Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia
In den Straßen von Gortharia
Eandril:
Salia warf einen Blick von Milva zu Fiora und zurück, und schüttelte dann den Kopf. "Die Schattenläufer und die Schwarze Rose, Milva? Man kann dir nicht vorwerfen, dir uninteressante Freunde zu suchen."
Milva zuckte ein wenig verärgert mit den Achseln. "Ich habe mir beide nicht freiwillig ausgesucht, das solltet ihr nicht vergessen."
"Du hättest aber genug Möglichkeiten gehabt, dich aus dem ganzen Schlamassel heraus zu ziehen", widersprach ihr Fiora. "Im Übrigen ist das jetzt egal, du steckst genau wie wir über beide Ohren drin." Der Gedanke besorgte Milva - zum ersten Mal seit längerer Zeit wurde ihr bewusst, wie tief sie sich eigentlich in den Intrigen Gortharias verstrickt hatte. Salias nächste Worte machten es nicht besser. "Da wären die Schattenläufer, ihre... Kollegen von der Schwarzen Rose, ein aufstrebender Händler, der gute Aussichten hat, die Gilde zu übernehmen, und zu guter letzt das Haus Bozhidar, eines der einflussreichsten Adelshäuser der Stadt", zählte sie auf.
"Ich könnte die Stadt verlassen", gab Milva zurück. Der Gedanke hatte seinen Reiz. "Ich könnte nach Dorwinion zurückkehren, und mein altes Leben wieder aufnehmen. Das könnte ich. Und dann wäre ich das alles los."
Salia wechselte einen mitleidigen Blick mit Fiora. "Könntest du das wirklich tun?", sagte Salia leise. "Gehen, und nie zurückkehren? Trotz allem, was du weißt?"
Milva atmete tief durch, und antwortete schließlich: "Nein. Wahrscheinlich könnte ich das nicht."
Fiora, die die Arme vor der Brust verschränkt hatte, nickte äußerst selbstzufrieden. "Schön. Da wir das geklärt haben, könnten wir jetzt zur Sache kommen?"
"Ich habe gefürchtet, dass das kein Höflichkeitsbesuch sein soll", stellte Milva schicksalsergeben fest. Fioras dunkle Augen funkelten. "Goran wird heute zum ersten Mal seit langer Zeit die Sicherheit seines Palastes verlassen, um sich seinem Volk zu zeigen. Wir haben einen Plan, doch wir könnten eine weitere Absicherung gut gebrauchen. Und zufällig kenne ich da eine recht passable Bogenschützin..."
Milva verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust, und imitierte damit unbewusst Fioras Haltung. "Das heißt, ich soll auf irgendeinem Dach hocken, darauf warten, dass Goran vorbeikommt, und ihn dann erschießen?"
"Freut mich, dass du es so schnell begriffen hast", erwiderte Fiora. "Wahrscheinlicher ist allerdings, dass du gar nichts tun musst, denn wir haben mehr als einen Plan, und Goran wird vermutlich bereits tot sein, bevor er dich erreicht. Außerdem würde ich Goran ohnehin liebend gerne selbst den Rest geben." Sie blickte zu Salia, deren Miene nicht zu deuten war. "Du kannst meinetwegen mit ihr gehen, zur Sicherheit."
Milva befingerte nervös das Ende ihres Zopfes. "Und was, wenn ich Nein sage?"
Fiora lächelte selbstgefällig, als sie antwortete: "Du wirst nicht Nein sagen."
Natürlich hatte Fiora recht behalten, und so hockte Milva nun in unbequemer Haltung auf dem Giebel eines Daches, hinter dem Schornstein vor neugierigen Augen auf der Straße verborgen, den Bogen in der Hand und die rechte Hand locker auf die Sehne gelegt. Es machte ihr nichts aus, denn auf der Jagd hatte sie mehr als nur einmal in ähnlich unbequemer Position eine Stunde oder mehr warten müssen, dass das Wild sich zeigte. Dieses Mal jedoch hoffte sie, das Wild gar nicht erst zu Gesicht zu bekommen, denn das hätte bedeutet, dass alle vorherigen Mordversuche der Schwarzen Rose gescheitert waren.
