Ein unbekannter Auftrag:
„Wir haben einen Menschen gefangen, der versucht hat, in die Schatzkammer eines Tempels einzudringen!“
Bei dieser Nachricht sträubten sich die Schuppen im Nacken von Krigzal, dem Hauptmann der Tempelwächter der Stadt Vulkan. Der Wächter, der ihm die Nachricht überbracht hatte, war ein Drakäer. Für seine Rasse hatte er die typische dunkelgrün geschuppte Haut. Nur die Brust war ungeschuppt, mit weißer Haut. Er hatte eine vorstehende Schnauze mit riesigen Nüstern und Ohren, die an kleine Drachenflügel erinnerten. Seine Augen waren weiß, die Iris schlitzartig, und an Fingern und Zehen hatte er kurze gebogene Krallen. Alles in Allem erinnerte sein Körperbau an den eines muskulösen Menschen. Diese Ähnlichkeit kam daher, dass Drakäer einer hybriden Rasse angehörten, die vor Jahrhunderten aus einer Verbindung von Menschen und Drachen entstanden war.
Wie es sein Rang als Tempelwächter vorschrieb, war der muskulöse Oberkörper des Drakäers, der Krigzal gegenüber stand, nackt. Er war nicht mehr als ein Novize, da noch keine Runen der großen Götter seine Brust zierten. Neben einem einfachen weißen Schurz trug er nur noch goldene Arm- und Beinschienen, sowie einen offenen, goldenen Helm. Bei hochrangigeren Tempelwächtern wie Krigzal waren Scheinen und Helm noch mit Edelsteinen verziert. Als Waffe trug der junge Novize noch einen vergoldeten Speer mit sechs Widerhaken. Sechs war die heilige Zahl der Drakäer, denn sechs Götter waren es, die die Erde beherrschten.
Der für die Drakäer wichtigste Gott war Vulkan, nach dem die Hauptstadt der Feuerlande benannt war, der Gott des Feuers und der Schmiedekunst. Es gab jedoch noch Aquaria, die Göttin des Wassers und der List, Quetzacoatl, den Gott der Lüfte und der Weisheit, und Mir, den Gott der Erde und der Stärke. Die beiden mächtigsten Götter jedoch waren Aureia, die goldene Göttin des Lichts und der Treue, und Kronos, der Gott der Schatten und der Lüge. In Vulkan gab es für jeden Gott einen großen Tempel, und die Aufgabe der Tempelwächter war es, sie alle zu beschützen.
Krigzal war der Anführer der Tempelwächter, was seine Rubinbesetzten Schienen und der mit Saphiren geschmückte Helm bestätigten. Er war ein stattlicher Drakäer, der durch seinen Posten hoch angesehen war. Es gab nämlich keine größere Ehre für einen Drakäer, als von den Göttern zum Tempelwächter berufen zu werden. Jeder neue Templer wurde nämlich mithilfe eines komplizierten spirituellen Rituals schon als Junges ausgesucht und von klein auf von den anderen Wächtern aufgezogen. Für Krigzal gab es keine edlere Aufgabe, als die Heiligtümer der Götter auf Erden zu bewachen.
„Sag mir, in welchem Tempel wurde der Mensch aufgegriffen und was hatte er dort vor, dass er unerlaubt eindringen musste?“, fragte Krigzal den Novizen. Dieser zuckte nur die Schultern und antwortete: „Er weigert sich, etwas zu sagen. Außerdem spricht er eine mir unbekannte Sprache. Wir hoffen, Ihr werdet ihn verstehen können, wenn Ihr zu ihm kommt. Wir haben ihn bereits hierher gebracht.“
„Dann führe mich zu ihm!“
Die Wachtkammer in Vulkan war ein ummauertes viereckiges Gebiet mit mehreren zusammengehörenden Gebäuden, wo die Tempelwächter lebten. Es gab zwei Tore, durch die man das Gelände betreten konnte: Eines im Osten, welches der Göttin des Lichts geweiht war, und eines im Westen, welches dem Gott des Schattens geweiht war. Der Gott des Schattens wurde von den Drakäern nicht als durch und durch böses Wesen angesehen, auch, wenn er durch die Lügen, die er verbreitete, meist Zerstörung mit sich brachte. Ebenso wenig war die Göttin des Lichts rein gut, denn sie schickte Blitze vom Himmel, die des Öfteren in den Boden einschlugen und heftige Brände verursachten.
