Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Das Nebelgebirge

Moria

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Fine:
Durch den Schacht über Córiels Kopf fiel ein Lichtstrahl auf sie herab, der sich mehr und mehr von goldgelb zu blutrot verfärbte. Die Hochelbin lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett und versuchte, am oberen Ende des Schachtes etwas zu erkennen. Ein Rechteck bestehend aus violettem Himmel hing dort, so weit über ihr, dass an Klettern nicht zu denken war.
Abwesend starrte Córiel den Schacht hinauf und ließ ihre Gedanken auf Wanderschaft gehen. Vaicenya war nun bereits seit mehreren Stunden verschwunden geblieben. Córiel hatte die Uruk-hai auf der anderen Seite der Zimmertür hin und wieder miteinander in ihrer Sprache sprechen hören, doch niemand hatte die Tür geöffnet. Offenbar war Vaicenyas Autorität groß genug, dass sich die Uruks selbst in ihrer Abwesenheit an ihre Befehle hielten.
Córiel ließ die Eindrücke, die sie seit ihrer Ankunft in den Minen von Moria gesehen hatte, noch einmal an sich vorbeiziehen. Sie waren einer der Hauptstraßen durch das unterirdische Reich gefolgt. Entlang diesem Weg hatte es nicht ein einziges Gebiet gegeben, das auf Córiel unbewohnt oder verlassen gewirkt hatte. Jeder Teil des alten Zwergenreiches hatte nun wieder Sinn und Zweck. Im Herzen von Sarumans Reich gab es nur einen einzigen Grund für all die Betriebsamkeit: Den Krieg gegen Mordor und den Dunklen Herrscher.
Córiel wollte gar nicht daran denken, was geschehen würde, wenn Saruman aus dem Konflikt mit Sauron als Sieger hervorgehen würde. Die Kriegsmaschinerie und die eiserne Faust der Orks von Moria würden sich gnadenlos gegen alle richten, die sich nicht der Herrschaft ihres Meisters Saruman beugten. Die Menschen und Elben, die das in Aldburg geschmiedete Bündnis mit der Weißen Hand nach der Belagerung von Dol Guldur gebrochen hatten, standen vermutlich ganz oben auf der Liste jener, die Saruman im Weg waren. Rohan und Imladris drohten nach einem Sieg der Weißen Hand gefahrvolle Zeiten.
Doch was ist die Alternative? Soll etwa der Dunkle Herrscher siegen, und ein neues Zeitalter der Finsternis einleiten? Nein, daran wollte sie nicht denken. Wir können nur hoffen, dass sich Sauron und Saruman in ihrem Krieg gegenseitig so sehr aufreiben, dass sie keine Bedrohung für Mittelerde mehr darstellen... Sie wusste natürlich, wie gering diese Hoffnung war. Viel wahrscheinlicher war es, dass der Sieger aus dem Krieg zwischen Weißer Hand und Rotem Auge noch stärker hervorging.

Sie musste irgendwann tatsächlich eingeschlafen sein, denn als Vaicenya Córiel weckte, war das Licht am Ende des langen Schachtes verschwunden. Draußen, über den gewaltigen Gipfeln der Nebelberge, war es Nacht geworden.
“Sucuy,” wisperte Vaicenya, die auf der Bettkante saß und im Dunkeln kaum zu erkennen war. Weitere Worte in einer Córiel unverständlichen Sprache folgten, die sich nach und nach zu einer Melodie verflochten:

”Féä tauryeldë, í-ringvetall an-Tar
Hísimar ta-veldë, echâriel silnar
Lassarisinéma, û-chel giláril mîn
Yevaní odhíma, valarrica á-dîn

Féä tauryeldë, déasidhar aglór
Tor-rechil elveldë, á-tirin tír rochor
O dagnór mivîla, taurantar lassim
Heren dhaurelena, menîl û-carassim.”
Das Lied verklang und die Stille kehrte in den kleinen Raum zurück. Córiel spürte, wie sich die Matratze unter Vaicenyas Gewicht verbog, als sich die Dunkelelbin neben sie legte.
“Was hast du da gesungen?” fragte Córiel nach einiger Zeit des unbehaglichen Schweigens.
“Das war einer der vielen Avarin-Dialekte des Ostens,” antwortete Vaicenya leise. “Es gab eine Zeit, in der ich mir in den Kopf gesetzt hatte, sie alle zu lernen. In diesem Lied wird Yávanna, die Herrin von allem, was wächst, besungen.”
Für Córiel hingegen war das Lied von einer tiefen Sehnsucht erfüllt gewesen. Vor ihrem inneren Auge hatte sie für einen kurzen Moment ein fernes, grünes Land gesehen, das zwischen hohen, schneebedeckten Bergen und einem schier endlos weitem Meer gelegen war.
“Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, meine Liebe. Sieh zu, dass du den Schlaf bekommst, den du brauchst.” Damit drehte Vaicenya ihr den Rücken zu (soweit Córiel es in der Dunkelheit erkennen konnte, denn ihre Hand auszustrecken, um nachzufühlen, wollte sie lieber nicht) und schwieg, bis Córiel schließlich erneut die Augen zu fielen.

Als Córiel erwachte, war das Licht im Schacht über ihr zurückgekehrt, doch noch war es nur schwach. Es musste früh am Morgen sein. Vorsichtig setzte sich die Hochelbin im Bett auf und warf einen Blick auf Vaicenya, die noch immer schlief. Das kastanienbraune Haar der Dunkelelbin hatte sich wie eine dichte Wolke auf ihrem Kissen ausgebreitet und ihre Brust hob sich in regelmäßigen Abständen. Sie war erstaunlich leicht bekleidet und nicht von einer Decke bedeckt.
Verstohlen tastete Córiel nach ihrem Dolch, der bei ihren Habseligkeiten neben dem Bett lag. Ihre schlanken Finger schlossen sich um den mit Leder besetzten Griff. Ohne ein Geräusch von sich zu geben setzte sie Vaicenya die Klinge an die Kehle.
Es wäre so einfach, jetzt zuzustoßen. Sie könnte die Machenschaften der Dunkelelbin in genau jenem Augenblick beenden. Córiels Herz begann, lauter zu schlagen, als es den Ruf nach Blut zu vernehmen begann. Es war schon zu lange her, dass sie ihren letzten Kampf bestritten hatte. Die vielen Übungsgefechte gegen Jarbeorn in Bruchtal waren nicht mehr als ein schwacher Trost gewesen.
Doch Vaicenya würde ihr keinen Kampf liefern. Die Dunkelelbin schlief. Sie war wehrlos und war Córiel in jenem Augenblick auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Ich sollte es nicht tun, dachte Córiel, doch sie nahm die Klinge nicht weg. Wie würde ich jemals aus Moria entkommen, ohne dass mir Vaicenya den Weg frei räumt? Und wer weiß, was sie für furchtbare Dinge in Bewegung gesetzt hat, von denen wir erst dann erfahren würden, wenn es bereits zu spät ist? Wenn sie jetzt stirbt, finden wir ihre Geheimnisse niemals heraus.
Und doch...
Sie biss die Zähne zusammen als ihr innerer Konflikt stärker wurde. Schließlich gelang es Córiel, den Dolch langsam, Zentimeter um Zentimeter, von Vaicenyas Kehle zu entfernen. Einen Augenblick verharrte ihre Hand an Ort und Stelle, dann kam ein Impuls aus der dunkelsten Ecke ihres Verstandes, und die Dolchspitze senkte sich auf die Brust der Dunkelelbin herab, direkt oberhalb ihres Herzens. Nur eine dünne, beinahe schon durchscheinende Stoffschicht trennte das kalte Metall noch von der Haut der schlafenden Elbin.
Denk an Elronds Auftrag, dachte Córiel angestrengt. Denk an deine Mission! Du darfst das nicht tun!
Ich sollte es tun. Sie hat den Tod verdient.
Gib nicht dem Durst nach Blut nach. Lass es lieber an den Orks aus!
Die Orks sind viele, und ich bin allein. Vaicenya ist in meiner Gewalt. Sie muss sterben! Hier und jetzt.
Du wirst großes Unheil über Mittelerde bringen!
Das ist mir egal. Vaicenya muss beseitigt werden.
Das wird dein Tod sein, Coryeldë. Moria wird dein Grab werden.
Wenn ich dieses Opfer bringen muss, um diese Wahnsinnige aufzuhalten, dann sei es so.
Mit einem Mal herrschte Stille in Córiels Gedanken. Sie hatte ihre Wahl getroffen. Langsam, aber stetig hob sie den Dolch zum Todesstoß an. Dann stieß sie mit tödlicher Präzision zu.

