bedeutung und andere wurden etwas unterschiedlich ausgesprochen, doch Grammatik und Satzbau waren nahezu idententisch.
"Solltest du jemals nach Thal kommen, wirst du kaum Probleme haben, als ein Einheimischer durchzugehen," lobte Salia einige Stunden später. Noch immer trommelten dicke Regentropfen gegen das Fenster.
"Und du solltest ohne Weiteres als echte eorlinga angesehen werden," gab Cyneric zurück.
Beide genossen sie die unverhoffte Ruhe, die sich ihnen an diesem Tag bot. Es gab keine Aufträge auszuführen oder Missionen zu planen. Die Schattenläufer warteten ab, lauerten auf eine Gelegenheit, ihre Pläne weiter voranzutreiben. Und während sie warteten, waren Cyneric und Salia frei.
"Wenn es nach mir ginge, könnte dieser Regen gerne noch eine ganze Woche anhalten," meinte er mit einem verschmitzten Lächeln. "Es ist, als ob die ganze Stadt in einen einheitlichen Stillstand verfallen ist. Ich hätte nichts dagegen, daran noch eine Weile festzuhalten."
"Ich schon," gab Salia zurück und sprang auf. Sie streckte sich und fuhr dann fort: "Der Stillstand macht mich träge. Wenn ich träge bin, bin ich unvorsichtig. Du kannst es nicht wissen, aber Ryltha hat mir erzählt, dass während der Rache des Meeres die meisten erfolgreichen Attentate im Jahr verübt werden. Alle nehmen an, dass selbst gedungene Mörder zuhause bleiben und nichts tun als ihre Messer zu wetzen, bis die Wolken sich verzogen haben. Doch es gibt sogar einige Attentäter, die sich gerade auf die Regenzeit spezialisiert haben. Ihnen scheinen zumindest das Wasser und die Nässe nichts auszumachen."
"Wir werden ja sehen, wie lange dieses Wetter anhalten wird," meinte Cyneric.
"Nein, solche Dinge überlässt man nicht dem Zufall," sagte Ryltha, die gerade hereinkam. Die Schattenläuferin trug genau wie Salia ihre Offiziersrüstung und hatte ihren Helm unter den linken Arm geklemmt. "Inzwischen solltest du doch wissen, dass wir Schatten unsere Pläne nicht nach den Launen der Natur ausrichten."
Cyneric machte ein fragendes Gesicht, doch Ryltha schien das erwartet zu haben. Sie sagte leise: "Der Regen wird übermorgen aufhören. Morrandir hat es in den Tiefen des Brunnens gesehen."
Der Brunnen. Natürlich! dachte Cyneric. Damit besaßen die Schattenläufer einen ungeheuren Vorteil ihren Feinden gegenüber. Sie konnten ihre Pläne viel präzischer schmieden, da sie über Wissen verfügten, das niemand sonst hatte.
"Was gibt es, Ryltha?" fragte Salia. "Du bist nicht ohne Grund hier," stellte sie mit einem leicht säuerlichen Unterton fest.
"Habe ich eure traute Zweisamkeit gestört?" Ryltha verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. "Ruht euch aus, solange ihr noch könnt! Bald schon wartet Arbeit auf euch."
"Worum geht es?" wollte Cyneric wissen.
"Fürst Radomir von Gorak ist auf dem Weg in die Hauptstadt. Und er wird sie nicht wieder lebend verlassen," wisperte Ryltha unheilvoll. "Der erste der Fünf Pfeile, den wir zerbrechen werden. Die erste der fünf Säulen, auf denen der falsche König steht, die fallen wird. Ja, und die Schatten werden ihrem Ruf gerecht werden."
Salia nickte. "Nun gut. Wie lautet der Plan?"
Ryltha blickte das Mädchen mit schief gelegtem Kopf an, als hätte sie etwas unfassbar Dummes gesagt. "Nicht hier. Nicht jetzt. Ihr werdet rechtzeitig erfahren, was ihr zu tun habt. Jetzt geh, Teressa. Geh, und übe dich mit dem Wurfspeer. Übe, bis deine Finger den Schaft des Speeres nicht mehr halten können. Geh!"
Salia gab ein ersticktes Geräusch von sich, doch sie gehorchte ohne zu zögern, und eilte aus dem Zimmer.
Cyneric sah ihr nach, doch Ryltha sprach weiter und erzwang so seine Aufmerksamkeit. "Auch du wirst dich vorbereiten müssen, Cyneric. Für dich steht mehr auf dem Spiel, das weißt du. Wenn Radomir tot ist, darfst du einen weiteren Blick in den Brunnen werfen."
Das versetzte ihn in Aufregung und Vorfreude. Dann werde ich sehen, wie es meiner Tochter inzwischen ergangen ist, und finde vielleicht endlich heraus, wo sie sich aufhält! Er nickte Ryltha entschlossen zu, und ihr Lächeln verbreiterte sich.
Ryltha legte ihren Helm auf den Tisch ab, auf dem Salia in den Stunden zuvor gesessen hatte und trat neben Cyneric an das Fenster, an dem das Regenwasser in Bächen abperlte und herabfloss. Ihr für gewöhnlich so selbstgefälliger Gesichtsausdruck verblasste mehr und mehr, je länger sie hinausblickte. Cyneric spürte, wie sich etwas an ihr veränderte. Zwar schätzte er, dass sie nur wenige Jahre jünger als er selbst war, doch mit einem Mal wirkte sie verletzlicher, als er sie je zuvor gesehen hatte; ähnlich wie Salia und auch Milva schon ausgesehen hatten.
Es muss an diesem schier endlosen Regen liegen, dachte er bei sich. Vielleicht weckt er eine alte Erinnerung bei ihr.