Sie ließ den Blick über die Nachbardächer schweifen. Auf einem der Dächer verbarg sich Salia. Milva war sich nicht sicher, was die ehemalige (?) Schattenläuferin wirklich vorhatte. Scheinbar hatte sie Fioras Plan, Milva auf ihrem Posten zu beschützen, zugestimmt, doch Milva konnte nicht anders als zu vermuten, dass Salia noch eigene Pläne verfolgte. Vielleicht hatte sie sogar vor, Goran selbst zu töten - nicht, dass Milva etwas dagegen gehabt hätte. Ihr kam es nur darauf an, dass Goran stürzte, und am besten das gesamte Reich von Gortharia gleich mit. Wer Goran nun den letzten Stoß versetzte, war ihr herzlich egal. Was wiederum die Frage aufwarf, warum ausgerechnet sie hier oben auf dem Dach hockte. Sie fand keine befriedigende Antwort auf diese Frage.
Während Milva wartete, auf die Geräusche der Stadt unter sich wartete, dachte sie nach. Sie dachte, daran, wie sie Dorwinion verlassen hatte, um nach Gortharia zu gehen, und warum. Sie war gekommen, um Informationen über den König von Thal zu sammeln - doch anstatt die Stadt zu verlassen, sobald sie das erreicht hatte, hatte sie nicht nur ein, sondern gleich zwei tödliche Geheimkulte getroffen - wobei die Schattenläufer deutlich unheimlicher waren als die Schwarze Rose - hatte einen Mann ermordet, hatte ein Testament gestohlen und gefälscht, mit einem Adligen geschlafen und zu guter Letzt würde sie heute vielleicht einen König ermorden. Milva schüttelte den Kopf. Das alles war doch Wahnsinn. Vielleicht hatte diese Stadt es so an sich, dass jeder, der dort lebte, mit der Zeit größenwahnsinnig wurde. Oder zumindest wahnsinnig. Sie dachte an Cyneric, der Gortharia verlassen hatte, um nach seiner Tochter zu suchen. Sie hoffte, der Mann aus Rohan hatte Erfolg gehabt - und gleichzeitig wünschte sie sich, er wäre nie gegangen. Er war vermutlich die einzige vernünftige Person in dieser ganzen verrückten Stadt gewesen.
Die Straße entlang näherte sich Lärm. Es waren vereinzelte Jubelrufe darunter, die allerdings von lautstarken Unmutsbekundungen und Buh-Rufen übertönt wurden. Der König kam, und Milva stieß einen Fluch aus. Wenn er so weit gekommen war, waren die bisherigen Versuche der Schattenläufer gescheitert. Vermutlich hatten sie gar nicht erst die Gelegenheit zum Handeln bekommen, denn sonst wäre die Prozession mit Sicherheit abgebrochen worden.
Milva legte einen Pfeil auf die Sehne, und spähte am Schornstein vorbei auf die Straße hinunter. Goran und sein Gefolge näherten sich von Osten, doch dort machte die Straße eine Kurve - nach Westen jedoch hatte sie freies Schussfeld. Ein Schuss in den Rücken also. Sie hoffte, dass er auf einem Pferd ritt, denn in einer Sänfte oder Kutsche würde sie vermutlich nicht zum Schuss kommen.
Die ersten Soldaten aus Gorans Eskorte kamen in Sicht und machten unsanft eine Gasse in der Mitte der Straße frei. Milva wartete ab, noch war es zu früh, die Sehne zu spannen.
Sie hörte ein Kratzen hinter sich. Es konnte eine streunenden Katze sein, oder Salia. Es konnte aber auch etwas ganz anderes sein. Milva wollte einen Blick über die Schulter werfen, doch es war zu spät. Etwas Hartes traf sie heftig am Hinterkopf, Schmerz flammte auf, und sie verlor beinahe augenblicklich das Bewusstsein.
Rohirrim:
Ceyda aus der Kneipe "humpelnder Säufer"
Immer wieder blickte Ceyda besorgt auf das Stück Papier in ihrer Hand, während sie hastig die Straßen von Gortharia entlang schritt. Sie war gerade dabei gemütlich durch die Straßen zu schlendern, als ein Bote ihr diese Nachricht von ihrem Onkel überbracht hatte. In besagter Nachricht wurde sie darum gebeten, schnellstmöglich in das Anwesen ihres Onkels zu kommen. Das war sehr ungewöhnlich. Normalerweise, wenn sie sich mit ihrem Onkel traf, waren diese Treffen lange vorher abgesprochen und geplant, da er meist sehr beschäftigt war und nur selten Zeit für spontanen Besuch hatte. Es musste sich also um etwas wirklich wichtiges handeln. Ob es etwas mit ihren Eltern zu tun hatte? Hoffentlich ging es ihnen gut. Sie hatte sich viel zu lange nicht mehr gemeldet. Hatte ihre Mutter letztes mal nicht über irgendwelche gesundheitlichen Probleme geklagt? Warum hatte sie damals nicht besser zugehört? Die Vorstellung, dass ihren Eltern irgendetwas passiert sein könnte machte ihr mit jedem Schritt mehr Angst. Warum sonst sollte sie sofort ins Anwesen ihres Onkels kommen?