Etwas schoss vor und packte ihr Handgelenk wie ein unnachgiebiger Schraubstock, der so fest zu presste, dass sie den Dolch mit einem Schrei fallen ließ. Vaicenyas Hand hatte ihren Stoß im letzten Augenblick aufgehalten. Die Augen der Dunkelelbin standen nun weit offen und ein grausames Feuer brannte darin. Sie ließ Córiels Arm los, und schneller als man es sehen konnte, schlossen sich beide Hände um die Kehle der Hochelbin.
So rasch wie der Druck um ihren Hals gekommen war, so rasch ließ er wieder nach, und Vaicenyas Blick kreuzte sich mit ihrem. Alle Härte wich daraus und das Feuer erlosch.
“Du,” hauchte Vaicenya. “Im ersten Augenblick dachte ich, du wärest eine dieser... Kreaturen dort draußen und hättest nun doch genügend Mut zusammengekratzt, um... Vergib mir. Ich verstehe nicht, wie ich so blind sein konnte. Deinen strahlenden Anmut zu verwechseln mit ... mit ...” sie ließ den Satz ohne Abschluss verklingen.
Córiel atmete stoßweise aus und kämpfte gegen den Impuls an, erneut nach dem Dolch zu greifen. Sie war Vaicenya unangenehm nahe gekommen. Viel zu nahe für ihren Geschmack. Die Dunkelelbin hingegen schien dies nicht zu stören.
“Ich wünschte, wir müssten nicht fort,” fuhr Vaicenya fort. “Nichts würde mich mehr erfreuen, als genau hier zu bleiben, meine Liebe. Doch bevor alles wieder so sein wird, wie es einst war, bevor der Schatten uns alles genommen hat, müssen wir noch einige Dinge tun, und den Rest des Weges hinter uns bringen. Der Goldene Wald ruft uns.”
Sie schob Córiel sanft, aber bestimmt, beiseite und zog sich rasch an. Ihre silberne Rüstung klirrte dabei leise.
“Komm. Ich habe etwas für dich, Melvendë.”

Wenig später hatten sie die Unterkunft der Diener Sarumans verlassen und folgten der Hauptstraße durch Moria hindurch weiter nach Westen. Ungefähr eine Meile später bog Vaicenya durch einen großen Durchgang hindurch nach links ab, aus dem Hitze und Dampfwolken heraus strömten. Die beiden Elbinnen kamen in einen Raum mit hohen Wänden, von denen sich Ströme aus geschmolzenem Metall herab ergossen und in gewaltige Becken zu beiden Seiten ergossen. In der Mitte stand ein einzelner, reich verzierter Amboss, und darauf lag eine Waffe. Córiel trat vorsichtig in den ansonsten verlassenen Raum. Ihr Blick war auf das Zentrum fixiert, auf den unverkennbar von Zwergen geschaffenen Amboss und auf das, was darauf lag. Es war ein Speer mit einem schwarzen Schaft, der in der Mitte mit dunklem Leder umwickelt war. Doch das besondere an der Waffe war seine Spitze, die aus einem Metall bestand, das einen silbrigen Schein von sich gab. Als Córiel den Schaft des Speeres ergriff, stellte sie fest, dass ihre Finger zitterten. Er war leichter, als sie erwartet hatte.
“Eine Klinge aus Wahrsilber,” wisperte Vaicenya geradezu andächtig. “Äußerst belastbar und unschätzbar wertvoll.” Sie trat neben Córiel, und ihre Blicke trafen sich. “Ich zerbrach deinen Speer auf der Zinne des Zwergenturmes. Da ist es nur gerecht, wenn ich für einen Ersatz sorge.”
“Dies ist mehr als nur ein Ersatz,” erwiderte Córiel. “Das muss ein Vermögen wert sein.”
“Genau wie du,” antwortete Vaicenya. “Saruman würde das Mithril nur an seine Uruk-Hai vergeuden. In deinen Händen ist es besser aufgehoben.”
“Du hast dich auch schon großzügig daran bedient, wie ich sehe,” stellte Córiel mit einem Blick auf Vaicenyas Ohrringe, Halskette und den Ring an ihrer linken Hand fest. Auch einige der Kettenglieder am Brustpanzer der Dunkelelbin schienen aus Mithril zu bestehen. Nun, da Córiel wusste, wie das Edelmetall aussah, war es für sie einfach zu erkennen.
“Gönnst du es mir etwa nicht, meine Liebe?” Vaicenya lachte. “Du hast dich wirklich nicht verändert.”
“Ich weiß nicht, wovon du sprichst.”
Vaicenya legte ihr die Hand auf die Schulter. “Bald schon wirst du dich erinnern. Bald schon.”
Mit diesen unheilvollen Worten im Ohr setzten sie ihren Weg durch Moria hindurch fort.

