Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia
In den Straßen von Gortharia
Fine:
Cyneric, Salia und Zarifa aus den Gebieten westlich von Gortharia
“Das erinnert mich an Umbar,” murmelte Zarifa, als sie Salia und Cyneric in die vollen Straßen der Hauptstadt des Ostling-Reiches folgte. Sie hatten ihre Pferde am Zügel durch das große Tor im Westen der Stadt geführt und waren am Platz des Goldenen Drachen vorbeigekommen, auf dem noch immer allzu deutlich die Spuren der öffentlichen Hinrichtungen der vergangenen Tage zu sehen waren. Man hatte die Galgen als allzu deutliche Drohung dort stehen lassen und nur die Leichen der Unruhestifter entfernt.
Zarifa hingegen schien sich auf das Gedränge auf dem Straßen und die deutlich sichtbare Ungleichheit zwischen Arm und Reich zu beziehen. Gortharia war, wie auch Umbar, ein wichtiger Handelspunkt und zog daher reiche Kaufleute an, die sich in den Straßen tummelten und ihre Güter zu den besten Preisen zu verkaufen suchten. Gleichzeitig gab es Sklaven beinahe an jeder Straßenecke zu sehen, genauso wie Bettler und andere arme Leute. Wo die Reichen mit Wohlstand und Luxus protzten, begegneten ihnen die neidischen und wütenden Blicke der Armen. Nun, da der Schwarzen Rose der Kopf abgeschlagen worden war, gab es niemanden mehr, der sich für die Rechte der Armen einsetzte. Cyneric sah die Hoffnungslosigkeit in den Augen jener, die am Straßenrand hockten und auf eine milde Gabe warteten.
Seit seiner Ankunft in Rhûn hatte ihn dieser Anblick zum Mitleid bewegt. In Rohan gab es keine Sklaven und der Unterschied zwischen Arm und Reich war längst nicht so groß wie hier im Reich der Ostlinge. Beinahe jeder Mensch von Rohan besaß mindestens ein Pferd, und wer ein Pferd besaß, konnte ein Reiter von Rohan werden und sich einen vernünftigen Lohn im Dienste der Königin verdienen. Und auch für jene, denen das Kämpfen nicht sonderlich lag, gab es genug Arbeit in der Riddermark, denn die Felder mussten bestellt und das Korn gemahlen werden. In Rhûn hingegen schien es diesen Bedarf an Arbeit nicht zu geben. Es kam Cyneric eher so vor, als gäbe es im Königreich von Gortharia an sich zu viele Menschen. Denn immer wenn die Könige des Ostens einen Krieg gewannen, führten sie einen Teil der besiegten Bevölkerung als Sklaven mit sich nach Hause. Und mit dem Sieg über Thal und den Erebor waren viele neue Ketten für neue Sklaven geschmiedet worden.
Cyneric wusste, dass er ihnen nicht allen helfen konnte. Zu dieser Entscheidung war er bereits früh gekommen. Er musste sich auf das konzentrieren, bei dem er tatsächlich etwas bewegen konnte. Stürzten die Fürsten Rhûns, so wie Radomir, würden durch die Manipulationen der Schattenläufer bessere Menschen in die herrschende Schicht nachfolgen. Zumindest war das die Theorie, an die Cyneric eine Zeit lang geglaubt hatte. Doch in den letzten Tagen hatte sich sein Fokus mehr und mehr darauf verschoben, endlich seine Tochter zu finden und sie in Sicherheit zu bringen.
Wo wir gerade bei “in Sicherheit bringen” sind... dachte Cyneric und räusperte sich. Salia und Zarifa, die voran gegangen waren, blieben stehen und drehten sich zu ihm um.
“Jetzt, wo wir in der Hauptstadt angekommen sind, wird es Zeit, eine Unterkunft für dich zu suchen, Zarifa.”
Die junge Frau nickte, und blickte ihn erwartungsvoll an.
“Nun, also, ich schätze, im Palast wird wohl kein Platz für dich sein,” fuhr Cyneric etwas unsicher fort. So weit hatte er nicht vorausgedacht. Sein bisheriger Plan war gewesen, Zarifa sicher aus Gorak heraus zu bringen und sie bis nach Gortharia zu begleiten, wo sich hoffentlich alles schon irgendwie von selbst ergeben würde. Angestrengt dachte er nach, was es abgesehen vom Palast für Orte geben könnte, an denen Zarifa in Sicherheit sein würde. Ihm fiel Tianas Taverne ein, doch er verwarf den Gedanken sogleich wieder. Dort ging es viel zu rau für ein traumatisiertes Mädchen vor. Er warf einen raschen Blick auf Salia, als ihm einfiel, dass diese ihm vor einiger Zeit das Haus gezeigt hatte, in dem sie mit Ryltha wohnte. „Salia, denkst du sie könnte in Rylthas Haus...“
“Das ist keine gute Idee,” unterbrach Salia ihn prompt. “Sie sollte sich von den Schattenläufern fern halten.” Sie machte ein ernstes Gesicht und schien sich tatsächlich Sorgen um Zarifa zu machen. Cyneric verwarf also auch Rylthas Haus als Möglichkeit.
“Dann... könnte sie vielleicht irgendwo als Dienstmädchen anfangen? Kennst du irgendwelche Adelige, die gerade jemanden suchen?”
Salia schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. “Willst du, dass ihr dieselben Sachen noch einmal passieren? Jedes Kind weiß doch, dass gerade junge Dienstmädchen beliebte Ziele von widerlichen alten Adeligen sind, die sich an ihrer Ehefrau satt gesehen haben.”
“Ihr tut es schon wieder,” mischte sich Zarifa ungehalten ein.
“Was?” fragten Cyneric und Salia gleichzeitig.
“Ihr redet über mich, als wäre ich gar nicht da. Das ist nicht sehr höflich.”
“Oh, entschuldige,” sagte Cyneric. “Es ist nur so, dass...”
“...du gar nicht weißt, wohin ich jetzt soll,” ergänzte Zarifa. “Das macht nichts. Ich komme schon alleine irgendwie zurecht.” Sie klang verstimmt, als hätte sie mehr von ihm erwartet.
“Zum Glück weiß ich Rat,” sagte Salia triumphierend. “Cyneric, du solltest sie zu Lilja Vorlas bringen. Soweit ich weiß, schuldet sie dir einen Gefallen, nicht wahr?”
Cyneric brauchte einen Augenblick, um sich an die Hofdame zu erinnern, die bei seinem ersten Auftrag für die Schattenläufer dabei geholfen hatte, die Leiche eines von Rylthas Opfern verschwinden zu lassen. Bei seiner zweiten und letzten Begegnung mit Lilja hatte sie ihn darum gebeten, einen Gegenstand in die persönliche Truhe eines seiner Mitgardisten zu schmuggeln, was er auch getan hatte. Der betroffene Gardist war später vom Rat der Zehn ins Exil verbannt worden.
“Ja, ich erinnere mich. Und wie kann Lilja Zarifa helfen?”
“Sie gehört zu einer Gruppe von Frauen aus Dervesalend, die man die Stahlblüten nennt. Kennst du das Sprichwort? “Hinter jedem mächtigen Mann steht eine starke Frau, die ihm seine Entscheidungen einflüstert.” Die Stahlblüten sind Hofdamen von edler Geburt, die es sich zum Ziel gesetzt haben, eine solche starke Frau zu werden, die insgeheim die Geschicke des Reiches lenkt. Viele der Königinnen Rhûns gehörten zu ihnen. Sie besitzen ein großes Haus im Nordosten der Stadt, direkt oberhalb der Klippe, an der Gortharia an das Meer grenzt. Und das Besondere an diesem Haus ist, dass es Männern per königlichem Dekret verboten ist, es zu betreten.”
