Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rohan
Dunharg und das Hargtal
Rohirrim:
Zarifa beobachtete, wie Cyneric und seine Tochter vor dem Schlafen gehen noch kurz ein paar Worte wechselten. Dabei konnte sie nicht aufhören, an die Ereignisse des vergangenen Tages zu denken. Nach wochenlanger Reise durch halb Mittelerde hatten sie endlich Cynerics Tochter Déorwyn gefunden. Vater und Tochter waren endlich wieder glücklich vereint. Doch Zarifa fühlte sich ein wenig, als stünde sie zwischen diesem Glück. Immer wieder schossen ihr blitzartig Gedanken in den Kopf, die ihre Stimmung trübten. Immer wieder hatte sie plötzlich ohne erkennbaren Anlass den Wunsch einfach wegzulaufen und Cyneric und Déorwyn ihrem Glück zu überlassen. Sie wollte Cyneric nicht erneut Sorgen bereiten, wo er doch gerade zum ersten Mal seit vielen Jahren seine Sorgen vergessen konnte. Doch wie würde er seine Sorgen wirklich vergessen können, wo er sich doch ständig mit ihr herumschlagen musste – einer ständigen Erinnerung an die Grausamkeit in Mittelerde.
Zarifas Gedanken rasten zu den Orten zurück, an denen ihr in ihrem Leben großes Leid zugefügt worden war. Die Kerker von Umbar. Das Sklavenlager von Fürst Radomir. Die umliegenden Berge von Gorak. Sie versuchte sich zu zwingen, an etwas anderes zu denken, doch es war, als würde sie ihre eigenen Gedanken nicht mehr kontrollieren können. Unwillkürlich begann sie zu weinen, während vor ihrem geistigen Auge nach wie vor ein schreckliches Bild nach dem anderen vorbeizog. Sie wollte wegrennen, doch ihre Beine rührten sich nicht. Wie aus weiter Ferne drang Déorwyns Stimme an ihre Ohren, so als wollte ihr Körper sie zwingen, zuzuhören.
„Wieso hast du Zarifa überhaupt mitgeschleift? Wozu brauchen wir eine Begleitung, deren Stimmung sich oftmals ohne konkreten Anlass von Fröhlichkeit in das komplette Gegenteil verwandelt? Ohne sie, wären wir doch wesentlich besser dran.“
„Das Gefühl habe ich auch. Vielleicht sollten wir uns einfach fortschleichen, sobald sie eingeschlafen ist?“
Zarifa war schockiert. Wie konnte Cyneric so etwas sagen? Sie dachte, sie wären befreundet gewesen. Zarifa wollte auf sich aufmerksam machen. Wollte, dass Cyneric und Déorwyn merkten, dass sie belauscht wurden. Doch nach wie vor reagierte ihr Körper nicht. Stocksteif stand sie da, unfähig sich zu bewegen. Sie konnte nur zusehen, wie die beiden sich langsam zu ihr umdrehten und ihr schließlich direkt ins Gesicht blickten. Alvar und Yasin starrten sie gierig an und Zarifa fuhr erschrocken aus dem Schlaf.
Es dauerte einige Sekunden, bis Zarifa realisierte, dass sie das alles nur geträumt hatte. Sie lag schweißgebadet in der Schlafstelle, die sie sich in dem verlassenen Haus eingerichtet hatte. Und das obwohl es eigentlich eiskalt war. Vorsichtig blickte Zarifa sich um. Ihr war schlecht. Déorwyn lag noch im Bett und schien zu schlafen, doch Cynerics Schlafstelle war verlassen. Und auch von Oronêl war keine Spur zu sehen. Zarifa dachte sich jedoch nichts weiter dabei. Vermutlich waren die beiden Männer einfach schon aufgestanden und bereiteten gerade ein Frühstück zu. Doch danach war Zarifa jetzt überhaupt nicht zumute. Stattdessen blieb sie noch ein wenig liegen und dachte über den Traum nach. War sie für Cyneric und Déorwyn wirklich nur eine Belastung? Wünschten sich insgeheim beide, dass Zarifa verschwinden würde?
„Das ist doch Blödsinn“, sagte Zarifa streng zu sich selbst. „Cyneric und Déorwyn waren bisher beide überaus freundlich zu mir. Wenn ich jetzt gehe, würden sie sich nur Sorgen machen. Cyneric hat mir angeboten, mich mitzunehmen und würde bestimmt nicht wollen, dass ich jetzt einfach gehe. Er war in letzter Zeit fast wie ein Vater zu mir. Und auch Déorwyn schien sich nicht an meiner Anwesenheit zu stören. Ich frage mich nur, ob sich das eventuell bald ändern wird.“
Déorwyn schnarchte laut auf und schnellte aus ihrem Bett hoch. Zarifa zuckte ob dieser plötzlichen Bewegung leicht zusammen, während die junge Frau aus Rohan hektisch durchs Zimmer blickte. Zarifa entschied sich, die Stille zu durchbrechen:
„Guten Morgen.“
„Ah, guten Morgen Zarifa“, entgegnete Déorwyn etwas zerstreut und blickte weiterhin hektisch hin und her.
„Hast du etwas Schlimmes geträumt?“, versuchte Zarifa sie zu beruhigen, doch Cynerics Tochter schien sie kaum zu hören.