"Wie kam es, dass du dich den Schattenläufern angeschlossen hast? Wo kommst du her?" fragte Cyneric leise, ohne sie anzusehen. Er konnte es nicht recht erklären, doch es schien ihm ein geeigneter Zeitpunkt für diese Fragen zu sein, nun, da Rylthas Fassade in diesem so seltenen Moment teilweise geschwunden war. Den Grund dafür kannte er nicht.
Sie schwieg mehrere Minuten, ehe sie sich ihm zuwandte. "Ich bin nicht wie Teressa," sagte sie leise. "Mich kannst du nicht retten oder beeinflussen, Cyneric."
"Das habe ich nicht vor, Ryltha. Ich möchte nur wissen, wo du herkommst."
"Weshalb? Was schert es dich? Ich dachte, das einzige was dich interessiert, ist deine Tochter."
"Sie ist alles, was von meiner Familie geblieben ist. Aber was sollte mich davon abhalten, neue Freundschaften zu schließen? Ich will dich nicht beeinflussen - wozu auch? Ich dachte nur, dass es vielleicht schön wäre, wenn wir uns etwas besser kennenlernen. Und da du (und Morrandir) sowieso schon alles über mich zu wissen scheint, dachte ich, ich stelle dir eben einige Fragen."
Rylthas Hände hatten sich zu Fäusten geballt. "Verdammt, Cyneric. Hör sofort auf damit," stieß sie hervor."
"Womit soll ich aufhören? Ich habe nichts weiter getan, als dir zu erklären, weshalb ich mich mit dir unterhalten möchte."
"Nein! Ich sehe es dir doch an. Du sorgst dich. Wie ein... wie ein verdammter Vater! Ganz genauso, wie du es bei Teressa und bei Milva gemacht hast. Du kannst einfach nicht anders, nicht wahr, Cyneric? Und das Schlimmste ist... dass es funktioniert."
Cyneric wurde klar, dass in Rylthas Innerem eine furchtbare Schlacht im Gange sein musste. All die Jahre der rigorosen Ausbildung und der unzähligen Übungen, die sie bei den Schattenläufern durchlaufen hatten, kämpften gegen lange unterdrückte Gefühle und Erinnerungen an; Erinnerungen an ein Leben, das eine andere Frau gelebt hatte, ehe sie zu Ryltha geworden war. Die Schattenläuferin presste die Hände gegen ihre Schläfen und verkrampfte sich. Seltsame Laute drangen tief aus ihrer Kehle. Und da sah Cyneric, dass ihre linke Hand in Richtung des Schwertes wanderte, das an ihrer Seite hing.
Er handelte, ohne nachzudenken. Rasch ergriff er ihre tastende Hand mit seiner eigenen, und schob seinen freien Arm unter ihrer rechten Schulter hindurch. Dann schloss er die Umarmung, sodass ihr Kopf an seiner Schulter zum Ruhen kam.
Keiner von beiden sagte auch nur ein Wort, doch Cyneric spürte das Beben, das durch Rylthas Körper ging. Ihr Gesicht war unterhalb seines Halses außer Sicht, doch er spürte ihren Kiefer mahlen. Und als er gerade aufgeben und die Umarmung beenden wollte, legte sich ihre freie Hand auf seinen Rücken, und sie richtete ihren Kopf auf, sodass er in ihre Augen blicken konnte. Darin zeigte sich nicht die geringste Spur von Tränen, dafür war sie zu hart und zu lange eine Schattenläuferin, doch ein Ausdruck glitzerten in den grünen Tiefen ihrer Augen, den Cyneric noch nie bei Ryltha gesehen hatte.
"Verdammt sollst du sein," sagte sie so leise, dass er sie beinahe nicht verstanden hatte.
"Wenn das mein Schicksal ist, dann soll es so sein."
"Nein, Cyneric. Dein Schicksal ist offensichtlich, jedem einzelnen verdammten Mädchen in dieser verdammten Stadt den Vater zu ersetzen, den sie nie hatte," sagte Ryltha, und es gelang ihr, dass ihre Stimme gleichzeitig sanft und verärgert klang.
Er tat die Bemerkung mit einem Achselzucken und einem halben Lächeln ab. "Nun, auch mein Bruder hatte immer schon ein Händchen für Frauen. Wahrscheinlich liegt es in der Familie."
"Dein Bruder ist ein unverbesserlicher Schürzenjäger."
"Woher weißt du... ach, wieso frage ich das überhaupt noch."
"Weil du ein sturer Hund bist, Cyneric."
"Das mag wohl so sein."
Eine weitere Minute verging, ehe Ryltha wieder das Wort ergriff. "Mein Name war Firvi," sagte sie leise. "Ich wuchs in einem kleinen Dorf an der Grenze zwischen Rhûn und Khand auf. Meine Freunde haben mich Rotkehlchen genannt. Sie... sie sind alle tot, glaube ich."
"Das tut mir Leid, Firvi."
"Nenn mich nicht so! Ich bin Ryltha von den Schattenläufern, Ránt, der Fluss, und Dienerin Merîls bis auf ewig," fuhr sie ihn heftig an.
"Ist es das, was du willst?"
"Es geht nicht darum, was ich will oder was ich nicht will. Es ist mein Schicksal, ein Schatten zu sein. Ich wurde auserwählt. Du kannst mich nicht retten oder umstimmen."
Eine Pause trat ein. Cyneric fragte sich, wie viel Ryltha darüber wusste, worüber er mit Salia in den letzten Tagen gesprochen hatte. Doch noch hatte sie ihm keinen Hinweis darauf gegeben und schien es auch nicht vorzuhaben. Denn als es draußen vor dem Fenster langsam dunkel wurde, veränderte sich Rylthas Körperhaltung wieder, und sie fand zu ihrer gewohnten Gelassenheit zurück.