Zarifas Interesse war eindeutig geweckt worden, doch sie sagte zweifelnd: “Und was soll ich unter lauter reichen, verwöhnten Frauen?”
“Du bist doch ein schlaues Mädchen,” meinte Cyneric. “Sicherlich kannst du dort lernen, wie du auf dich selbst aufpassen kannst. Außerdem wärst du dort in Sicherheit.”
Salia schien noch nicht fertig zu sein. “Die Stahlblüten - oder zumindest Lilja - sind mit den Schattenläufern verbündet, aber das war nicht immer so. Oft genug ist es in unserer langen Geschichte schon vorgekommen, dass wir Schatten den hoch gesteckten Zielen der Blüten im Wege standen. Ihr dürft nicht glauben, dass Worte und Manipulation der Mächtigen ihre einzigen Waffen sind. Wenn die Gerüchte wahr sind, dann sollte niemand eine der Stahlblüten im Kampf unterschätzen. Jedenfalls wissen sie, wie man eine Leiche spurlos verschwinden lässt.”
Zarifa blickte nachdenklich drein. Man sah ihr an, dass sie angestrengt nachdachte.
“Es wäre ja nicht für immer,” sagte Cyneric. “Doch wenn es stimmt, was Salia sagt, gäbe es bei den Blüten einen Ort für dich, an dem du dich ausruhen kannst und in Sicherheit bist, bis du dich bereit fühlst, dich der Welt wieder selbstständig zu stellen.”
“Ich... könnte es mir ja mal ansehen,” meinte Zarifa zögerlich. “Aber wenn es mir nicht gefällt, verschwinde ich wieder.”
“Ich werde dich dort zwar nicht besuchen können, aber wenn du meine Hilfe brauchst, werde ich zur Stelle sein,” versprach Cyneric ihr. “Zumindest bis ich losziehe, um meine Tochter zu finden.”
Zarifa warf ihm bei diesen Worten einen Blick zu, den Cyneric nicht deuten konnte. Er fragte sich, was sie wohl gedacht hatte, als er angedeutet hatte, dass er die Stadt bald wieder verlassen würde.
Salia verabschiedete sich kurz darauf von ihnen und sie machten sich auf den Weg zum Anwesen der Stahlblüten, das mitten im Adelsviertel von Gortharia lag. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, als sie in die schon deutlich leereren und saubereren Straßen des Nordostviertels Gortharias kamen. Als das Anwesen der Blüten gerade in Sicht kam, sah Cyneric aus dem Augenwinkel, wie eine bekannte Gestalt aus einem der ganz in der Nähe liegenden großen Häuser kam und die Straße betrat, auf der Cyneric und Zarifa gerade unterwegs waren.
“Heda, Milva!” rief er, um die Aufmerksamkeit seiner weiblichen Bekanntschaft zu erwecken.
Milva schien sich in einer Art Tagtraum befunden zu haben, denn sie schreckte mit einem recht undamenhaften “Häh?” hoch und brauchte einen Augenblick, bis sie Cyneric erkannte. Rasch kam sie zu ihnen herüber und blieb vor Zarifa stehen. Die blonde Dorwinierin musterte die junge Südländerin kritisch und ihr Blick huschte dabei mehrfach zwischen Zarifa und Cyneric hin und her.
“Irgendwie hatte ich erwartet, dass deine Tochter dir etwas ähnlicher sieht,” kommentierte sie. “Ich freu’ mich aber trotzdem für dich, dass du sie gefunden hast.”
Zarifa schien das Ganze nicht lustig zu finden und machte ein beleidigtes Gesicht.
“Das... das ist nicht meine Tochter,” sagte Cyneric betreten. “Ihr Name ist Zarifa.”
Milva machte große Augen. “Sie ist doch wohl nicht etwa eine...”
“HE!” Zarifa war nun wirklich sauer.
“Das war nicht gerade freundlich, Milva,” meinte Cyneric mit etwas Tadel in der Stimme. “Ich dachte, du kennst mich inzwischen. Zarifa ist eine ehemalige Sklavin Fürst Radomirs.”
“Radomir, der inzwischen tot ist, wie ich höre,” beeilte Milva sich zu sagen, um ihre Peinlichkeit zu überspielen. “Gut gemacht.”
“Da kannst du dich bei Zarifa bedanken,” erklärte Cyneric und fasste in einigen wenigen Sätzen zusammen, was in Gorak geschehen war. “Und wie ist es dir in meiner Abwesenheit ergangen, Milva?”
“Oh, also... eigentlich hatte ich eine ruhige Zeit,” druckste Milva herum.
Das glaube ich eher weniger, dachte Cyneric. Vermutlich will sie vor Zarifa nicht mit der Wahrheit herausrücken.
“Ich habe noch einige Vorbereitungen für das Fest von Herrin Velmira vorzubereiten,” fuhr Milva rasch fort. “Anscheinend soll die Königsgarde dort Wache stehen. Vielleicht sehen wir uns ja dann dort, Cyneric.”
Sie ließ Cyneric und Zarifa stehen und eilte davon.
“Was für eine merkwürdige Frau,” kommentierte Zarifa misstrauisch.
“Cyneric der Gardist. Was für eine angenehme Überraschung,” sagte Lilja Vorlas, die ein dunkelgrünes Kleid trug und deren blonde Haare zu einer Frisur aufgetürmt waren, die auf Cyneric wirkte, als würde sie Lilja andauernde körperliche Schmerzen bereiten. Doch der Dame war nichts dergleichen anzumerken. Sie hatte Cyneric und Zarifa im Garten außerhalb des Anwesens der Stahblüten empfangen, nachdem sie bei den Wächterinnen am Tor nach ihr gefragt hatten.
“Sicherlich könnt Ihr Euch denken, worum es geht,” sagte Cyneric, der die Angelegenheit rasch hinter sich bringen wollte.
“Oh, bitte. Wir sind hier unter uns. Nicht so förmlich! Also. Wer will einen Tee? Du?” Sie fixierte Zarifa mit ihren Augen, die Cyneric an tiefblaue Eiszapfen erinnerten.
“Äh... warum nicht,” gab Zarifa etwas perplex zurück.
Lilja klatschte zweimal in die Hände, und eine Dienerin trat hinter der Hecke hervor, die die beiden Bänke und den Tisch umgaben, an denen sie saßen. Cyneric hätte die junge Frau nicht als Dienerin erkannt, wenn sie sich nicht so offensichtlich wie eine Bedienstete verhalten hätte. Kleidung und Frisur waren beinahe genauso aufwändig wie bei Lilja. Sie goss drei Tassen Tee ein und verschwand wieder so rasch wie sie gekommen war.
“Natürlich weiß ich längst, weshalb ihr beiden hier seid,” fuhr Lilja fort und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie nippte an ihrer Tasse und legte dann die Fingerspitzen aneinander. “Du willst deinen Gefallen einfordern, nicht wahr, Cyneric?”
“Ihr... du sagst es,” antwortete er. “Zarifa hier hat mehrere... ungute Begegnungen mit Männern gehabt und braucht einen Ort, an dem sie in Sicherheit ist.”
Zarifa verschränkte die Arme vor der Brust, sagte jedoch nichts.
“Nun, in diesem Haus gibt es keine Männer, Zarifa,” sagte Lilja sanft, ehe sie sich wieder Cyneric zuwendete. “Dennoch wüsste ich nicht, weshalb ich sie aufnehmen sollte. Sie sieht mir nicht gerade nach einer Hochgeborenen aus.”
“Sie ist eine ehemalige Sklavin Radomirs.” Das Brandmal an Zarifas linkem Armgelenk machte diese Tatsache nur allzu deutlich.