„Ähm, weißt du, wo Oronêl ist?“
„Nein“, entgegnete Zarifa etwas verdutzt. „Draußen vermute ich.“
„Ich habe gerade geträumt, dass er sich mitten in der Nacht fortgeschlichen hat. Mein Vater hat ihn dabei beobachtet und ihn nicht aufgehalten“, erklärte Déorwyn hektisch. „Aber du hast vermutlich recht. Es war nur ein Traum. Mein Vater hätte das nicht zugelassen. Sie sind bestimmt beide draußen und bereiten das Frühstück zu. Wollen wir uns zu ihnen gesellen?“
„Ich weiß nicht recht“, begann Zarifa, ohne dabei zu wissen, wo dieser Satz eigentlich hinführen sollte. Sie wusste nur, dass sie lieber noch ein wenig liegen bleiben würde.
„Ach komm schon“, meinte Déorwyn nun sichtlich fröhlicher. „Du musst etwas essen.“ Sie war inzwischen aufgestanden und dabei sich etwas anzuziehen. Nur widerwillig tat Zarifa es ihr gleich.
Als sie das Haus verlassen hatten, erblickten sie augenblicklich Cyneric, der an einem Feuer stand, welches er offensichtlich gerade erst entzündet hatte. Oronêl war jedoch nirgends zu sehen. Die beiden jungen Frauen gingen rasch auf Cyneric zu und nach einer sehr kurzen Begrüßung, wollte Déorwyn von ihrem Vater wissen, wo Oronêl war. Cyneric senkte den Blick. Er hatte offensichtlich gehofft, das Thema anders anschneiden zu können.
„Was ist?“, hakte Déorwyn nach und Zarifa hörte, wie ihre Stimme leicht zitterte. Ihr gefiel nicht, worauf das Ganze hinauslief. Cyneric blickte seiner Tochter nun fest in die Augen. Er schien seine Worte mit besonderer Vorsicht auszuwählen.
„Hör zu, Déorwyn“, begann er und legte seine Hand behutsam auf Déorwyns Schulter „Es war nicht meine Absicht, dass dies geschieht. Doch Oronêl hat sich entschieden, im Schatten der Nacht fortzugehen. Er wird nicht zurückkehren.“
Déorwyn blinzelte. Es schien einige Sekunden zu dauern, bis sie die Information verarbeitet hatte. Zarifa blickte abwechselnd von Vater zu Tochter. Nun wünschte sie sich umso mehr, dass sie im Bett geblieben wäre. Sie konnte förmlich sehen, wie die Fröhlichkeit aus Déorwyns Gesicht wich und einer Mischung aus Wut, Traurigkeit und Verzweiflung Platz machte. Sie schien zunächst zu versuchen, ihre Gefühle im Zaum zu halten und die nächsten Worte mit Bedacht zu sprechen, doch die schaffte es nicht. Nachdem einige Sekunden verstrichen waren, platzten die folgenden Worte nur so aus ihrem Mund:
„Fort? Was soll das heißen, er ist fort? Und woher weißt du das? Und wenn du ihn gesehen hast, warum hast du ihn nicht aufgehalten? Hat er etwas gesagt? Und warum stehen wir hier eigentlich noch rum? Wir müssen sofort aufbrechen und ihm nach. Er darf Mittelerde nicht verlassen. Das darf er einfach nicht. Ich werde … Ich werde …“ Einen weiteren Satz bekam Déorwyn nicht mehr heraus. Sie begann heftig zu weinen und brach in den Armen ihres Vaters zusammen. Zarifa konnte das Ganze nicht mit ansehen. Bisher hatte Déorwyns Fröhlichkeit fast ein wenig ansteckend auf sie gewirkt. Sie jetzt so verzweifelt zu sehen, ließ auch in Zarifa wieder die Verzweiflung hochkochen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie vermutete, dass es ihre Worte gewesen sein könnten, die Oronêl zu seiner plötzlichen Abreise gebracht hatten. Hatte sie ihn wirklich derart verletzt?
Cyneric tätschelte seiner Tochter behutsam den Rücken und versuchte sie zu beruhigen, was ihm jedoch nur bedingt gelang.
„Hör mir zu. Ich weiß, das Ganze ist schwer für dich. Ich weiß, dass ihr beiden euch sehr nahe standet. Und genau aus diesem Grund ist Oronêl nun fort. Er hatte nicht die Kraft für einen Abschied. Er hat seine Entscheidung gefällt und will nicht, dass ihn jemand aufhält.“
Déorwyn schluchzte. „Aber das war doch der gesamte Sinn dieser Reise. Wir müssen ihm hinterher. Wir können ihn bestimmt noch einholen. Ich kann nicht akzeptieren, dass er jetzt einfach für immer fort ist. Dass ich ihn niemals wiedersehen werde.“ Bei diesen Worten musste Zarifa unweigerlich an Tekin und Ziad denken – ein Gedanke, der sie nicht gerade aufheiterte.
