Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia

Der Königspalast

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Fine:
Cyneric aus dem Untergrund von Gortharia


Cyneric verbrachte die Nacht in der Wachstube der Palastgarde, die sich im Untergeschoss in der Nähe des großen Haupteingangs befand. Er legte sich auf das ihm zugewiesene Bett, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Die Ereignisse und Bilder des Tages verfolgten ihn.
Déorwyn lebt noch, dachte er wieder und wieder. Sie lebt noch, und sie ist irgendwo dort draußen. Sobald ich hier fertig bin, werde ich sie suchen gehen.. Er wüsste, dass dies die verlorenen Jahre nicht wieder zurückbringen würde, aber er war es seiner Tochter schuldig, sich wenigstens auf den Weg zu machen und sie wiederzufinden. Mein kleines Mädchen... wo sie wohl gerade ist? Ob sie die Schlacht die ich gesehen habe gut überstanden hat? Er wusste nicht einmal, ob diese Schlacht überhaupt schon geschlagen worden war oder ob sie nur ein Trugbild des Brunnens gewesen war. Auch das letzten Bild das er auf der Wasseroberfläche gesehen hatte bereitete ihm Kopfzerbrechen. Gestalten, die über eine schier endlose Eiswüste marschieren, grübelte er. Wo gab es so einen Ort? Es hatte nicht danach ausgehen, als ob die Szene hoch in den Bergen seiner Heimat, dem Weißen Gebirge gespielt hatte, dafür war die Landschaft zu eben gewesen. Doch wo gab es ein solches Gebiet? Cyneric wusste es nicht.
Irgendwann schlief er durch die Erschöpfung schließlich ein.

Der folgende Tag brach an und einer der anderen Gardisten weckte Cyneric, indem er ihn leicht an der Schulter anstupste und Worte in einer Sprache sagte, die Cyneric nicht verstand.
"Aufstehen, Nordmann," sagte der Gardist und wechselte in die Gemeinsame Sprache, die er jedoch nur mit starkem Akzent sprach. "Deine Schicht beginnt bald."
"Wo bin ich stationiert?" fragte Cyneric.
"Vor der Ratshalle," antwortete der Mann. "In wenigen Minuten. Eil' dich!"
Er legte rasch die Rüstung an und eilte zur Halle des Rates der Zehn. Diesmal war er im Inneren postiert und bekam so einer der Besprechungen mit, die die Ratsmitglieder abhielten.

"Späher berichten, dass an der Ostgrenze, nahe Balanjar, Reiterhorden gesichtet wurden. Doch diesmal sind es keine der Barbarenstämme, die plündernd und raubend durchs Land ziehen und dabei nur selten anhalten. Offenbar haben wir es hier mit organisierteren Verbänden zu tun, die Panzerreiter zu Felde führen und mit Strategie vorgehen," berichtete einer der Ratsmitglieder, ein Mann mittleren Alters mit kurzgeschorenen Haaren und weiten rotbraunen Gewändern.
"Danke, Herr der Spione," sagte ein anderes Ratsmitglied, der in blau gewandete Mann von dem sich Cyneric inzwischen sicher war, dass es sich dabei um einen Zauberer handeln musste. "Wenn wir den Bericht, den uns Meister Tahvo gerade gegeben hat, ernst nehmen, müssen wir bald handeln, um diese mögliche Bedrohung abzuwenden."
"Bedrohung sagt Ihr, Ewiger Berater?" warf einer der anwesenden Generäle ein. "Wer würde es wagen, das Reich von Gortharia herauszufordern, in den Tagen unseres Triumphes und auf dem Höhepunkt unserer Macht? Nur ein Narr würde sich mit unserem glorreichen Heer anlegen wollen!"
"Dennoch rate ich zur Vorsicht, General Parvan," erwiderte der Blaue. "Schon viele Reiche sind dadurch gefallen, dass sie einen vermeintlich schwächeren Feind unterschätzt und vernachlässigt haben."
"Dann sollten wir sogleich eine starke Heeresabteilung nach Balanjar entsenden," schlug ein weiterer hochranginger Armeeangehöriger ein.
Mehrere zustimmende Gesten wurden in der Runde gemacht, dann sagte der Zauberer: "Ihr habt Euren Rang erst kürzlich erhalten, General Rog, doch bereits erweist Ihr Euch als klug und besonnen. Solche Männer wie Euch braucht das Reich."
"Wir haben noch keine Nachricht von Kotyan erhalten," fügte der Herr der Spione hinzu. "Wenn er sich in Bedrängnis befindet, sollten wir schnell handeln."
"Dem stimme ich zu," sagte Rog. "Ich werde veranlassen, dass eine berittene Kompanie noch heute nach Balanjar aufbricht, und lasse eine Division zu Fuß folgen. Wir werden schon bald wissen, wie groß die Bedrohung wirklich ist."
"Sehr gut," befand der Zauberer. "Nun denke ich sollten wir uns der Lage in der Hauptstadt zuwenden. Wie wohl bereits weit und breit bekannt ist wurde vor zwei Tagen Lezstan, der Vetter des Fürsten von Dervesalend in den Mauern dieses Palastes ermordert."
"Ermordet, Alatar? Seid Ihr sicher?" fragte eine neue Stimme, die zu einem grauhaarigen Mann mit großen Leibesumfang gehörte. "Niemand hat eine Leiche gefunden. Bisher steht nur fest, dass der Mann verschwunden ist."
"Wie lange lebt Ihr bereits in Gortharia, Meister Kerkko?" fragte der Blaue zurück. "Ihr wisst nur allzu gut, dass dies das Werk eines der Attentäger-Orden gewesen sein muss. Ihr mögt euch nur für Münzen und Profit interessieren, wie es Eurer Stellung angemessen ist, doch selbst Ihr solltet genug Verstand haben, um zu erkennen, dass es sich um Mord handelt - Mord mit einem Ziel."
"Was meint Ihr? Welches Ziel?" fragte Kerkko verwirrt.
"Es gibt viele, die den Mächtigen ihren Reichtum und ihr Ansehen neiden," erläuterte Tahvo. "Sicherlich haben es die Auftraggeber darauf abgesehen, an den Fürsten von Dervesalend heranzukommen."
"Ich werde sowohl die Stadtgarde als auch die Palastwache verstärken lassen," befand Rog. "Doch dies wird nicht ausreichen, um die Sicherheit der Adligen in der Stadt zu gewährleisten."
"Ihr habt erneut Recht, Meister Rog," stimmte Alatar zu. "Um sich gegen jene, die in den Schatten lauern zu verteidigen, müssen wir unsere eigenen Spione und Attentäter aussenden. Wie steht es um die königliche Gilde der Dolche, Meisterin Ilta?"
Ilta, die einzige Frau in der Runde, warf dem Zauberer einen scharfen Blick zu. "Vieles von dem, was meine Leute betreiben, dringt nur selten an das Ohr des Volkes, ob reich oder arm. Doch wisst, dass die Gilde der Dolche Tag und Nacht zahllose Anschläge vereitelt und Verschwörungen aufdeckt. Erst kürzlich gelang es uns, eine komplette Untergrundgruppe auffliegen zu lassen und ihr Versteck an die Stadtwache weiterzugeben, die das Rattennest ausräucherte. Doch auch wir sind nicht allmächtig. Es fehlt vor allem an Mitteln. Wenn der geschätzte Meister Kerkko mir größere Anteile aus der königlichen Schatzkammer zukommen lassen würde könnte ich..."
"Mehr Anteile?" unterbrach der Schatzmeister gereizt. "Und wo soll ich die hernehmen? Ihr alle habt euch an den Strom an Reichtum, den wir aus den eroberten Gebieten im Westen und Norden bezogen gewöhnt, doch diese Quelle ist dabei zu versiegen. Thal und der Erebor sind geplündert. Wir alle werden nun bald mit weniger zurechtkommen müssen."
"Dann fürchte ich, dass die Gilde der Dolche eines Tages nicht mehr für Eure Sicherheit gerantieren können wird," gab Ilta mit einem feindseligen Unterton in der Stimme zurück.
"Bitte, meine Freunde, lasst uns nicht streiten wenn es um die Zukunft des Reiches geht," ging Alatar beschwichtigend dazwischen. "Ich werde sehen, was ich gegen die Bedrohung aus dem Untergrund unternehmen kann. Fürs Erste sollten wir uns alle darauf konzentrieren, das alles weiter in seinen gewohnten Bahnen verläuft. Der König ist nicht in der Verfassung, eine weitere schlechte Nachricht zu ertragen."