Ehe der ungewöhnliche Augenblick ganz schwand, trat sie an ihn heran und wisperte: "Ich danke dir für diese... diese Zeit, Cyneric, auch wenn ich dich gleichzeitig am liebsten dafür umbringen würde. Die Erinnerungen, die ich in mir trage, sind eine Bürde, von der ich es mir im Augenblick nicht leisten kann, sie zu tragen. Danke, dass du mir geholfen hast, sie zu verarbeiten."
Cyneric nickte. Er fragte sich, ob sich Rylthas Verhalten ihm gegenüber jetzt dauerhaft ändern würde, doch zumindest für den Augenblick schien sie wieder ganz die Alte zu sein.
"Ich habe jetzt wirklich genug Zeit verloren," sagte sie und schnappte sich ihren Helm, der noch immer auf dem Tisch stand, wo sie ihn liegen gelassen hatte. "Wenn der Regen endet, musst du bereit sein. Sei bereit, zu töten - dann wirst du deine Tochter aufspüren können."
"Ich werde bereit sein," versprach er.
Fine:
Der Regen hielt noch genau zwei Tage an. Wie Salia vorausgesagt hatte ließen die Wassermassen, die vom Himmel auf die Königsstadt herab prasselten nicht nach. Tag und Nacht strömte und flutete der Regen über Gortharia und die umliegenden Gebiete hinweg und brachte das alltägliche Leben in der Stadt teilweise zum Erliegen. Die sonst so vollen Straßen waren zum Großteil leergefegt und die Märkte ausgestorben. Die Tore Gortharias waren zwar bewacht, doch die Stadtwächter hielten sich ausschließlich innerhalb des jeweiligen Torhauses auf um dem Regen zu entgehen. Ähnlich verhielt es sich auch am Königspalast; die Gardisten hielten zwar ihre Stellung am Eingangsportal, achteten jedoch darauf, unterhalb des großen Balkons zu stehen, der über dem Eingang thronte.
Es gab nicht viel zu tun für Cyneric und Salia, die in jenen Tagen viel Zeit miteinander verbrachten. Sie wussten beide, dass dieser Stillstand, diese angenehme Pause, nicht ewig anhalten würde. Der geheimnisvolle Brunnen der Schattenläufer hatte korrekt gezeigt, dass der Regen noch zwei Tage dauern würde, doch bis dahin hatten sie die Gelegenheit, sich ein wenig auszuruhen.
Im Inneren des Palastes hatte die Betriebsamkeit und Geschäftigkeit kein Stück nachgelassen. Cyneric bemerkte sogar, dass das Gegenteil der Fall war: Es waren sichtbar mehr Wachen und Bedienstete unterwegs, und viele der Adeligen und Würdenträger, die sonst im Palast ein- und aus gegangen waren, blieben nun dauerhaft innerhalb der roten Mauern des Komplexes.
"Sie fühlen sich hier am sichersten," meinte Salia dazu als sie gerade nebeneinander an einem breiten Geländer in der großen Eingangshalle des Palastes lehnten und von oben das Treiben beobachteten.
"Du sagtest, dass während der Rache des Meeres die meisten Attentate ausgeführt werden," erinnerte sich Cyneric, und Salia nickte.
"Gestern wurde einer der Adjutanten des Kommandanten der Stadtwache getötet," erzählte sie. "Hat den Fehler begangen, seine Mannschaft am Tor alleine zu lassen und sich ohne Begleitung auf den Heimweg zu machen. Ich finde, er hat es verdient."
Cyneric verschränkte die Arme vor der Brust. Er trug die volle Rüstung der Palastgarde, bis auf den Helm, während Salia die bronzefarbene Rüstung eines Heeresoffiziers trug. Sie wechselte ihre Identität immer wieder, doch am häufigsten betrat sie den Palast als Teressa, die in Rylthas Diensten stand und den Rang einer Unteroffizierin in der am Erebor siegreichen Armee innehatte.
"Ich denke nicht, dass es irgendjemand verdient hat, zu sterben," meinte Cyneric leise.
Salia bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. "Ganz im Gegenteil - es gibt viel zu viele Bastarde auf dieser Welt, deren Tod gar nicht früh genug kommen kann. Und dort hinten kommt gerade die Nummer eins auf dieser elendigen Liste." Sie wies nach unten, in Richtung eines der Durchgänge zu den Gemächern der Königsfamilie. Die Tore schwangen auf und der König trat heraus, gefolgt von einer Traube von Bediensteten. Seine dunklen Haare fielen ihm wirr ins Gesicht und sein Blick zuckte wie willkürlich nach links und rechts. Zwar ging er aufrechter als beim letzten Mal, als Cyneric ihn gesehen hatte, doch noch immer ging von König Goran eine geradezu unheimliche Aura des Wahnsinns aus. Für einen kurzen Augenblick hob er den Kopf und fixierte Cyneric und Salia. Die Schattenläuferin machte unbewusst einen Schritt nach hinten und ihre Hand verkrampfte sich im Griff um das Geländer, doch dann verging der Moment und der König hastete durch die Halle, auf den Ratsitz des Rats der Zehn zu, wo bereits eine hochgewachsene, in Blau gewandete Gestalt auf ihn wartete und rasch die Eingangstüre hinter Goran schloss, nachdem dieser eingetreten war.
"Eines Tages werde ich ihn töten," wisperte Salia. Es klang wie ein Versprechen.