“Ich habe ihn selbst getötet,” warf Zarifa ein.
Lilja zog die linke Augenbraue hoch. “Ist das so? Nun, an Mut scheint es dir nicht zu fehlen. Radomir war ein Scheusal. Doch mit seiner Schwester, Rhiannon, hegen wir gute Beziehungen. Sie ist ein gern gesehener Gast in diesem Haus.” Lilja machte eine dramatische Pause, ehe sie fortfuhr. “Dennoch denke ich nicht, dass der kleine Gefallen, den ich dir schulde, dafür ausreicht, Zarifa ab sofort mit durchzufüttern, so abgemagert wie sie ausschaut. Wir haben auch so schon genügend hungrige Mäuler zu stopfen.”
Das hatte Cyneric befürchtet. Bestürzt blickte er zu Zarifa hinüber, die so aussah, als wäre sie drauf und dran, wütend aufzuspringen. Doch da sprach Lilja bereits weiter.
“Ich werde Zarifa aufnehmen. Doch solange sie in diesem Anwesen wohnt, wird sie bei den Aufgaben der Bediensteten mithelfen und sich so ihren Unterhalt verdienen. Keine Sorge, dabei kannst du nicht viel falschmachen,” wendete sich Lilja nun direkt an Zarifa. “Hier wird jede Frau und jedes Mädchen gut behandelt und bekommt genügend Essen und Kleidung. Vormittags wirst du arbeiten und nachmittags kannst du tun, was du möchtest. Ich schlage allerdings als Allererstes einen vernünftigen Haarschnitt vor.”
Auf Zarifas Gesicht wechselten sich Erleichterung und Verärgerung in rasender Geschwindigkeit ab. Schließlich kam sie offenbar mit sich überein, ein klein wenig beleidigt drein zu blicken und ihre Haare zu betasten.
“Und du, Cyneric, wirst etwas für mich erledigen müssen, damit wir quitt sind,” fuhr Lilja kurz darauf fort. “In wenigen Tagen findet eine Feier zu Ehren des Königs im Anwesen von Haus Bozhidar statt. Ich werde dafür sorgen, dass du den Gardisten zugeteilt wirst, die dort Wache stehen. Und dann...”
“Und dann?” wiederholte Cyneric verblüfft.
“Oh, alles Weitere erfährst du dann vor Ort,” sagte Lilja mit einem Augenzwinkern, das Cyneric gar nicht gefiel.
Kaum bin ich wieder zurück in Gortharia, schon überschlagen sich die Ereignisse, dachte er. Dennoch war er froh, dass Zarifa für den Augenblick in Sicherheit sein würde.
Er verabschiedete sich von Lilja und Zarifa, die im Garten sitzen blieben und machte sich auf den Rückweg zum Königspalast.
Es wird Zeit, mit Morrandir über einen weiteren Blick in den geheimnisvollen Brunnen zu sprechen, dachte er.
Cyneric zum Königspalast
Zarifa ins Haus der Stahlblüten
Fine:
Cyneric aus dem Untergrund von Gortharia
Es dauerte noch einen Tag länger als Cyneric erhofft hatte, bis er die Gelegenheit bekam, Zarifa im Haus der Stahlblüten zu besuchen. Nachtschichten und zusätzliche, vom König an die Palastgarde verordnete Patrouillen durch die zentralen Straßen der Stadt hatten dafür gesorgt, dass Cyneric drei Tage lang gerade genug Zeit zum Schlafen hatte, aber abgesehen davon keinerlei Freizeit. Und so war der Tag der Feier der Herrin Bozhidar bereits herangekommen, als er am Vormittag eilig durch die Straßen ging, um die Stahlblüten aufzusuchen.
Dort angekommen wurde er eher kühl empfangen. Die ausschließlich weiblichen Wachen ließen ihn nicht einmal einen Fuß auf das Grundstück setzen und gaben ihm mit so wenig Worten wie möglich zu verstehen, dass Frau Lilja im Augenblick keine Zeit für ihn hätte und dass Zarifa ebenfalls nicht zu sprechen sei. Erst als Cyneric sagte, es ginge um den Auftrag, den Lilja ihm gegeben hätte, hatte er Erfolg. Wenige Minuten später kam Lilja aus dem Haus und fragte ihn, was er denn nun wollte.
„Wo ist Zarifa?“ wagte er zu fragen.
„Sie ist nicht hier. Sie macht sich nützlich,“ antwortete Lilja.
„Was soll das bedeuten, sie macht sich nützlich? Ich hatte darum gebeten, dass sie hier in Sicherheit bleiben soll.“
„Und sie ist in Sicherheit. Mach dir darum nur keine Sorgen.“
„Wenn sie nicht hier ist, wo ist sie dann? Habt ihr sie etwa alleine losgeschickt?“
„Nur die Ruhe, nur die Ruhe. Sie wird bald zurückkehren. Du kannst gerne hier auf sie warten.“
„Dafür fehlt mir die Zeit.“ Cyneric wurde langsam klar, dass es ein Fehler gewesen sein konnte, Zarifa den Stahlblüten zu überlassen. Kaum lasse ich sie drei Tage alleine, wird sie schon von diesen Leuten für ihre Zwecke eingesetzt, dachte er. „Ich gehe sie suchen.“
„Das halte ich für keine gute Idee,“ erwiderte Lilja, dann seufzte sie. „Aber wenn du unbedingt so stur sein willst, bitte sehr. Geh nur und suche nach ihr. Sie hat das Anwesen sicherlich längst erreicht."
"Und wo?"
Lilja warf ihm einen Blick zu, der sagte: Für wie beschränkt hältst du mich eigentlich? Cyneric war klar, dass sie ihm nicht sagen würde, wo Zarifa zu finden war.
"Also gut. Ich werde sie schon selbst finden."
"Sieh zu, dass du dich nicht allzu auffällig verhältst. Das würde nicht gut für dich ausgehen," sagte Lilja. Die Drohung war kaum zu überhören.
Cyneric wandte sich ab und ging, ohne sich zu verabschieden.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Cyneric durch Zufall auf das Anwesen stieß, das Lilja in einem Nebensatz erwähnt hatte. Er war zunächst ziellos durch die Gassen des Adelsviertels gelaufen und hatte einige Passanten nach Zarifa gefragt. Und tatsächlich hatte ihm ein junger Ostling weiterhelfen können und ihm den Weg zu dem großen Haus gewiesen, bei dem er jemanden gesehen hatte, der auf Zarifas Beschreibung passte. Das große, prunkvolle Haus war von einer eigenen, recht hohen Mauer umgeben. Vor dem Tor standen vier Wachen mit gezogenen Speeren, die Cyneric misstrauisch beobachteten. Rasch bog er in eine Seitenstraße ab. Und wäre dort beinahe mit Zarifa zusammengestoßen, die dort an einer Hauswand lehnte und eine Grundrisszeichnung des Anwesens der Familie Kontio studierte.
„Pass doch auf, wo du - oh, du bist das. Hallo, Cyneric. Was machst du denn hier?“ Zarifa musterte ihn mit einem Blick, in dem eine Mischung aus Wiedersehensfreude und Verärgerung zu erkennen war.
„Dasselbe könnte ich dich fragen, Zarifa. Bist du im Auftrag Liljas hier?“ Cyneric kniete sich zu ihr.
Zarifa senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Ich soll in das große Anwesen dort einbrechen und etwas stehlen. Ein Testament, um genau zu sein. Und es dann gegen diese Fälschung austauschen. Warum weiß ich nicht.“ Sie hob ein Pergament hoch, das zu einer versiegelten Schriftrolle zusammengerollt war - offenbar handelte es sich dabei um das gefälschte Testament.