Kurz darauf endete die Sitzung des Rates der Zehn, und Cyneric wurde zum Haupteingang des Palastes abkommandiert, wo er den Rest seiner Schicht verbrachte. Er fragte sich, wo Ryltha und Morrandir gerade waren, doch bald schon drifteten seine Gedanken zurück zu seiner Tochter. Er wünschte sich nichts mehr, als ihr Gesicht noch einmal zu sehen, doch er wusste, dass er sich einen weiteren Blick in den Brunnen erst verdienen musste. Nachdenklich bezog er seinen Posten und fragte sich, was die Schattenläufer wohl als Nächstes von ihm verlangen würden...

Eandril:
Milva aus den Straßen der Stadt

Milva überquerte langsam und zögerlich den Platz. Auch wenn sie den Entschluss gefasst hatte, war sie doch keineswegs wirklich entschlossen - und außerdem wusste sie noch immer nicht, wie genau sie ihren Plan durchführen sollte. Während sie den Gardisten immer näher kam, atmete sie tief durch, und entschied sich dafür, den Mann ganz links anzusprechen. Je weniger die anderen Wächter mithörten, desto sicherer würde sie sich fühlen.
"Äh... seid gegrüßt", sagte sie nervös und leise. Milva hatte keine Ahnung, wie man einen königlichen Gardisten ansprach, denn die Soldaten in ihrer Heimat redete man am besten gar nicht direkt an, wenn man nicht zufällig eine Hure war. "Könntet ihr mir vielleicht eine Frage beantworten...?"Der Gardist legte den Kopf leicht schief und gab zunächst keine Antwort, sodass Milva die Frage wiederholte. Da beugte sich der Mann leicht vor, senkte die Stimme zu einem verschwörerischem Wisper und sagte in der gemeinsamen Sprache des Westens: "Verzeiht, gute Frau, ich verstehe die Sprache leider nicht, die Ihr da sprecht..."
Milva stutzte, und musterte das Gesicht des Mannes unter dem Helm genauer. Er sah nicht unbedingt wie ein typischer Bewohner Gortharias aus, doch in der Königsstadt trieben sich so viele verschiedene Völker herum, dass das nichts zu sagen hatte. Aber die Tatsache, dass er nur die Sprache des Westens zu sprechen schien... ebenso wie der Zwerg Aivari. War es möglich, dass dieser Gardist ebenfalls aus den Ländern des Westens hierher gekommen war?
"Also, ich..." Milva suchte nach den richtigen Worten. Während sie mit Aivari gesprochen hatte, hatte sie keine Probleme gehabt, doch jetzt, nervös wie sie war, schienen ihr sämtliche Wörter dieser Sprache entfallen zu sein. "Ich suche... also..." Sie brach erneut ab, atmete tief durch und fragte dann einfach drauf los: "Wisst ihr, ob der König von Thal hier gefangen gehalten wird? Ich hatte nämlich so ein Gerücht von einer Freundin gehört, und..." Sie wusste, wie fadenscheinig dieser Vorwand war, doch etwas besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. Andererseits hatte der Gardist keinen Grund, ihr nicht zu glauben.
Sie konnte deutlich sehen wie der Mann unter seinem Helm eine Augenbraue hochzog. Ob er amüsiert oder misstrauisch war blieb unklar. "Hast du noch nicht von der Belagerung bei Dol Guldur gehört?" sagte er und wechselte (offenbar unbewusst) zur vertraulicheren Anrede. "Ein eher weniger ruhmreicher Auftritt für die große Armee des Ostens. Die Schlacht ging verloren und die Heere des Westens triumphierten." Er klang ein wenig zu sehr so, als würde ihn diese Niederlage nicht im Geringsten stören, doch seine Stimme blieb leise genug, um die Aufmerksamkeit der anderen Gardisten nicht zu erwecken. "Unter den Gefangenen, die in Dol Guldur befreit wurden, war auch Bard der Zweite, der König von Thal. Saruman hat ihn jetzt. Dem Zauberer ist nicht zu trauen...." Er unterbrach sich und seine Augen weiteten sich ein kleines Stück. Offenbar hatte er Dinge gesagt, die er nicht hatte sagen wollen.