Da für den Rest des Tages nichts Besonderes mehr geplant war, vetrieben Cyneric und Salia sich die Zeit damit, neue Gerüchte über den Krieg im Westen aufzuschnappen und diese mit den Informationen, die die Schattenläufer über den Brunnen Anntírad erhalten hatten abzugleichen. Zwar war Salias Wissen in dieser Hinsicht beschränkt, denn normalerweise war es Morrandir vorbehalten, in den Brunnen zu blicken, aber dennoch wusste Salia über einige kriegsrelevante Dinge Bescheid, die die beiden anderen Schattenläuferinnen ihr erzählt hatten.
Cyneric war froh zu erfahren, dass Rohan noch immer frei zu sein schien. Er hatte befürchtet, dass nach dem Ende des Bündnisses mit Saruman schon bald erneut der Schatten der Weißen Hand über die Riddermark fallen würde. Doch nach dem was er im Palast und von Salia erfuhr schien in Rohan im Augenblick alles in Ordnung zu sein.
Über Saruman gab es viel zu hören. Der Oberbefehlshaber aller Streitkräfte von Rhûn, ein Mann namens Khamûl, hatte am Erebor Verstärkung angefordert, denn nach seinem Sieg bei Dol Guldur war Sarumans Heer unter den dichten Kronen der Bäume des Düsterwaldes nach Norden marschiert und bedrohte nun die von Gortharia eroberten Gebiete rings um Thal und den Einsamen Berg. Spione und Kundschafter waren seither nach Westen ausgesandt worden und es gab diverse Berichte darüber, dass Saruman im fernen Westen einige Rückschläge erlitten hatte. Dennoch wurde er als große Bedrohung und als momentan stärkster Feind des Reiches von König Goran eingeschätzt. Sogar von der Ablehnung der Zwerge der Eisenberge hatte er mit seinem Feldzug abgelenkt. Noch vor wenigen Wochen hatte der König von Rhûn erwogen, ein Heer zur Festung Gráin Feuerfausts zu entsenden und das letzte freie Reich der Zwerge endgültig zu unterjochen. Doch nun wurden die Soldaten, die dafür abgestellt worden waren, an der nordwestlichen Front gebraucht.
Aus Gondor kamen nur wenige Nachrichten. Seit der Schlacht am Schwarzen Tor waren nur sehr wenige Ostlinge im Krieg gegen das südliche Königreich eingesetzt worden. Doch offenbar waren der westliche Teil Gondors und die Stadt Dol Amroth noch immer frei und leisteten Widerstand gegen die Bedrohung aus Mordor. Gemeinsam mit ihren Verbündeten aus Rohan hatten sie bislang alle Angriffe auf ihre Gebiete abgewehrt, was Cyneric zugleich hoffnungsvoll stimmte und besorgt machte, denn er hatte auch gehört, dass der Dunkle Herrscher des Schattenlandes mit jedem Tag an Macht hinzugewann. Ewig würde Gondor nicht standhalten können.
Zuletzt erfuhren Cyneric und Salia vom großen Bruderkrieg, der seit einiger Zeit in Harad tobte. Ein großer Teil der Stämme dort hatte es tatsächlich gewagt, sich von Sauron loszusagen und eine Rebellion zu beginnen. Das Land versank seitdem im Chaos. Wer die Oberhand behalten würde, war nicht abzusehen.
"Wenn sich die Haradrim von Mordor abwenden können, könnten es die Ostlinge ebenfalls tun," sagte Cyneric leise.
"Vergiss nicht, dass es nur ein Teil der Haradrim gewagt hat, gegen Sauron zu rebellieren," wandte Salia ein. "Und außerdem gibt es einen bedeutenden Unterschied zwischen Harad und Rhûn. Die Haradrim waren schon immer ein Volk, dass oft unterjocht wurde. Erst von den Númenorern, dann später von Gondor und von Mordor. Die meisten von ihnen sind dem Dunklen Herrscher nie freiwillig gefolgt. Die Ostlinge hingegen beten den Herrscher Mordors als Gott an. Hast du den großen Tempel im Stadtzentrum gesehen? Er ist dem Dunklen Herrscher geweiht. Die Haradrim mögen Sauron aus Furcht folgen, doch die Ostlinge tun es aus Überzeugung. Das ist viel gefährlicher, wenn du micht fragst."
Cyneric erkannte, dass Salia Recht hatte. Es würde viel mehr brauchen, damit die Ostlinge sich von Sauron abwenden würden. Man würde ihre Überzeugung, dass Sauron ein Gott war, beseitigen müssen...
Am darauffolgenden Tag, dem dritten Tag der Rache des Meeres und laut dem Brunnen der letzte Tag an dem es regnen würde, traf Fürst Radomir von Gorak in der Stadt ein und wurde im Palast willkommen geheißen. Cyneric beobachtete den Mann, der laut den Plänen der Schattenläufer bald den Tod finden würde mit aufmerksamen Blicken. Der Fürst wirkte auf Cyneric wie ein gewöhnlicher Mensch. Cyneric stand am Eingang zur Ratshalle der Zehn und sah zu, wie Radomir sich mit einigen Ratsmitgliedern unterhielt. Er wurde von einer Frau begleitet, die ihm ähnlich genug sah, um auf eine nahe Verwandschaft zu schließen, obwohl ihre Haare blond und seine dunkel waren. Später erfuhr Cyneric, dass es sich dabei um Rhiannon, die Schwester Radomirs von Gorak handelte, die sich ihm bei seiner Reise in die Königsstadt angeschlossen hatte. Salia sagte dazu, dass Frau Rhiannon den Fürsten oft für seine strenge Herrschaft kritisierte und schon einige Male dafür gesorgt hatte, seine Urteile ein klein wenig zu mildern, was ihr große Beliebtheit beim Volk des Fürstentums Gorak verschafft hatte.
"Wenn alles nach Morrandirs Plan läuft, wird sie ihm ins Fürstenamt folgen, wenn wir Radomir erledigt haben," flüsterte Salia.