„Und du hast dich dazu überreden lassen?“ Cyneric konnte es kaum glauben. „Es war ein Fehler, dich bei den Stahlblüten zu lassen. Diese Leute sind gefährlich, auf ihre eigene Art und Weise. Sie nutzen dich aus, merkst du das?“
„Du hast mir ja keine große Wahl gelassen,“ gab Zarifa aufgebracht zurück. „Du hast mich einfach bei denen abgeladen und bist verschwunden, als wäre ich nur ein lästiges Gepäckstück, dessen du dich ohne viel nachzudenken entledigen wolltest. Ich dachte, du wolltest mir wirklich helfen. Da habe ich mich wohl getäuscht.“ Sie faltete die Karte hastig zusammen und stopfte sie in die große Tasche, die sie mit sich führte. Dann stand sie auf, die Arme vor der Brust verschränkt.
Cyneric erhob sich ebenfalls. „Ich kann verstehen, weshalb du aufgebracht bist,“ sagte er. „Aber bitte beruhige dich wieder. Lass uns etwas Abstand zwischen uns und dieses Anwesen dort drüben bringen, dann können wir reden.“
„Hmpf,“ machte Zarifa. „Na gut. Gehen wir.“ Besonders begeistert klang sie dabei allerdings nicht.
Sie fanden einen kleinen Platz, auf dem mehrere Bäume wuchsen, ungefähr eine Viertelstunde entfernt vom Haus der Stahlblüten. Dort setzten sie sich auf eine steinerne Bank, die im Schatten der Baumkronen stand. Hier war nur wenig los, denn sie befanden sich in der nordöstlichen Ecke der Stadt Gortharia, die eigentlich für die Reichen und Privilegierten reserviert war.
„Erzähl mir am besten erst einmal, wie es dazu gekommen ist, dass dich Lilja mit einem Einbruch beauftragt,“ sagte Cyneric freundlich.
Zarifa hingegen schien noch immer verärgert zu sein, doch schließlich begann sie, zu erzählen, wie es ihr im Haus der Stahlblüten ergangen war. „Irgendwann muss ihr aufgefallen sein, dass ich keine besonders gute Figur bei Haushaltsdiensten gemacht habe,“ sagte die junge Frau und erzählte von den Aufgaben, die sie im Haus der Stahblüten als eine der Bediensteten erfüllt hatte. „Sie kam heute morgen zu mir und sagte, sie hätte da eine Aufgabe, die eher meinen Talenten entspricht. Ich glaube, sie hat davon erfahren, als mir eine von ihren Freundinnen ein paar Tricks gezeigt hat. Du hast ihr ja nichts verraten, oder?“
„Natürlich nicht,“ versicherte Cyneric ihr. „Vielleicht hat sie sich irgendwie in die Aufzeichungen Radomirs Einblick verschafft.“
„Oder es war Radomirs Schwester, die es ihr erzählt hat,“ überlegte Zarifa. „Die war vor einigen Tagen bei Lilja zu Besuch. Aber es ist ja nicht wichtig, woher sie es weiß - jedenfalls sagte sie, dass ich in dieses Anwesen einbrechen soll und das Testament gegen eine Fälschung austauschen soll, dann würde ich für eine Woche vom Putzdienst befreit werden.“
Cyneric schüttelte den Kopf. „Ich habe dich zu den Stahlblüten gebracht, damit du dort in Sicherheit bist. Und jetzt begibst du dich freiwillig wieder in Gefahr.“
„Ich habe mich dort wie eingesperrt gefühlt, und fehl am Platz,“ erwiderte Zarifa, nach wie vor gereizt. „Ich musste einfach mal raus. Mir wäre schon nichts passiert, ich kann auf mich selbst aufpassen.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher,“ meinte Cyneric, doch noch ehe er den Satz zuende gebracht hatte, bereute er seine Worte schon. Er musste daran denken, was Zarifa durchgemacht hatte. „Tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen.“
„Halt einfach den Mund und lass mich nachdenken,“ presste Zarifa hervor. Sie hatte ihr Gesicht mit den Händen abgestützt und ihre Ellenbogen ruhten auf ihren Knien. Eine Minute verging, dann eine weitere. Schließlich atmete Zarifa tief durch und sah ihm in die Augen.
„Ich weiß zu schätzen, dass du mich hierher gebracht hast. Aber ich weiß jetzt auch, dass diese Stadt nichts für mich ist. Die Stahlblüten sind mir unheimlich, und ehrlich gesagt trifft das auf ganz Gortharia zu.“
„Ich verstehe,“ sagte Cyneric.
„Ich weiß nur nicht, was ich jetzt tun soll, oder wohin ich gehen soll,“ fuhr Zarifa traurig und ratlos fort.
„Du könntest... mit mir kommen,“ sagte Cyneric leise. „Ich habe erfahren, wo meine Tochter ist, und gleich morgen früh werde ich nach Norden reisen und sie suchen.“
„Wirklich? Du weißt wo sie ist? Und... du würdest mich mitnehmen?“
Cyneric nickte. „Salia und ich werden nach Thal reiten und von dort zum Einsamen Berg Erebor gelangen. Und du... du könntest mit uns reiten.“
Zarifa dachte einen Augenblick über das Angebot nach. Dann nickte sie zaghaft.
„Also gut, Cyneric. Du bist zwar manchmal ein Idiot, aber ich werde mit dir kommen.“
„Wie bitte?“ Cyneric musste lachen.
„Ich bin schon gespannt darauf, seine Tochter kennenzulernen, um herauszufinden, ob sie schlauer ist als ihr Vater.“ Zarifa streckte ihm frech die Zunge heraus.
„Das werden wir wohl erst dann erfahren, wenn wir sie gefunden haben,“ antwortete er. Dann blickte er sich wachsam um. „Hast du noch Habseligkeiten im Haus der Stahlblüten?“
Zarifa schüttelte den Kopf. „Hier drin ist alles was ich habe,“ sagte sie und zeigte auf ihre Tasche. "Die haben mir die Stahlblüten gegeben, zusammen mit einem Dolch und etwas Werkzeug, für Einbrüche. Ich habe den restlichen Platz darin für meine Habseligkeiten benutzt."
„Gut. Du solltest nicht dorthin zurückkehren. Wir brechen sobald wie möglich auf. Doch bevor wir gehen, muss ich noch eine Sache erledigen.“
„Was es auch sein mag, ich komme mit dir,“ stellte Zarifa klar.
„Also gut. Dann sollten wir dir vermutlich eine Rüstung besorgen...“
Der Gesichtsausdruck, den Zarifa in diesem Augenblick aufsetzte, ließ Cyneric schmunzeln. „Komm, genug herumgetrödelt. Wir haben eine Feier zu besuchen!“ Er sprang auf und lief los, gefolgt von der reichlich verwunderten Zarifa.
Cyneric und Zarifa zum Anwesen von Haus Bozhidar
Eandril:
Milva aus dem Untergrund von Gortharia
Seit sie von ihrer letzten Begegnung mit den Schattenläufern zurückgekehrt war, hatte Milva ihr kleines Zimmer kaum mehr verlassen - und seitdem war über eine Woche vergangen. Die meiste Zeit saß sie auf der Strohmatratze ihres Bettes, starrte die kahle Holzwand an, und hatte das Gefühl, die ganze Zeit in Nebel gehüllt zu sein, der sie nicht das sehen ließ, was wichtig war. Sie aß kaum etwas, verspürte aber merkwürdigerweise keinen Hunger. So waren die Tage dahin gezogen, bis ihre Vermieter sich Sorgen zu machen begannen.