Dol Guldur... diesen Namen hatte Milva von Aivari schon gehört, der Zwerg hatte erzählt, in dieser Schlacht gekämpft zu haben. Und Saruman... von ihm hatte sie Gerüchte gehört, und nichts davon gut. Allerdings, soweit sie Bescheid wusste war Saruman im Augenblick ein Feind Rhûns - und ein Soldat von Rhûn würde dann wohl kaum davon sprechen, dass man dem Zauberer nicht trauen konnte.
Milva warf den anderen Gardisten, die weiterhin stur geradeaus blickten, einen raschen Blick zu, und sagte dann mit gedämpfter Stimme: "Du bist gar kein Soldat des Königs, oder?" Den Gedanken an ihren nun erfüllten Auftrag hatte sie über diese Erkenntnis beinahe vollständig verdrängt.
Der Gardist ließ leicht die Schultern hängen. "Offiziell schon, ich bin tatsächlich ein Mitglied der Palastgarde. Aber..." er unterbrach sich und seufzte. "Ich tauge wohl nicht allzu viel im Spiel falscher Identitäten und Heimlichkeiten, was? Hat Ryltha dich geschickt, um mich zu testen? Du kannst ihr sagen, dass ich daran arbeiten werde."
Milva rieb sich die Stirn, denn sie hatte das Gefühl, in eine Angelegenheit zu geraten, die  sich als um einiges zu groß für sie erweisen mochte.
Hätte ich mich doch bloß nie darauf eingelassen...
"Nein, ich kenne keine..." Bevor sie zu Ende sprechen konnte, tauchte das Bild einer dunkelblonden Kriegerin vor ihrem inneren Auge auf, die sie und Aivari vor gar nicht allzu langer Zeit vor einer Verhaftung bewahrt hatte. "Oder doch. Du meinst Kommandantin Ryltha?", fragte sie, und hielt gespannt den Atem an. Obwohl sie eigentlich nur so schnell wie möglich wieder aus dieser Stadt verschwinden wollte, strebte irgendein rebellischer Teil von ihr doch danach, mehr über diese Angelegenheit  herauszufinden.
"Na Ryltha eben. Es gibt, hoffe ich, nur eine von ihrer Sorte," antwortete der Gardist mit einem seltsamen Klang in der Stimme. "Also ist das hier nun ein Test oder nicht? So langsam frage ich mich, was dieser Geheimbund wirklich vorhat. Alle reden immer nur davon, die Fünf Fürsten und den König zu stürzen, aber passiert ist davon noch nichts." Er blickte sich um und vergewisserte sich, dass niemand lauschte. "Hast du auch schon in den Brunnen gesehen? Ich meine, das ist natürlich schon eine gewaltige Motivation. Dinge aus großer Entfernung zu sehen und in die Vergangenheit oder sogar in die Zukunft zu schauen... das muss elbische Magie sein, wenn mich nicht alles täuscht. Ich will ehrlich sein - ich bin bei der ganzen Sache nur dabei, damit ich weiß, dass es meiner kleinen Tochter gut geht."

Aus dem ganzen Redeschwall stach für Milva nur eines heraus: Die Fünf Fürsten und den König stürzen. Gänzlich unbewusst hatten sich in ihrem Hinterkopf die Probleme in ihrer Heimat und Herrscher Rhûns zu einer festen Einheit verbunden - verschwand eins, verschwand auch das andere. Und direkt darauf drang eine zweite wichtige Information zu ihr vor. Das, was der Gardist über diesen Brunnen erzählt hatte, erinnerte sie stark an die Quelle, die die Bewohner des Sternenwaldes hüteten. Hatte die Herrin vielleicht gewusst, was sie hier erwartete? War ihr Auftrag eigentlich nur ein Vorwand für andere Absichten gewesen?
"Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen...", wiederholte sie, dieses Mal laut. Dann bemerkte sie den verwunderten Blick des Gardisten, und fügte hinzu: "Äh... Verzeihung. Ich meinte natürlich..." Vielleicht sollte sie ihre Rolle einfach weiterspielen, um dem Mann weitere Informationen zu entlocken. Allerdings am besten nicht hier, wo die anderen Wächter, die ihr bereits den ein oder anderen misstrauischen Blick zuwarfen, sie ohne weiteres belauschen konnten.
"Kommt heute Abend ins Gasthaus Uldor's Rast im nördlichen Händlerviertel, dann äh... erzähle ich euch mehr." Sie wandte sich rasch ab, und ging über den Platz nach Norden davon, in der Hoffnung, möglichst selbstsicher und unverdächtig zu wirken.