Während Ceyda gedankenverloren und voller Sorge durch die Straßen schritt bemerkte sie kaum etwas von dem, was um sie herum los war. Es war ein für die Jaheszeit noch relativ warmer Tag, weswegen sich auch erstaunlich viele Leute auf den Straßen herumtrieben. Das machte es natürlich besonders einfach, Leute unauffällig zu beschatten. Doch wer sollte eine junge Witwe in diesen Tagen schon beschatten? Ceyda jedenfalls machte sich um derlei Dinge überhaupt keine Gedanken, während sie sich
allmählich ihrem Ziel näherte.
Vor der Tür des Anwesens hielt Ceyda noch einmal kurz inne. Sie versuchte sich zu beruhigen. Sie wollte ihrem Onkel möglichst gefasst gegenübertreten. Vielleicht machte sie sich ja auch völlig zu unrecht Sorgen und es ging um etwas völlig Anderes. Die junge Witwe atmetete zweimal tief ein und aus und klopfte an die Tür. Wenige Sekunden später öffnete ihr Onkel persönlich die Tür, was Ceyda überraschte. Sie hatte eigentlich einen Bediensteten erwartet. „Hallo Onkel, du wolltest mich sprechen?“ fragte Ceyda mit betont ruhiger Stimme. „In der Tat“, antworte Branimir. „Komm doch rein! Ich habe wichtige Informationen für dich.“
Ceyda zum Anwesen von Haus Castav
Fine:
Cyneric und Ryltha aus Rhûn
Die Straßen Gortharias kamen Cyneric sogar noch voller als bei seinem letzten Besuch in der Königsstadt Rhûns vor. Er erinnerte sich gut, wie er mit Zarifa aus dem Anwesen der Familie Bozhidars gekommen war und sich den Weg zum Hafen gebahnt hatte, wo das Schiff auf sie gewartet hatte, um sie nach Dorwinion zu bringen. Er fragte sich, was ihn wohl diesmal in dieser Stadt der Intrigen und Geheimnisse erwarten würde. Cyneric wusste, dass seine Lebenserwartung niedriger als zuvor war, denn obwohl Ryltha ihn offensichtlich weiterhin als Verbündeten zu betrachten schien, war das Vertrauensverhältnis zwischen Cyneric und den Schattenläufern dennoch getrübt. Abgesehen davon hatte sich Cyneric mit seiner übereilten Flucht aus Gortharia mehrere Feinde gemacht, darunter nicht zuletzt die einflußreichen Stahlblüten sowie die Palastgarde, die Desertierung mit dem Tod bestrafte.
Während er sich durch die Menschenmassen entlang einer der Hauptstraßen arbeitete, setzte Cyneric vorsichtshalber die Kapuze seines schmutzigen grünen Umhangs auf. Wann immer eine Gruppe von Stadtwächtern in blitzendem Gold an ihm vorüber ging, hielt er ohne es zu wollen den Atem an. Er durfte sich jetzt nicht erwischen lassen. Nicht bevor er herausgefunden hatte, was mit Milva geschehen war.
Schließlich gelang es Cyneric, unerkannt bis zum Gasthof "Uldors Rast" zu reiten. Dort war man den Anblick von Reisenden aus der Fremde gewohnt - sogar einige Zwerge waren hin und wieder unter den Gästen. Mit dem Gold, das er von Ryltha erhalten hatte, nahm sich Cyneric eines der kleineren Zimmer auf der obersten Etage. Das Bett sah so einladend aus, dass er sich nicht einmal die Mühe machte, die Stiefel auszuziehen, ehe er sich für ein ausgedehntes Nickerchen niederließ.
Erst als die rötlichen Strahlen der Abendsonne durch das Fenster fielen erwachte Cyneric wieder und erschrak, als er feststellte, dass er mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Stunden geschlafen hatte. Hastig blickte er sich im Raum um, doch zu seiner Erleichterung war er nach wie vor alleine. Beinahe hätte er erwartet, unangenehme Gesellschaft vorzufinden...
Alleine, dachte er etwas schwermütig. Er stellte fest, dass er sich in den vergangenen Monaten an Zarifas Begleitung gewöhnt hatte. Und dass er das vorlaute Mädchen aus Umbar vermisste. Beinahe genauso sehr, wie er seine Tochter vermisste. Nicht zum ersten Mal fragte Cyneric sich, wo sich Déorwyn wohl inzwischen herumtreiben und welche Abenteuer sie und der Wolfskönig Aéd in Dunland wohl zu bestehen hatten.
