Eryniel aus Thal - In der StadtKerry sah zu, wie Finelleth und einige weitere Elben den Befehlen ihres Vaters folgend durch das Tor Thals in Inneren der Stadt verschwanden, während die Schlacht ringsum ein wenig abgeebbt war. Wie durch ein Wunder gewährte ihnen der Feind tatsächlich eine kurze Ruhepause, doch die scharfäugigen Elben des Düsterwaldes berichteten schon wenige Minuten später von weiteren Feinden, die aus dem Tor des Erebors hervorströmten. Und auch eine weitere Verschiebung der Schlachtlinien war nur allzu deutlich zu beobachten: Wie Kerry es von Sarumans Boten gehört hatte, zogen sich die an den nordwestlichen Rand des Tales zurückgedrängten Orks und Uruk-hai der Weißen Hand nun langsam in Richtung des Rabenberges zurück. Es war keine heillose Flucht, sondern ein koordinierter Rückzug, auch wenn die Nachhut des Heeres von sie verfolgenden Ostlingen hart bedrängt wurde. Die Disziplin der Uruks in den hinteren Reihen sorgte dafür, dass es bei einem geordneten Rückzug blieb und das Heer nicht in Unordnung geriet.
Während Kerry sich noch umblickte, um einen besseren Überblick über die Lage zu bekommen, tauchte plötzlich Eryniel neben ihr auf. Die Waldelbin war von Norden gekommen, aus der Richtung des Tors des Erebors, und kam schwer atmend neben Kerry zum Stehen.
“Wo ist der König?” stieß Eryniel hervor. “Weiß er schon Bescheid, dass sich Sarumans Heer zurückzieht?”
“Er steht dort hinten,” sagte Kerry und zeigte auf ein Bruchstück der Mauer Thals, das während der Belagerung abgebrochen war und ein Stück außerhalb der Reste der Mauern zum Stillstand gekommen war. Thranduil hatte dort eine etwas erhöhte Position bezogen und brachte die wenigen Elben in Stellung, die genügend Pfeile aufgesammelt hatten, um ihre Bögen effektiv verwenden zu können. “Er weiß bereits Bescheid. Wir holen alle aus Thal ‘raus und bringen sie hier weg.”
Eryniel atmete auf und nickte. “Das ist gut. Es sind viele Menschen in der Stadt, die nicht kämpfen können. Sie brauchen Schutz.”
“Da kommen bereits die Ersten,” antwortete Kerry, als sie Bewegungen am Stadttor erspähte. Und tatsächlich war dort ein Waldelb aufgetaucht, der am Tor Stellung bezog und Menschen aus Thal heraus und in Richtung des Elbenheeres lotste.
“Ich werde ihnen helfen,” sagte Eryniel entschlossen. Dann eilte sie in Richtung des Tores davon, um bei der Evakuierung mitzuhelfen.
Kerry hingegen blieb wo sie war, in der Nähe Oronêls, der die kurze Pause nutzte, um sich von den harten Kämpfen zumindest ein wenig zu erholen. Er sah müde aus, wie er dort auf dem felsigen Boden außerhalb der Mauern Thals kniete und sich auf seine Axt stützte. Celebithiel und Glorfindel standen dicht beieinander in einigen Metern Entfernung und tauschten leise Worte miteinander aus.
“Bist du verletzt?” fragte Kerry.
“Nur erschöpft,” erwiderte Oronêl. “Es wird schon gehen.” Er wandte Kerry den Blick zu und seufzte. “Weißt du, dies ist die vierte große Schlacht, an der ich dieses Jahr teilnehme. Und das nach hunderten Jahren des Lebens in der Abgeschiedenheit. Ich kann nicht behaupten, dass ich es vermisst habe.”
“Das Töten?”
“Das...
alles. Die Ungewissheit. Die ständige Gefahr. Und dass immer so viel auf dem Spiel steht. Ich habe genug davon.”
Kerry musterte den Elb lange. Er wirkte körperlich müde, doch sie erkannte an seinen Worten, dass er auch im Inneren an seine Grenzen kam. Sein Blick ging ins Leere - nein, nicht ins Leere, sondern nach Südwesten, wo der Fluss ins Tal hinab verschwand. Und dort lag der Lange See, und jenseits des Sees floss der Fluss weiter, bis...
“Du hast vor, zu gehen, nicht wahr?”
Sie hatte die Frage aus einem Impuls heraus gestellt und dabei nicht gewollt, dass es wie eine Anschuldigung klang. Doch gleichzeitig schwang darin ein Gefühl mit, das ihr sagte, dass Oronêl sie und insbesondere Finelleth im Stich lassen würde, wenn er ginge.
Oronêls Blick traf ihren. Er antwortete zunächst nicht, und seine Miene zeigte kaum eine Regung. Kerry hörte, wie er langsam und lange ausatmete.
“Ich habe es bereits Mírwen gesagt. Wenn diese Schlacht geschlagen ist, werde ich diesen Ort verlassen. Ich kann so nicht weitermachen, Kerry. Verstehst du das?”