Milva zurück auf die Straßen der Stadt

Fine:
Cyneric war einigermaßen zufrieden mit sich selbst. Er hatte Rylthas neusten Test offenbar bestanden und würde der Einladung der seltsamen Frau in das Gasthaus folgen, um dort wahrscheinlich einen neuen Auftrag zu erhalten. Er wusste, dass er alles tun würde was die Schattenläufer von ihm verlangten - das war es ihm wert, um einen weiteren Blick in den Brunnen gewährt zu bekommen. Die letzten Bilder, die das Wasser ihm von seiner Tochter gezeigt hatte, waren zu besorgniserregend gewesen um nicht weitere Nachforschungen anzustellen.

Er verbrachte den Rest seiner Schicht damit, so gut wie möglich der heißen Sonne aus dem Weg zu gehen. Die großen Säulen, die die steile Treppe zum Palast hinauf säumten, warfen zwar breite Schatten, doch diese verschoben sich mit dem Lauf der Sonne mehr und mehr. Schließlich konnte sich Cyneric nicht mehr weit genug mitbewegen ohne seinen Posten zu verlassen und er musste die Hitze ertragen. Er fragte sich, ob seine Tochter auch gerade von dieser Wärme betroffen war. Zwar hatte er eine verschneite Ebene und eisige Landschaften im Brunnen gesehen, doch Morrandir hatte ihm den Eindruck vermittelt, dass es sich dabei um ein Bild aus der Zukunft handelte. Cyneric hoffte, dass seiner Tochter der Weg durch dieses kalte, unfreundliche Land erspart blieb.

Gegen Ende der Wachschicht, als es Nachmittag geworden war, erhielt er Besuch von einer der Hofdamen, die aus dem Palast gekommen war. Erst auf den zweiten Blick stellte er fest, dass er sie kannte: Es war die Frau, die Ryltha als Lilja bezeichnet hatte und die dafür gesorgt hatte, dass die Leiche des von Ryltha getöteten Adeligen spurlos verschwand. Lilja schien zunächst allerdings nichts weiter als plaudern zu wollen.
"Grüß' dich, Cyneric," sagte sie in akzentfreiem Westron. "Wie läuft der Wachdienst?"
Cyneric wusste nicht recht, weshalb sie ihn das fragte. "Heute blieb bislang alles ruhig," berichtete er.
"Keine Sorge," erwiderte Lilja mit einem kleinen Lächeln. "Es wird schon bald wieder mehr als genug für dich zu tun geben."
"Was meint Ihr damit?" fragte er.
"Oh, du wirst es sehen. Aber zuerst musst du etwas für mich tun," gab sie zurück.
"Für dich? Oder für... unsere gemeinsamen Freunde?" wollte Cyneric mit gesenkter Stimme wissen.
"Für mich," sagte Lilja bekräftigend. "Es wird dir von Vorteil sein, Freunde im Palast zu haben. Also, hör zu: ich möchte, dass dies bei den Sachen von Gardist Tihomir gefunden wird." Sie ließ ein kleines, fest verschnürtes Bündel in Cynerics Hand fallen.
"Was ist das?" fragte er.
"Das ist unwichtig. Sieh einfach zu, dass es man es in der Truhe von Tihomir findet. Wie du das anstellst ist egal - lass dich nur nicht dabei erwischen." Sie nickte ihm entschlossen zu. "Du tust mir einen großen Gefallen. Das werde ich nicht vergessen." Damit drehte sie sich um und kehrte ins Innere des Palastes zurück.
Cyneric wog das Bündel einen Augenblick in der Hand. Es war sehr leicht. Was sich darin befand konnte er nicht sagen; es schien jedoch nicht fest sondern eher eine Art Pulver zu sein. Er steckte es ein.

Als die Wachablösung kam musste er sich einige Kommentare der anderen Gardisten anhören, weil er während der Schicht zweimal von Frauen besucht worden war.
"Du könntest uns etwas von deinem Glück abgeben," sagte der wachhabende Kommandant. Die Männer lachten. Cyneric tat die Bemerkungen mit einem Schulterzucken ab und machte sich auf den Weg zur Wachstube auf den tieferen Ebenen des Palastes, wo die Gardisten untergebracht waren. Zum Glück wusste er bereits, in welchem Raum Tihomir untergebracht war. Und sein Glück hielt noch weiter an, denn der Raum war verlassen. Eilig verstaute er Liljas Bündel in der offen stehenden Truhe des anderen Gardisten und verließ den Schlafsaal wieder.

Die Unterkunft der Palastgarde besaß eine eigene Küche samt Speisesaal, wo rund um die Uhr Essen bereit stand. Dies war einer der wenigen Vorteile, die Cyneric auffielen wenn er den Posten als Gardist zwischen Gortharia und Aldburg verglich: Das Essen, das der König von Rhûn seinen Wächtern zustand, war deutlich besser. Das lag allerdings daran, dass in Rohan die Nahrungsvorräte knapp waren. Da er keinerlei Zeitdruck hatte gönnte sich Cyneric ein ausgedehntes Abendessen und wartete, bis die Sonne untergegangen war. Dann ließ er sich von einem anderen Palastwächter den Weg zu dem Gasthaus nennen, in dem die Frau, mit der er am Vormittag geredet hatte, auf ihn warten wollte. Er behielt den Großteil seiner Rüstung bis auf den Helm und die Panzerhandschuhe an, verließ den Palast und machte sich auf den Weg.