„Es nützt nichts, ihm jetzt noch hinterherzureisen. Er ist bereits vor Stunden losgezogen.“
„Aber dein Pferd ist schnell. Wir können ihn doch bestimmt noch einholen.“
„Ja, Rynescéad ist in der Tat sehr schnell. Aber Oronêl ist ein Elb, der nicht gefunden werden möchte. Wir werden wohl kaum in der Lage sein, ihn aufzuspüren. Er weiß seine Spuren exzellent zu verbergen.“
„Das ist mir egal. Ich will es zumindest versuchen. Ich kann nicht einfach untätig hier herumsitzen und akzeptieren, dass er ohne ein Wort des Abschieds in den Tod geht.“
„Aber er geht nicht in den Tod. Er …“
„Jaja, ich weiß, er geht nur in den Westen? Na und? Für mich bedeutet das genau das Gleiche. Er verlässt diese Welt und kehrt niemals zurück. Ich werde ihn niemals wiedersehen. Ist das wirklich etwas anderes als der Tod?“, fragte Déorwyn hysterisch und weitere Tränen kullerten ihre jungen Wangen herunter.
„Hör mir zu, Kerry“, begann Cyneric erneut den Versuch, Déorwyn zu beruhigen. Die Tatsache, dass ihr Vater sie mit ihrem selbst gewählten Spitznamen anredete, schien die junge Frau zumindest kurzzeitig abzulenken. Etwas verdutzt blickte sie ihren Vater an. „Ich habe Oronêl gesehen, als er wegschlich und mit ihm geredet. Ich habe versucht ihm einzureden, sich von dir zu verabschieden, doch sein Entschluss stand fest. Er sagte, er wolle den Abschied vermeiden, weil das die Situation für ihn nur noch schwieriger machen würde.“
„Achso, und dass er es mit dieser Aktion für mich sehr viel schwieriger machen würde, ist ihm dabei nicht in den Sinn gekommen?“
Zarifa konnte Déorwyns Ärger sehr gut nachvollziehen. Oronêl hatte sich auch aus ihrer Sicht sehr egoistisch verhalten.
„Doch, das ist ihm bewusst und er bedauert das sehr. Er sagte, ich solle dir ausrichten, dass es ihm Leid tut. Dass er sich bewusst ist, dass du ihn wohl eine ganze Weile dafür hassen wirst. Und dass er trotzdem immer an dich denken wird, weil du die beste Freundin für ihn warst, die er sich jemals hätte wünschen können.“
Bei diesen Worten kullerten neue Tränen Déorwyns Wangen herunter. „Aber … Aber …“ Ihr schien nichts einzufallen, was sie zu dieser Situation noch weiter sagen sollte. Stattdessen vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und schluchzte lautstark. Zarifa wollte sie trösten, wusste jedoch nicht wirklich wie. Vorsichtig legte sie ihrem Arm um Déorwyns Schulter und als diese nicht protestierte, umarmte Zarifa sie, ohne dabei ein Wort zu sagen. Das lag in erster Linie daran, dass ihr nichts einfiel, was sie hätte sagen können, doch es schien auch so seine Wirkung zu haben.
„Danke Zarifa“, schluchzte Déorwyn, als die beiden sich schließlich voneinander lösten. Zarifa blickte zu Cyneric, der die beiden jungen Frauen nun mit einem schwierig zu deutenden Gesichtsausdruck ansah. Er wirkte einerseits grimmig, doch anderseits auch mitfühlend und liebevoll. Zarifa kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut. Er erinnerte sie mehr als alles andere auf der Welt an Ziad – den Mann, der sie aufgezogen und beschützt hatte, als sie noch ein Baby war. Den Mann, der vor ihren Augen umgebracht worden war. Es war eben dieser Gesichtsausdruck, der Zarifa überhaupt dazu gebracht hatte, diesem damals völlig fremden Mann zu vertrauen.
Dieser inzwischen nicht mehr völlig fremde Mann schien nun etwas sagen zu wollen, zögerte jedoch ein wenig. Schließlich zog er aus seiner Kleidung eine Axt hervor und sagte: „Bevor Oronêl ging, hat er noch das hier zurückgelassen. Er wollte, dass du es bekommst. Als Andenken an ihn und an die Zeit, die ihr miteinander verbracht habt.“ Vorsichtig überreichte er diese Axt an seine Tochter, die mit einem äußerst unsicheren Gesichtsausdruck zugriff. Zarifa glaubte zu wissen, was in ihr vorging. Man konnte es förmlich an ihrem Gesicht ablesen. Einerseits war sie nach wie vor wütend auf Oronêl und würde diese Axt und alles andere, was etwas mit diesem Elb zu tun hatte am liebsten gegen die nächste Wand werfen und für immer zurücklassen. Doch andererseits war dies das letzte Andenken an einen Freund, den sie womöglich niemals wiedersehen würde. Schließlich, nach mehreren Augenblicken ließ sie die Axt sinken. „Also gut, Oronêl. Ich werde Hatholdor behalten. In der Hoffnung, dich doch noch eines Tages wiederzusehen und sie dir zurückgeben zu können.“
Wenige Minuten später hatte Cyneric ein dürftiges Frühstück zubereitet. Ihre Vorräte waren inzwischen äußerst knapp. Zarifa erinnerte sich an ihre Zeit in Umbar zurück, als sie jeden einzelnen Tag mit mangelnden Vorräten zu kämpfen gehabt hatte. Damals hatte sie sich entweder direkt die Mahlzeiten gestohlen oder aber mit gestohlenem Geld etwas gekauft. Doch seit sie Cyneric kennengelernt hatte, war dires nicht mehr nötig gewesen. Stets bezahlte er für alles, was er sich kaufte oder er bekam Sachen von Freundinnen wie der Königin des Waldlandreichs geschenkt. Und stets hatte er all seine Vorräte mit Zarifa geteilt. Genauso wie Ziad es früher getan hatte. Genauso wie Cyneric es jetzt für Déorwyn tat.