Seine Gedanken wanderten zu Salia, die ihm in Esgaroth Lebewohl gesagt hatte, um sich ganz ihrem obersten Ziel zu verschreiben: der Ermordung König Gorans, den Salia für den Tod ihrer Eltern und ihrer Schwester verantwortlich machte. Rylthas kryptischen Worten zufolge war Salia inzwischen zu den Schattenläufern zurückgekehrt und stand wieder unter dem Einfluß des Trankes, der sie gefühllos und folgsam der Herrin der Schatten, Merîl, gegenüber werden ließ. Cyneric hatte keine Ahnung, wie er Salia aus dieser Todesfalle herausholen sollte. Solange sie sich von Rache verzehren ließ, würde Salia immer wieder nach Gortharia zurückkehren, um Goran zu töten.
Rylthas Stimme erklang in seinem Kopf. "Wenn du es nicht um Zarifas Willen tun wirst, dann tu es für Milva," hatte sie in Aldburg in ihrer typischen, kryptischen Art und Weise gesagt. Als wäre Milva in Gefahr. Doch auf der ganzen langen Reise von Rohan bis nach Gortharia hatte Cyneric kein weiteres Wort über Milva aus der Schattenläuferin herausbekommen. Er machte sich Sorgen, auch wenn er sich fragte, ob Ryltha Milva nicht einfach nur deshalb ins Spiel gebracht hatte, weil sie wusste, was die Frau vom Carnen Cyneric bedeutete.
Bedeutete? dachte er und hielt inne. Was... bedeutet sie mir denn? Er starrte gedankenverloren ins Leere und wusste selbst keine Antwort auf seine eigene Frage. Ratlos horchte er in sich hinein um auf sein Herz zu hören. Dummerweise war Cyneric noch nie sonderlich gut darin gewesen, seine eigenen oder die Gefühle Anderer zu deuten - das war einer der Gründe dafür gewesen, warum er und seine verstorbene Frau - Déorwyns Mutter - sich so gut ergänzt hatten. Denn Féortryth hatte es wie kaum eine andere verstanden, in den Herzen Fremder und Vertrauter zu lesen.
Wärest du doch jetzt hier bei mir, wünschte Cyneric sich und gab einen tiefen Seufzer der Trauer von sich. Ihr Tod hatte ihn für vier Jahre lang in eine tiefe Depression gestürzt, die daraus bestanden hatte, von einem Tag auf den nächsten zu leben und den allgegenwärtigen Tod durch die Hand der Orks, die Cyneric und seine drei Gefährten in Rohan gejagt hatten, in Kauf zu nehmen - nein, ihm sogar offen ins Auge zu blicken. Nur langsam hatten seine Wunden zu heilen begonnen, angefangen mit der Nachricht, dass Déorwyn den Krieg überlebt hatte. Die Suche nach seiner Tochter hatte Cyneric wieder einen Sinn zum Leben gegeben und nun, da er wusste, dass es Déorwyn gut ging - wie sollte es nun weitergehen?
Er versuchte, sich Milva als "Ersatz" für Déorwyn vorzustellen. Ein Mädchen, das er suchen und retten konnte. Aber... es gelang Cyneric nicht. Milva war nicht wie Déorwyn. Sie war kein Mädchen mehr und sie stand keineswegs auf einer Stufe mit jemanden, den Cyneric als Tochter betrachten könnte, wie es beispielsweise für Zarifa... oder vielleicht auch Salia galt. Da war etwas Anderes... etwas, das Cyneric wieder an seine Ehefrau denken ließ.
Da stellte er fest, dass er während den vielen Gedanken - ganz untypisch für ihn - beschämt die Hände in den Schoß gelegt hatte. Wenn Cynewulf mich jetzt sehen könnte, würde er mich noch tagelang damit aufziehen, dachte er und gab sich endlich einen Ruck, um aufzustehen. Er beschloss, sich mit seinen Gefühlen Milva gegenüber dann auseinander zu setzen, wenn er sie gefunden und aus den Schwierigkeiten gerettet hatte, in denen sie inzwischen zweifelsohne stecken musste. Milva zog den Ärger einfach an, solange sie in Gortharia war, als wäre sie eine Kerze, die von Motten umschwirrt wird. Bei dem Gedanken musste Cyneric grinsen.