Cyneric zum Gasthaus 'Uldors Rast'

Fine:
Cyneric aus den Verliesen des Palastes
Ryltha und Milva von den Straßen Gortharias


Cyneric genoss frühe Schichten. Normalerweise waren sie ruhiger als die späteren Stunden, und das war auch in Gortharia der Fall. Der Palast wurde ohnehin nur selten von Bittstellern aufgesucht. Vielmehr war es an diesem Morgen ein Kommen und Gehen von Höflingen, Adeligen und anderen Würdenträgern, die jedoch alle von den Gardisten ohne weiteres eingelassen wurden. Es ging im Palast das Gerücht, dass der Rat der Zehn der königlichen Attentätergilde deutlich mehr Geldmittel zur Verfügung gestellt hatte und dass diese nun ein wachsames Auge auf jene hatten, die im Palast ein- und ausgingen. Die Gardisten waren daher von Kommandant Rauno "Rog" angewiesen worden, Hochgestellte ohne Kontrolle einzulassen, da die Gilde der Messer des Königs die Identitäten aller, die etwas im Palast zu schaffen hatten, selbst überprüfen würde.
Orvar stand neben Cyneric und raunte ihn hin und wieder pikante Details über diverse Besucher zu. Und nicht zuletzt deswegen verging die Schicht wie im Flug.

Cyneric verstaute seine Waffen und Rüstung wie gewohnt neben seinem Schlafplatz und war erstaunt, Teressa auf seinem Bett sitzend vorzufinden. Die Schattenläuferin trug die unscheinbare Kleidung einer einfachen Bediensteten des Palasts und stand rasch auf, als Cyneric in den Raum kam.
"Hallo," sagte sie und wirkte diesmal deutlich weniger ausdruckslos. "Ryltha schickt mich. Du sollst so bald es geht in den Garten kommen, wo du Lilja zum ersten Mal getroffen hast."
Cyneric erinnerte sich wie er dabei gewesen war, als Ryltha einen Adligen aus dem Fürstentum Dervesalend ermordet hatte. Er fragte sich, was ihn wohl diesmal dort erwarten würde: immerhin war es Mittag, und nicht Mitternacht wie bei seinem letzten Besuch in den Palastgärten.
"Noch etwas," sagte Teressa leise. "Mein Name ist Salia. Erinnere mich daran, wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen." Ihr Tonfall war schwer zu deuten, doch Cyneric nickte. Salia erwiderte die Geste, atmete einmal tief durch und eilte dann hinaus, eher er Fragen stellen konnte.