„Hier Zarifa, nimm du dir auch etwas“, meinte Kerry und bot ihr ein belegtes Brot an. Doch Zarifa war nach wie vor nicht nach Essen zumute. Sie kannte dieses Gefühl inzwischen zu gut. Sie nahm das Brot in die Hand, nahm jedoch keinen Bissen zu sich. Genau vor diesen Momenten hatte Zarifa Angst gehabt. Genau von diesen Momenten hatte sie letzte Nacht geträumt. Von Momenten, in denen sie sich wie komplett Fehl am Platz fühlte. Von Momenten, in denen die Bilder von früher sie überwältigten und sie nichts tun konnte, um ihre schlechte Stimmung zu verbergen – geschweige denn sie loszuwerden. Ein silberner Dolch kam ihr in den Sinn. Ein silberner Dolch, der durch Ziads Brust gerammt wurde und ihre Kleidung mit Blut befleckt hatte. Blut, welches sie anschließend gezwungen war von dem Dolch zu entfernen. Sie dachte an Hilfeschreie, die von niemandem gehört wurden. An ein ekelerregendes Geräusch. An Tekins wunderschönen Kopf, der abgetrennt vor ihrem Gesicht baumelte. An ein zahnloses Grinsen und den Hieb einer Peitsche.
Nun war es Zarifa, der die Tränen ins Gesicht schossen. Rasch wischte sie diese weg in der Hoffnung, dass weder Cyneric noch Déorwyn etwas bemerkt hatten. Déorwyn hatte heute schon genug Schmerz ertragen müssen und sich gerade erst wieder ein wenig beruhigt. Sie wollte sie nicht noch weiter beunruhigen. Und das Gleiche galt auch für Cyneric, der gerade erst seine Tochter wiedergefunden hatte. Und doch konnte sie nicht mehr lange so tun, als wäre nichts. Sie würde die Fassade nicht länger aufrecht erhalten können. Es war, als wären zwei Seelen in einem Körper gefangen.
Zarifa blickte traurig auf das Brot in ihrer Hand. Sie konnte es im Moment einfach nicht essen. Sie blickte auf und sah, dass Déorwyn sie genau beobachtete.
„Was ist los, Zarifa“, fragte sie und legte ihre Hand auf Zarifas Schulter.
„Ach nichts. Ich denke grad nur über den merkwürdigen Traum nach, den ich letzte Nacht hatte“, antwortete Zarifa ausweichend und als sie bemerkte, dass Déorwyn nachhaken wollte, schob sie rasch hinterher: „Es ging um Cyneric, der sich darüber beschwert hat, dass sein Leben in letzter Zeit nur noch von Frauen bestimmt würde und dass er sich davon befreien wollte. Doch dann ist ihm aufgefallen, dass er alleine leider überhaupt nichts kann.“
Déorwyn gluckste, doch Cyneric wirkte eher besorgt. Er kannte Zarifas Angewohnheit bereits, unangenehme Situationen mit Humor zu überspielen. Er sah Zarifa erneut mit diesem merkwürdigen Blick an. Diesem grimmigen Gesichtsausdruck durchzogen von Mitgefühl und Freundlichkeit. Mehr denn je erkannte sie in diesem Mann nun Ziad wieder. Den Mann, der für sie wie ein Vater gewesen war. Und nun wusste Zarifa, was sie zu tun hatte. Früher oder später würde sie keine andere Wahl mehr haben. Und je länger sie wartete, desto schlechter würde es allen Beteiligten gehen. Noch bevor Cyneric, der gerade den Mund geöffnet hatte, etwas sagen konnte, sprudelten die folgenden Worte aus Zarifas Mund: „Ich bin schwanger.“
Fine:
"Waaaaaa~??"
Kerry gelang es kaum, ein verständliches Wort von sich zu geben. Gerade eben noch hatte sie über Zarifas Witz auf Kosten ihres Vaters gekichert, doch nun fühlte sie sich, als wäre ihr der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Zarifa? Sie... sie ist schwanger? Ein hastiger Blick auf Zarifas Bauch zeigte ihr, dass sich dort noch keine verräterische Wölbung zeigte, also konnte es noch nicht allzu lange her sein, dass sie...
Dass sie...
Kerry lief knallrot an und blickte zu Boden. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der vergangene Tag war voller schockierender Ereignisse gewesen, doch das schlug dem Fass nun den Boden aus.
Cyneric hingegen reagierte vollkommen anders auf Zarifas Enthüllung. Er blieb ruhig, was Kerry ihm hoch anrechnete, und legte der jungen Südländerin sanft eine Hand auf die Schulter.
"Bist du dir sicher, Zarifa?" fragte er in neutralem Ton.
"Ja natürlich bin ich das," gab diese zurück. Etwas schroff.
"Sie wird es wohl noch am besten wissen," warf Kerry ein. Wie konnte er dies überhaupt in Frage stellen?
"Ich kenne die Anzeichen von Schwangerschaft," sagte Cyneric, "ich habe sie einst bei deiner Mutter gesehen, Déorwyn." Er seufzte leise und blickte dann wieder Zarifa an. "Alvar ist der Vater, nicht wahr?"