Am übernächsten Tag erreichten sie die Erste Halle jenseits des großen Ost-Tores des gefallenen Zwergenreiches. Sie hatten kurz davor einen gewaltigen Abgrund überquert, über den die Diener der Weißen Hand eine breite, aus Stahl geschmiedete Zugbrücke gespannt hatten. Einige der Uruk-hai hatten sie bis hierher eskortiert, darunter auch deren Anführer, Prâk.
Das Licht der Mittagssonne fiel in die große Halle hinein, die voller bewaffneter Orks war. Irgendetwas musste sie in Alarmbereitschaft versetzt haben, und Vaicenya brauchte nur wenige Minuten, um den Grund herauszufinden.
Ein Hauptmann der Moria-Orks fiel vor ihr auf die Knie und berichtete mit zischender Stimme: “Ein Überraschungsangriff, Herrin! Unzählige dieser Gundabad-Maden sind ins Schattenbachtal eingedrungen und nähern sich dem Tor, sie müssen jeden Moment hier sein!”
Vaicenya verlangte eine Erklärung. “Wie konnten sie euch so weit im Süden überfallen? Liegt die Kriegsfront etwa nicht länger nördlich des Hohen Passes und der Orkstadt?”
“Sie müssen durch das Tal des Großen Stromes gezogen sein, unbemerkt, nun da die Menschlinge es verlassen haben!”
Ein Hornstoß erklang von draußen, und Schlachtlärm drang durch den vom Tageslicht erhellten Torbogen.
“Geh und ruf alle zu den Waffen, die du finden kannst, Ork!” befahl Vaicenya.
“Und Ihr, Gebieterin?”
“Ich werde diese Würmer aufhalten. Komm, Melvendë. Es wird Zeit, dass deine neue Waffe das erste Blut schmeckt, und sich einen Namen verdient.”
Die beiden Schwerter der Dunkelelbin schossen hervor und mit einem Kampfschrei stürzte Vaicenya sich durch das Tor Morias hinaus ins Gefecht. Córiel folgte ihr auf dem Fuß.


Córiel und Vaicenya ins Schattenbachtal

Thorondor the Eagle:
Elea von der Ebene des Celebrant

Schweißgebadet und nach Atem ringend schreckte Elea auf. Es war wieder ein Albtraum der sie heimsuchte, aber es war einer der dich gefangen hält ja nahezu gefesselt und der dich erst aus seinen Fängen lässt wenn du alle Qualen und deine schlimmsten Ängste durchlebt hast. Die Inhalte waren immer dieselben: der Verrat der Waldläufer, ihr abtrünniger Sohn, die Unterjochung ihrer Heimat, der Tod ihrer Freunde... Die Liste war lang und das Elend überkam sie regelmäßig, weil sie immer und immer wieder feststellte, dass dies über jeden Traum hinaus ihr Leben war.

"Was ist los?", fragte plötzlich eine tiefe männliche Stimme neben ihr. Elea drehte blitzartig ihren Kopf und bemerkte eine kaum sichtbare Silhouette neben ihr. Sie lag auf dem Boden, genau wie die Frau selbst.
"Nur ein Albtraum", sagte sie keuchend und legte sich wieder hin.
"Immer dasselbe mit dir! Sei gefälligst still!", fauchte er sie an, legte sich wieder flach auf den Boden und drehte sich zur Seite.
Sie tat es ihm gleich, dabei streifte ihr Knie einen scharfen Stein unter der Decke und ein Schmerz zuckte durch ihren ganzen Körper. Sie biss sich auf die Lippen und konnte mit Mühe ein Stöhnen unterbinden. Die Verletzung am Bein die sie sich bei ihrer Flucht mit dem Breeländer zugezogen hatte war zwar bereits verheilt, aber an bestimmten Stellen noch immer sehr empfindlich.

Lange noch lag Elea wach und fürchtete sich vor dem Einschlafen, aber irgendwann legte sich auch die Düsterkeit dieses Ortes über sie und zog sie zurück in den Schlaf. Diesmal war er traumlos und schwarz.

"Aufwachen!", hörte sie plötzlich die forsche Stimme des Mannes. Augenblicklich öffnete sie die Augen. Sie war umgeben von den bereits vertrauten Wänden der Höhle in der sie die letzten Wochen oder Monate verbrachte. Da sie diese nur selten verlassen durfte war es eher ein Verlies als ein Heim. Aber angesichts dessen, dass es vor den Toren dieser Höhle von Orks wimmelte, war es ihr ohnehin lieber hier zu sein.
Wie gewohnt stand ein Teller mit einem Stück alten Brot neben ihrem Bett und ihr lückenhaftes Kleid lag auf einem Stuhl neben dem Bett. Sorgsam bedeckte sie ihren Körper mit der Decke beim Aufstehen und schlüpfte geschickt unter das Kleid.
"Keine Sorge, deinem alten Körper voller Falten und Dreck kann ich eh nichts mehr abgewinnen", warf er ihr verächtlich an den Kopf "du bist nur noch für eines Gut... deine Arbeit."

Elea hatte sich bereits an diese Wortwahl und die Beschimpfungen gewöhnt. Anfangs war sie entsetzt diese von einem Mann ihres eigenen Volkes zu hören, aber dadurch lernte sie bald, dass diese Menschen nicht mehr die aus ihrer Vergangenheit waren. Auch wenn sie all diese Familien irgendwann einmal gut kannte und ihre Freunde nannte.
Dieser Mann war Finjas. Als Elea den Abendrotsee verlassen hatte, war er mit gerade einmal 31 Jahren das jüngste und ambitionierteste Mitglied des Rates der Dúnedain. Er war immer nett zu ihr und Haldar gewesen, aber soweit Elea herausgefunden hatte nahm er es dem Rat sehr übel, dass sie Helluin zum Anführer ernannten obwohl er selbst doch immer so engagiert und älter war.

Nachdem er die Zelle verlies in der sie einquartiert waren, schlang die Dunadan schnell das Stück Brot hinunter und begann sofort mit ihrer Arbeit. Seit sie hier angekommen war, musste sie die Stoffunterkleider der Rüstungen zusammennähen. Immer und immer wieder derselbe Arbeitsschritt von früh bis spät und wenn sie müde wurde und ihr die Augen zufielen wurde sie mit einem Peitschenhieb vorangetrieben. Die Müdigkeit wurde aber unaufhaltsam mehr, da sie kaum zu essen bekam, unruhige Nächte hatte und dieses Leben ausweglos düster und ohne Perspektive war. Kaum eine Stunde nachdem Finjas gegangen war kam er schon wieder retour, was der täglichen Routine gänzlich widersprach.
Augenblicklich spannte sich Elea's ganzer Körper an und sie begann schneller zu arbeiten.
"Man möchte es kaum glauben. Endlich macht sich dieses ganze Geschleime bezahlt", sagte er zu sich selbst und begann in seinen Sachen herumzuwühlen. Elea tat ungeachtet seines Verhaltens weiter. Sofort war ihr klar, dass Finjas zu packen begann, da er offensichtlich einen neuen Auftrag bekommen hatte.
"Bist du fertig mit deiner verdammten Arbeit?", herrschte er sie an ohne auch nur von seinen Sachen aufzublicken.
Elea ließ die Nadel sinken und starrte ihn an.
"Na komm schon", sagte er nun und sah sie an "leg das Zeug weg. Wir dürfen weg aus diesem elenden Drecksloch. Endlich."
Die Frau traute ihren Ohren nicht.
"Ich, ich," stotterte sie "Ich darf mit?"
"Ja, ja du darfst mit", antwortete er genervt "Glaube aber nicht, dass ich dich freiwillig mitnehme. Nein, es war Bedingung. Und jetzt halt den Mund und pack schon. Deine Stimme klingt wie nerviges Gewinsel!"
Tröpfchenweise verarbeitete Elea diese neue Information und konnte ihr Glück kaum fassen. War es tatsächlich so, dass sie nach all den Wochen oder sogar Monaten wieder Tageslicht sehen würde?