In den Gärten angekommen fand er Ryltha vor, die mit einer Cyneric unbekannten blonden Frau an einem der Tische saß und offenbar Tee trank. Ryltha trug ein ansehnliches blaues Kleid, während die andere Dame ein weinrotes Kleid anhatte. Cyneric umrundete den Tisch und konnte nun einen Blick auf ihr Gesicht werfen.
"Moment mal... Milva? Bist du das?" fragte er etwas durcheinander. Die Blondine machte ein etwas betretenes Gesicht und er konnte deutlich sehen, dass sie sich in dem Aufzug eher unbehaglich fühlte.
"Kommandantin Ryltha hat darauf bestanden," erklärte sie und zupfte verlegen an dem Kleid.
"Hier im Palast ist dein Name Veijana, schon vergessen?" warf Ryltha streng ein. "Du musst dich schon an das halten, was ich dir sage."
"Was ist der Grund für dieses Treffen?" fragte Cyneric und setzte sich auf den Stuhl, den Ryltha ihm anbot.
"Ein kleiner Plausch unter Freunden," entgegnete die Schattenläuferin fröhlich. "Als hochrangiges Mitglied der Armee darf ich mir Bedienstete in den Palast mitbringen, und wenn ich einen Tee mit einem der Gardisten trinke, wird das zwar Gerüchte auslösen, aber keine schlimmen. Es ist ganz normal, dass sich Offiziere auch mal bei ihren Untergebenen nach Partnern umsehen, und die Gardisten des Königs sind ja sowieso für ihre Ausdauer bekannt. Es wird also Gerede geben, aber das wird uns dabei helfen, den wahren Zweck unseres Treffens zu verschleiern."
"Und der wäre?" frage Milva etwas ungehalten.
"Zunächst einmal haben wir eine Anweisung von Merîl erhalten, dich betreffend, Milva. Du sollst bei einer älteren Adeligen als Jägerin eingeschleust werden - das wurde bereits in Bewegung gesetzt und ich werde dir nachher erklären, um wen es sich dabei handelt und wo ihr Anwesen liegt. Dabei geht es darum, dass diese Adelige zwei Erben hat. Über lang oder kurz ist es dein Auftrag, dafür zu sorgen, dass... der Richtige der beiden alles erbt."
Milva kniff nachdenklich die Augen zusammen. "Bei der Jagd kann es schon mal zu Unfällen kommen..." sagte sie langsam.
"Sehr gut, du denkst mit, Milva," lobte Ryltha. "Ich sehe schon, du wirst mit der Angelegenheit gut zurecht kommen."
In wenigen schnellen Sätzen erklärte die Schattenläuferin Milva die wichtigsten Details zu der Adeligen, bei der sie arbeiten würde. Dann wandte sich Ryltha an Cyneric. "Für dich gibt es momentan nur eines zu tun: halte weiter die Augen offen. Du hast in letzter Zeit einige... interessante Kontakte geknüpft; es kann sein, dass sich hier womöglich eine Gelegenheit für uns ergibt, weitere Verbündete zu gewinnen." Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern und fuhr fort: "Obwohl jetzt die Schwarze Rose auf unserer Seite steht und uns unterstützt, ist es wichtig, dass wir trotzdem weiterhin aufmerksam auf solche Gelegenheiten bleiben."
Ryltha machte eine Pause und trank in aller Ruhe ihren Tee leer. Dann sagte sie: "Ihr habt vielleicht schon davon gehört, dass der königliche Gilde der Messer zusätzliche Mittel zugesprochen wurden. Das hat der Rat der Zehn nach einer langen Beratung beschlossen, und der Herr der Münzen hat sich bis zuletzt dagegen gewehrt. Am Ende war es der Ewige Berater, der Zauberer, der ihn wohl mit einem seiner Tricks dazu gebracht hat, sich der Mehrheit zu beugen. Jedenfalls sind das schlechte Nachrichten für uns, denn damit werden unsere Feinde zahlreicher werden. Es gab irgendwo in der Stadt - genau weiß ich es nicht, ich habe es von einem Mitglied der Schwarzen Rose gehört  - einen Angriff der königlichen Attentäter auf eine der kleineren Untergrundbewegungen; sie verschwenden also keinerlei Zeit. Mór und mich haben sie, wie den Großteil des königlichen Hofes, schon gründlich überprüft; aber natürlich hätten sie deutlich früher aufstehen müssen um da irgendwas verdächtiges zu finden. Wir waren am Erebor dabei und gelten unter anderem deswegen als sauber, zumal wir dem König bei unserer Rückkehr einen wichtigen Deserteur ausgeliefert haben. Das hat damals auch übrigens zu meiner Beförderung gerührt. Jedenfalls will ich, dass du vorsichtig bist, Cyneric. Unsere Feinde schlafen nicht. Halte Augen und Ohren offen nach Verbündeten, aber bring sie erst zu mir, eher du ihnen irgendetwas über die Schattenläufer erklärst, hast du verstanden?"
Cyneric nickte. Milva hingegen nutzte die Pause und fragte: "Wer sind die Schattenläufer eigentlich? Ich habe das grundsätzliche Ziel verstanden, das deine Freunde für Rhûn verfolgen, aber ich wüsste dennoch gerne mehr über euch. Wer erteilt euch die Befehle und wieviele seid ihr eigentlich?"
"Es gibt stets drei, die Merîls Willen dienen," sagte Ryltha mit Bedacht. "Mór, die Dunkelheit, Daé, der Schatten, und Rant, der Fluss. Du hast Merîl gestern ja gesehen, Cyneric - zumindest in ihrer derzeitigen Gestalt."
"Das klingt ja alles schön und gut, aber ihr könnt doch nicht wirklich nur drei sein. Und wer ist Cyneric in dieser Aufzählung? Der Fluss?" wunderte sich Milva.
"Nein, ich bin Rant," entgegnete Ryltha. "Zumindest momentan. Meine Schwestern und ich sind dafür bekannt, öfter mal die Rollen zu tauschen. Du wirst die anderen beiden auch noch kennenlernen, wenn die Zeit reif ist. Cyneric und einige andere - darunter du selbst, Veijana - sind nicht Teil der Drei sondern Verbündete, mit denen wir sicherlich einige, aber bei weitem nicht alle Geheimnisse teilen. Fürs erste musst du nur deinen Auftrag kennen. Belohnungen und weitere Antworten wird es geben, wenn du dich als weiterhin vertrauenswürdig erwiesen hast."
"Also schön," sagte Milva, stand auf und strich ihr Kleid glatt. "Dann sollte ich zusehen, dass ich diesen lächerlichen Aufzug los werde und in normalen Sachen bei besagter Adeligen aufkreuze."
"Das ist die richtige Einstellung," lobte Ryltha. "Damit wirst du es noch weit bringen."

Cyneric brachte Milva auf Rylthas Anordnung hin zum Gartentor. "Viel Glück," wünschte er ihr, ehe sie in den vollen Straßen der Stadt verschwand. Als er an den Tisch zurückkehrte, wo Ryltha ihren Tee getrunken hatte, fand er dort nur noch einen kleinen Zettel vor, auf dem stand:

Weitere Anweisungen folgen beizeiten. Vorerst Kopf einziehen und unauffällig bleiben. Augen nach Tiana offen halten. Rant.
Nachdenklich zerknüllte Cyneric den Zettel und ließ ihn in einem der Teiche verschwinden. Er fragte sich, was die Gastwirtin des Zweibeins mit all dem zu tun haben mochte...


Milva zurück auf die Straßen der Stadt

Fine:
Es verging ein Tag, an dem Cyneric Rylthas Anweisungen folgte und sich unauffällig verhielt. Er stand gemeinsam mit Orvar am Haupttor des Palastes Wache, bis seine Schicht vorüber ging, und ging abends im Zweibein etwas trinken. Tiana bekam er dabei jedoch nicht zu Gesicht. Eine der Bedienungen sagte, sie wäre bis auf weiteres beschäftigt. Also beließ Cyneric es dabei. Nun, sie wird schon wieder auftauchen, dachte er. Und sie wirkte durchaus so, als könnte sie auf sich acht geben. Er machte sich also erst einmal keine Sorgen um sie.