Durch die Mitte der Wachtkammer zog sich die graue Straße, das Symbol der Einigkeit von Licht und Schatten. Nördlich dieser Straße befanden sich die Übungs- und Lehrplätze der Tempelwächter, südlich davon die Schlafstätten und die Speisekammer. Im Zentrum dieses südlichen Teils der Wachtkammer befand sich das sechs Stockwerke hohe, sechseckige Gerichtsgebäude, in welches Gefangene und Verbrecher gebracht wurden. Die Tempelwächter waren nämlich auch die Richter der Stadt Vulkan, und ihre Urteile wurden stets geachtet und nie in Frage gestellt.
Im ersten Stockwerk des massiven Gebäudes befanden sich ein Befragungsraum für Verdächtige und Zeugen, und eine riesige Folterkammer mit allen nur erdenklichen Werkzeugen, die jedoch meistens nicht gebraucht wurden, da sie schon so schrecklich anzusehen waren, dass ein jeder lieber ohne sie gestand. Im zweiten Stockwerk befanden sich ein Verhandlungssaal für öffentliche Gerichte, sowie ein Raum, in dem Todesurteile vollstreckt wurden. Im dritten, vierten und fünften Stockwerk befanden sich die Zellen für die Gefangenen. Je nach Ausmaß ihrer Strafe wurden ihnen die Stockwerke zugeteilt: Schwer Verurteilte befanden sich weiter unten, leicht verurteilte weiter oben. Die drei Gefängnisstockwerke waren noch nie voll gewesen, doch sie waren so angelegt, dass das Gerichtsgebäude über genau sechzig Zellen für je sechs Gefangene verfügte, zwanzig in jedem der drei Stockwerke. Im sechsten Stockwerk schließlich hauste Krigzal, der Anführer der Tempelwächter. Er sollte so hoch über der Stadt wohnen, um besser Zwiesprache mit den Göttern halten zu können. Ebenso war es mit den Gefangenen: Je eher ihre Taten zu entschuldigen waren, umso höher waren ihre Zellen gelegen, sodass die Götter ihre Gnadengebete eher erhörten. Damit die Götter jedoch nichts von den grausamen Foltermethoden mitbekamen, befand sich diese ganz Unten.
Krigzal war von dem Novizen in das erste Stockwerk des Gerichtsgebäudes geführt worden. Die Mauern waren aus festem Stein, und eine Wendeltreppe verband alle sechs Stockwerke miteinander. Nur wenige Meter zur linken Seite der Wendeltreppe befand sich das zweiflügelige Ausgangstor des Gerichtsgebäudes, zur rechten Seite war ein mehrere Meter langer, von Karfunkelsteinen erleuchteter Gang. Das erste Stockwerk war nämlich das einzige, welches keine Fenster besaß. Die linke Türe führte zum Befragungsraum, die Rechte zur Folterkammer. Der Novize öffnete die linke Türe und deutete Krigzal, einzutreten. Der Befragungsraum war sehr geräumig, sodass viele Tempelwächter einer Befragung beiwohnen konnten. Der Tisch in dessen Mitte machte gerade einmal ein Zehntel des gesamten Raumes aus. An diesem Tisch befanden sich zwei Stühle, sodass der Befrager und der Befragte immer sitzen konnten. Der Eine war leer, doch auf dem Anderen saß ein Mensch mit trotzigem Gesicht. Zwei Tempelwächter versuchten stehend, auf ihn einzureden, doch er brüllte ihnen nur Wörter aus einer unverständlichen Menschensprache zu. Wahrscheinlich waren dies Beleidigungen, doch nicht einmal Krigzal wusste, was sie bedeuteten. Als die zwei Wächter ihren Anführer bemerkten, verstummten sie und wandten sich ihm zu, seine Befehle erwartend. Er verhandelte lieber selbst und alleine, das wussten sie.
Mit einer raschen Geste bedeutete Krigzal den beiden anderen Drakäern, den Raum zu verlassen und die Tür zu bewachen. Der Novize hatte es nicht einmal gewagt, ihm zu folgen. Als er dann mit dem Menschen im Raum allein war, setzte er sich auf den zweiten Stuhl und betrachtete sein nun stilles Gegenüber.
Dieser Mensch war männlich, in der Blüte seiner Jahre und hatte helle Haut. Daher war er wohl einer vom Kontinent Latinien. Unter seiner ärmlich anmutenden Kleidung aus einem Kartoffelsack und einem schmutzigen Hemd erkannte Krigzal ein nicht besonders gut verborgenes Kettenhemd. Die Haare des Menschen waren kurz und braun, seine Augen von tiefem Blau, und aus seinem Gesicht leuchteten Hass und Trotz hervor. Dies war der erste Mensch, der dem obersten Tempelwächter nicht als Händler, sondern als Gefangener begegnete. Normalerweise interessierten sich die meisten Menschen vom Kontinent nicht für das Reich der Drakäer, nur einige Händler der Insel Katalaunien hielten regelmäßig mit ihren Schiffen an den Küsten der Feuerlande an.