Elea nach Bree

Eandril:
Oronêl und Haleth aus Eregion

Erneut befanden sie sich in fast vollständiger Dunkelheit - nur schwaches Licht drang unter der Tür hindurch. Oronêl rührte sich nicht, sondern wartete den Augenblick ab, den seine Augen benötigten, sich an die Finsternis zu gewöhnen.
Schließlich nahm er vage zwei Gestalten wahr, die regungslos an der gegenüber liegenden Wand standen - einer schlank und hochgewachsen, der andere deutlich kleiner und von kompakterer Statur.
"Wenn ihr keine Orks seid, sind wir Freunde", sagte er ruhig in die Dunkelheit hinein. Beide Gestalten zucken sichtlich zusammen, und die größere machte einen Schritt nach vorne. "Dass mich doch die Neun holen", sagte eine männliche Stimme. "Oronêl, bist du das?"
Unter anderen Umständen wäre Oronêl diese Stimme äußerst willkommen gewesen, und auch hier konnte er einen Hauch von Freude nicht unterdrücken. "Valandur. Ich hatte nicht erwartet, dich so bald wieder zu... hören."
"Valandur?", stieß auch Haleth hervor, noch immer ein wenig außer Atem. "Oh... verflucht."
Beim Klang ihrer Stimme stieß Valandur hörbar die Luft aus. "Schön dich zu hören Haleth, würde ich normalerweise sagen. So wie es sich anhört, kommt ihr nicht um uns zu retten?"
"Ich fürchte nicht", erwiderte Oronêl. An die Gestalt des Zwerges, der noch immer an die hintere Wand gedrückt dastand, gerichtet, fügte er hinzu: "Wer immer du bist, Freund - es gibt keinen Grund zum Misstrauen."
"Oh, das ist...", setzte Valandur zur Erklärung an, wurde aber von der tiefen Stimme des Zwerges unterbrochen: "Ich bin Baldin, Sohn des Bróin von den Blauen Bergen."
"Nicht irgendein Zwerg", ergänzte Valandur. "Baldins Vater ist der mit Abstand reichste und einflussreichste Zwerg der Ered Luin. Im Grunde ihr König, wenn sie einen hätten."
"Ich kann für mich selbst sprechen, Freund", sagte Baldin bestimmt, aber nicht unfreundlich. Entweder war sein Stolz weniger leicht zu beleidigen als der anderer Zwerge, oder die allgemeinen Umstände hatten ihn ein wenig gedämpft, dachte Oronêl bei sich.
Er ließ sich auf dem staubigen, aber trockenen Boden nieder, und nach kurzem Zögern setzte Haleth sich neben ihn. Valandur und Baldin kamen ein wenig näher, sodass Oronêl sie besser erkennen konnte, doch er glaubte nicht, dass jemand der anderen - ausgenommen vielleicht der Zwerg - in dieser Dunkelheit annähernd so gut sehen konnte wie er.
"Wie haben sie euch erwischt?", fragte Valandur. Bei genauerem Hinhören fiel Oronêl auf, dass die Stimme des Waldläufers heiser und erschöpft klang.
"In den Südhöhen", begann Haleth leise. Oronêl machte sich an ihren Fesseln zu schaffen, während sie erzählte. Die Orks verstanden sich auf Knoten, und so dauerte es einige Zeit sie zu lösen und so zu knüpfen, dass sie zur Tarnung locker um die Handgelenke gelegt werden konnten. Währenddessen knüpfte er an Haleths Bericht an, erzählte von seiner eigenen Gefangennahme und in knappen Worten von der Reise nach Moria. Schließlich fragte er, während er sich nun Valandurs Fesseln vornahm: "Wisst ihr mehr über die Pläne dieser Orks?"
Valandur zuckte mit den Schultern. "Nicht viel. Ab und zu faseln sie etwas von Blut, und davon, den Schatten zu wecken. Nichts besonderes eben." Er sagte es leichthin, doch Oronêl spürte, dass die Worte auch Valandur einen Schrecken einjagt hatten.
"Elben, Menschen, Zwerge", brummte Baldin. "Alle freien Völker. Kein Zufall, würde ich sagen. In den Tiefen der Welt gibt es viele... finstere Wesen. Dúrins Fluch war nicht das einzige, das die Zwerge von Khâzad-Dûm aufgescheucht haben."
Seine Worte zielten genau auf Oronêls schlimmste Vermutungen ab. "Irgendein Blutzauber also", sagte er betont ruhig, während er sich jetzt mit Baldins Fesseln abmühte. "Und dazu brauchten sie einen Elben - mich - einen Zwerg - Baldin - und einen Menschen. Zur Sicherheit haben sie zwei Gruppen ausgesandt, und beide haben einen Menschen mitgenommen."
"Was vermutlich bedeutet, dass einer von uns einen schrecklichen Opfertod sterben und der andere einfach so hingerichtet wird", meinte Valandur zynisch. "Ich überlasse dir gerne die Wahl, Haleth."
"Keine angenehme Wahl", erwiderte Haleth, und atmete hörbar durch. "Wie haben sie euch in die Finger bekommen?"
"Wie einen Anfänger." Valandur schnaubte verächtlich. "Ich hatte mich von Súlien und Mablung getrennt, um den Weg auszukundschaften. Da ich in der Gegend nicht mit Orks gerechnet habe, war ich unvorsichtig und... naja."
"Wir waren auf dem Weg zum Hause Elronds", ergriff Baldin das Wort. "Meine Gefährten und ich. Wir wollten... beraten, denn mein Vater ist besorgt. Unsere Hallen haben Mordor einst widerstanden, doch wir fürchten, dass uns die Dunkelheit dieses Mal überwältigen wird, wenn der Rest von Mittelerde erst gefallen ist. Auf dem Weg wurden wir von einem Trupp Orks angegriffen, und meine Gefährten fielen bei meiner Verteidigung. Mich haben sie lebend ergriffen, und hierher verschleppt." Seine Stimme klang gepresst.
"Es ist ein hohes Risiko, einen Trupp Zwerge auf offener Straße zu überfallen", stellte Oronêl fest. "Dieser Plan muss wichtig sein."
"Viele von ihnen haben mit dem Leben bezahlt. Doch nicht genug."
Bevor Oronêl noch mehr sagen konnte, öffnete sich die Tür. Gûldrak und ein ihm bis aufs Haar gleichender Ork traten in die kleine Kammer. "Auf auf, Herrschaften. Der letzte Abschnitt liegt vor euch..."