Am Tag darauf geschah etwas Ungewöhnliches. Der Kommandant der Palastwache, Rauno Tardan (der von allen aber stets "Rog" genannt wurde) ließ die gesamte Kompanie der Palastgarde in einem der größeren Säle des Palastes antreten. Dreihundert Mann standen nun dort, in voller Rüstung, die Hellebarden aufrecht in der Hand, und erwarteten aufmerksam die Ankündigungen, die kommen würden.
"Männer der Königsgarde!" rief Rog als er vor sie trat und die vorderste Reihe langsam abschritt. Seine Stimme hallte durch den Raum sodass selbst die hintersten Reihen ihn deutlich verstehen konnten. "Ihr alle habt König und Palast eure Treue geschworen und würdet zu seiner Verteidigung euer Leben geben."
Die Gardisten rammten bestätigend das untere Ende ihrer Stangenwaffen auf den Boden. Sie wussten, für wen sie kämpften.
"Ihr alle seid unter den vielen Kriegern des Reiches für diese ruhmreiche Position auserwählt worden, weil ihr die besten seid!" fuhr Rog fort, und erneut erklang bestätigendes Stampfen. Lob hörten die Soldaten gerne.
"Geschmiedet im Feuer des Krieges und gehärtet durch blutige Schlachten seid ihr die Elite des Reiches," rief Rog. Stampfen folgte seinen Worten.
"Und heute werden wir einige unter euch für eine noch größere Ehre auserwählen. Der König braucht Gesandte, die seinen guten Willen im Land verbreiten. Euer König, dem ihr die Treue geschworen hat, wird unter euch jene auswählen, die er für würdig erachtet, sein Ansehen und seinen Ruhm zu mehren. Seid ihr bereit?"
Bejahendes Stampfen erklang. Und hinter Rog öffnete sich eines der Tore, die in den Saal führten. Hindurch trat eine große Prozession von Adeligen, die sich im Halbkreis vor den Gardisten aufstellten, und schließlich kam tatsächlich der König selbst. Er ging etwas gebeugt und sah nicht gut aus, wie Cyneric fand. König Goran trug schwarze Gewänder und hatte ein Kurzschwert an der Seite. Sein Haar hing wirr von seinem Kopf herab und sein Blick huschte ziellos hin und her. Er hatte die Statur eines Kriegers, doch es war offensichtlich, dass er seit einigen Jahren keine Waffe mehr geführt hatte. Der König ging zu Rog hinüber und tauschte einige geflüsterte Sätze mit dem Kommandanten aus. Währendessen zog jemand anderes Cynerics Aufmerksamkeit auf sich: Der Ewige Berater, Alatar. Cyneric war sich inzwischen sicher, dass es sich bei ihm um einen Zauberer handelte. Die tiefblaue Robe, der graue Bart und der Stab, den der Mann mit sich führte, sprachen für Cyneric eine deutliche Sprache, ebenso wie die Ausstrahlung Alatars, die jeder im Raum sofort zu spüren schien. Es war eine Aura, die die Menschen in eine seltsame Unruhe verfallen ließ. Man spürte zwar keine direkte Gefahr, die von Alatar ausging, aber dennoch fühlte es sich so an, als könnte jeden Augenblick etwas Unvorhergesehens geschehen. Alatar stand links hinter dem König und betrachtete die Gardisten mit einem gewissen Desinteresse, doch Cyneric war sich sicher, dass dem Zauberer nichts entging was im Raum vor sich ging.
"Der König wird nun seine Gesandten wählen," verkündetete Rog, und die Halle wurde wieder still. Und da kam eine Veränderung über König Goran. Er richtete sich zu voller Größe auf und streckte den Rücken durch. Schneller als man es erwartet hätte ging er durch die Reihen der Gardisten und hielt immer wieder an, um sich einen der Krieger genauer anzusehen. Alle Anzeichen von Müdigkeit waren von ihm abgefallen. Und plötzlich stand der König vor Cyneric.
"Du," sagte er leise. "Gute Haltung. Vertrauenserweckendes Gesicht. Ja. Schreib' ihn auf, Junge." Der junge Schreiber, der dem König auf Schritt und Tritt gefolgt war, machte sich eine Notiz und schrieb Cynerics Namen auf. Der König wartete jedoch nicht auf ihn sondern lief schon weiter. Insgesamt wählte er ungefähr drei Dutzend Gardisten aus. Als er damit fertig war, verließ der König ohne ein weiteres Wort den Raum, und der Hofstaat folgte ihm.
"Alle, die nicht ausgewählt wurden: Wegtreten!" befahl Rog, und der Raum leerte sich. Cyneric kam sich etwas unbehaglich vor. Er wusste nicht, ob seine Erwählung etwas mit den Schattenläufern zu tun gehabt hatte oder purer Zufall gewesen war. Weitere Überlegungen wurden jedoch von Rog unterbrochen, der die Gardisten nun mit ihrer neuen Aufgabe vertraut machte.
"Jeder von euch wird mehrere Tage unterwegs sein. Die genauen Reiserouten erhaltet ihr bei eurem Aufbruch, ebenso wie genügend Proviant und etwas Geld. Euer Auftrag lautet, als Gesandte durch das Reich zu reisen. Alles weitere ergibt sich von selbst, das werdet ihr schnell merken. Gebt euer Bestes, für König und Königreich. Wenn ihr zurückkehrt erwartet euch die angebrachte Belohung. Nehmt euch den Rest des Tages zur Vorbereitung; Aufbruch ist morgen früh bei Sonnenaufgang."