Es klopfte vorsichtig an der Tür, und obwohl Milva nicht antwortete, trat eine kleine, grauhaarige Frau über die Schwelle - Ana, Ronvids Frau. Als sie Milva auf dem Bett sitzen sah, entspannten sich ihre Gesichtszüge ein wenig. "Ah, du lebst noch", meinte sie, die Hände in die Hüften gestützt. "Ronvid und ich haben uns ein wenig Sorgen gemacht... natürlich geht es uns nichts an, schließlich hast du für diesen Mond bereits bezahlt, aber nun... hast du Schwierigkeiten, Mädchen?"
Milva schüttelte den Kopf, und nickte gleichzeitig unwillkürlich. "Nein, ja, ich meine..." Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die sich, wie sie feststellte, ziemlich zerzaust und ungepflegt anfühlten. Was dachte sie sich nur? Es war nicht so, dass sie den beiden Alten misstraute. Doch sie fürchtete, dass jedes Wort zu viel eine Gefahr für ihre Vermieter bedeuten konnte.
Ana nickte mitfühlend. "Liebeskummer? Man mag es mir vielleicht nicht mehr ansehen, aber als junges Mädchen hatte ich das oft..." Sie lächelte, und Milva erwiderte das Lächeln unwillkürlich. Ana machte einen Schritt näher. "Hör zu, meine Liebe. Ich werde einen schönen Tee kochen, du kommst zu mir herunter in die Küche, und wir sprechen darüber. Von Frau zu Frau, und ohne dass Ronvid seine klugen Kommentare dazu beisteuert." Sie verdrehte die Augen, und beinahe hätte Milva gelacht. Bevor sie jedoch höflich ablehnen konnte - als ob sie unter Liebeskummer leiden würde - hörte sie ein leise Kratzen an dem kleinen Fenster. Ana hatte es auch gehört, denn ihr Blick wanderte langsam vom Bett hinüber zur Quelle des Geräusches. "Hast du...", begann sie fragend, und deutete dabei in Richtung Fenster. Kurzentschlossen sprang Milva vom Bett auf, und schob die alte Frau sanft, aber bestimmt, in Richtung Tür. "Danke, Ana, aber ich möchte jetzt wirklich ein Weilchen allein sein." Ana blickte verwirrt und ein wenig gekränkt drein. "Aber meine Liebe, was ist denn..." Als Milva sich anschickte, die Tür vor ihrer Nase zu schließen, unterbrach sie sich und sagte stattdessen: "Also schön, aber wenn du jemanden brauchst, mit dem du reden kannst..." Aus dem Augenwinkel sah Milva, wie sich das Fenster langsam öffnete, und so wartete sie das Ende von Anas Satz nicht ab, sondern schloss die Tür und schob mit einem Ruck den Riegel vor. Sie hatte sich gerade erst wieder zum Fenster umgewandt, als eine schmale, schwarzhaarige Gestalt in den Raum glitt und gewandt auf die Füße kam.
"Ich hoffe, ich habe nichts wichtiges unterbrochen?", fragte Salia, und klopfte sich ein wenig Staub von ihrem Reiseumhang. Sie sah beinahe genauso aus wie beim letzten Mal, das Milva sie gesehen hatte, wenn auch etwas zerzaust und staubig. Auch das Schwert, das in einer abgenutzten Scheide an ihrer Seite hing, war neu.
Milva schüttelte den Kopf. "Nein, nur..." Sie winkte ab. "Nichts wichtiges. Weswegen bist du hier?" Salia blickte ein wenig verlegen zu Boden. "Ich... bin mir nicht sicher, ob ich in Gortharia noch willkommen bin. Du bist die einzige Person in der Stadt die ich kenne, die nicht zu den Schattenläufern gehört - zumindest nicht direkt. Und ich dachte, vielleicht könntest du mir sagen..." Sie atmete tief durch. "Vielleicht kannst du mir sagen, ob ich vor den Schattenläufern in Gefahr bin."
Merîls Worte hallten in Milvas Kopf wieder. Nicht jetzt, da Teressa uns verraten hat... Sie nickte langsam. "Nach allem was ich weiß... glaube ich schon, dass sie eine Gefahr für dich sind." Salia hob den Kopf und blickte ihr in die Augen. Dann machte sie einen plötzlichen Schritt auf Milva zu, und packte sie fest an den Schultern. "Sie... haben dir etwas gegeben, nicht wahr? Und du hast es getrunken?" "Es war nur einmal", erwiderte Milva abwehrend, und spürte, wie sich ein leichtes Unbehagen in ihr ausbreitete. "Sie sagte, es würde mir beim Sehen helfen."
Salia machte einen Schritt zurück, und versetzte Milva dann eine Ohrfeige. "Du darfst ihnen nie wieder nachgeben. Merîls Trank, er... du wirst ihnen gehorchen. Je öfter du davon trinkst, desto gnadenloser, desto mehr wie sie wirst du werden." Milva rieb sich verwirrt die schmerzende Wange. "Du meinst, wie du es gewesen bist? Als du Teressa warst?" Salia blickte erneut zu Boden. "Ja. Ich habe mich davon befreit, aber ich weiß nicht, ob ich es alleine geschafft hätte. Ob ich es geschafft hätte, wenn ich hier in Gortharia geblieben wäre."
"Und doch bist du zurückgekehrt", stellte Milva fest. Salia nickte, und legte eine Hand auf das Schwert, das sie an der Seite trug. "Dieses Schwert hat meinem Vater gehört, und ich bin nach Norden gegangen, um es zu finden. Ich habe mir geschworen, mit dieser Waffe den König zu töten, als Rache für meine Familie. Und deswegen bin ich zurückgekehrt."
"König Goran?", fragte eine weibliche Stimme in Salias Rücken. Sowohl Milva als auch Salia fuhren zusammen, denn sie hatten den Neuankömmling nicht bemerkt. Am offenen Fenster stand Fiora, und strich sich lässig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "In diesem Fall wirst du dich wohl hinten anstellen müssen, Schattenläuferin."
Curanthor:
Dragan, Tiana, Kenshin, Nerassa, Ukko und Weiß aus der Taverne "Zum einbeinigen Zweibein"
Die Sonne schien bereits hell am Horizont und tauchte die Straßen der Hauptstadt Rhûns in ein blendendes Licht, doch blieben viele Ecken durch lange Schatten unbeleuchtet. Dragan blinzelte geblendet, als er auf die Straße trat und wäre fast gegen eines der Fuhrwerke gelaufen, dass mit den Fässern aus Tianas Taverne beladen war. Der Kutscher warf ihm einen amüsierten Blick zu. In langen Mänteln, oder abgerissenen Tüchern, die ihre Rüstungen bedeckten, standen die übrigen Söldner um die Karawane herum. Dragan wusste, dass sie alle, bis aus Weiß dem Zirkel angehörten. Sie trugen Schwerter, Äxte, Speere und Schilde. Kein Vergleich zu der Garde seines Vaters in Govedalend, dafür wirkten sie zu abgerissen, doch war sich Dragan sicher, dass sie jedem Feind einen harten Kampf liefern würde. Er sah es, wie sich die Männer wachsam umblickten und mit ihrer bedrohlichen Ausstrahlung alle Passanten verscheuchten, die sich zu nahe an die Fuhrwerke wagten. Er war sich sicher, dass sich viele Veteranen unter ihnen befanden. Tiana gab indessen Anweisungen an die restlichen Fahrer der Karawane. Kenshin stand teilnahmslos neben ihn. Dragan ließ seinen Blick etwas weiter schweifen und bemerkte Weiß, der ebenfalls neben ihm stand. Die beiden Krieger wandten sich die Köpfe zu.
"Jetzt fängt keine Schlägerei an", murmelte Dragan.
Weiß' Kapuze wandte sich ihm ruckartig zu.