Eandril:
Tiefer und tiefer ging es hinab, durch Treppen und abschüssige Gänge. Hin und wieder öffnete sich ein Durchgang zu einer der Seiten, ein gähnender schwarzer Schlund. Weiter hinab stolperten sie, tiefer ins Herz der Berge hinein, unbarmherzig angetrieben von den Tritten und Stößen der Orks. Ein, zwei, ein drittes Mal mussten sie auf schmalen steinernen Brücken einen Abgrund überqueren, an dessen Grund Oronêl ein schwaches rötliches Flackern wahrzunehmen glaubte.
Die ganze Zeit hatte er das Gefühl, langsam zu ersticken. Die Dunkelheit und der massive Fels überall um ihn herum schienen ihm den Atem rauben zu wollen, ein Gefühl, dass ihn auf unheimliche Art und Weise an die Gegenwart der Nazgûl erinnerte. Er fragte sich, wie die Zwerge jemals hier hatten leben können. Er erinnerte sich an die Geschichten aus dem zweiten Zeitalter, lange bevor Khazad-Dûm zu Moria wurde, von Lichtern, die die Gänge erhellten, von prasselnden Kaminfeuer, von Festen und Gelagen, von geschäftigen Schmieden und den besten Waffen, die seit den altvorderen Tagen geschmiedet worden waren. Nichts davon war jetzt noch zu spüren.
Bald nachdem sie die dritte Brücke überquert hatten, bemerkte Oronêl, dass die Temperatur stark zu fallen begonnen hatte. Nur wenige Treppen tiefer stand ihnen der Atem in weißen Wölkchen vor dem Mund, und Oronêl begann sich zu wundern. Nach allem was er über das Innere der Erde wusste - was zugegebenermaßen nicht viel war - wurde es eher wärmer, je tiefer man kam.
Plötzlich öffnete sich der Gang zu beiden Seiten, und die Decke sprang geradezu nach oben weg, als sie eine gewaltige Höhle betraten. Im schwachen Licht erkannte Oronêl unregelmäßige Wände und Tropfsteine, die von den Decken hingen - dieser Teil war eindeutig nicht von Zwergenhand angelegt worden, sondern natürlich entstanden.
Die Orktruppe hielt abrupt an, und aus der Dunkelheit trat ein weiterer Ork hervor. Er war von weitaus größerer Statur als Gûldrak und seine Truppe, und verschmolz durch seine nachtschwarze Haut und Rüstung beinahe vollständig mit der Finsternis. Lediglich seine gelben Augen leuchteten durchdringen.
"Gûldrak, Gûndrak. Ihr kommt spät. Der Meister wird ungeduldig."
Gûldrak und sein beinahe identischer Gefährte - Gûndrak, vermutlich - verneigten sich tief vor dem schwarzen Ork. "Wir kommen so schnell wir können, oh finsterer Herr", schleimte Gûldrak, und Gûndrak ergänzte in gleichem Tonfall: "War nicht einfach, passende Opfer zu finden, aber wir haben es getan, hä hä."
"Immerhin." Die Stimme des schwarzen Orks war tief und deutlich weniger grob und unangenehm als die anderer Orks. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, verursachte sie Oronêl deutlich größeres Unbehagen.
"Was glaubt ihr, haben sie vor?", wisperte Haleth, und musste sichtlich ein Zittern unterdrücken. Sie alle waren für den Winter gerüstet, doch im Freien war es bei weitem nicht so kalt wie hier unten.
"Opfer klingt jedenfalls nicht gut", erwiderte Valandur ebenso leise, und blickte zu Oronêl. "Oronêl?"
Oronêl zögerte, und gestand sich schließlich ein, dass er nicht wusste, was zu tun war. Immer wieder wurde von ihm erwartet, dass er andere führte, und immer wieder geriet er in Situationen, wo er nicht wusste was zu tun war. Und gerade in diesem Fall erschien ihm die Lage geradezu ausweglos.
Während er noch zögerte, bellte der schwarze Ork einen unverständlichen Befehl und klatschte in die Hände, woraufhin zu beiden Seiten der Höhle Feuerschalen entflammten.
"Das... ist nicht gut", bemerkte Valandur, als er das Feuer sah, und Oronêl stimmte ihm gedanklich zu, denn das Feuer war von einem ungesunden, unnatürlichen Grün, und schien auch keine Hitze abzugeben.
Baldin warf einen Blick auf den Boden, und stieß einen zwergischen Fluch aus. "Ganz und gar nicht gut", fügte er in der gemeinsamen Sprache hinzu. "Seht." Der Boden der Höhle war offensichtlich bearbeitet worden, denn er war viel zu eben und glatt. In den Stein waren zwergische Runen eingemeißelt, die verschlungene Figuren bildeten, die alle auf die hintere Wand der Höhle zu liefen - doch die Muster waren zerstört und teilweise ganz ausgeschlagen worden, offenbar das Werk der Orks.
An der entfernten Höhlenwand erhob sich eine Wand aus schwarzem Eis, und allein ihr Anblick ließ Oronêl erschaudern, denn sie strahlte nichts als Kälte und Boshaftigkeit aus. Alle Muster schienen darauf zuzulaufen.
"Oh ja, Sohn des Schmiedes", sagte der schwarze Ork, der Baldins Ausbruch offensichtlich bemerkt hatte. "Deine Verwandten haben etwas hier aufgespürt, dass sie erschreckt hat. Es hätte sie vernichtet, wenn sie es nicht eingesperrt hätten. Und nun..."
Er wandte ihnen den Rücken zu, ob die Arme und begann laut zu sprechen, in einer Sprache, die Oronêl nur selten gehört hatte - der schwarzen Sprache von Mordor. Während er sprach schlugen die Flammen in den Feuerschalen höher, und leuchteten immer kräftiger. Schließlich stoppte er und befahl, während er regungslos verharrte: "Das Blut der Zwerge." Gûndrak packte Baldins Hand, und fuhr mit der Schneide seines Messers einmal über die Handfläche des Zwergs, bevor er an eine der Feuerschalen trat, und das Blut von der Klinge in das Feuer tropfen ließ. Die Flammen schlugen noch einmal hoch, bevor sie mit einem Mal erloschen. Das schwarze Eis begann unheilvoll zu glühen, und Oronêl begann, einen stechenden Schmerz in den Schläfen zu verspüren, der aber sofort wieder verging.
"Das Blut der Zweiten." Gûldrak verfuhr ebenso mit Haleths Hand, und ließ auch ihr Blut in die Flammen tropfen. Erneut erlosch die Feuerschale, und erneut überfiel Oronêl ein heftiger, aber kurzer Schmerz in den Schläfen.
"Oronêl..." murmelte Valandur leise, aber bedeutungsvoll, und Oronêl nickte stumm. Das Eis hatte mittlerweile ebenso grün zu glühen begonnen wie das Feuer. Es war Zeit zu handeln, selbst wenn die Hoffnung gering war.