Cyneric begab sich im Anschluss direkt zu Morrandir, die ihn offenbar bereits erwartet hatte. In wenigen kurzen Sätzen berichtete er von den Geschehnissen.
"Nun, das kommt unvorhergesehen," sagte die Schattenläuferin. Sie wirkte jedoch nicht besorgt. "Ich wusste zwar, dass der Ewige Berater den König dazu überredet hat, Gesandte auszusenden, aber ich hatte nicht mit deiner Erwählung gerechnet. Offenbar hat Goran willkürlich ausgewählt."
"Was bedeutet es, ein Gesandter zu sein? Wozu das Ganze?" fragte Cyneric.
"Das ist eine alte Tradition in Rhûn," erklärte sie. "Damit zeigt der König dem Volk seinen guten Willen. Die Gesandten reiten durch das Land und helfen den Leuten, dort, wo sie gebraucht werden. Da sie aus den besten Kriegern des Reiches ausgewählt und eine Vollmacht vom König erhalten haben Worte und Taten eines Gesandten in den Dörfern und Städten einiges an Gewicht."
"Den guten Willen des Königs verbreiten? Was soll das heißen?"
"Hilf da, wo du helfen kannst," stellte Morrandir klar. "Folge der Reiseroute, die dein Kommandant dir vorgibt und halte nach Ärger oder nach Leuten in Not Ausschau. Du wirst sicherlich einige Banditen bekämpfen, vermisste Personen suchen und Streit schlichten werden. Aber halte dich nicht zu lange auf. Eine oder zwei Wochen sollten mehr als genügen, das wird dir sicherlich auch Rog nochmal sagen. Vergiss nicht, wir brauchen dich hier."
"Also gut," sagte Cyneric. "Kann ich denn mein eigenes Pferd benutzen? Es steht in einem Stall am Hafen."
"Natürlich kannst du," antwortete Morrandir. "Als Gesandter kannst du tun und lassen, was du willst, solange es den König beim Volk gut stellt. Ein weiterer Vorteil an diesem Auftrag ist, dass er dich als besonders königstreu erscheinen lässt. Und vielleicht ist es ganz gut, dass du zumindest für einige Tage weder mit Ryltha noch mit mir gesehen wirst, damit wir im Fall der Fälle nicht miteinander in Verbindung gebracht werden können."
"Werde ich alleine reisen, oder mit einem meiner Gefährten aus der Garde?"
"Nein, Gesandte werden für gewöhnlich nicht zu zweit losgeschickt. Das Reich von Gortharia ist groß; da reichen drei Dutzend kaum aus. Aber Goran geht es wahrscheinlich auch eher um die umliegenden Gebiete in der Nähe von Gortharia. Du kannst dir aber durchaus Reisegefährten suchen. Eigentlich... ist das gar keine so schlechte Idee. Du könntest vielleicht Teressa mitnehmen. Es täte ihr gut, für einige Tage aus der Stadt herauszukommen. Ich werde dafür sorgen, dass sie dich unterwegs trifft."
"Gut," sagte Cyneric. "Gibt es sonst noch etwas, worauf ich achten sollte?"
"Die Rüstung der Palastgarde und insbesondere Helm und Hellebarde weisen dich beim Volk als Gesandten aus, denn normalerweise verlassen die Gardisten den Palast niemals, es sei denn, der König befiehlt es. Gesandte werden immer aus der Wache ausgewählt. Die Leute werden also erkennen, was du bist, und die meisten werden dir wohlgesonnen sein. Es kann aber auch vorkommen, dass sie dir ans Leder wollen... um den König eine deutliche Botschaft zu schicken. Sei' also vorsichtig."
"Werde ich sein," antwortete Cyneric.

Am folgenden Morgen standen die Gesandten auf den Stufen des Palastes und erhielten jeder von Rog eine Karte, auf der ihre Route eingezeichnet worden war. Cynerics Weg sollte ihn am Meer entlang nach Osten führen, in ein Gebiet, das als Kalevin-Küste bezeichnet wurde.
"Hast du ein Glück," raunte Orvar ihm zu. "Ich muss nach Süden, nach Balanjar. Da gibt's Kriegsgerüchte, und je näher man an Mordor herankommt, desto seltsamer werden die Leute. Aber in Kalevin sind die meisten dem König noch wohlgesonnen. Ist ein wohlhabendes Gebiet. Und sehr gastfreundlich."
"Viel Glück," antwortete Cyneric. "Und stell' keine Dummheiten an."
"Ha! Wirst schon sehen, ich werde denen zeigen, wie ein echter Gesandter die Dinge regelt," gab Orvar zurück.

Nachdem Rog ihnen offiziell den Befehl zum Aufbruch gegeben hatte, schwang sich Cyneric in den Sattel. Er hatte Rynescead nur einmal pro Tag gesehen, seitdem er in Gortharia war. Es war gut, wieder reiten zu können. Cyneric schlug den Weg zum Osttor ein. Doch er war kaum einige Meter weit gekommen, als sich eine Reiterin neben ihn setzte. Als er hinüberblickte fand er Teressa vor, die auf einem braunen Pferd saß und feste Reitkleidung trug. Die dunklen Haare trug sie offen und sie fielen ihr glatt über die Schultern hinab. Sie trug ein kleines Schwert am Gürtel und eine handliche Armbrust hing am Sattel. Offenbar war sie auf die Reise vorbereitet.
"Ich komme mit dir," sagte sie ohne Begrüßung.
"Hallo, Teressa... oder soll ich dich Salia nennen?" fragte er, denn er erinnerte sich an das, was sie ihm bei ihrem letzten Treffen gesagt hatte.
Einen Augenblick blieb sie still, ehe sie antwortete: "Salia ist besser. Danke, Eorling."
"Machen wir uns auf den Weg," sagte Cyneric.


Cyneric und Salia zur Kalevin-Küste

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