"Das hatte ich nicht vor", entgegnete Kenshin ruhig und musterte den fremdartigen Krieger, "Ich bin aber versucht, um ein Duell zu bitten. Es gibt wenige Krieger auf der Welt, die eine solche Ausstrahlung besitzen. Ihr habt es bestimmt schon gespürt, mein Herr. Dieses unangenehme Gefühl im Magen. Dieses Wissen, dass er jeden einzelnen Mann hier, in kleine Scheiben schneiden kann, ohne sich seinen Mantel mit Blut zu beflecken."
Die Schultern des weißen Mantels bebten kurz, was scheinbar ein verhaltenes Lachen von Weiß war, denn der hob abwehrend eine Hand und wedelte gutmütig damit umher.
"Hmm, du willst also wirklich nicht sprechen?", fragte Dragan etwas enttäuscht.
Ein Daumen nach oben bestätigte seinen Verdacht.
"Und kannst du es mit den Männern hier aufnehmen, wenn du es wolltest?"
Eine kurze Pause folgte, in der Dragan das Gefühl hatte, dass Weiß alle Söldner musterte und ihre kämpferischen Fähigkeiten abschätzte.
Die Antwort war eine flache Hand, die abschätzend umherwiegte. Eine unbefriedigende Antwort, wie er befand. Dragan ahnte schon, dass Weiß schwer zu knacken war. Gelangweilt wandte er sich ab, aus dem Augenwinkel sah er jedoch, wie sich Weiß' Schultern etwas enttäuscht senkten.
Scheinbar doch kein so abweisender und kalter Kerl, falls es ein Kerl ist.
"Dragan!", rief Tianas Stimme und sie sprang von dem Fuhrwerkt, an dem er sich gerade anlehnen wollte. Etwas leiser fuhr sie fort: "Bist du dir sicher, dass du die Stadt verlassen willst? Ich habe gerade mit einigen Leuten von den anderen Zellen gesprochen und einen aus dem Inneren Zirkel getroffen. Scheinbar wird bald etwas Großes starten, alle Mitglieder wurden in Bereitschaft versetzt."
Er überlegte kurz. Vor seinem inneren Auge schwebte das Bild Cheydans, die in einer Zelle kauerte. Er konnte sich noch nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern, selbst der Klang ihrer Stimme war nur noch ein weit entferntes Flüstern in seinen Erinnerungen.
Entschlossen ballte er die Faust und nickte. Sein Platz war bei ihr und nirgendwo anders. Er würde jeden und alles aus dem Weg räumen, um bei ihr zu sein.
"Gut", befand Tiana und wirkte erleichtert, "Meine Cousine hat es nicht verdient, in den Fängen von Vakrim gefangen zu sein. Ich bin froh, dass du dabei bist." Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und schenkte ihm ein herzliches Lächeln, doch ihre Augen funkelten vor Trauer. Einen kurzen Moment verharrten sie so, bis sie sich abrupt abwandte und sich auf den Kutschbock schwang.
Erstaunt von der Ehrlichkeit der sonst so ausweichenden Wirtsfrau blieb er einen Moment verdattert stehen. Nerassa stieß ihm auffordernd in die Seite und reichte ihm ein paar Zügel. Dragan reagierte nicht, sondern tastete nach der Narbe an seinem Hals, unterhalb des Ohrs.
Nerassa bemerkte die Geste und fragte: "Woher hast du die eigentlich? Ich wollte dich das schon eine Weile fragen."
Er räusperte sich und griff hastig nach den Zügeln, doch der Fuchs zog die Hand zurück. Ihre grünen Augen funkelten auffordernd. Dragan mied ihren Blick und versuchte die schmerzhaften Erinnerungen zu verdrängen, die in ihm aufstiegen. Eine kalte, sternenlose Winternacht. Ein Gutshof in Flammen. Eine Gestalt mit Kapuze und zerrissener Robe. An ihren Armen und Beinen Metallringe, an denen schwarze Ketten rasselten. Ein scharfer Schmerz, der Dragan in die Wirklichkeit zurückholte. Die Todesangst, die er damals verspürte hatte, als ihm das Blut aus der großen Ader gewichen war, verklang nur langsam aus seinen Gliedern. Sein Atem war flach und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.
"Nicht jetzt und frage nie wieder danach", murmelte er abwehrend und grabschte grob nach den Zügeln.
Nerassa ließ ihn gewähren, hob jedoch besorgt eine Augenbraue. Sie wusste, wie schlecht er sich auf einem Pferd hielt, schon während er sich auf dem Rücken des Rappen schwang. Sie seufzte schwer und kletterte leichthändig vor ihm in den Sattel, in dem er sich gerade mit Mühe hineingezwängt hatte.
"Das wird ja sonst sowieso nichts", sagte sie dabei und nahm ihm die Zügel aus der Hand, "Ich reite schon, seitdem ich auf einem Pony sitzen kann, fast wie das Reitervolk im Westen."
"Das wusste ich nicht", antwortete er abwesend und versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bringen, doch es klappte nicht. Nerassa hob ruckartig den Kopf. Der Rappe wieherte ängstlich und tänzelte auf der Stelle. Das Gemurmel auf der Straße war verstummt. Irgendwo kreischte ein Kind aus vollem Hals seine Hysterie heraus. Ein bedrückendes Gefühl legte sich über die Straße. Eine unheilvolle Gänsehaut kroch ihm über den gesamten Körper. Dragan wollte in seine Taschen greifen, doch es gelang nicht. Ein rascher Blick nach unten verriet ihm, dass seine Finger unkontrolliert zitterten. Als er nach vorn blickte, sah er, dass selbst Nerassas Schultern sich durchgehend an- und entspannten.
"Was ist das?", würgte er hervor und schaffte es seinen Körper dazu zu zwingen, sich zur Seite zu neigen. Auf der Straße vor ihm stand das erste Fuhrwerk, auf dem Tiana saß. Rechts daneben kniete Kenshin auf dem Boden und umklammerte seine Naginata. Vor dem Krieger stand Weiß schützend, sein gleißendes Schwert in der Hand. Sein Gegner war eine grauenhafte Gestalt. Der Anblick ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Es war ein Wesen, das Dragan schon bereits vor zwei Jahren zu fürchten gelernt hatte. Das Rasseln der Ketten, das sich so tief in seine Erinnerung gebrannt hatte, wie die Narbe an seinem Hals in sein Fleisch, erklang, als die Gestalt ein pechschwarzes Schwert zog.
Jetzt hatte Dragan einen Namen zu dem unbekannten Schrecken, vor dem er sich in seiner Zeit als Ausgestoßener versteckt hatte.
"Schwarz", ertönte die eigentlich sanfte Stimme von Weiß mit unbekannter Härte.
Der Angesprochene zog die Kapuze ein kleines Stück zurück. Zwei blutrote Augen stierten aus den Schatten hervor. Dragan verschlug es den Atem, als er den Blutdurst darin las und senkte sofort seinen Blick.
"Weiß", antwortete Schwarz, dessen Stimme leise, aber messerscharf durch die Straße hallte, "Warum beschützt du diese Insekten?"
"Du weißt warum. Lass sie ziehen."
Schwarz schüttelte sich lautlos, sodass seine Ketten leise rasselten.
"Hast du jemals einen Stiefel gesehen, der in der Luft stoppte, als er Ameisen zerquetschte?"
"Ich habe andere Dinge gesehen, jene, die du zerstören willst. Deine Schüler werden versagen, so stark kann der Stiefel also nicht sein. Und du wirst hier und heute keinen Schaden anrichten."
Schwarz schnaubte zur Antwort, ehe er kalt sagte: "Du willst mich also aufhalten? Wir wissen, wie das ausgeht."