"Ich... ich... er hat...," stieß Zarifa hervor, die den Tränen nahe zu sein schien. "Es ist..." Der Rest ihres Satzes ging in einem lauten Schluchzen unter.
Kerry sprang auf und nahm Zarifa in den Arm. Ihre linke Schulter und ihr Zopf wurden von den Tränen der Südländerin befeuchtet, doch sie ließ Zarifa nicht los. "Alles wird gut," flüsterte Kerry beruhigend. "Wir kriegen das hin, hörst du? Wir kriegen das zusammen wieder hin. Alles wird gut, Zarifa."
Zarifa schien etwas sagen zu wollen, brachte jedoch kein Wort heraus. Es dauerte mehrere Minuten, bis sie sich weit genug beruhigt hatte, um wieder sprechen zu können.
"Ich bin doch bloß eine Last für euch," stieß sie hervor. "Ihr solltet euch über eurer Wiedersehen freuen, und euch nicht mit meinen Problemen beladen. Lasst mich einfach zurück..." murmelte sie traurig.
"Das kommt ü-ber-haupt nicht in Frage," stellte Kerry klar. "Wir würden niemals jemanden im Stich lassen, der unsere Hilfe braucht."
"A-aber du, du bist doch nur wegen Oronêl hier, Déorwyn..." schniefte Zarifa.
"Oronêl ist aber jetzt gerade nicht wichtig." Kerry biss die Zähne zusammen. Sie hatte zwar inzwischen akzeptiert, dass Oronêl seine Wahl getroffen und sie verlassen hatte, um nun doch in den Westen zu fahren, doch ihr Zorn darüber war noch lange nicht verraucht. "Wichtig ist, dass mit dir und dem Leben, das du in dir trägst, alles in Ordnung ist. Vater, wir müssen sie zu jemandem bringen, der etwas davon versteht."
Cyneric schien einen Augenblick darüber nachzudenken, dann nickte er. "Also gut. Hier können wir sowieso nicht bleiben - auch wenn dieses Dorf einst unsere Heimat war, nun ist es eine Ruine. Ich denke, wir sollten nach Aldburg gehen."
"Aldburg?" fragte Kerry. "Die alte Stadt in der Ostfold?"
"Seit dem Brand in Edoras ist es unsere Hauptstadt," erklärte ihr Vater ihr. "Dort residiert die Königin, und dort ist Marschall Erkenbrand, dem ich noch einen Bericht über die Erfahrungen, die ich in Rhûn gemacht habe, schulde. Und dort wird es auch jemanden geben, der sich Zarifa ansehen kann und ihre Gesundheit beurteilen kann."
"Sehr gut. Dann ist es beschlossen. Wir reiten nach Aldburg." Kerry ließ Zarifa los und bot ihr die Hand an, um ihr auf die Beine zu helfen. Dabei fiel ihr das Stück Brot auf, dass die Südländerin in der Hand hielt. Es war noch immer unangetastet.
"Denk daran, dass du jetzt für zwei essen musst, Zarifa," mahnte Kerry. "Du solltest nicht mit leerem Magen unterwegs sein."
"Aber..." versuchte Zarifa noch Einwand zu erheben.
"Na mach schon," sagte Kerry mit gespielter Strenge. "So furchtbar wird es schon nicht schmecken."
Während Cyneric ihr Gepäck auf den Rücken seines Pferdes lud, sorgte Kerry dafür, dass Zarifa ihr Frühstück beendete. Sie würden versuchen, im nächsten Dorf ein weiteres Pferd zu leihen und dann auf schnellstem Wege nach Aldburg zu reiten. Als alles bereit war, ging Cyneric voran, der Rynescéad am Zügel führte, dicht gefolgt von der schweigsamen Zarifa, die halb ungläubig, halb dankbar dreinblickte. Kerry hingegen warf einen letzten Blick auf das Dorf, in dem sie aufgewachsen war.
Ich bin froh, hierher zurückgekehrt zu sein, dachte sie. Ich verstehe nun besser, was damals eigentlich geschehen ist. Ich weiß, was für schlimme Dinge mir zugestoßen sind und ich weiß, dass ich von Glück reden kann, überlebt zu haben. Anderen Menschen ist es in diesem Krieg deutlich weniger gut ergangen, wie zum Beispiel die arme Zarifa. Sie seufzte und blickte zu den schneebedeckten Gipfeln hinauf, die über ihr in den Himmel ragten. Jenseits der Berge lag Gondor, durch dessen Täler Oronêl inzwischen wandern musste. Du hast gewonnen, Oronêl. Ich... werde dich ziehen lassen, so sehr es auch schmerzt. Geh' deinen Weg zu einem Wiedersehen mit Calenwen. Aber um eines bitte ich dich... Sie packte Hathôldors Griff, der sich ungewohnt in ihren zu kleinen Händen anfühlte.
"Déorwyn!" rief Cyneric, der sich bereits in einiger Entfernung das Tal hinab befand. "Nicht trödeln, meine Kleine, hörst du?"
Wenn du die unvergänglichen Lande erreichst, Oronêl... dann vergiss mich nicht. Bitte...
Sie schloss für einen letzten, langen Moment die Augen und atmete tief durch. Dann kehrte Kerry Hochborn den Rücken zu und eilte Zarifa und ihrem Vater nach, der Straße das Tal hinab folgend.
