Valion und Rinheryn aus dem HargtalFirnharg war kleines Dorf, das direkt an den unteren Hängen des nördlichen Weißen Gebirges erbaut worden war und aus ungefähr zwanzig Häusern bestand. Valion stützte Rinya, als sie an den Rand des Dorfes kamen und rief den Dorfbewohnern zu, einen Heiler heran zu schaffen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis ein älterer Mann aus einem der Häuser herbei geeilt kam, gefolgt von einer ungefähr gleichaltrigen Frau. Beide trugen je einen Korb voller Kräuter und in kleine Fläschchen gefüllten Tränken mit sich.
„Na sieh mal einer an,“ sagte der Heiler. „Wen haben uns die Gebirgspfade den da in das beschauliche Firnharg getrieben? Und warum ist die junge Dame so bleich im Gesicht? Ihr habt Euch doch wohl nicht etwa unsittlich an ihr vergriffen, mein Herr?“
„Hör auf zu reden und sieh zu, dass du ihre Blutung stillst,“ fuhr Valion den Heiler an.
„Heda, junger Mann, kein Grund so giftig zu werden.“ Er beugte sich über Rinheryn, die von Valion auf dem weichen Grasboden im Zentrum des Dorfes abgelegt worden war und die schwer atmete. „Ich mache hier nur meine Arbeit, und mir hilft es nun einmal, dabei zu reden. Wenn Ihr damit ein Problem habt, müsst Ihr Euch einen anderen Heiler suchen.“
Die Frau flüsterte Valion verschwörerisch zu: „Das sagt er nur, weil er der einzige Heiler in mehreren Meilen Umkreis ist. Er redet viel, aber er ist der Beste. Keine Sorge! Er wird das Mädchen bald wieder auf ihre Beine bekommen.“
„Wie ist dieser Schlamassel denn passiert, wenn ich fragen darf?“ wollte der Heiler wissen, doch er gab Valion nicht die Gelegenheit, zu antworten. „Ah - nichts sagen. Schwertwunde, ganz eindeutig. Aus nächster Nähe. Hmm. Na dann wollen wir mal. Leofa - die Kräuterbandagen bitte, wärst du so lieb?“
Leofa, die Frau des Heilers, griff in ihren Korb und zog eine Bandage hervor, die vermutlich ursprünglich weiß gewesen war, doch jemand hatte sie so lange in einen Kräutersud getaucht, dass der Stoff inzwischen mehr grünlich und gelblich geworden war. Und der Gestank, der davon ausging, ließ Valion würgen.
„Bei den Sternen, was ist das nur für ein Zeug?“
„Haha! Das ist ein altbewährtes Kräuterheilmittel, auf das ich besonders stolz bin. Die Pflanzen, die ich dafür benötige, wachsen nur hier an den Hängen rings um Firnharg. Das Rezept ist seit Jahrhunderten ein Geheimnis meiner Familie! Und es hat schon viele Leben gerettet, eingeschlossen das eines der Könige Rohans!“
„Diese alte Geschichte schon wieder, Ceolmund?“ Leofa schüttelte den Kopf, während sie eine Bandage nach der anderen an den Heiler weiterreichte.
Dieser fackelte nicht lange und presste die Bandagen auf die Wunde an Rinheryns Oberkörper. Kaum berührte der gelbliche Stoff die junge Frau, begann sie, wie am Spieß zu schreien. Ceolmund schien davon weder überrascht noch aus der Fassung gebracht zu sein. Er steckte Rinya kurzerhand ein frisches Stück Stoff in den aufgerissenen Mund, der ihre Schreie erstickte.
„Ein lebhaftes Mädchen, nicht wahr?“ lachte er. „Aahh, das ist nun einmal die gute alte Wirkung der Firnharger Bandagen. Ja, es brennt wie Feuer, aber es ist ein reinigendes Feuer, dass allen Schmutz aus der Wunde brennt. Und dank der Kräuter wird ihr Körper schneller damit beginnen, das verlorene Blut zu ersetzen. Eine Nacht ruhigen Schlafes, und sie ist wieder so gut wie neu.“
„Ich weiß nicht recht, alter Mann,“ sagte Valion nachdenklich. „Wenn ich mir Rinya so ansehe, habe ich eher das Gefühl, dass es ihr schlechter als zuvor geht.“
Und tatsächlich: die Augen der jungen Gondorerin waren stark geweitet und Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt - so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Keine Sorge, der Schmerz lässt gleich nach,“ sagte Leofa beruhigend und wischte Rinheryn den Schweiß von der Stirn.
„Hahaha! Und die Blutung ist bereits gestillt. Dieser Kräutersud hat mich noch nie im Stich gelassen,“ trumpfte Ceolmund auf. „Also. Jetzt, wo die Gefahr gebannt ist, werdet Ihr einem alten Mann doch sicherlich erzählen, was all diese schöne Aufregung in letzter Zeit zu bedeuten hat, nicht wahr?“
„All diese Aufregung?“ wiederholte Valion.
„Erst stapft ein Mann durch unser Dorf, der es mächtig eilig hatte. Er hat Meister Garéd sein bestes Pferd abgekauft und meiner Meinung nach viel zu viel bezahlt. Und dann ihr beiden: Ein gondorischer Haudegen, und wenn mich nicht alles täuscht, ist das Mädel, das da zu unseren Füßen liegt, niemand anders als die berüchtigte Stormhére. Habe ich recht?“
„Ich habe gehört, dass man sie so nennt, weiß aber nicht weshalb,“ antwortete Valion.