"Einer der Neun wird diesen Ort erreichen, wenn wir einen Kampf wagen", hielt Weiß dagegen und richtete die Spitze seiner Klinge auf Schwarz, "Nicht, dass mich das stören würde. Ich habe Zeit, du auch?"
Eine greifbare Spannung lag in der Luft, die so dicht war, dass man sie schneiden konnte. Schwarz antwortete nicht und schien zu überlegen. Er schwang probeweise seine Klinge umher. Sämtliche Menschen, die die Straße betraten oder näher als zwanzig Schritt kamen, erstarrten vor Furcht wie Salzsäulen. Dragans Hände zitterten noch immer, mit weit aufgerissenen Augen verfolgte er die Begegnung von Schwarz und Weiß.
"Zwei von ihnen sind vielleicht schon vergangen. Man kann sie vernichten, auf die eine, oder andere Weise, das steht fest", antwortete Schwarz schließlich gedehnt, steckte jedoch sein Schwert fort, "Aber ich habe keine Lust auf mehr Probleme als nötig. Wir sehen uns wieder."
Sobald die Worte verklungen waren, wandte sich Schwarz ab und verschmolz mit dem Schatten einer Gasse. Niemand rührte sich, bis das Rasseln der Ketten verklungen war.
Mehrere Herzschläge verstrichen, in dem eine ungewöhnliche Stille herrschte. Das Wiehern eines Pferdes beendete die beklemmende Stille. Leises Getuschel erhob sich. Nerassa atmete tief aus. Dragans Hände beruhigten sich, seine Atmung blieb jedoch schmerzhaft flach.
"Ich dachte, er würde uns alle aufschlitzen. Wie gut, dass Weiß uns kurz vorher beigetreten ist", flüsterte Nerassa atemlos und machte einige Atemübungen, "Ich war schon einmal in der Nähe eines der Ringgeister, doch ich hätte niemals erwartet eine ähnliche Ausstrahlung bei einem Fremden zu begegnen."
Ringsherum wurde mittlerweile laut darüber geredet, dass zwei der Neun vergangen seien. Niemand stellte die Wörter von Schwarz in Frage. Das Gerücht breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Am Ende der Straße funkelte es verdächtig Golden. Ukko befahl sogleich den Aufbruch. Nerassa murmelte, dass sie keine Lust auf die Stadtwache habe und ließ den Rappen anreiten. Dragan hatte noch immer nicht genug Luft in den Lungen, um zu antworten. Die Begegnung mit Schwarz würde er erst in einigen Tagen verarbeiten. Schweigend blickte er in die schattigen Gassen und betete, dass dort keine dunkle Gestalt mit Ketten an Armen und Beinen warten würde, während die Karawane sich quälend langsam durch die Stadt bewegte. Die Goldröcke winkten sie unbehelligt weiter, woraufhin erleichtert aufatmete.
"Ich denke, diese Reise steht unter mächtigen Zeichen. Gute, aber auch Schlechte", meinte Nerassa daraufhin und gab dem Pferd die Sporen, damit es zu traben begann.
"Was für Zeichen?", hakte Dragan nach, der inzwischen seine Stimme wiedergefunden hatte.
"Die Flammen des Roten Feuers sind verloschen", antwortete sie leise und wandte sich im Sattel halb zu ihm, "Nach deinen kleinen Spielchen in Govedalend, wirst du dich auf die Suche der Ishantar begeben, Feuergeist. Dies ist ein Auftrag von allen sieben Zirkeln. Bring uns die Flammen der Hoffnung wieder zurück."
"Und was haben die Ishantar damit zu tun? Und warum nennst du sie so, was auch immer sie sind?"
Nerassa setzte sich wieder gerade in den Sattel und sagte so leise, dass er sich über ihre Schulter beugen musste, um sie zu verstehen: "Sie sind die, die verborgen leben und das Feuer bewachen. Dein Freund Kenshin ist einer von ihnen."
"Wo finde ich sie?"
Sie schüttelte den Kopf und winkte ab mit den Worten, dass es noch nicht die Zeit dafür war. "Das Feuer brennt nun in allen Menschen Gortharias. Außerdem wird er dir niemals freiwillig sagen, was es mit dem Feuer und den Ishantar auf sich hat."
"Sollte ich lieber Weiß fragen?", überlegte Dragan laut.
"Ich bezweifle, dass er oder sie dir überhaupt eine Antwort gibt, wenn du nach dem Wetter fragst. Also verschwende nicht deine Zeit, bete lieber, dass wir unbehelligt durch die Stadttore kommen."
Curanthor:
Dragan saß hinter Nerassa im Sattel und schaute sich ungehaglich um. Ihm entgingen nicht die Blicke, die man ihnen zuwarf. Ein Mann ließ eine Frau das Pferd führen, das gab es selten und galt als unmännlich. Er wusste das, aber ihm war es scheißegal. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Dragan hatte nicht vor, wieder zurückzukehren. Sein Grund für den Besuch von Gortharia war noch immer Cheydan und er hatte keine Lust, noch weiter in die Ränkespielchen des oder der Zirkel verwickelt zu werden. Dragan zuckte zusammen, als von einem ihrer Fuhrwerk eine Kette rasselte, die die hintere Klappe oben hielt. Nerassa bemerkte seine Reaktion und ließ das Pferd etwas langsamer traben. Schneller ging es so oder so nicht durch die vollen Straßen der Stadt.
"Willst du darüber reden?", fragte sie leise und wandte ihm halb den Kopf zu.
"Wir sollten erst einmal eine große Distanz zwischen uns und diese Stadt bringen. Am besten bis nach Gondor."
"Ich glaube nicht, dass das weit genug sein würde", murmelte sie leise.
Dragan antwortete nicht. Nerassa wusste nicht, wie recht sie hatte.
"Dragan!", rief eine bekannte Stimme und Kenshin eilte von dem vordersten Fuhrwerk zu ihm. An seiner Seite war eine altbekannte Gestalt, die seine Laune endgültig kippen ließ.
"Was willst du hier, alter Mann?", fragte er Ivailo feindselig anstelle einer Begrüßung.
Sein Vater wirkte ausgezehrt, seine Augen lagen tief in den Augenhöhlen, die Wangen waren eingefallen und sein Bart sprießte ungepflegt. So hatte er ihn noch nie gesehen.
"Ich muss mit dir noch einmal reden, bevor du aufbrichst. Ich weiß, dass ich kein Recht habe dich darum zu bitten, aber würdest du mir noch ein einziges Mal dein Gehör schenken?"
Noch nie hatte sein Vater so eine Bitte an ihn gewandt, es musste unheimlich wichtig sein. Kenshin machte eine zustimmende Geste. Er spürte, wie Nerassa das Pferd zum stehen brachte und ihm zu verstehen gab, dass sie auf ihn warten würde.
"Also gut", würgte er hervor und deutete in eine abgelegenere Gasse, "Ich werde nur zwei Sätze lang zuhören, also wähle deine Worte gut."
Unbehändig und mit Nerassas Hilfe stieg er vom Pferd. Kenshin begleitete sie, sodass sich das Treiben vor dem Krieger wie ein Tor öffnete. In der Gasse angekommen, kehrte der Krieger zu der Karawane zurück, während Nerassa ihr Pferd vor dem Eingang postierte und darauf achtete, dass sie ungestört blieben.
Dragan verschränkte die Arme und lehnte sich an eine der rötlichen Wände.
"Sprich."
"Ich weiß nicht, was damals geschehen ist, als du mit deiner richtigen Mutter unterwegs warst und ich habe dir das noch immer nicht vergeben, aber da gibts es etwas, dass ich dir sagen muss."
Dragan zog die Brauen zusammen.