Zarifa, Cyneric und Kerry nach Aldburg
Eandril:
Narissa, Aerien, Aragorn, Gandalf, Amrothos und Irwyne aus Edoras
Immer weiter führte der Weg nach Süden durch das Hargtal ins Gebirge hinauf. Zunächst war das Tal breit, mit sanften Hängen, und von vielen Gehöften gesäumt. Von einigen Höfen stieg Rauch auf, und diese wirkten, als wären sie vor nicht allzu langer Zeit erst gebaut worden, während die übrigen verlassene Ruinen waren.
"Das Volk Rohans kehrt allmählich zurück", erklärte Gandalf.
"Aber längst nicht alle", bemerkte Narissa, mit einem Blick auf die deutlich zahlreicheren Ruinen. Gerade führte der Weg an einem großen Haus vorüber, dessen Dach vollkommen verschwunden war. Die Balken der Wände ragten wie abgebrochene Zähne in den kalten Winterhimmel.
Irwyne, die mit einem Mal blass war und unbehaglich wirkte, sagte: "Es sind viele getötet worden, als Mordor kam. Und manch einer möchte vielleicht nicht an den Ort zurückkehren, an dem er Familie verloren hat." Sie blickte zu Boden, und fügte leiser hinzu: "Ich kann das gut verstehen."
Narissa warf ihr einen Blick zu. "Was ist passiert?", fragte sie sanft. "Ich meine - natürlich nur, wenn du darüber sprechen möchtest."
Irwyne lächelte schwach. "Schon gut. Es ist jetzt zwei Jahre her, also... Als Mordor Rohan besetzt hatte, wurden meine Eltern von Orks getötet, gar nicht weit von hier. Ich habe nur überlebt, weil Amrûn mich gerettet hat."
"Amrûn klingt nicht wie jemand aus Rohan", warf Aerien, die an Narissas rechter Seite ritt, ein, und Irwyne schüttelte den Kopf. "Nein, Amrûn ist - war ein Elb. Er ist in Lórien gefallen, als Saruman angegriffen hat."
"Das tut mir leid, ich... ich weiß wie das ist", sagte Narissa.
Irwyne richtete sich ein wenig im Sattel auf, und setzte ein tapferes Lächeln auf. "Aber ich habe neue Freunde gefunden - und Familie. Und jetzt ist Gandalf hier, also wird Mordor Gondor bestimmt nicht erobern. Als er nach Rohan gekommen ist, sind die Orks auch vertrieben worden."
Narissa erwiderte nichts. Sie hoffte nur, dass Aragorn und Gandalf genug sein würden, um Gondor zu helfen...
Der Weg führte immer weiter das Tal hinauf, durch ein wieder bewohntes Dorf, das Gandalf Unterharg nannte, dann durch ein Wäldchen einen steileren Hang wie eine Schwelle hinaufführte. Oben hatte es offenbar vor kurzem kräftig geschneit, und in der aufkommenden Dämmerung hätte Narissa die Ruinen eines Dorfes an der Westseite des Tales unter der dicken Schneedecke übersehen.
"Hierher ist offenbar noch niemand zurückgekehrt", sagte sie, und stellte überrascht fest, dass ihr Atem kleine Wölkchen vor dem Mund bildete. Tatsächlich war es hier oben deutlich kälter als noch in Edoras.
Gandalf warf einen langen Blick in Richtung der Ruinen, und sagte dann geheimnisvoll: "Einige schon. Für eine kurze Zeit."
Narissa warf Irwyne einen fragenden Blick zu, doch diese zuckte nur mit den Schultern und meinte: "Gandalf spricht gern in Rätseln, das weiß jeder, der ihm begegnet ist."
"Ich spreche nicht in Rätseln, meine Liebe", erwiderte Gandalf, der den kurzen Austausch mitbekommen hatte. "Ich spiele lediglich auf Ereignisse an, die mit euch beinahe nichts zu tun haben." Sein Blick streifte Irwyne, und er fügte hinzu: "Fast nichts jedenfalls."
Irwynes Mund bildete ein stummes Oh, bevor sie sagte: "Das ist Hochborn, oder? Dann haben Oronêl und Kerry hier Kerrys Vater getroffen, das hat Oronêl mir erzählt." Beide Namen kamen Narissa bekannt vor - Kerry war das Mädchen, dass Helluin suchen wollte, und Oronêl war oft in Irwynes recht verworrenen Erzählungen vorgekommen, doch sie fragte nicht weiter nach. Stattdessen betrachtete sie Umgebung, die unter einer dicken Schneeschicht verborgen lag. Unten am Fuß des Gebirges hatte der Schnee höchstens als feine Schicht auf den Dächern gelegen, doch hier mussten sich die Pferde geradezu eine Spur hindurch bahnen. Sie schätzte, dass der Schnee hier beinahe einen ganzen Fuß hoch lag.
"Ich wusste gar nicht, dass so viel Schnee liegen kann", sagte sie leise zu Aerien, die den Kopf schüttelte. "Ich hatte davon gehört, aber gesehen... du weißt ja, in - da wo ich herkomme, fällt kein Schnee."
"Es gefällt mir ganz gut", meinte Narissa. "Die Landschaft sieht dadurch so unberührt aus. Irgendwie unschuldig und friedlich. Wenn es dabei nur nicht so kalt sein müsste." Sie schauderte unwillkürlich. In Aldburg hatten sie wärmere Kleidung bekommen, was auch dringend notwendig gewesen war, doch selbst durch den pelzbesetzten Mantel begann Narissa die Kälte zu spüren. Wenigstens schienen Gandalf und Irwyne genug davon zu haben, die Ruinen anzustarren, und setzten sich wieder in Bewegung, weiter das Tal hinauf.