Er beschloss, sogleich mit der Suche zu beginnen. Gleich hier, im "Uldors Rast", würde er anfangen. Sein Gepäck verstaute er in seinem Zimmer, das sich glücklicherweise fest verschließen ließ. Inzwischen war es dunkel genug, dass ihn der Umhang mit der tiefen Kapuze geradezu unsichtbar für bösartige Blicke machen würde. So hoffte er, unangenehmer Aufmerksamkeit zu entgehen, als er sich in den großen Schankraum des Gasthofes begab und an einem der freien, kleineren Tische Platz nahm. Eine Weile hörte er einfach nur den unterschiedlichen Gesprächen im Raum zu, der von einer lautstarken Geräuschkulisse erfüllt war. Cyneric musste die Ohren spitzen, um die verschiedenen Gespräche herauszuhören, doch da gab es nur wenig, was er nicht bereits erfahren hatte. Der Fall von Balanjar war das Thema unter den Gästen. Es gab widersprüchliche Augenzeugenberichte, doch im Großen und Ganzen waren sich alle darber einig, dass ein Heer aus Mordor in das südlichste Fürstentum Rhûns gekommen war und dessen Hauptstadt, eine Siedlung aus Zelten, niedergebrannt hatte. Manche sagten, der Schwarze Schatten Khamûl, der die Heere der Ostlinge am Erebor befehligte, sei dort gewesen. Andere behaupteten sogar, der Dunkle Herrscher selbst wäre leibhaftig in Balanjar gesehen worden. Doch nur die Wenigsten konnten sich einen Reim auf den Grund des Angriffes machen. Rhûn war schon viele Generationen lang ein Verbündeter Mordors gewesen. Wieso verheerten die Orks des Schattenlandes also nun gerade jenes Fürstentum, das die Kornkammer des Reiches von Gortharia darstellte?
"Es ist die Schuld des Königs," meinten einige. "Er hat es zu lange versäumt, Truppen nach Gondor zu entsenden."
"Nein, ich glaube, der Ewige Berater ist schuld," widersprachen Andere. "Dieser Graubart hat seine langen Finger überall, doch dieses Mal hat er sie zu weit ausgestreckt."
"Vielleicht liegt die Schuld sogar gar nicht hier in Gortharia," mutmaßten wieder andere Gäste. "Vielleicht ist der Schuldige am Erebor zu suchen. Will der Herr von Mordor vielleicht seinen unfähigen Diener Khamûl bestrafen?"
Solcherlei Reden und Vermutungen gab es an jenem Abend viele. Stets verstummten die meisten Gespräche, wenn hin und wieder einige der in gold gerüsteten Stadtwachen durch die Tür, die zur Straße hin lag marschierten und in der Schankstube mehr schlecht als recht nach dem Rechten sahen. Cyneric gab sich nach außen hin gelassen und nippte an seinem zweiten Bier, doch innerlich war er hochangespannt. Er durfte sich nicht erwischen lassen.
Als die dritte Wachstreife gerade den Schankraum verließ, nahm jemand gegenüber von Cyneric Platz. Es war eine Frau, mit langem, dunklem Haar, die einfache, feste Reisekleidung aus braunem Leder und einen hellgrauen Umhang trug. Cyneric sah drei lange Messer an ihrem Gürtel aufblitzen. Zwei dunkle, beinahe schwarze Augen musterten ihn eindringlich, doch auf den Lippen lag ein leichtes Lächeln. Es dauerte einen langen Augenblick, bis Cyneric sie erkannte.
"Sieh mal einer an," sagte er langsam und erholte sich von seiner Überraschung. "Wenn das nicht der Habicht von Varek ist."
Sein Gegenüber grinste. "Du kannst ruhig Tyra sagen," erwiderte sie und winkte die Bedienung herbei, um sich etwas zu bestellen. "Wie schön dass du noch weißt, wer ich bin. Ist 'ne ganz schön lange Zeit her seitdem du verhindert hast, dass man mich aufknüpft."
"Du musst zugeben, dass du streng genommen schuldig warst." Cyneric nahm einen Schluck von seinem Bier.
"Das habe ich nie bestritten, mein Lieber," entgegnete Tyra. "Also. Man hört so einiges über dich in letzter Zeit."
"Ach wirklich?"
"Die Palastgarde sucht nach dir. Bist ihnen offenbar desertiert. Am Drachenplatz hängt eine Zeichnung von dir. Ist gar nicht mal so übel geworden, wie ich finde."
Cyneric schluckte. "Ich hatte gehofft, inzwischen wäre vielleicht Gras über diese Sache gewachsen."