Fine:
In der selben Nacht wurde Cyneric von Salia geweckt. Mitternacht war bereits seit mehreren Stunden vorbei, und der Sonnenaufgang war nicht mehr fern. Und da der Regen endlich aufgehört hatte, würden am folgenden Morgen wieder Sonnenstrahlen die Dächer Gortharias erleuchten.
"Bist du bereit?" wisperte Salia, die eng anliegende, dunkle Kleidung trug und einen langen Wurfspieß in der Hand hielt. An ihrer Seite hing zusätzlich ein Kurzschwert nach Zwergenart. Cyneric hatte absichtlich nicht in den Unterkünften der Palastgarde übernachtet, sondern eine der kleinen Vorratskammern im obersten Dachgeschoss des Palastes bezogen. Dort war er mit Salia im Augenblick noch allein.
Sie hatte ein einfaches Kettenhemd und einen Wappenrock aus festem, schwarzen Leder für ihn mitgebracht. Beides legte Cyneric rasch an und griff sich Schild und Schwert. Die Waffen hatte er am Abend zuvor hier oben versteckt. Es fühlte sich gut an, wieder die vertraute Form eines Rundschilds in der Hand zu halten, nachdem er jetzt schon drei Monate mit der schweren Hellebarde der Palastgarde Wache gestanden hatte.
"Ich bin so bereit, wie man es um diese Uhrzeit nur sein kann," bestätigte er.
Gemeinsam schlichen sie sich durch die leeren oberen Geschosses des Palastes. Salia hatte Cyneric erklärt, dass es zwar deutlich einfacher gewesen wäre, ihre Identitäten als Armeekommandanten und Palastgardisten zu benutzen, um sich frei im Palast bewegen zu können, doch das würde ihre Tarnung der Entdeckung aussetzen. Denn wenn sie in der Nacht, in der der Fürst von Gorak ermordet in seinen Gemächern aufgefunden wurde, im Palast zu einer so unpassenden Tageszeit gesehen würden, würde es nicht lange dauern, bis der Verdacht auf sie fiel. Deshalb verließen sie sich lieber auf Heimlichkeit.
Man hatte Fürst Radomir Gemächer im Westflügel des Palastes gegeben, was sich als Glücksgriff herausstellte. Denn im Ostflügel wohnte der König, und dieser war seitdem Tag und Nacht streng bewacht. Selbstverständlich gab es auch rings um Radomirs Schlafstätte Wachen, doch waren dort deutlich weniger, als in der Nähe des Königs.
In dem Teil des Palastes, den sie nun betraten, waren Decke, Wände und Böden in den langen Gängen aus Holz. Cyneric und Salia mussten ihre Schritte besonders vorsichtig setzen, damit das Holz unter ihren Füßen nicht knarrte. Mehrere Male entgingen sie nur knapp der Entdeckung durch eine der patrouillierenden Wachen, die Fackeln in den Händen trugen.
"Diese Narren," flüsterte Salia. "Sie sollten die Fackeln lieber ausmachen. Die Helligkeit des Feuers blendet sie nur. Unsere Augen hingegen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt und wir können gut genug erkennen, was vor uns liegt." Sie hatte recht, denn inzwischen war der Vollmond zwischen den sich zerstreuenden Regenwolken aufgetaucht und stand hell leuchtend am Himmel über der gewaltigen Hauptstadt des Reiches der Ostlinge. Durch die Fenster fiel genug Licht herein, um Cyneric und Salia den Weg zu beleuchten.
Als sie den Eingang zu Radomirs Gemächern beinahe erreicht hatten, geschah es: Unvorhergesehen bog eine schwer gerüstete Wache um die Ecke, als Cyneric und Salia gerade schutzlos inmitten des Ganges standen. Sofort zog der Mann seinen Säbel. Doch ehe er den Alarm auslösen konnte, war Salia mit einem flinken Sprung bei ihm, trat ihm gegen das Schienbein und trieb dem Mann den Wurfspieß durch die ungeschützte Kehle. Rasch streckte sie die Arme nach dem Toten aus und ließ ihn so leise wie möglich zu Boden sinken. Dann spähte sie um die Ecke, um die der Soldat gebogen war.
"Vor der Türe, durch die wir gehen müssen, um zum Fürsten zu gelangen, stehen noch zwei dieser Kerle," wisperte sie beinahe unhörbar. "Am besten locken wir sie her." Sie flüsterte Cyneric ein Wort in der Sprache der Ostlinge ins Ohr, das offenbar "Seht euch das an" bedeutete, und forderte ihn auf, es laut und im gelassenen Ton zu wiederholen. Er tat es.
Zwei Stimmen antworteten ihm, und Schritte näherten sich. Cyneric packte den Griff seines Schwertes, und machte sich bereit. Auch Salia spannte sich an, den Speer zum Wurf erhoben. Als die beiden Türhüter um die Ecke kamen, zögerte sie keine Sekunde und schleuderte die scharfe Waffe, während Cyneric sich auf den zweiten Mann stürzte. Ohne darauf zu achten, ob Salias Wurf getroffen hatte hieb er dem Wächter in einer lange geübten Bewegung die harte Kante seines Schildes mitten ins Gesicht und ließ einen raschen Schwerthieb folgen, der das Leben des desorientierten Ostlings rasch beendete.
Beide Feinden fielen tot zu Boden, was ein lautes Rumpeln verursachte. "Verdammt," zischte Salia. "Das war zu laut." Dann zog sie den Wurfspieß aus der Leiche und seufzte, ehe sie sagte: "Ich schätze, die Zeit der Heimlichkeit ist vorbei. Jetzt müssen wir uns beeilen, ehe jemand über diese Leichen stolpert."
