Milva, Aivari und Inari von den Gebieten westlich des Meeres von Rhûn...Die Nacht war klar, kühl und sternenklar, wie Rauchwölkchen zogen Nebelschwaden von den Bächen und Wiesen die Berghänge hinauf, die sie immer weiter hinter sich ließen.
Zu ihrer Linken erstreckte sich bald das weite Meer von Rhûn. Sie ritten in einiger Entfernung und auch das Halbdunkel ließ nur erahnen wie weit sich das Wasser in den Horizont erstreckte. Ihr Pferd Radko schnaubte von der anstrengenden Reise, doch die Kraftreserven, die in diesem Tier schlummerten, waren beeindruckend.
Vor ihnen war der Mond schon untergegangen, und über ihnen funkelten die Sterne; hinter ihnen war das Licht des Tages noch nicht gänzlich über die dunklen Berge heraufgekommen.
Es war ein Grasland mit einem kurzen, federnden Grasteppich, und es war nichts zu hören als das Wispern der Luft über den Bergrücken und hoch oben einzelne Schreie fremdartiger Seevögel und das Plätschern der kleinen Wellen am Ufer des Meeres und die Brandung der Strömung am Schilf.
Die Gruppe sprach nicht mehr bis sie während der ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages ihr Ziel in der Ferne erkannte. Fremde Bauwerke und Gemäuer erstreckten sich am Horizont über einen sonnenbeschienen, gigantischen Felsen auf den unzählige Straßen und Gassen hinaufführten.
An der Spitze des Felsens thronte ein prunkvolles, palastartiges Gebäude aus rotem Gestein und goldenen Dächern, in seinem Glanz und Prunk nur noch übertroffen von einem in der Nähe liegenden Tempel.
Viele der Häuser in den tieferen Regionen waren hingegen aus Holz gefertigt, das war schon aus dieser Entfernung zu erkennen, und die Strohdächer leuchteten im feurigen Orange der Morgensonne.
Da die Stadt direkt am Meer von Rhûn erbaut worden war, lag eine Flotte von einer Größe im Hafen der Stadt, wie sie Aivari zu Lebzeiten noch nicht gesehen hatte. Rauch stieg aus unzähligen Schornsteinen empor und viele Flaggen mit dem Wappen des Königreichs Rhûn wehten im lauen Seewind.
Immer näher kamen sie der äußersten Stadtmauer, nur eine von vielen, die sich schützend um die Bauwerke auf dem Felsen zogen. Während Aivari die Ausmaße der Stadt noch staunend betrachtete, gingen die Mauern von Braun in ein feuriges Rot über und glänzten schwach in der Morgendämmerung; Aivari bemerkte die vielen brachliegenden Felder außerhalb der Stadt. Manche waren völlig ausgetrocknet, andere mit Unkraut überwuchert.
»Der Krieg im Westen fordert seinen Tribut«, sagte Inari zu ihm, als sie die Straße entlangritten, die auf das große Tor im Westen Gortharias zuführte.
»Diese Felder wurden von Sklaven bewirtschaftet, die heute ihr Leben im Westen lassen müssen, in Kämpfen in die sie unschuldig hineingeraten sind, für einen Zweck, der ihnen weder dient noch ihr Leben einfacher machen wird.«
Aivari wusste nicht recht, was er antworten sollte. Diese prachtvolle Stadt von einer Größe, wie sie auch im Westen kaum anzutreffen war, vielleicht die größte, die er je gesehen hatte – erbaut auf Knochen und Blut versklavter Arbeiter. Es war eine bittere Note, die sich auf seinen ersten überwältigenden Eindruck legte.
»Wir sollten uns rasch neue Kleidung besorgen, sobald wir die Stadt betreten haben, Aivari.«
Inari riss den Zwerg wieder aus seinen Gedanken. Vor ihnen erhob sich ein großes Stadttor, viele Menschen gingen ein und aus, selbst zu dieser frühen Stunde.
»Du magst in deiner Kluft nicht sofort auffallen, aber die Wappen der Riddermark dürften hier auf Aufmerksamkeit stoßen, die wir nicht gebrauchen können.«
»Sie hat recht«, stimmte Milva zu, die in ihrer Jägerkluft aus Hirschleder zwar ebenfalls nicht wie ein typischer Bewohner Gortharias aussah, aber weitaus weniger auffällig war als Inari. »Ich habe zwar keine Ahnung wo diese Riddermark liegen soll, aber wenn sie mit Rhûn im Krieg liegt, solltet ihr diese Wappen auf jeden Fall verbergen.«
Ein paar Wachen, die nicht unähnlich gekleidet waren, wie die Soldaten, die sie überfallen hatten, versuchten die eintretenden Menschen sporadisch zu kontrollieren, was von wenig Erfolg gekrönt war.