Tyra schüttelte den Kopf. "So läuft das bei der Garde nicht, das solltest du doch selbst wissen. Aber mach dir keine zu großen Sorgen. Die Garde selbst bleibt in letzter Zeit ausschließlich im Palast. Strenger Befehl des Königs." Sie spuckte aus. "Deshalb sucht bloß die Stadtwache nach dir, und die suchen auch nach vielen, vielen anderen. Solange du dich nicht tagsüber mit unbedeckten Gesicht auf den öffentlichen Plätzen blicken lässt, musst du wahrscheinlich keine Entdeckung fürchten."
Cyneric nickte und lehnte sich vor, die linke Hand auf den Tisch aufgestützt. "Und was bringt dich in diese irrsinnige Stadt?" wollte er wissen.
Tyra senkte ihre Stimme. "Die Schwarze Rose," wisperte sie. "Schon vergessen? Ich hab' mich ihnen damals angeschlossen, um den Leuten bei Varek zu helfen. Aber denen geht es inzwischen ganz gut - sie leben vom Fischfang und müssen nicht mehr stehlen. Also bin ich nach Gortharia gekommen. Aber bis jetzt gab es kaum etwas Aufregendes für mich zu tun... bis vor einer Woche."
"Was ist geschehen?"
"Eines unserer führenden Mitglieder, Fiora, ist mitten auf einer Mission verschwunden. Spurlos. Selbst die Schatten wissen nicht, wo sie ist. Auch von denen fehlt eine. Und dann war da noch eine dritte Frau dabei, die ist ebenfalls wie vom Erboden verschluckt."
"Drei Leute, die einfach spurlos verschwunden sind?" wiederholte Cyneric verwundert.
Tyra nickte. "Das Hauptquartier gleicht derzeit einem Ameisenhaufen, den man mit einem Stock umgerührt hat. Ich wusste gar nicht, dass diese Fiora so wichtig ist. Alle suchen nach ihr, und nach den anderen beiden."
"Und du?" wollte Cyneric wissen.
"Nun, ich halte Augen und Ohren offen," meinte Tyra. "So habe ich auch dich gefunden. Außerdem könntest du mir vielleicht behilflich sein."
"Wie meinst du das?"
"Ich brauche jemanden, der mir etwas Rückendeckung gibt. Unser Anführer hat Kontakt zu einem der einflussreichsten Adeligen hier in Gortharia aufgenommen, nachdem Fiora verschwunden ist. Branimir Castav heißt der Mann. Ich soll mich mit einem von Castavs Leuten treffen um Informationen auszutauschen. Allerdings findet das Treffen auf dem Anwesen der Castavs statt."
"Und du willst, dass ich dich dorthin begleite. Als Rückendeckung, falls etwas schief geht," schloss Cyneric.
"Ganz genau. Ich sehe, du hast zugehört," lobte Tyra. "Das könnte für dich ebenfalls hilfreich sein. Dieser Castav ist in Gortharia eine ziemlich große Nummer. Vielleicht kann er dir helfen, für einige Zeit von der Liste der Gesuchten der Stadtwache zu verschwinden - das sollte für ihn ein Leichtes sein. Und vielleicht weiß er mehr über die beiden Frauen, die gemeinsam mit Fiora verschwunden sind."
Cyneric lehnte sich zurück und leerte seinen Krug, während er über Tyras Angebot nachdachte. Er war sich noch nicht ganz sicher, ob er dem Habicht, so wie sie sich selbst bei ihrer ersten Begegnung in der Stadt Varek genannt hatte, vertrauen konnte. Doch sie stand in seiner Schuld, das wusste Cyneric. Und womöglich konnte dieser Meister Castav, den auch Ryltha bereits erwähnt hatte, wirklich hilfreich sein.
"Also gut," sagte er und stellte den Krug vor sich ab. "Abgemacht. Ich komme mit dir, Tyra."
"Ausgezeichnet," freute sich die Dunkelhaarige. "Das Treffen mit Castavs Mann findet erst in einer guten Stunde statt. Wir haben noch Zeit darauf zu warten, dass es auf den Straßen ein wenig ruhiger geworden ist. He, Bedienung! Noch eine Runde, ja?"
Cyneric und Tyra zum Anwesen der Familie Castav
Fine:
Cyneric aus dem Anwesen der Castavs
Es war Abend geworden, als Cyneric, nun wieder im Besitz seiner Waffen und seiner übrigen Habseligkeiten, das Anwesen von Branimir Castav verließ. Er trat hinaus auf die geschäftigten Straßen Gortharias. Die sinkende Sonne ließ den rotbraunen Ziegelstein, aus dem viele Häuser Gortharias sowie beinahe sämtliche Stadtmauern errichtet waren, beinahe blutrot wirken. Cyneric spürte, wie sich die Haare auf seinem Nacken bei diesem Anblick aufstellten und er spürte, wie seine Nervosität immer stärker wurde. Ganz auf sich allein gestellt gegen eine Verschwörung, die vorne und hinten keinen Sinn zu ergeben schien. Wieso sollte jemand Milva und Salia entführen? fragte Cyneric sich nicht zum ersten Mal an diesem Abend, während er versuchte, sich an die Lage des Anwesens von Haus Bozhidar zu erinnern. Wer könnte dahinter stecken? Und weshalb musste es gerade Milva sein?