Sie eilten zur Tür, hinter der Radomirs Gemächer lagen. Als Cyneric die Hand an den Türgriff legte, ertönte aus dem Raum dahinter ein gedämpfter, aber dennoch markerschütternder Schrei.
"Was geht da drinnen vor sich?"
"Finden wir es heraus," sagte Salia, und trat die Tür ein, die nach innen aufflog.
Sie kamen in einen großen Raum, der von einer großen Laterne erhellt wurde. Gegenüber der Eingangstür lag ein großer Balkon, der die ganze Breite der Rückwand des Raumes einnahm. Zu beiden Seiten gingen Türen in weitere, kleinere Zimmer. In der Mitte war eine hölzerne Konstruktion aufgebaut, an die der ein Mensch in aufrechter Körperhaltung gefesselt war. Der Mann war geknebelt worden und gab ein ersticktes Keuchen von sich. Und vor ihm stand Radomir, Fürst von Gorak, der Cyneric und Salia den Rücken zugewendet hatte und ein blutiges Messer in der Hand hielt.
Unzählige Schnitte und Wunden zogen sich über den geschundenen Körper des Gefangenen, von dem der Schrei gestammt haben musste, den Cyneric und Salia vor der Tür gehört hatten.
"Ah. Kaum lässt der Regen nach, zeigt sich das Gesindel wieder." Radomir drehte sich langsam zu ihnen um, eine gelassene Miene im Gesicht. "Ich bin gerade etwas beschäftigt, wie ihr sehen könnt. Kommt doch bitte ein andermal wieder."
Der Gefangene warf ihnen flehende Blicke zu und gab undeutliche Geräusche von sich. Cynerics Hand verkrampfte sich, als er den Griff seines Schwertes fester packte. Er hatte bereits Gerüchte über die Grausamkeit Radomirs von Gorak gehört, doch sie nun mit eigenen Augen zu sehen, ließen Abscheu und Zorn in ihm aufsteigen. Es würde ihm leicht fallen, diesen Mann zu töten.
"Nein," sagte Salia mit einem gefährlichen Klang in der Stimme. "Es wird kein andermal geben." Sie hob den Wurfspieß, an dessen Spitze noch immer das Blut ihres vorherigen Opfers klebte. Dann warf sie ihn mit großer Kraft.
"Ich enttäusche meine geschätzen Gäste ja nur ungerne," antworte Radomir ungerührt und wich Salias Wurf mit einer Einfachheit aus, die Cyneric zutiefst überraschte. Der Fürst hatte sich kaum bewegt. Ein kleiner Schritt hatte ausgereicht, um Salias Speer knapp an seinem Gesicht vorbeirauschen zu lassen. Die Waffe prallte gegen das Geländer des Balkons und blieb dort mit einem lauten Klirren liegen. Und in diesem Moment öffneten sich die Türen zu beiden Seiten des Zimmers, und sieben bewaffnete Krieger strömten herein.
"Ich fürchte, euer kleiner... Besuch findet nun sein Ende," sagte Radomir. "Versucht bitte, sie lebend gefangenzunehmen. Ich wäre ein schlechter Gastgeber, wenn ich ihnen nicht die ganze Fülle meiner Gastfreundschaft zukommen ließe." Sein Blick streifte den angebundenen, blutenden Mann und Cyneric erschauerte. Jetzt ging es um Leben oder Tod.
Ein lautes Krachen auf den Balkon ließ die Gruppe herumfahren. Eine schlanke, schattenhafte Gestalt war dort gelandet und war offenbar von oben gekommen. Diese Ablenkung konnten Salia und Cyneric nicht ungenutzt lassen. Salia hatte ihr Kurzschwert gezogen, und gemeinsam gingen sie zum Angriff über. Der Schatten auf dem Balkon machte eine wirbelnde Handbewegung, und drei Wurfmesser schossen hervor, die die Getroffenen vor Schmerz aufschreien ließen. Dann sprang die Gestalt mit zwei wirbelnden Klingen mitten unter die Krieger des Fürsten, die in Unordnung geraten waren, und fällte zwei von ihnen, ehe sie sich dem Fürsten selbst widmete, der in Richtung einer der Nebentüren zurückgewichen war und erbleicht war.
"Die Schatten kommen dich holen, Radomir von Gorak," wisperte die Gestalt mit eiskalter Stimme. Sie holte zum tödlichen Hieb aus, doch einer der Wachen Radomirs gelang es, den Schlag zu parieren.
Weitere Wachen tauchten im Haupteingang des Raumes auf. Cyneric und Salia erschlugen drei ihrer Feinde, wurden jedoch Schritt für Schritt zum Balkon zurückgedrängt. Cyneric sah, wie ein Ostling der schattenhaften Gestalt die Kapuze vom Kopf riss. Darunter kam Rylthas heller Haarschopf zum Vorschein. Während sich die Schattenläuferin wütend umdrehte und den Mann erstach, schlüpfte Radomir durch die Nebentür, durch die die ersten seiner Wächter gekommen waren. Salia rief Ryltha eine Warnung zu, und diese antwortete mit einem raschen Handzeichen, ehe sie die Verfolgung Radomirs aufnahm und hinter ihm her durch die Türe stürmte.
"Komm!" rief Salia, die ihr Schwert einem der wenigen im Raum verbliebenen Wachen in die Kehle geworfen hatte. Die meisten Ostlinge waren Radomir und Ryltha durch den Nebenausgang gefolgt. Salia trat auf den Balkon hinaus und ergriff etwas, das Cyneric erst einen Augenblick später als Seil erkannte. Geschwind wie eine Katze kletterte Salia daran hinauf, die Füße an der Außenwand des Palastes hochstemmend. Sie winkte Cyneric hastig zu und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Doch da stürzte sich ein Ostling auf ihn. Cyneric reagierte instinktiv und nutze den Schwung des Mannes, um ihn an den Schultern zu packen und über das hüfthohe Geländer des Balkons zu schleudern. Mit einem lauten Schrei stürzte der Ostling in seinen Tod, denn sie befanden sich auf der Rückseite des Palastes. Hier ruhte das große Gebäude direkt auf der Spitze des steilen Felsens, auf dem Gortharia erbaut worden war, und steile Klippen führten zum Meer hinab. Mit einem grauenhaften Geräusch zerschellte der Körper des Mannes in der steinigen Tiefe.