Der Drakäer versuchte es zuerst in der Sprache der katalaunischen Händler, welche er schon gut beherrschte. „Wer bist du und was willst du?“, fragte er den Menschen, doch er erhielt keine Antwort. Vielleicht wollte er ihm einfach keine Antwort geben, vielleicht aber verstand er ihn auch nicht. Krigzal überlegte. Die meisten Latinier, auch die Katalaunier, hatten dieselbe Religion, die jedoch nur einen Gott besaß. Ihre Glaubensschriften waren laut den Händlern alle in der latinischen Sprache verfasst, die er selbst auch beherrschte, wenn auch nicht so gut wie die katalaunische. Wenn der Mensch hier diesem Glauben angehörte, dann müsste er diese Sprache wohl beherrschen.
„Wer bist du und warum wolltest du in den Tempel eindringen?“, fragte Krigzal den Menschen in der latinischen Sprache. Dieser verzog vor Ärger sein Gesicht und erwiderte in derselben Sprache: „Geht dich nichts an, wertloser Halbmensch! Möge der Herr dich auf ewig in der Hölle schmoren lassen, weil du meinen heiligen Auftrag behindert hast!“
„Was für ein Auftrag?“, hackte der Drakäer nach. Die Miene des Menschen blieb weiterhin stur. „Ich frage dich noch einmal: Worin besteht dein Auftrag?“ Wieder bekam er keine Antwort. Für Krigzal war das bereits normal. Keiner der Befragten hatte jemals schon beim ersten Mal etwas gesagt. Doch es gab ja zum Glück Methoden, jemandem zum Sprechen zu bewegen! Der Drakäer hob seine rechte Hand und zeigte dem Menschen seine Klauen. Dann stand er auf und ging auf ihn zu. Schon begann der Latinier, nervös hin und her zu blicken. Die Waffen waren ihm alle abgenommen worden, also hatte er keine Chance, sich zu verteidigen. Entkommen konnte er auch nicht, da die anderen Tempelwächter vor der Türe Wache hielten.
Bei dem Menschen angelangt, setzte sich Krigzal vor ihm auf den Tisch hin. Er setzte seine Klaue auf den Saum des Kartoffelsacks, und begann, ihn mit der Kralle aufzuschneiden. Nach und nach kam das Kettenhemd zum Vorschein. Der Mensch war starr vor Schreck, und schon rollten ihm die ersten Schweißperlen von der Stirn. Er begann zu murmeln: „Allmächtiger Herr, lass mich nicht im Stich...“
„Was ist dein Auftrag?“
„... ich habe stets deine Gebote geachtet und mich nie gegen dich versündigt...“
„Was wolltest du im Tempel?“
„... lass mich nicht im Stich, ich habe es für dich getan...“
Nun riss dem Drakäer die Geduld. Er packte den Linken Oberarm des Menschen mit beiden Händen und knickte ihn, dass die Knochen darin barsten. Der Mensch schrie schrill auf und verfluchte ihn, doch er brüllte zurück: „Sag mir, wozu du hergekommen bist!“
„Elender Halbmensch! Der Herr wird dich bestrafen!“
„Was hast du im Tempel des Vulkan gesucht!?“
„Der heilige Vater wird euer Land vernichten, wenn er von euch erfährt!“
„Sag mir, was dein Auftrag ist! Ich bin noch zu viel mehr fähig!“
Der Mensch hörte auf zu schreien, doch seine rechte Faust schoss nach Vorne und traf Krigzals Gesicht. Der Tempelwächter spürte den Schlag nicht einmal richtig aufschlagen, und schon zog sich die Faust wieder zurück, aufgeschlitzt von den scharfen Schuppen im Gesicht des Drakoniers. Ungläubig starrte der Mensch zuerst auf seine blutige Rechte, dann auf seinen gebrochenen linken Arm. Schließlich wich jegliche Farbe aus seinem Gesicht, und er sank fassungslos zusammen.
„Nun gut...“, murmelte er: „Ich werde dir sagen, wozu ich hier bin... In Latinien ging die Kunde von einem Auftrag des heiligen Vaters des Glaubens um. Alle Ritter, die dem Herrn dienen wollen, sollen sich zu den Feuerlanden aufmachen, um...“