Inari verdeckte ein paar der auffälligeren Stellen ihrer Rüstung mit den Leinentüchern, die von Kazimir in ihren Besitz gelangt waren. Zwischen einigen anderen Reitern und zwei Händlerkarren, die einer umfangreicheren Inspektion unterzogen wurden und die wenigen Wachen voll und ganz beschäftigten, kamen sie alle drei ungesehen ins Innere der Stadt.
In den Straßen und Gassen herrschte geschäftiges Treiben. Düfte von frisch gebackenem Brot stiegen Aivari in die Nase und die holprige Straße, die sie hierher geführt hatte, wurde durch einen gesteinten Weg abgelöst, auf dem die trappelnden Hufe ihrer Pferde durch die Hauptstraße und einige engere Gassen schallten.
Es war eine wahrlich starke Feste, die wohl kein feindliches Heer einzunehmen vermochte, wenn Männer in ihrem Inneren waren, die Waffen führen konnten. Bogenschützen konnten Angreifer durch die vielen Höhen der Stadt stets ins Kreuzfeuer nehmen und Katapulte hatten auf lange Entfernung gute Sicht auf nahende Feinde.
»Kalervos Kleidungsgeschäft ist nicht weit von hier, wenn er noch dort seinen Sitz hat, wo er zuletzt war. Ich kenne ihn seit vielen Jahren und…«
Inari neigte sich ein wenig zu dem Zwerg zurück, der hinter ihr saß. »Er hat nicht viel übrig für die Obrigkeit und die menschenunwürdigen Gesetze dieses Landes. Ich bin mir sicher, er kann uns weiterhelfen.«
Zwei Straßen weiter fanden sie sich vor einem kleinen, unscheinbaren Gebäude wieder, das sich nicht sonderlich von den anderen Häusern abhob. Nur ein kleines Holzschild mit der Aufschrift „Kalervos Allerlei“ in verschiedenen Schriften und Sprachen deutete auf einen Laden hin.
Sie sattelten ab und banden ihr Pferd an einen dafür vorgesehenen Holzpfahl neben der Eingangstür. Kalervo selbst war nicht anzutreffen.
»Scheint, als wäre euer Bekannter nicht zu Hause«, meinte Milva in misstrauischem Tonfall. »Ich denke, ich werde lieber draußen warten, falls etwas schiefgeht.«
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»Wegen Verschwörung und Rufmord am König in Gewahrsam genommen«, teilte ihnen eine seiner Aushilfen in monotoner Stimmlage mit, als erzähle sie die Geschichte bereits zum hundertsten Mal.
Inari schnaubte wütend und fragte die ältere Dame nach Einzelheiten zur Festnahme ihres Bekannten. Aivari war indes von dem kleinen Geschäft völlig verblüfft. Wie hatte man so viele exotische Stoffe, Leder und Metalle in einen so kleinen, schwach beleuchteten Raum hineinbekommen? Das war selbst für Zwerge, die Meister im Platzsparen waren, recht erstaunlich. Er ging an Bergen voller Kleidungsteile vorbei in allen Farben der Welt, Bäche von Schals und Leinengewändern, Gamaschen und Anglerhosen, Bergschuhen und allerlei Kopfbedeckungen, die nicht immer als solche zu erkennen waren, bahnten sich ihren Weg durch das Geschäft.
»Ich hatte an so etwas gedacht«, teilte die ältere Dame schließlich mit und deutete auf ein paar Leinengewänder und Kettenhemden. »Und für den Herrn Zwerg vielleicht noch ein solcher Turban. In weiß? Ich glaube er würde euch gut zu Gesichte stehen. Die Obrigkeit pflegt solche zu tragen, und das scheint mir für eure Pläne am sinnvollsten.«
Inari hatte die alte Frau offenbar von ihren Plänen unterrichtet oder sie wusste schon vorher weshalb Inari hierhergekommen war. Pläne, die sie selbst Aivari noch nicht ganz offengelegt hatte.
Nach einigem Debattieren und Ausprobieren stand Aivari in neuer Kluft vor einem großen Spiegel, der irgendwie zwischen einer rückwärtigen Tür und zwei Hügeln aus Stoffhosen angebracht worden war.
Ein weißer Turban wickelte sich um seinen Kopf, die langen Haare darin verschwindend.