Cyneric war deutlich langsamer als Salia, doch es gelang ihm, den Balkon im Stockwerk über ihm rechtzeitig zu erreichen. Salia schnitt das Seil, das dort angebunden war ab, damit ihnen niemand folgen konnte.
"Ich hoffe, Ryltha erwischt diesen Bastard," stieß sie wütend und angestrengt hervor. Der Fluchtweg über den Balkon war von Anfang an Teil ihres Plans gewesen, doch eigentlich hätte Radomir längst tot sein müssen. Cyneric hatte seine Gardistenrüstung und Salias Offiziersbekleidung in dem Raum versteckt, den sie nun betraten und der verlassen war. Rasch zogen sie sich um. Beide hatten sie einige Schläge und Schnitte hinnehmen müssen, doch glücklicherweise waren sie beide nur leicht verletzt worden. Inzwischen war längst der Alarm ausgelöst worden, und Bewaffnete durchkämmten den gesamten Palast. Cyneric wusste, dass in diesem Chaos ein weiterer Gardist und eine Offizierin des Heeres nicht weiter auffallen würden. Sie würden entwischen... doch ob ihr Anschlag geglückt war, würden sie erst bei Rylthas Rückkehr erfahren.
Fine:
Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis endlich wieder etwas Ruhe im Palast einkehrte. Cyneric und Salia hatten sich, ihren Rollen entsprechend an der "Suche" nach den geheimnisvollen Angreifern beteiligt, die in Fürst Radomirs Gemächter eingedrungen waren. Hätten sie das nicht getan, wäre sofort Verdacht auf sie gefallen. Während sie gerade die große Halle, die direkt jenseits des Hauptportals des Palastes lag, "durchsuchten", fiel ihnen auf, dass der Großteil der Bediensteten und Gardisten in die Halle zu strömen begannen und sich der große Raum rasch füllte. Was geht hier vor? wunderte sich Cyneric.
Da öffnete sich die Türe, die zu den Gemächern des Königs führte, mit einem lauten Knall. König Goran, gehüllt in eine tiefrote Robe und mit einer blanken Klinge in der Hand, trat heraus.
"Was soll der Aufruhr um diese Uhrzeit? Was ist geschehen?"
Ein Diener - der Kleidung nach wohl einer der hochgestellten Höflinge - trat zögerlich vor. "Mein König, es... es gab einen Anschlag auf Fürst Radomir."
"Der Fürst hat überlebt, soweit wir wissen... doch auch seine Angreifer konnten entkommen," warf Rog, der Kommandant der königlichen Garde ein.
Cyneric und Salia, die recht weit vorne in der Menge standen, sahen, wie die Hand des Königs zitterte und sein Blick ziellos ins Leere ging. Dann ballte Goran die Faust und sagte leise: "Alle, die keine Gardisten oder Rangträger sind, verschwindet. Es verbleiben im Raum: Mitglieder des Rats der Zehn, der königlichen Garde, und des Heeres."
Sofort setzten sich alle in Bewegung, auf die Gorans Beschreibung nicht zutraf, und die Halle leerte sich beträchtlich. Die Gardisten nahmen Haltung an, ebenso wie die wenigen Soldaten, die ähnlich wie Salia gekleidet war. Cyneric entdeckte ganz in der Nähe auch Morrandir, die ihre prächtige Offiziersrüstung trug. Als sich die Türen hinter jenen geschlossen hatten, die der König weggeschickt hatte, wurde es totenstill.
"Dieser Palast," wisperte der König, "Ist der sicherste Ort in Gortharia." Cyneric hörte und sah die unterdrücke Wut in Gorans Stimme und Gesicht. "Ihr hattet dafür zu sorgen, dass es auch so bleibt. Es war eurer aller Aufgabe." Er machte eine kurze Pause. Dann, ohne Vorwarnung, brach es wild aus ihm heraus. "DAS WAR EIN BEFEHL! DER SCHUTZ DES PALASTES WAR EIN BEFEHL! Wie könnt ihr es wagen, euch meinem Befehl zu widersetzen? Ihr habt mich verraten. Ihr alle! Wie kann ich mich hier noch sicher fühlen, wenn ihr nicht für den Schutz des Palastes sorgen könnt?" Er schrie, brüllte, tobte und gestikulierte dabei wie wild mit der Hand. Dann sprang er mit einem Mal vorwärts und führte seine Klinge mit überraschender Genauigkeit. Der Gardist, den der König tötete, war zu überrascht, um sich zu verteidigen. Mit geöffneter Kehle starb der Mann vor aller Augen, und niemand wagte es, einzugreifen. Goran drehte sich langsam um, die blutige Klinge erhoben und ein wildes Funkeln in den Augen. "Ihr alle habt den Tod verdient für diesen Verrat! IHR ALLE!" Er wirbelte scheinbar zufällig herum und kam vor Salia zum Stehen, packte die Frau an der Kehle und richtete die Schwertspitze auf ihr Gesicht. "Selbst die Soldaten meines rumhreichen Heeres haben mich verraten," knurrte Goran. Cynerics Hand tastete nach seinem eigenen Schwert. Eher würde er Goran töten als zuzulassen, dass dieser Salia hinrichtete. Und wenn es sein Leben kosten würde.