"Das Blut der Ersten." Oronêl spürte, wie Gûldrak seine Hand packte, und sagte laut: "Ich denke, das ist genug." Mit einem Ruck löste er den schwachen Knoten, mit dem er seine Handgelenke aneinander gebunden hatte, und versetzte Gûldrak einen nach hinten gerichteten Tritt in den Magen. Während der Ork zusammensackte, wirbelte Oronêl auf der Stelle heran und versetzte ihm im Fallen einen Tritt gegen den Kiefer, der mit hörbarem Knacken brach.
Ungefähr gleichzeitig hatte sich auch Baldin von seinen Fesseln befreit, und den ebenso überrumpelten Gûndrak mit zwei mächtigen Fausthieben zu Boden geschickt. Er entwand dem am Boden liegenden Ork das gekrümmte Schwert und rief an Oronêl gewandt: "Fliehen oder Kämpfen?"
Bevor Oronêl einen Entscheidung treffen konnte, verspürte er einen scharfen Schmerz in seinem rechten Oberschenkel. Aus seiner liegenden Position heraus hatte Gûldrak ihm einen tiefen Schnitt mit dem Messer versetzt, und versuchte mit der blutigen Klinge in der Hand zu einer der beiden letzten Feuerschalen zu entkommen. Oronêl wollte ihn packen, musste allerdings dem Schwert eines zweiten Orks, der seine Überraschung überwunden hatte, ausweichen und kam so zu spät. Gûldrak hatte das Feuer erreicht, und warf einfach das Messer mitsamt Blut in die Flammen, das wie die anderen aufflackerte und verlosch. Das Eis leuchtete immer heller, und deutliche Risse bildeten sich auf seiner Oberfläche.
Wie zuvor durchzuckte Oronêls Kopf ein heftiger Schmerz, stärker als zuvor, und nahm ihm kurzzeitig die Sicht. Als er wieder zu sich kam, hatten sich seine Gefährten um ihn geschart, und zwei Orks lagen tot zu ihren Füßen - offenbar Baldins Werk, denn von seiner erbeuteten Klinge tropfte schwarzes Blut. Haleth und Valandur bewaffneten sich mit den Klingen der gefallenen Orks, während die verbleibenden Orks langsam näher rückten.
"Welch Widerstandsgeist", erklang die Stimme des schwarzen Orks, geradezu spöttisch im Tonfall. "Doch es ist ohne Bedeutung." Oronêl wandte sich in die Richtung der Stimme um, und der Ork stand jetzt neben der letzten verbliebenen Feuerschale, die Hand darüber ausgestreckt und zur Faust geballt. "Das Blut der Verderbten." Er öffnete die Faust, und ein einzelner schwarzer Blutstropfen fiel in die grünen Flammen.
Sofort erloschen die Flammen und auch das Leuchten des Eises verging. In der Dunkelheit war ein hörbares Knacken zu vernehmen, und das Splittern von Eis.
Für einen Augenblick lag Stille über der Höhle, bevor mit einem Grollen ein kaltes blaues Licht an der Stelle, wo vorher die Eiswand gestanden hatte, aufflackerte. Im Zentrum des Lichts stand dunkle Gestalt. Von der Form her war sie menschenähnlich, doch beinahe doppelt so groß, und mit langen, gekrümmten Armen und Beinen. Im Gesicht brannten zwei eisblaue Augen, doch mehr konnte Oronêl nicht erkennen.
Die Luft in der Höhle hatte sich mit einem Mal noch weiter abgekühlt, und die plötzliche Kälte drohte ihm den Atem zu nehmen. Viel schlimmer waren allerdings die kalte Bosheit und der Hass, den das Wesen vor ihnen ausstrahlte. Nur in der Gegenwart der Nazgûl hatte Oronêl etwas annähernd ähnliches verspürt, doch dies war anders. Älter.
Er machte einen Schritt zurück. "Lauft", stieß er leise hervor. "Gegen diesen Feind können wir nichts ausrichten."

Die Orks waren von der Ankunft des Wesens offenbar nicht weniger überwältigt gewesen, und machten zunächst keine Anstalten, ihre Flucht aufzuhalten. Sie kamen ungehindert voran, bis sie vielleicht zweihundert Schritt von der Höhle entfernt einer weiteren Truppe Orks über den Weg liefen.
"Oronêl!", rief Valandur über den Kampflärm hinweg, und rammte einem Ork das Schwert in die Kehle. "Das hat keinen Zweck. Jemand muss sie ablenken!"
"Das übernehme ich", knurrte Baldin, der mit einem Mal neben Oronêl stand, und sein Orkschwert gegen einen bösartig aussehenden Hammer getauscht hatte. "Dies sind die Hallen meines Volkes. Es gibt keinen besseren Ort zum Sterben."
Oronêl blickte dem Zwerg in die Augen, und sah die Entschlossenheit darin. Er nickte knapp. "Möge dir Ehre in den Hallen deiner Väter zuteil werden."
"Eins noch", sagte Baldin, während Valandur und Haleth die Orks zurückhielten. "Sorgt dafür, dass mein Vater nicht den Elben und Menschen die Schuld gibt. Sorgt dafür, dass mein Volk seinen Teil dazu beiträgt, dass dieser Albtraum endet." Ohne Oronêl Zeit für eine Antwort zu lassen, wandte er sich um und drängte sich mit einem Kampfschrei zwischen Haleth und Valandur hindurch. "Baruk-Khazâd! Khazâd ai-menu!"
Haleth ließ sich zu Oronêl zurückfallen. "Und jetzt?"
"Jetzt rennen wir", gab Oronêl zurück, und blickte zu Valandur, der noch immer die Orks in Schach hielt. "Valandur! Zeit, zu fliehen!" Valandur blickte kurz zurück, dann zu Baldin neben sich, und schüttelte den Kopf.
"Er wird doch nicht...", murmelte Haleth, und schüttelte selbst den Kopf. Im gleichen Augenblick wurde Valandur von zwei Orks zu Boden gerissen, und ein dritter rammte ihm sein Schwert in die Brust, bevor der Waldläufer sich wieder aufrappeln konnte. Haleth stieß einen Laut des Schreckens aus, und Baldins Hammer zerschmetterte dem Ork den Schädel. "Nun lauft schon!", brüllte der Zwerg, und stürzte sich auf den nächsten Ork. Ein wenig weiter entfernt begann eisblaues Licht die Wände entlang zu kriechen, und wo immer es auf den Stein traf, bildeten sich feine Eiskristalle.
Oronêl packte Haleths Hand und zog sie mit sich. "Komm. Es nützt nichts, wenn wir sterben." Trauer und Zorn brannten in seinem Herzen, doch er drängte seine Empfindungen zurück. Dafür war später Zeit. Später.