Nachdenklich und einigermaßen unausgeglichen machte er sich schließlich auf den Weg. Sowohl das Anwesen der Familie Castav als auch der Wohnsitz der Bozhidars befanden sich im nordöstlichen Teil der Hauptstadt des Ostlingreiches, dem Viertel der Reichen und Adeligen. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Straßen in diesem Stadtviertel weniger voll als anderswo waren. Auch im Adelsviertel herrschte ein Gedränge von Bediensteten und Sklaven, die im Auftrag ihrer Meister unterwegs waren. Stadtwächter behielten das Treiben mehr oder weniger aufmerksam im Auge und Cyneric stellte erleichtert fest, dass sie ihm tatsächlich nicht mehr als einen beiläufigen Blick schenkten. Castav hat Wort gehalten, dachte er. Wie auch immer er es hinbekommen hat... mein Kopfgeld ist für den Augenblick wohl verschwunden.
An einem kleinen Stand kaufte Cyneric sich eine Mahlzeit, die aus einem mit verschiedenen Gemüsesorten gefüllten Fladenbrot und einem Schlauch Wasser bestand. Nach dem Abendessen, das er im Gehen einnahm, beruhigte er sich ein wenig, doch die unterschwellige Anspannung blieb.
Ohne Vorwarnung versetzte jemand Cyneric einen brutalen Stoß in den Rücken und schleuderte ihn damit zu Boden. Er hatte gerade eine enge Gasse zwischen zwei prunkvollen Adelswohnsitzen durchquert, als der Angriff erfolgt war. Hastig rollte er sich auf den Rücken und sützte sich hoch. Über ihm ragte eine vermummte Gestalt in dunklen Roben auf, die in jeder Hand ein blankes Schwert hielt. Cyneric hatte gerade noch genug Zeit, seine eigene Klinge zu ziehen, um die ersten Hiebe abzuwehren, doch in seiner sitzenden Position fehlte ihm die Beweglichkeit. Bei dem Versuch, sich zu erheben erhielt er einen tiefen Schnitt am Oberarm, der geradezu mühelos durch die Lederrüstung drang, die Cyneric trug. Beinahe augenblicklich verlor er sein Schwert. Zwei Klingenspitzen zeigten nun auf sein ungeschütztes Gesicht.
"Niemand begeht ungestraft Verrat an den Stahlblüten," drang die Stimme des vermummten Angreifers an Cynerics Ohr, die er als weiblich identifizierte. Er schloss die Augen und ergab sich seinem Schicksal. Sein letzer Gedanke galt seiner Tochter...
...als ihn ein grässliches Gurgeln wieder zurück in die Wirklichkeit zerrte. Cyneric riss die Augen auf und bekam gerade noch mit, wie seine Attentäterin blutüberströmt zu Boden sank. Hinter ihr tauchte jemand auf, der die typische Rüstung eines Ostling-Soldaten in den gewohnten Goldtönen trug.
Cyneric hätte nie gedacht, jemals so froh darüber zu sein, Ryltha zu sehen. "Wie...?" brachte er heraus, als die Schattenläuferin ihm die Hand anbot, um ihm auf die Beine zu helfen.
"Du solltest dir wirklich angewöhnen, hin und wieder über die Schulter zu blicken," neckte Ryltha ihn, als hätte sie nicht gerade einen blutigen Mord verübt. Sie reinigte ihren langen Dolch mit einem schwarzen Tuch und lehnte sich dabei lässig gegen eine der beiden Wände der Gasse. "Du hast Glück, dass deine kleine Freundin bei der Schwarzen Rose uns gesagt hat, dass du die Nacht im Hause Castav verbracht hast."
"Tyra?"
Ryltha zog eine Augenbraue in die Höhe. "Ich hätte nicht gedacht, dass der Habicht von Varek dir ihren Namen nennen würde. Aber sei's drum. Jedenfalls bin ich dir seit Castavs Anwesen gefolgt, und dabei musste ich feststellen, dass Lilja dir trotz unserer Versöhnungsversuche offensichtlich noch lange nicht verziehen hat, dass du ihr das Mädchen aus Umbar weggenommen hast."