Die Sonne war beinahe vollkommen hinter den westlichen Bergspitzen verschwunden, als sie das Ende des Hargtals erreichten. Die steilen Berghänge traten hier eng zusammen, und nach Süden hin versperrte ihnen ein beinahe senkrechter Hang den Weg.
"Und jetzt?", fragte Narissa, als sie ihr Pferd gezügelt hatte. "Ich dachte, hier führt ein Weg weiter nach Gondor, aber das sieht wie eine Sackgasse aus." Sie sah sich im schwindenden Licht um, konnte aber keinen Pfad entdecken.
"Das ist unser Weg", sagte Aragorn unter seiner Kapuze hervor, und deutete auf die Felswand vor ihnen. "Ein gewundener Pfad führt dort hinauf nach Dunharg. Doch es ist kein Weg, den man im Dunkeln und im Schnee nehmen sollte. Wir werden bis zum Morgengrauen rasten."
Während die anderen das Lager bereiteten, bemerkte Narissa, dass Aerien allein auf einem einzelnen Felsblock saß und nach Norden das Tal hinunter blickte. Narissa setzte sich leise neben sie, und stieß sie sanft mit dem Finger an.
"He. Ist alles in Ordnung?"
"Ja. Nein. Ich weiß nicht recht." Aerien seufzte tief, wehrte sich aber nicht dagegen, dass Narissa ihre Hand ergriff. "Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, mich an irgendetwas wichtiges nicht erinnern zu können."
Narissa erwiderte nichts, doch sie spürte ihr Herz schneller schlagen. Früher oder später würde vermutlich ohnehin herauskommen, was in Durthang geschehen war, doch sie konnte es nicht über sich bringen, etwas zu sagen. Zumindest nicht jetzt. Stattdessen strich sie einfach stumm mit dem Daumen über Aeriens Handrücken, bis diese tief durchatmete und sagte: "In letzter Zeit... hatte ich beinahe vergessen, wie schön es in dieser Welt sein kann."
Narissa folgte ihrem Blick das Tal hinunter. Die letzten Sonnenstrahlen ließen die schneebedeckten Bergspitzen rötlich erstrahlen, während das Tal bereits in tiefem Schatten lag. Dennoch war es nicht vollständig dunkel, wenn die weiße Schneedecke schien geradezu von selbst zu leuchten. "Mhm. Wenn es dabei nur nicht so eisig wäre."
"Wäre es wärmer, würde der Schnee schmelzen", erwiderte Aerien. "Aber du musst dich nicht daran gewöhnen, ich glaube, in Gondor wird es wärmer sein. Vor allem an der Küste, in Dol Amroth."
"Ich kann es kaum erwarten."
Der Morgen zog gerade erst klar und kalt herauf, als sie schon wieder aufbrachen. Im ersten Tageslicht erkannte Narissa nun auch den gewundenen Weg, der den Hang hinaufführte, und dem sie nun folgten. An jeder Kehre des Weges standen grob gemeißelte, bedrohlich wirkende Steinstatuen. "Die Puckelmänner nennt man sie", erklärte Irwyne. "Niemand weiß genau, wer sie gemacht hat und warum, doch sie stehen hier schon seit die Rohirrim nach Rohan gekommen sind."
Als sie schließlich oben ankamen, hatte sich die Sonne über die östlichen Berge geschoben, und Narissa genoss die Strahlen auf ihrem Gesicht, auch wenn sie kaum wärmten. Sie hätte sich trotz der Kälte gerne ein wenig umgesehen, doch Aragorn und Gandalf schienen es eilig zu haben, und ritten bereits ohne anzuhalten weiter, direkt auf den drohenden, massigen Berg zu, der ihnen nach Süden im Weg stand. Am südlichen Rand der Hochebene führte zwischen Reihen stehender Steine ein schmaler Pfad weiter, auf dem sie nur hintereinander reiten konnten.
Sie kamen zwischen Geröllfeldern auf beiden Seiten des Pfades hindurch, und schließlich, als der gewaltige Berg direkt vor ihnen aufragte, durch einen kleinen Wald dunkler Bäume, an dessen Ende sich eine schmale Höhlung in der Felswand öffnete.
"Die Pfade der Toten", sagte Amrothos, der bereits abgesessen war. "Zumindest sind sie das früher gewesen. Die Toten sind fort, aber ein besonders angenehmer Weg ist es trotzdem nicht."
"Und doch der sicherste und kürzeste Weg zwischen Gondor und Rohan", erwiderte Gandalf, der einen weißen Kristall an die Spitze seines Stabes gesetzt hatte. Er sagte leise ein unverständliches Wort, und der Kristall leuchtete auf und verbreitete ein weißes Licht.
Aragorn hatte gerade eine Fackel entzündet, und fügte hinzu: "Wenn man nicht den weiten Weg über das Kap von Andrast auf sich nehmen möchte - und dazu fehlt uns die Zeit."
Gandalf setzte sich an die Spitze. "Folgt mir. Die Toten mögen fort sein, doch der Weg ist dunkel und gefahrvoll, wenn man den Pfad nicht kennt."