“Ich - ich weiß es nicht, Oronêl. Einerseits kann ich dich verstehen, wirklich. Aber warst du nicht derjenige, der Finelleth erst dazu gedrängt hat, hierher zu kommen und für ihre Heimat einzutreten? Hast du ihr nicht versprochen, sie dabei zu unterstützen?”
“Das habe ich. Und ich hoffe, es gelingt ihr, Thranduil von Sarumans Einfluss zu befreien. Sie ist stark genug dafür.”
Kerry wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie spürte, dass Oronêl ehrlich mit ihr war und wirklich kriegsmüde war. Und doch gelang es ihr nicht ganz, ihren Ärger darüber, dass er sie im Stich lassen wollte, zu unterdrücken.
Ehe sie sich eine Antwort überlegen konnte, ertönte eine Warnung von Norden. Die Ostlinge rückten erneut vor und die Schlacht ging weiter.
Mehr und mehr Flüchtlinge verließen die Stadt Thal und sammelten sich zwischen den Schlachtreihen der Waldelben. Kerry erschien es, als ob es nicht mehr lange dauern würde, bis Thranduil den Rückzug befehlen würde. Und ehe das geschah, gab es noch etwas, um das sie sich kümmern musste.
“Aino,” sagte sie und weckte damit den jungen Ostling, der es tatsächlich geschafft hatte, während der kurzen Kampfpause einzuschlafen. Er gab ein verschlafenes Geräusch von sich und rappelte sich mühsam auf, als Kerry neben ihm in die Hocke ging.
“Die Elben werden sich schon bald zurückziehen,” informierte Kerry den Jungen. “Ich danke dir für deine Hilfe, aber es wird Zeit, dass du nach Hause gehst.”
“Nach... Hause?” wiederholte Aino ungläubig. “Kann ich denn nicht...”
“Du kannst nicht mit mir kommen,” sagte Kerry und schüttelte den Kopf. “Das geht nicht. Sie werden dich töten. Es tut mir Leid, Aino, aber... du musst verschwinden.”
Aino schluckte. “Aber wohin soll ich gehen?”
“Nach Hause. Sieh dich doch um: Die Ostlinge werden diese Schlacht gewinnen. Für uns geht es nur noch darum, die Menschen von Thal in Sicherheit zu bringen. Niemand weiß, dass ich dich gefangen genommen habe, also kannst du als siegreicher Kämpfer nach Hause zurückkehren.”
“Ich kann nicht so einfach nach Hause zurück. Mein Vater....”
“Doch, du kannst. Sei ein Mann und sag deinem Vater, dass du kein Krieger sein willst. Du hast jetzt ja eine Schlacht überstanden, vielleicht reicht ihm das ja.”
“...Vielleicht,” wiederholte Aino, dann nickte er langsam. “Es könnte funktionieren.” Dann stand er auf und blickte Kerry lange an. “Danke, Kerry. Dafür, dass du mich nicht getötet hast. Ich werde dich nicht vergessen.”
“Keine Ursache. Geh’ schon, solange du noch kannst.”
Er wollte sich gerade abwenden, da packte sie ihn am Unterarm. “Eines noch, ehe du verschwindest - solltest du in Rhûn auf einen Mann namens Cyneric treffen, dann sag ihm.... dann sag ihm... dass seine Tochter am Leben ist und im Waldlandreich ist. Versprichst du es mir?”
“Ich verspreche es, Kerry. Leb’ wohl.”
“Leb’ wohl, Aino.”
Er verschwand in Richtung Südosten und soweit Kerry es sehen konnte, gelang es dem jungen Ostling tatsächlich, durch die Reihen ihrer Feinde zu schlüpfen. Sie hoffte, dass er den Weg nach Hause finden würde. Doch viele Gedanken konnte sie nicht daran verschwenden. Die Schlacht kam immer näher an sie heran.
Am Stadttor waren inzwischen kaum noch Menschen zu sehen. Stattdessen erspähte Kerry den sandfarbenen Haarschopf Finelleths, die gemeinsam mit Eryniel dafür sorgte, dass die letzten Nachzügler sicher aus der Stadt hinaus gelangten. Einige von Thranduils Elben hatten derweil das Orthancfeuer aus Thal beschafft. Kerry hatte die Zerstörungskraft der mit Pulver gefüllten Metallkugeln bereits auf dem Rabenberg mit eigenen Augen gesehen, doch die Kugeln, die die Elben nun zu ihrem König brachten, waren deutlich größer als die, die die Dúnedain verwendet hatten. Neugierig ging Kerry etwas näher heran, um vielleicht mitzubekommen, wie Thranduils Plan bezüglich des Orthancfeuers aussah. Doch sie war zu langsam. Als sie in der Nähe des Elbenkönigs angekommen war, waren dessen Befehle bereits erteilt worden. Acht Kugeln, jede größer als Kerrys Kopf, wurden von acht Elben entgegengenommen. Vier eilten zur südlichen Schlachtreihe davon, vier zur nördlichen Front.