"Ich habe ihr Zarifa nicht weggenommen," hielt Cyneric dagegen. "Sie fühlte sich bei den Stahlblüten nicht wohl und wollte fort. Und-"
"Wie dem auch sein," schnitt Ryltha ihm das Wort ab. "Es gibt Wichtigeres. Teréssa ist verschwunden, und die Stadt scheint seither im Chaos zu versinken."
Cyneric atmete tief durch. Dann traf er eine Entscheidung. "Ich weiß wo sie gefangen gehalten wird."
Ryltha wirkte definitiv überrascht. "Wirklich?"
"Einer von Castavs Leuten hat gesehen, wie Salia entführt wurde, als sie mit Milva und Fiora von der Schwarzen Rose unterwegs war," erklärte Cyneric. "Castav sagte mir, sie würden im Bozhidar-Anwesen gefangen gehalten."
"Und das hat er dir einfach so verraten?" hakte Ryltha misstrauisch nach.
"Natürlich nicht," entgegnete Cyneric und spannte sich innerlich an. Wenn Ryltha die nun folgende Lüge durchschaute, wäre alles vorbei. "Er forderte Informationen im Austausch für diese Spur zu Salia und Milva. Er wollte alles über Rohan wissen und bot mir sogar an, nach meiner Rückkehr in die Riddermark als sein dortiger Spion in seine Dienste zu treten."
Ryltha musterte Cyneric eine volle Minute mit abwägendem, kaltem Blick. Dann nickte sie langsam. "Das... passt zu diesem verdammten Geldsack. Schon immer hat er versucht, seine Finger überall dorthin auszustrecken, wo sie nichts verloren haben. Er erinnert mich an eines der tentakeligen Geschöpfe, die die Fischer des Binnenmeeres hin und wieder in ihren Netzen finden..."
"Wir müssen Salia und die anderen befreien," sprach Cyneric rasch weiter, darum bemüht, seine Erleichterung zu verbergen. "Wer auch immer sie gefangen hält hat sicherlich keine guten Absichten."
Doch Ryltha schüttelte den Kopf. "In das Bozhidar-Anwesen kommt keiner rein, seitdem es der Erbe von Herrin Velmira abgeriegelt hat. Dort wimmelt es von Wachen. Da lässt sich nichts machen. Ich fürchte, Teréssa ist auf sich allein gestellt."
"Du gibst sie einfach auf?" Cyneric traute seinen Ohren nicht. "Es muss doch einen Weg geben, in das Anwesen zu gelangen!"
"Vergiss es, Cyneric. Selbst als Herrin Velmira noch am Leben war war das Bozhidar-Anwesen für uns schon nahezu undurchdringlich. Milva war die Einzige, der es tatsächlich gelungen ist, es zu infiltrieren, und ich vermute, da war mehr Glück als Verstand am Werk."
"Ich muss es versuchen," beharrte Cyneric. "Mit oder ohne deine Hilfe."
"Sei kein Narr!" rief Ryltha. "Du rennst nur in deinen sinnlosen Tod."
"Dann tu' etwas dagegen... oder lass es sein," knurrte Cyneric und drehte sich um, um sich in Bewegung zu setzen. Seine Nervosität war verschwunden - ersetzt durch vollkommene Entschlossenheit. Er würde einen Weg in das Bozhidar-Anwesen finden, oder bei dem Versuch sterben.
"Ich kann nun einmal nicht zaubern, Cyneric," hörte er Ryltha sagen. "Warte. Warte mal! Das könnte es sein!" Sie war ihm nachgelaufen und ihn mit festem Griff am Arm zum Stehen gebracht. "Vielleicht gibt es jemanden, der uns helfen kann."
"Uns?" wiederholte Cyneric.
"Lass den Unsinn," zischte Ryltha. "Die Wahrscheinlichkeit, dass wir ihn tatsächlich überzeugen können, uns zu helfen, ist zwar gering, aber... es ist einen Versuch wert." Ihre Stimme gewann an Zuversicht. "Komm. Wir müssen ins Südviertel der Stadt. Wenn wir Glück haben, ist er gerade dort, und nicht im Palast." Sie ließ die Leiche achtlos liegen und eilte los, die dunkle Gasse entlang.
"Von wem sprichst du?" rief Cyneric und beeilte sich, der Schattenläuferin zu folgen. "Wer ist diese geheimnisvolle Person?"
"Der ewige Berater persönlich..." antworte Ryltha mit einem scharfsinnigen Grinsen.
Cyneric und Ryltha zum Konzil der Zauberer
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