In dem Tunnel, der sich lang hinzog und viele Biegungen machte, war die Luft stickig und trocken, und Narissa fühlte sich eingeengt und gefangen. Irgendwann verlor sie das Zeitgefühl, und sie hätte nicht sagen können, ob sie erst seit einigen Augenblicken in den Tunneln unterwegs waren, oder schon seit Tagen. Sie blickte stur geradeaus auf Aeriens Rücken, den sie im schwachen Licht der Fackel und von Gandalfs Stab geradeso erkennen konnte, und die Wärme ihres Pferdes neben ihr versicherte ihr, dass sie nicht alle längst gestorben waren.
Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit die sie stumm im Dunkeln marschiert waren, verbreiterte sich der Gang, und von vorne fiel ein kaltes Licht hinein. Schon im nächsten Augenblick stolperte sie hinter Aerien hinaus ins Licht des Tages.
Die Sonne war, seit sie die Pfade der Toten betreten hatten, schon weit den Himmel hinaufgeklettert, und schien ihnen jetzt von Süden aus beinahe direkt ins Gesicht. Narissa schloss für einen Augenblick die Augen und genoss die Sonnenstrahlen, bevor sie sich nach den anderen umsah.
Aerien, Irwyne und Amrothos wirkten alle ebenso blass und erschöpft wie sie selbst sich fühlte, während Gandalf vollkommen unverändert aussah. Aragorn stand ein wenig abseits und blickte über das grüne Tal hinunter nach Süden.
Hier auf der südlichen Seite des Gebirges lag weitaus weniger Schnee als in Rohan. Nur die höchsten Hänge waren schneebedeckt, und weiter unten wurde die weiße Schicht immer dünner und hörte schließlich ganz auf. Jenseits der Hänge des Gebirges breitete sich ein hügeliges, grünes Land aus, mit kleinen Wäldern und weiter im Süden kahlen Getreidefeldern. Und ganz weit im Süden glaubte Narissa den fernen Glitzer der Sonne auf dem Meer wahrzunehmen, aber vielleicht war das auch eine Sinnestäuschung.
Während sie noch nach Süden über das Land blickte, warf Aragron mit einer plötzlichen Bewegung seine Kapuze ab.
"Ich möchte mich nicht wie ein Dieb in der Nacht nach Gondor schleichen", sagte er. "Dies ist mein Königreich, vom Gebirge bis zum Küstenstrich, und zumindest für diesen Augenblick will ich Elessar sein, der König von Gondor, und nicht Streicher aus dem Norden."
Er wandte sich zum Rest der Gruppe an, und in diesem Augenblick schienen sämtliche Furchen und Spuren von Zeit und Leiden aus seinem Gesicht verschwunden zu sein, und er wirkte ganz und gar wie ein König. Ohne ein bewusste Entscheidung ging Narissa auf ein Knie nieder, den Schnee nicht achtend, und sagte: "Ich werde dir bei allem was kommt so gut zur Seite stehen, wie ich kann. Mein Vorfahr Palandras schwor deinem Vorfahr Isildur einst einen Eid - Nai i vorondar endoron, hyarna yo formenya i utúlië númenórello, óven astaroya sé oht'ill ta nai hain númeheruvir ohilyar. Nai tiruvantes i hárar mahalmassen mi númen.. Und daran werde ich mich halten." Als Kind hatte sie die Quenya-Worte auswendig gelernt, und sie nie vergessen.
Auf einmal kniete Aerien neben ihr, und senkte den Kopf. "Es gibt keinen Eid, den meine Vorfahren deinen schworen, also werde ich die erste sein. Doch ich schwöre, ich werde an deiner Seite kämpfen, bis die Dunkelheit besiegt ist und darüber hinaus... mein König."
Mit langsamen Schritten trat Amrothos näher, und auf seinem Gesicht mischten sich ungläubiges Erstaunen und Ehrfurcht. "Ich hatte eure Rückkehr für unmöglich gehalten", sagte er, bevor er an Narissas anderer Seite auf die Knie ging. "Mein Schwert und alle Hilfe, die ich euch bieten kann, stehen euch zur Verfügung, mein Lehnsherr."
Aragorn räusperte sich, und der Augenblick verging. Mit einem Mal sah er nicht mehr aus wie ein König aus alter Zeit, sondern wie der Waldläufer, mit dem sie seit Mordor gereist waren. "Ich danke euch, meine Freunde, und... erhebt euch." Er setzte seine Kapuze wieder auf, und wandte sich an Amrothos und Irwyne. "Ich muss euch bitten, geheimzuhalten, was ihr gerade erfahren habt. Sprecht mit niemandem darüber, bis ich selbst beschließe, mich zu offenbaren." Beide nickten, Amrothos ernst und Irwyne eifrig, während Aragorn sich Gandalf zuwandte, dessen Miene nicht zu deuten war.
"Verzeih mir, alter Freund. Doch ich konnte nicht anders."
"Was geschehen ist, ist geschehen", erwiderte der Zauberer. "Lass uns hoffen, dass der Feind keine Späher in der Gegend hat. Mordor wird noch früh genug erfahren, dass der König nach Gondor zurückgekehrt ist, und die Vergeltung wird dann rasch erfolgen - und zwar hart."
Aragorn, Gandalf, Amrothos, Irwyne, Narissa und Aerien nach Gondor
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