Mit Haleth neben sich rannte er so schnell sie mithalten konnte durch die dunklen Gänge, und ließ sich von seiner Erinnerung leiten. Während sie rannten, lauschte er auf Geräusche hinter sich - zuerst waren da sich entfernenden Kampfgeräusche, und dann das Geräusch rennender Orks, das sich allmählich näherte. Und dahinter ein sich ebenso langsam aber stetig näherndes Geräusch wie von brechendem Eis. Schließlich erreichten sie die tiefste der drei Brücken, die sie auf dem Hinweg überquert hatten. Inzwischen hatte sich das Geräusch der Orks bis auf ein kurzes Stück genähert, und Oronêl blieb am Ende der Brücke stehen. Er warf einen kurzen Blick in die Tiefe, und dann zu Haleth.
"Spring."
"Was!?"
"Direkt am Rand, ein Vorsprung. Spring!"
Sie warf ihm einen gehetzten Blick zu, und ließ sich dann von der Brücke fallen. Oronêl tat es ihr gleich, und landete hart einige Fuß unter der Brück auf dem schmalen Vorsprung, den er gesehen hatte. Er fand sein Gleichgewicht gerade noch rechtzeitig wieder um Haleth am Arm zu packen und so daran zu hindern, über die Kante in den Abgrund zu rutschen. Er zog sie mit sich, sodass sie direkt unter der Brücke kauerten, und zog sie dann dicht an sich. "Keinen Laut", zischte er ihr ins Ohr, und Haleth nickte nur stumm. Ihr Atem ging schnell und flach.
Nur wenige Augenblicke später erreichten ihre Verfolger die Brücke. Die Orks hielten nicht an und wurden auch nicht langsamer, sondern rannten mit voller Geschwindigkeit weiter. Am Ende kam das Wesen, das sie erweckt hatten, und als es über Oronêl und Haleth hinweg stampfte, hüllte sie eine Kälte ein, wie Oronêl sie noch nie verspürt hatte, und für einen Augenblick fürchtete er, sein Herz würde einfach stehen bleiben. Doch dann war es vorüber, und nur wenig später waren er und Haleth allein in der Dunkelheit.

Eandril:
Als kein Laut mehr zu hören war, vergrub Haleth das Gesicht in den Händen, und schluchzte leise. Oronêl selbst spürte seinen Wangenmuskel zucken, und blinzelte einige Tränen weg.
Schließlich hatte Haleth sich wieder ein wenig gefangen, und wischte sich die Tränen von den Wangen. "Was tun wir nun? Wir können schlecht hier unten bleiben."
Oronêl atmete tief durch, bevor er antwortete. "Wir müssen nach Eregion, die Manarîn warnen. Sie sind zwar vor einem Angriff gewarnt, aber das..." Er schüttelte den Kopf, bevor er sich vorsichtig aufrichtete und über die Felskante in den dunklen Gang zu beiden Seiten der Brücke spähte. Nichts bewegte sich in der Dunkelheit, und angestrengt lauschend hörte Oronêl nur die sich immer weiter entfernenden Schritte der Orks und des... Wesens, dass sie aufgeweckt hatten. Er zog sich an der Kante nach oben, und streckte dann Haleth die Hand entgegen um ihr ebenfalls wieder auf die Brücke zu helfen.
"Glaubst du, du findest den Weg zurück?", fragte sie. Ihre Stimme klang müde. "Vielleicht ist der Eingang jetzt unbewacht."
Oronêl blickte den dunklen Gang entlang, der leicht anstieg und, wie er sich erinnerte, nach einigen Biegungen in eine lange Treppe mündete, und zurück über die Brücke Richtung der tiefen Halle, aus der sie gekommen waren. "Ich denke, ich kann den Weg zurück finden", sagte er langsam. "Aber wir sollten nichts übereilen. Jetzt, wo wir allein sind... Wenn wir zurückgehen, finden wir vielleicht Waffen. Vielleicht... vielleicht können wir auch noch etwas für unsere Freunde tun, oder mehr über dieses Wesen, das die Orks losgelassen haben. Und außerdem sollten wir einen sicheren Ort für ein paar Stunden Rast finden", ergänzte er mit einem Blick auf Haleth. "Ich fürchte, wir sind beide nicht in der Lage, schnell nach Eregion zu gelangen."
Haleth widersprach nicht, sondern nickte nur, und Oronêl spürte ihre stumme Erleichterung. Langsam machten sie sich auf, zurück über die schmale Brücke und durch die dunklen Gänge, bis sie die Stelle erreichten, an der Valandur und Baldin gefallen waren.
Der Zwerg sah furchtbar zugerichtet aus. Einer seiner Arme schien geradezu ausgerissen worden zu sein, und er war von gefrorenem Blut überzogen. Seine dunklen Augen waren blicklos zur Decke gerichtet, doch als Oronêl sie schließen wollte, ließen sie sich nicht bewegen. Der ganze Körper war hart wie Eis. Oronêl ließ einen kurzen Augenblick seine Hand auf Baldins gefrorener Stirn liegen, während Haleth leise sagte: "Wir haben dich nicht lange gekannt, Baldin, aber wir verdanken dir unser Leben. Ich hoffe, du findest Frieden in den Hallen deiner Ahnen."
Valandur fanden sie einige Meter weiter, allerdings nicht in der Position, in der er gefallen war. Stattdessen saß er zusammengesunken an die Tunnelwand gelehnt, und als Haleth und Oronêl sich neben ihm auf den kalten Boden knieten, öffnete er die Augen und lächelte schwach. Ein dünner Blutfaden lief ihm aus dem Mundwinkel. Oronêl warf nur einen Blick auf die Wunden in seiner Brust und biss die Zähne zusammen. Es war ein Wunder, dass der Waldläufer überhaupt noch lebte.
"Nichts zu machen, fürchte ich", flüsterte Valandur heiser und angestrengt, bevor er einen Schwall Blut hervorhustete. "Aber immerhin hat es sich gelohnt." Oronêl fand keine Worte, und legte ihm stumm eine Hand auf die Schulter.
Valandur brauchte einen Augenblick, bevor er genug Kraft gesammelt hatte um weiterzusprechen. "Vielleicht ist es das, was ich für meine Taten... verdient habe." Haleth schüttelte entschieden den Kopf, und Oronêl erwiderte leise: "Die Schuld, die du auf die geladen haben magst, hast du bereits vor langer Zeit abgegolten, mein Freund." Valandurs Mundwinkel zuckten, und er hustete erneut Blut.
"Grüßt Súlien von mir, sie soll sich keine Vorwürfe machen. Und natürlich... auch alle anderen. Lebt wohl." Mit den letzten Worten schloss Valandur wieder die Augen, und Oronêl spürte geradezu, wie der letzte Lebenshauch seinen Körper verließ.
"Ruhe wohl, mein Freund, bis wir einander wieder sehen", sagte Oronêl leise, und erhob sich ein wenig mühsam. Dieses Mal fand Haleth keine Worte.