“Was haben sie vor?” fragte Kerry Celebithiel, die gerade von Norden heran kam und einen blutigen Schnitt an ihrer Stirn betastete.
“Ich bin mir nicht sicher. Sicherlich werden sie das Feuer gegen unsere Feinde wenden, aber den genauen Zeitpunkt kenne ich nicht.”
Ehe sie weitersprechen konnte, kam das Signal zum Aufbruch, und die Elben setzten sich im Bewegung. Thranduil persönlich setzte sich mit seiner Waldgarde an die westliche Spitze, die nun zum Rabenberg vordrängte. Eryniel, Glorfindel und Finelleth waren mit ihm gegangen. Dicht hinter ihnen kam der Großteil der Menschen von Thal, angeführt von ihrem König, Bard. Alle, die kämpfen konnten, hatten sich notdürftig bewaffnet und halfen dabei, die Flanken zu sichern.
Es dauerte nicht lange, bis die feindlichen Kommandanten bemerkten, was die Elben vorhatten. Orkhörner ertönten und sowohl im Norden als auch im Süden verdoppelten die Feinde ihre Anstrengungen. Kerry, die sich am Ende des Heereszuges wiederfand, sah, wie sich Orks und Ostlinge am Fuße der Stadtmauer Thals trafen, wo die Elben bereits abgerückt waren. Nun wurde Thranduils Streitmacht auch von hinten bedrängt. Und dort mitten unter den Ostlingen schritt ein finsterer Mensch in dunkler Rüstung. Ein schwarzer Umhang mit Kapuze bedeckte Gesicht und Rüstung und in jeder Hand führte er ein gezacktes Schwert.
“Das muss der Fürst von Durthang sein,” stieß Celebithiel hervor, die Kerrys Hand gepackt hatte und sie mit sich nach Westen zog. “Dem sollten wir besser nicht in die Quere geraten, auch wenn ich nur allzu gerne mit ihm die Klingen kreuzen würde. Leider fehlt uns die Zeit dafür.” Sie war stehen geblieben und hielt den Blick zur Stadt hin gerichtet, die nun wieder vollständig in feindliche Hand geraten war.
“Ich habe keine große Lust auf eine Begegnung mit ihm,” sagte Kerry, die ihr Schwert fest mit beiden Händen gepackt hatte. Sie warf einen Blick über ihre Schulter und sah, wie der dunkle Fürst die Orks und Ostlinge zur Verfolgung antrieb.
“Dein Vater hat in Dol Guldur gegen ihn gekämpft,” sagte Celebithiel. “Glorfindel hat es mir erzählt.”
Kerry verspürte Stolz darüber, dass ihr Vater sich einer so furchteinflößenden Gestalt gestellt hatte und überlebt hatte. Doch für weitere Gedanken blieb keine Zeit. Ein Ostling trat ihr in den Weg. Celebithiel sprang vorwärts und hieb den Krieger nieder, doch zwei weitere nahmen seinen Platz ein. Kerry drängte sich einfach an ihnen vorbei, denn inzwischen waren sie und Celebithiel die Letzten. Sie waren zu langsam gewesen!
Pfeile schwirrten dicht über ihre Köpfe hinweg und schlugen in die Verfolger ein. Thranduil hatte seinen wenigen verbliebenen Bogenschützen befohlen, alle ihre übrigen Pfeile zu verschießen. Das genügte, damit Kerry und Celebithiel zu Oronêl aufschließen konnten, der wenige Meter entfernt inmitten der Waldelben wartete und ihnen die Hand entgegenstreckte.
“Was habt ihr euch dabei gedacht?”
“Es ging alles so schnell - mit einem Mal waren wir allein inmitten der Feinde,” erwiderte Celebithiel.
Oronêl schüttelte langsam den Kopf, doch dann wandte er sich zu einem der Elben neben ihm und sagte: “Sag’ dem König, er soll das Orthancfeuer einsetzen! Wir haben jetzt genug Abstand zur Stadt.”
Der Waldelb eilte davon, während Kerry und Celebithiel sich wieder dem Heer anschlossen. Nur wenige Minuten später erschütterten acht gewaltige Explosionen das Tal vor dem Erebor. Wie es den Elben gelungen war, die Kugeln in Brand zu stecken, konnte Kerry nicht sagen. Sie sah mit einer Mischung aus Staunen und Erschrecken zu, wie die vorderen Reihen der Feinde südlich und nördlich der Waldelben buchstäblich in Stücke gerissen wurden. Das verschaffte Menschen und Elben den Aufschub, den sie gebraucht hatten. Für einige Minuten unbedrängt gelang es ihnen, sich über den Rabenberg hinweg zurück zu ziehen. Den Spuren von Sarumans Orks folgend kamen sie auf die andere Seite in das Gebiet, das zwischen dem Erebor und dem Rand des Düsterwalds lag.
Oronêl, Thranduil, Glorfindel, Celebithiel, Bard, Finelleth, Eryniel, Mírwen und Kerry zum Ostrand des Düsterwaldes