Unter seinen Augenbrauen kam nur noch der weiße, teils mit zwergischen Rollspangen geflochtene Bart zum Vorschein. Am Oberkörper trug er zuunterst ein braunes Stoffhemd und darüber ein silbernes Kettenhemd, das auch seine Oberarme bedeckte. Eine Lederweste und ein marineblauer, dicker Stoffumhang mit zwergischen Verzierungen an den Säumen in weiß und silber, sowie ein weites, schwarzes Wolfsfell, das er sich über seine Schultern legte, rundeten die neue Kleidung ab.
Seine längst zerschlissene und mehrfach geflickte Hose wurde durch eine dunkle, robuste Stoffhose ersetzt, die teils mit Lederteilen verstärkt war. Seine ausgetretenen Stiefel wurden durch neue Lederstiefel ausgetauscht.
Einen neuen verzierten Ledergürtel mit zahlreichen kleinen Taschen zog er darüber.
»Ihr habt Glück das ich erst letzten Monat einen zwergischen Händler zu Besuch hatte, der auch Bekleidung in eurer Größe geliefert hat.«, meinte die alte Verkäuferin zu ihm, während sie seinen Turban noch einmal passgenau ausrichtete und das Wolfsfell zurecht zog. »Seit wir im offenen Krieg mit eurem Volk sind, ist es schwieriger für euresgleichen alltägliche Dinge in dieser Stadt zu finden. Ohnehin trifft man nur noch selten Vertreter eures Volkes in Gortharia. Seid besser auf der Hut und meidet Nebenstraßen im Dunkeln. Auch wenn ihr nicht von offizieller Seite am Betreten unseres Landes gehindert werdet, wird euch unter den meisten Königstreuen offene Abneigung entgegengebracht werden.«
Aivari war nicht überrascht, nicht weniger hatte er erwartet. Noch als er in den Eisenbergen lebte, befanden sich ihre Völker im Krieg und es wurde davor gewarnt weit in den Süden zu reisen.
Inari tauschte die Rüstung der Rohirrim, oder das was von ihr übrig war, gegen ein neues, langärmeliges Kettenhemd ein, das bis zu den Knien reichte, dazu lederne Arm- und Beinschoner und metallene Schulterplatten und Brustschutz, sowie ein ledernes Oberteil, das auch den Hals mit einem Kragen schützte und bis über die Hüfte reichte. Dazu ein Gürtel mit einigen Taschen, braune Stiefel und eine dunkle Stoffhose.
Zusammen ergaben sie so einen reichen Zwergenhändler oder einen kleinen Menschen aus der oberen Schicht mit einer gekauften Leibwächterin. Ein Anblick, der immer noch ungewöhnlich, aber nicht allzu auffällig war.
Durch Inaris Kontakte mussten sie für ihre Neueinkleidung nicht einmal bezahlen, dennoch überließen sie der alten Dame ein paar Goldmünzen – das gebot allein der Anstand und die Freundlichkeit der Frau.
»Unsere Wege müssen sich jetzt für einige Zeit trennen«, meinte Inari zu Aivari gewandt, der noch mit seinem Turban kämpfte, als sie den Laden wieder verließen, jedoch abrupt innehielt, als sie sprach. »Ich werde dich noch heute wiederfinden, aber im Moment würdest du die Sache nur erschweren und dich selbst in Gefahr bringen. Es gilt einige alte Bekanntschaften zu erneuern. Vertrau mir. Sobald ich mehr weiß, komme ich zurück. Geb Acht auf dich und halt dich im Zweifel an Milva. Sie kommt schließlich aus Rhûn und dürfte verhindern, dass du auffällst.«
Aivari überlegte kurz zu protestieren, schließlich hatte er den weiten Weg nur auf sich genommen, um ihr zu helfen, doch sie wirkte entschieden und letztlich wusste sie immer noch am Besten, was ihr Plan war. Allmählich befand es Aivari jedoch für merkwürdig, dass sie ihn nicht weiter in ihre Pläne einweihte und nun einfach verschwinden wollte.
»Ich vertraue dir, aber ich brauche dafür auch dein Vertrauen, Inari. Ich glaube du begibst dich in Gefahr und ich wäre lieber an deiner Seite, wenn das geschieht.«
»Ein letztes Mal muss ich dich noch im Ungewissen lassen, Aivari. Sei dir sicher, dass ich dir mehr sagen würde, wenn ich könnte. Ich muss vorerst alleine handeln. Pass auf dich auf.«
Sie umarmte ihn noch rasch, bevor sie schnellen Fußes in einer nahen Menschentraube verschwand und in eine Gasse abbog.
Aivari schaute unter seinem Turban zu Milva auf und setzte ein wenig überzeugendes Lächeln auf. »Ich schätze damit sind wir auf uns allein gestellt. Wo gedenkt Ihr hinzugehen?«