Nicht viel später erreichten sie die tiefste Kammer. Die Feuerschalen waren erloschen, doch die Überreste des Eises verbreiteten noch immer ein schwaches grünliches Licht. Auf dem Boden verstreut lagen einige Orkleichen, überzogen mit Eiskristallen. Einer davon war Gûldrak, der offenbar an seinem gebrochenen Kiefer erstickt war, und an seiner Leiche fand Oronêl sowohl Hatholdôr als auch seinen Dolch aus Bruchtal wieder. Die übrigen Orks hatten wohl keine Zeit gehabt, die Leichen zu plündern. Das vertraute Gefühl der Axt an seiner Seite entspannte Oronêl ein wenig. Erst jetzt wurde ihm wirklich klar, wie sehr ihn seine Wehrlosigkeit verunsichert hatte. Haleth, die vor Kälte zitterte, hatte sich währenddessen vorsichtig den Überresten des Eisgefängnisses genähert. Ihr Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung zwischen Neugierde, Furcht und Abscheu. Oronêl trat neben sie und beugte sich hinab, um einen Splitter des merkwürdigen Eises mit dem Finger zu berühren. Er zuckte sofort zurück, denn das Bruchstück war so kalt, dass seine Haut daran festzukleben drohte.
"Und?", fragte Haleth leise. "Hast du... irgendeine Vorstellung, womit wir es zu tun haben."
Oronêl schüttelte den Kopf, und trat einen Schritt zurück. Der gebrochene Eiskäfig - eigentlich der ganze Raum - verursachte ihm ein tiefes Unbehagen. "In meinem ganzen Leben bin ich nie etwas ähnlichem begegnet. Natürlich kenne ich die Geschichten von Durins Fluch, der einst unter Moria lauerte, doch... dort war von Schatten und Flamme die Rede. Das hier ist etwas anderes, irgendein Wesen aus ältester Vorzeit. Ich weiß nichts darüber, aber vielleicht..." Er dachte einen Augenblick nach, und stieß in seinen Erinnerungen auf eine merkwürdige Verbindung. "Wenn wir rechtzeitig nach Eregion gelangen können... Vielleicht weiß Farelyë Rat. Sie ist eine der Ersten, doch sie hat Jahrtausende im Eis geschlafen." Sein Blick wanderte wieder zu den Überresten des Eiskäfigs. "Vielleicht ist es Zufall, vielleicht nicht. So oder so müssen wir so schnell wie möglich nach Eregion gelangen."
"Dann sollten wir uns einen möglichst versteckten Ort zum Rasten suchen, denn wir werden nicht dort angekommen, wenn wir unterwegs vor Erschöpfung zusammenbrechen", meinte Haleth, und sah sich unbehaglich in der Höhle um. "Nur nicht hier."

Nach einigem Suchen stießen sie oberhalb der zweiten Brücke entlang des Rückwegs auf einen schmalen Riss in der Wand, hinter dem sich eine kleine Höhle verbarg die gerade groß genug war, dass Oronêl und Haleth sich gemeinsam hineinzwängen konnten. Dicht aneinander gedrängt saßen sie zunächst einige Zeit schweigend da, bis Oronêl spürte, wie Haleths Atem gleichmäßiger und tiefer zu gehen begann. Offenbar war sie vor Erschöpfung eingeschlafen, während er weiterhin in die Dunkelheit starrte.
Er wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatten, als er plötzlich ein Flüstern hörte. "Euer Weg... er führt durch große Gefahr."
Vorsichtig, um Haleth nicht zu wecken, suchte die Dunkelheit ab, wer gesprochen hatte, doch es war nichts zu sehen, weder Bewegung noch Form. Er hörte ein leises, spöttisches Lachen.
"Auch deine Elbenaugen helfen dir nicht zu sehen, Sohn der Sterne. Wir sind Dunkelheit."
"Was wisst ihr über unseren Weg?", fragte Oronêl leise.
"Der Weg den ihr gehen wollt, ist versperrt. Ihr müsst nach links gehen, zu den großen Toren. Es ist der einzige Weg nach draußen."
Oronêl sammelte seine Gedanken, die merkwürdig zähflüssig zu fließen schienen. "Wer... was seid ihr?"
"Wir haben es doch gesagt... Dunkelheit. Wir kamen vor langer Zeit, und sind nun gefangen in dieser... Welt. Wir wünschen, in die ewige Dunkelheit der großen Leere zurückzukehren, doch dazu muss diese Welt enden. Und sie wird nicht enden, wenn der Verräter herrscht. Der Herr des Feuers und des Krieges. Einst war er ein Freund des Dunkels, doch er hat uns verraten."
Oronêl massierte sich die Stirn. "Der Verräter... Herr des Feuers und des Krieges... ihr sprecht von Sauron?"
Als er den Namen aussprach, hörte er etwas wie ein wütendes Zischen. "Er wünscht diese Welt zu beherrschen, nicht zu vernichten. Sein Ende wünschen wir. Dazu müsst ihr das Gebirge verlassen."
Es widerstrebte Oronêl, gerade das zu tun, was diese Stimme von ihm verlangte, denn er misstraute ihr zutiefst. "Ich werde..." Weiter kam er nicht, denn die körperlose Stimme unterbrach ihn. "Die Zeit drängt. Erwache!"
Oronêl zuckte zusammen, und öffnete die Augen. Offenbar war er eingeschlafen, ohne dass er es selbst bemerkt hatte, und er fühlte sich trotz seiner unbequemen Position um einiges ausgeruhter als zuvor. Im gleichen Augenblick fuhr auch Haleth unvermittelt aus dem Schlaf, und bewegte für einen Augenblick den Kopf verwirrt von rechts nach links. "Ah...", sagte sie leise. "Ich hatte gehofft, es würde sich alles als ein böser Traum herausstellen." Sie kroch in Richtung des Spaltes, der wieder in den Hauptgang führte, und quetschte sich hindurch nach draußen. Oronêl folgte ihr. "Ich fürchte nicht", meinte er. "Wir sollten uns beeilen, ich weiß nicht, wie lange wir gerastet haben." Sie folgten dem Gang weiter, über die letzte Brücke und immer weiter nach oben, bis sie an eine Kreuzung gelangten. Der rechte Gang war eingestürzt, doch geradeaus weiter würde der Gang sie zu dem geheimen Ausgang, durch den sie nach Moria hineingelangt waren, führen. Dennoch zögerte Oronêl. Irgendein Gefühl sagte ihm, dass sie nach links gehen mussten, in Richtung Süden. Dass der Weg, den sie gekommen waren, versperrt war. Aber woher kam dieses Gefühl?
"Ich... ich habe das Gefühl, dass wir nach links gehen sollten", sagte Haleth, die ebenfalls zögernd stehen geblieben war. Ihr Gesicht zeigte die gleiche Verwirrung, die Oronêl verspürte. "Aber wieso? Von dort sind wir nicht gekommen." Oronêl schüttelte den Kopf, um den Nebel in seinen Erinnerungen zu vertreiben, doch es half nicht.
"Mir geht es genauso", sagte er. "Dieser Gang führt nach Süden, also in Richtung der Tore von Moria. Auf... auf diesem Weg könnten wir schneller nach Eregion gelangen, wenn wir es schaffen, die Tore unbemerkt zu passieren. Aber es ist gefährlich."
Haleth warf ihm einen entschlossenen Blick zu. "Alles, was wir tun können ist gefährlich, doch es kommt auf jede Stunde an. Wenn also der Weg nach Süden der kürzere ist... dann sollten wir nach Süden gehen."

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