„Weil sie wilder als jeder Sturm ist,“ sagte Leofa. „Zumindest sagen das die Geschichten, die man sich in Rohan über sie erzählt. Wisst Ihr, wir hatten in letzter Zeit einige Probleme mit Orks, die sich im Gebirge versteckt gehalten haben. Die meisten Reiter der Riddermark tun sich eher schwer mit den Gebirgspfaden, die diese Widerlinge bei ihren Überfällen verwenden. Wir hatten unsere liebe Not mit ihnen, bis eine große Jägerin aus Gondor nach Dunharg kam und begann, mit den Orks ordentlich aufzuräumen.“
Valion bekam so langsam den Verdacht, dass Ceolmunds Frau beinahe genauso geschwätzig war, wie der alte Heiler selbst.
„Der Mann, der kurz vor uns hier durchs Dorf kam,“ sagte er und gab den Rohirrim eine kurze Beschreibung Gilvorns. „Ich muss ihn einholen, ehe er noch mehr Unheil anrichtet.“
„Das wird nicht möglich sein, mein Junge,“ sagte Ceolmund. „Er hat sich das schnellste Pferd im Dorf gekauft. Inzwischen könnte er längst überall sein.“
„Holt den Stallmeister. Vielleicht weiß er irgendetwas,“ hielt Valion dagegen, und Leofa lief los.
Wenige Minuten später kehrte sie mit einem dunkelhaarigen Mann in Valions Alter zurück, der einen Eisenhammer in der Hand hielt. Stallmeister Garéd wusste bereits Bescheid über Valions Frage.
„Ich kann‘s Euch nicht mit Sicherheit sagen, Herr. Aber ich würde meinen zweitbesten Gaul darauf verwetten, dass er nach Aldburg geritten ist. Ich sah ihn die Straße zur Ostfold nehmen, und er hatte es mächtig eilig. In Aldburg wird er sich ein neues Pferd beschaffen können. Scheint ja im Geld zu schwimmen, der Geselle. Er hat mich geradezu fürstlich bezahlt.“
„Aldburg? Wo liegt das?“ fragte Valion nach.
„Ihr müsst die Straße nehmen, die aus dem Dorf hinaus nach Osten führt und ihr bis in die Ostfold folgen. Dann könnt Ihr es kaum verfehlen, jetzt, wo sie es zur Hauptstadt gemacht haben.“
„Ihr solltet die Stormhére mitnehmen,“ mischte sich Ceolmund ein. „Ihr Name hat in Rohan großes Gewicht und wird Euch viele Türen öffnen. Alleine werdet Ihr diesen Mistkerl nicht erwischen. Aber wenn Euch die Eorlingas wohl gesonnen sind, findet ihr Ihn vielleicht.“
Valion dachte darüber nach. Einerseits würde er am liebsten sofort losreiten anstatt eine ganze Nacht zu verlieren. Andererseits musste er sich eingestehen, dass Ceolmund recht hatte. Auf sich allein gestellt waren seine Chancen, Gilvorn in den Weiten Rohans zu finden, geradezu verschwindend gering.
„Und Ihr seid Euch sicher, dass Rinheryn - also ich meine, die, äh, Stormhére - morgen wieder gesund genug sein wird, um reiten zu können?“
„Ihr habt mein Wort als Heiler und Ehrenmann darauf.“
„Also gut, ich werde bis morgen früh warten. Aber bei Sonnenaufgang reite ich los.“
Er verbrachte die Nacht im Haus der Heiler, die ihm ein freies Bett neben das stellten, in dem Rinheryn schlief. Die junge Gondorerin war kurz nach Valions Entscheidung in einen tiefen Schlaf gefallen - laut Ceolmund eine normale Auswirkung seines Spezialmittels. Sie gab kaum einen Laut von sich und ihr Atem ging flach, aber regelmäßig. Die Wunde war fachgerecht verbunden worden und blutete nicht mehr. Valion kannte sie zwar erst einen Tag, doch er war dennoch froh, dass sie nicht zum nächsten Opfer Gilvorns geworden war.
Bei Sonnenaufgang stand Valion gähnend auf und sah nach Rinheryn. Zu seiner Überraschung war das Bett neben ihm leer. Duinhirs Tochter war bereits auf den Beinen und wirkte so, als wäre ihre Verletzung ihr nie zugestoßen. Valion kratzte sich am Kopf. Eine so schnelle Heilung hatte er noch nie gesehen.
Nun, solange es funktioniert,, dachte er.
Garéd, der Stallmeister, lieh ihnen zwei seiner verbliebenen Pferde. Sie versprachen ihm, die Tiere nach ihrer Ankunft in Aldburg wieder zurück zu schicken, denn sie waren gut genug ausgebildet, um den Weg alleine zurück zu finden. Dann verabschiedeten sie sich von Ceolmund und Leofa.
„Vielen Dank,“ sagte Rinheryn zu den Rohirrim, die sie geheilt hatten. „Ich verdanke Euch mein Leben.“
„Ach Unsinn, Mädchen, wir haben doch nur unsere Arbeit gemacht. Sieh nur zu, dass du dich nicht wieder abstechen lässt, ja?“ Ceolmund lachte.
„Und lass den Mistkerl, der dir das angetan hat, deine Klinge schmecken!“ fügte Leofa hinzu.
„Ich verspreche es,“ antwortete Rinya zwinkernd.
Dann brachen sie auf und preschten im Galopp aus Firnharg hinaus, bergabwärts auf die Ebenen der Ostfold zu. Irgendwo dort draußen musste Gilvorn sein. Valion hoffte, die kalt gewordene Spur in Aldburg wieder aufnehmen zu können...
Valion und Rinheryn nach Aldburg