"Dafür verschwendest du einen ganzen Satz? Dass du mir noch immer nicht für etwas vergeben kannst, woran ich keine Schuld trage? Wofür du mir mein Leben zu Hölle gemacht hast?", den letzten Satz schrie er fast.
Ivailo blieb stumm und kniff die Lippen zusammen, während Dragan ihn wütend anfunkelte und sagte: "Zweiter Satz. Spuck es aus, ich habe nicht ewig Zeit."
Sein Vater schien sich zu straffen und blickte ihm geradewegs in die Augen. Er konnte sehen, wie er mit sich rang.
"Du hast eine Schwester", kam es ihm leise über die Lippen, "Und du musst sie retten."
Ein unbekanntes Feuer loderte in Dragans Innersten auf. Etwas platzte in seinem Kopf. Krachend landete Ivailo an der Wand, Dragan sah sich ihm selbst gegenüber, die Hand um den Hals gepackt, einen Dolch in der anderen Hand. Alles wirkte seltsam entstellt, seine Wut hatte ihm voll im Griff.
"Und von wem soll dieses Kind sein?", zischte er gefährlich leise und presste die Klinge an den nackten Hals seines Vaters. Der Stahl ritzte in die Haut und hinterließ eine blutende Wunde.
"Von Kalena!", rief Ivailo rasch, "Von deiner Mutter; von deiner einzig wahren Mutter."
Dragan ließ ungläubig den Dolch sinken und lockerte seinen Griff. "Von Kalena? Wie?"
Ivailo wandt sich, entkam aber nicht seinem Griff um den Hals.
"Erinnerst du dich, als deine Mutter für einige Zeit zur Erholung nach Minzuh ging?"
Dragan verstärkte seinen Griff und Ivailos Gesicht nahm eine bleiche Farbe an.
"Das heißt, dass du mich fast zwanzig Jahre lang belogen hast?", hackte er mit kaum beherrschter Wut nach, "Warum?!"
"Um euch beide... um euch beide zu schützen", krächzte er unter dem Druck um seinen hals und röchelte nach Luft.
"Wovor musstest du uns schützen? Warum hast du das verschwiegen?", brüllte er und befreite ihn abrupt von seinem Griff. Sein Vater fiel keuchend vornüber und massierte sich den schmerzenden Hals. Dragan konnte es nicht fassen, dass ihm das die ganze Zeit lang verheimlicht wurde. Es machte ihn wütend, aber zugleich auch traurig, da ihm seine Mutter ebenfalls nichts gesagt hatte. Sein Blick ging zu dem Eingang der Gasse, wo Nerassa ihnen immer wieder Blicke zuwarf, aber keine Anstalten machte sich einzumischen, wofür er ihr dankbar war. Dragan atmete tief durch und rieb sich die Schläfen. Der Zorn pochte immernoch in seinen Adern, aber der Gedanke, dass er irgendwo eine Schwester hatte, die offenbar in Gefahr war, kühlte ihn wieder ab. Ihm war klar, dass sein Rabenvater ihm sonst nie die Wahrheit gesagt hätte. Er drehte sich wieder zu Ivailo, der sich inzwischen wieder erholt hatte und sich seine Kleidung glatt und die Haare zurückstrich.
"Weiß Kenshin davon?", fragte er nun ruhiger.
Ivailo wirkte ein Spur erleichert, als er nachfragte. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass Dragan nach den zwei Sätzen ging. Ivailo kannte ihn wohl nicht gut genug, um zu wissen, dass er sich schon immer Geschwister gewünscht hatte.
"Sicherlich weiß er davon, deswegen habe ich ihn überhaupt kennengelernt. Der Familienclan der Drachenklingen war so freundlich Kalena für die Zeit der Schwangerschaft bei sich aufzunehmen. Die Niwas haben deine Schwester aufgezogen, nachdem deine Mutter wieder nach Hause gekommen war."
"Drachenklingen? Niwas? Davon hat mir Kenshin noch nie erzählt."
Ivailo lächelte flüchtig und nickte.
"Das überrascht mich nicht. Er ist nicht sehr gesprächig. Falls du jemals in die Richtug gehen solltest, wirst du sehen, dass Minzuh sich deutlich von unserer Kultur unterscheidet, noch mehr-..."
Dragan unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
"Wo ist sie jetzt? Und welche Gefahr droht ihr?", fragte er besorgt.
Ivailo wirkte einen Moment erstaunt, fing sich aber rasch und antwortete bedächtig: "Dort wo alles begann."
Dragan verstand sofort und fragte nach den Namen.
"Halte Ausschau nach einer schmächtigen jungen Frau mit dunkelblonden Haaren und einem kleinen Muttermal an der rechten Wange", er beugte sich etwas zu ihm rüber, "Ihr Name ist Idania."
"Ein schöner Name. Das beantwortet aber nicht die andere Frage."
Ivailo blickte sich hastig um, sein Blick blieb kurz an Nerassa verweilen. Dragan ahnte, dass sein Vater die Wahrheit sagen würde, denn so verunsichert hatte er ihn noch nie erlebt. "Du bist ihnen schon einmal begegnet. Ich befürchte, dass sie in den künftigen Unruhen ein sehr gutes Ziel abgeben wird."
Dragan schnaubte und fragte, warum er sie nicht selbst beschützen würde, wie es sich für einen Vater gehören würde. Doch Ivailo winkte ab und sagte, dass sein Gesicht zu bekannt sei, selbst als Wolf sei es zu unsicher und ihre Gegner weitaus gefährlicher waren, als alle Untergrundorganisationen in Gortharia zusammen.
"Weder die lächerliche Schwarze Rose, noch die selbstsüchtigen Schattenläufer können sich mit ihnen messen. Du weißt von wem ich rede. Oh und tue dir den Gefallen und vergesse den Namen von Letzteren, die mögen es gar nicht, wenn sie ins Licht getreten werden."
"Ich verstehe", sagte Dragan nur knapp und wandte sich zum Gehen, "Ich werde meine Schwester retten und Vakrim töten."
"Ich wünsche dir Erfolg, trotz allem bist du noch immer mein eigen Fleisch und Blut. Kalenas Erbe. Ihre bedachte Art hast du geerbt, nicht meine Feigheit. Merke dir das, wenn du ihnen gegenüber stehen solltest.
"Ich werde vorsichtig sein", antwortete Dragan leise und drehte sich halb um, "Gib auf dich Acht, denn du schuldest mir noch einige Erklärungen, Vater."
Ivailos Gesicht entspannte sich. "Natürlich, ich werde dich finden, wenn es soweit ist."
Irgendwie hatte Dragan das Gefühl, dass dies ein Abschied war. Ein Abschied für immer. Ein Teil von ihm war froh darum, seinen despotischen Vater nie wiederzusehen, aber die weiche Seite, die er in ihrem Gespräch gezeigt hatte, war ihm neu und stimmte ihn grüblerisch. Nachdenklich ließ er sich von Nerassa in den Sattel heben. Sie war taktvoll genug keine persönlichen Fragen zu stellen, sondern feststellend zu sagen: "Ein zusätzlicher Auftrag nehme ich an."
Dragan nickte und erklärte, dass er ebenfalls eine Warnung im Gepäck hatte. Der Fuchs nickte nur knapp und murmelte, dass die Begegnung von heute Morgen Warnung genug sei.
"Denkst du, er wird wieder auftauchen?", fragte sie, während sie zum östlichen Stadttor ritten, wo gerade die Fuhrwerke problemlos passierten.
"Ich hoffe nicht", murmelte er leise und setzte nach, "Sonst können wir alles, wofür wir in den letzten Wochen gekämpft haben in die Tonne treten - und uns dazulegen"
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