"Für heute ist genug Blut vergossen worden," mischte sich eine neue Stimme ein, und Goran hielt inne. Die Menge teilte sich, und der Zauberer Alatar trat daraus hervor. Sein blaues Gewand schimmerte im Licht der Fackeln, die die Gardisten trugen, geheimnisvoll. Cyneric suchte Salias Blick, doch sie gab ihm ein rasches Zeichen, dass bei ihr alles in Ordnung war.
"Ah, der Ewige Berater mit seinen weisen Sprüchen," spottete der König, ließ Salia los und wandte sich Alatar zu. "Fühlt Ihr Euch hier noch sicher? Vielleicht steht Ihr als Nächster auf der Liste dieser Mörder!"
"Mein König, ich sehe, dass Ihr erschüttert von diesen Ereignissen seid. Ich bin es ebenfalls," antwortete Alatar ruhig. "Doch diese Männer und Frauen tragen keine Schuld daran. Hat sich Fürst Radomir nicht mit seinen eigenen Wachen umgeben? Hat er nicht sogar vor Euch damit geprahlt, dass sie wachsamer und geschickter als selbst die Elite von Rhûn seien?"
Goran blickte betreten beiseite. "Das hat er. Ich erinnere mich. Dieser Narr."
"Dann sollten es jene Wachen sein, die bestraft werden," schlug Alatar vor.
Der König zögerte einen Augenblick, ehe er sich aufrichtete und dann einen Befehl gab. Er wurde ohne Widersprüche ausgeführt.
An Schlaf war in jener Nacht nicht mehr zu denken. Der Geruch von verbrannten Leichen lag noch immer schwer in der Luft und würde wohl noch einige Stunden nicht verschwinden. Cyneric und Salia konnten den Scheiterhaufen, auf dem man die überlebenden Wächter Fürst Radomirs hingerichtet hatte, von ihrer Position nur allzu deutlich sehen. Sie standen in dem Raum, der Morrandir als Kommandoposten diente und der einen kleinen Balkon besaß, der auf der Südseite des Palastes gelegen war. Er bot einen guten Ausblick über die langsam erwachende Königsstadt... und den rauchenden Leichenhaufen, der auf dem großen Platz direkt unterhalb der Stufen lag, die zum Palast hinauf führten.
Sie hatten Morrandir bereits von ihrem fehlgeschlagenen Attentatsversuch berichtet. "Das ist eine enttäuschende Entwicklung," hatte die Schattenläuferin kommentiert, ohne Emotionen zu zeigen. Sie stand aufrecht mit dem Rücken zu Salia und blickte zum Fenster hinaus. Mehrere Minuten vergingen in unbehaglichem Schweigen, ehe sich die Türe zu Morrandirs Zimmer öffnete, und Ryltha eintrat.
Die blonde Schattenläuferin trug ebenfalls die Rüstung einer Offizierin, musste sich also umgezogen haben, ehe sie hierher gekommen war.
"Und?" fragte Morrandir, ohne sich umzudrehen.
"Der Mistkerl ist mir entwischt," stieß Ryltha hervor. Ihr war die Frustration allzu deutlich anzumerken. "Ich habe ihn bis in die untersten Ebenen gehetzt. Unglaublich, wie schnell dieser Mann ist. Dort ist er auf dem Rücken eines Pferdes entkommen. Vermutlich ist er schon auf halbem Weg zurück in sein Fürstentum."
"Du weißt, was zu tun ist," sagte Morrandir. Noch immer blickte sie zum Fenster hinaus auf die rauchenden Überreste des Scheiterhaufens.
Ryltha nickte. "Die Schatten werden nach Gorak ziehen. Niemand entkommt uns."
Salia, die an der Wand gelehnt hatte, richtete sich auf. "Ich bin bereit," stellte sie klar.
"Du ebenfalls, Cyneric?" fragte Ryltha in seine Richtung. "Denn du wirst Salia und mich begleiten."
"Ich werde dich von deinen Wachschichten befreien lassen," erklärte Morrandir und drehte sich bei diesen Worten schließlich um. "Ihr brecht morgen bei Sonnenaufgang auf. Seht zu, dass ihr reisebereit seid."
Cyneric verbrachte den Rest des Tages mit einer Wachschicht in den Gärten, bei dem ihm der Gardist Orvar Gesellschaft leistete. Da Orvar so ziemlich jeden in Gortharia zu kennen schien, wusste er ganz genau, worüber auf den Straßen gesprochen wurde.
"Das Ganze ist 'ne große Schande für uns Gardisten," schimpfte Orvar gerade. "Zumindest stellen es die Goldröcke so dar. Das ist ein gefundenes Fressen für diese Kröten."
Erneut wurde Cyneric an die Rivalität erinnert, die zwischen den Stadt- und Torwächtern Gortharias und der königlichen Garde des Palastes bestand. Also nickte er und sagte: "Sie werden uns trotzdem nie das Wasser reichen können."
"Da hast du verdammt recht, mein Freund," pflichtete Orvar ihm bei und schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. "Da hast du verdammt recht."
Innerlich bereitete Cyneric sich auf den kommenden Tag vor. Er würde mit den Schattenläufern nach Gorak reiten, das nordwestlich von Gortharia gelegen war und eine nur schwer zugänglichem Gebirgsregion war. Dort würden sie den Fürsten töten, der ihnen in der Nacht so knapp entkommen war. Dadurch würde Cyneric sich einen weiteren Blick in den geheimnisvollen Brunnen der Schatten verdienen, und seinen Tochter aufspüren...
Ich hoffe nur, dass das auch alles so abläuft, wie ich es mir gerade vorstelle, dachte er.
Cyneric, Ryltha und Salia zum westlichen Tor Gortharias
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